Project Description

28. Nacht

In der Tat weckte Dinarsade, wie sie es sich
gelobt hatte, die Sultanin bei sehr guter Zeit, aus großem Verlangen, von ihr
das Ende der angenehmen Geschichte des Königs der Schwarzen Inseln zu hören,
und zu wissen, wie er so in Marmor verwandelt worden war.

„Du sollst es vernehmen,“
antwortete Scheherasade, „mit Erlaubnis des Sultans.“

„Ich fand also die Königin neben mir
liegen,“ fuhr der König der vier Schwarzen Inseln fort. „Ich kann
euch nicht sagen, ob sie schlief, oder nicht: Ich stand aber leise auf, ging in
mein Gemach und kleidete mich vollends an. Hierauf ging ich in meine
Ratsversammlung.

Bei meiner Rückkehr erschien die Königin in
Trauerkleidern, mit zerstreuten und zum Teil zerrauften Haaren.
„Herr,“ sprach sie zu mir, „ich komme Euer Majestät zu bitten,
sich nicht über den Zustand zu wundern, in welchem ich mich befinde. Drei
traurige Nachrichten, welche ich eben zu gleicher Zeit empfangen habe, sind die
gerechte Ursache des tiefen Schmerzes, von welchem ihr nur die schwachen Zeichen
seht.“ – „Und was sind das für Nachrichten, Herrin?“, fragte ich
sie. – „Der Tod der Königin, meiner Mutter,“ antwortete sie,
„zugleich mit dem Tod des Königs, meines Vaters, der in einer Schlacht
gefallen ist, und eines meiner Brüder, der in einen Abgrund gestürzt ist1).

Es war mir nicht unlieb, dass sie diesen
Vorwand ergriff, um den wahren Grund ihrer Betrübnis zu verbergen, und ich
erkannte daraus, das sie mich nicht in Verdacht hatte, ihren Geliebten getötet
zu haben.

„Herrin,“ sagte ich zu ihr,
„weit entfernt, euern Schmerz zu tadeln, versichere ich euch, dass ich
allen Teil daran nehme, den ich daran nehmen muss. Ich würde höchst verwundert
sein, wenn ihr unempfindlich bliebt bei dem Verlust, welchen ihr erlitten habt.
Weint: Eure Tränen sind untrüglich Kennzeichen eures trefflichen Gemüts. Ich
hoffe gleichwohl, dass die Zeit und die Vernunft euren Schmerz mäßigen
wird.“

Sie zog sich in ihr Gemach zurück, wo sie
sich ohne Rückhalt ihrem Schmerz hingab, und ein ganzes Jahr zubrachte mit
Weinen und mit Klagen.

Nach Verlauf dieser Zeit bat sie mich um
Erlaubnis, in dem Umfang des Palastes ihr Grabmahl erbauen zu lassen, wo sie,
wie sie sagte, bis an das Ende ihrer Tage wohnen wollte. Ich erlaubte es ihr,
und sie ließ einen prächtigen Palast bauen, mit einer Kuppel, welche man von
hier sehen kann. Sie benannte ihn den Tränen-Palast.

Als er vollendet war, ließ sie ihren
Geliebten hineinbringen, welchen sie in derselben Nacht, da ich ihn verwundet,
nach einem ihr gelegenen Ort versetzt hatte. Sie hatte bisher seinen Tod durch
Tränke verhindert, welche sie ihn einnehmen ließ; und sie ihm selber alle Tage
zu bringen, seitdem er in dem Tränen-Palast war.

Indessen, mit allen ihren Zaubereien konnte
sie diesen Unglücklichen nicht heilen. Er war nicht nur außer Stande zu gehen
und sich aufrecht zu halten, sondern er hatte auch den Gebrauch der Zunge
verloren, und gab kein anderes Lebenszeichen, als durch seine Blicke. Obwohl
also die Königin nur den Trost hatte, ihn zu sehen und ihm alles zu sagen, was
ihre törichte Liebe ihr irgend Zärtliches und Leidenschaftliches eingeben
mochte, so unterließ sie jedoch nicht, ihm täglich zwei ziemlich lange Besuche
zu machen. Ich war von allem diesen wohl unterrichtet, aber ich stellte mich,
als wüsste ich nichts davon.

Eines Tages ging ich zu dem Tränen-Palast,
aus Neugier, zu wissen, was dort eigentlich die Beschäftigung der Königin
wäre, und an einem Ort, wo ich nicht gesehen werden konnte, hörte ich sie
folgendermaßen zu ihrem Geliebten reden: „Ich bin in Verzweiflung, dich in
dem Zustande zu sehen, worin du dich befindest. Ich fühle nicht minder die
brennenden Schmerzen, welche du leidest … Aber, geliebte Seele, ich rede immer
zu dir, und du antwortest mir nie. Wie lange willst du im diesem Stillschweigen
beharren? Ach! die süßesten Augenblicke meines Lebens sind die, welche ich
hier zubringe deine Leiden zu teilen. Ich kann nicht leben ohne dich, und das
Vergnügen, dich unaufhörlich zu sehen, würde ich der Herrschaft des Weltalls
vorziehen.“

Sie beschloss diese lange Rede mit folgenden
Versen:

„Der Tag des Heils ist derjenige, an
welchem ich deiner Nähe genieße. Der Tag des Verderbens und des Todes ist
derjenige, wo du dich von mir abwendest.

Bringe ich die Nacht ferne von dir zu, so ist
es, als ob alle Schrecknisse mir drohten. Deine Nähe aber ist für mich
süßer, als Sicherheit!“

Endlich fügte sie noch folgende Verse hinzu:

„Wäre ich von aller Glückseligkeit
umgeben, besäße ich die ganze Welt und das Reich der Chosroen:

So würde es für mich nicht so viel wert
sein, als die Flügel einer Mücke, wenn mein Auge dich nicht sähe!“

über diese Klagen, welche mehr als einmal
von ihren Seufzern und Schluchzen unterbrochen wurden, verlor ich endlich die
Geduld. Ich trat hervor, näherte mich ihr, und sprach: „Frau, ihr habt nun
genug geweint; es ist Zeit, diesem Schmerz ein Ziel zu setzen, der uns beide
entehrt. Es ist zu viel, zu vergessen, was ihr mir, und was ihr euch selber
schuldig seid.“

„Herr,“ antwortete sie mir,
„wenn ihr noch einige Achtung, oder vielmehr, einige Gefälligkeit für
mich hegt, so flehe ich euch, mir keinen Zwang anzutun. Lasst mich meinem tödlichen
Schmerze mich hingeben; es ist unmöglich, dass die Zeit ihn verringere.“

Als ich sah, dass meine Worte, anstatt sie zu
ihrer Pflicht zurückzubringen, nur dazu dienten, ihre Wut zu reizen, sagte ich
nichts mehr zu ihr, und zog mich zurück.

Sie fuhr fort, täglich ihren Geliebten zu
besuchen, und zwei volle Jahre hindurch war sie in steter Verzweiflung.

Ich ging noch einmal in den Tränen-Palast,
als sie drinnen war; ich verbarg mich wieder, und ich hörte sie Folgendes zu
ihrem Geliebten sagen:

„Es sind nun drei Jahre, dass du nicht
ein einziges Wort zu mir gesprochen hast, und dass du nichts antwortest auf die
Zeichen der Liebe, welche ich durch meine Rede und meine Seufzer dir gebe: ist
das Unempfindlichkeit oder Verachtung? O Grabmahl, solltest du dies übermaß
der Zärtlichkeit, welche er für mich hegte, zerstört haben? Solltest du diese
Augen geschlossen haben, die mir so viel Liebe verkündigten, und die alle meine
Freude ausmachten? Nein, nein, ich kann es nicht glauben. Sage mir vielmehr,
durch welches Wunder du der Bewahrer des köstlichen Kleinods geworden bist,
welches es jemals gab!“

Ich gestehe euch, Herr, dass ich über diese
Worte ganz entrüstet wurde. Denn, am Ende war dieser teure Geliebte, dieser
angebetete Sterbliche, nicht ein solcher, wie ihr euch wohl einbilden könntet,
sondern es war ein schwarzer Inder, aus diesem Lande gebürtig. Ich wurde, sage
ich, über diese Rede dermaßen entrüstet, dass ich ungestüm hervortrat, und
ebenso das Grabmahl anredend, ausrief: „O Grabmahl, warum verschlingst du
nicht dieses Ungeheuer, vor welchem sich die Natur entsetzt; oder vielmehr,
warum verzehrst du nicht den Buhlen und die Buhlin!“

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als
die Königin, welche neben dem Schwarzen saß, wie eine Rasende aufsprang:
„Ha, Grausamer,“ schrie sie mir zu, „du bist es, der meinen
Schmerz verursacht! Wähne nicht, dass ich es nicht wisse. Ich habe mich nur zu
lange verstellt. Es ist deine mörderische Hand, die den Gegenstand meiner Liebe
in diesen jammervollen Zustand versetzt hat und du hast noch die Grausamkeit,
hierher zu kommen, und eine Liebende in Verzweiflung zu verhöhnen.“

„Ja, ich bin es,“ unterbrach ich
sie, außer mir vor Zorn, „ich bin es, der dieses Ungeheuer bestraft hat,
wie er es verdient. Ich sollte dich eben so behandeln, und es gereut mich, es
nicht getan zu haben. Schon allzu lange missbrauchst du meine Güte.“

Indem ich so sprach, zog ich meinen Säbel,
und ich hob den Arm, um sie zu bestrafen. Sie aber betrachtete ruhig meine Gebärde,
und sprach zu mir mit einem höhnischen Lächeln: „Mäßige deinen
Zorn!“ Zu gleicher Zeit sprach sie einige Worte aus, die ich nicht
verstand, und fügte darauf hinzu: „Kraft meiner Beschwörungen, befehle
ich dir, auf der Stelle halb von Marmor zu werden, und halb Mensch zu
bleiben.“

Sogleich ward ich, wie ihr mich hier sehet,
Herr, schon tot unter den Lebenden und lebend unter den Toten …“

Scheherasade bemerkte bei dieser Stelle, dass
es schon Tag war, und hörte auf zu erzählen.

„Meine liebe Schwester,“ sagte da
Dinarsade, „ich bin dem Sultan sehr verpflichtet: seiner Güte verdanke ich
das große Vergnügen, das ich empfinde, die zuzuhören.“ – „Meine
Schwester,“ antwortete die Sultanin, „wenn eben diese Güte mir noch
bis morgen das leben lassen will, so sollst du Dinge hören, die dir nicht
weniger Vergnügen machen werden, als die, welche ich so eben erzählt
habe.“

Wenn Schachriar auch nicht beschlossen
hätte, den Tod der Scheherasade einen Monat lang zu verschieben, so würde er
sie diesen Tag dennoch nicht haben töten lassen.


1)
Die Schwierigkeit der Mitteilung zwischen den verschiedenen Ländern des
früheren Orients, macht diese Lüge der Königin viel weniger unwahrscheinlich,
als sie in Europa sein würde.