Project Description

262. Nacht

Die Hauptstadt des Königs von Persien lag auf einer
Insel, und sein prächtiger Palast war am Ufer des Meeres erbaut. Da seine
Wohnung die Aussicht auf die See hatte, so hatte auch die Wohnung der schönen
Sklavin, die von der seinigen nicht entfernt war, dieselbe Aussicht. Sie war
umso angenehmer, da die Wogen fast den Fuß der Mauer umspülten.

Nach Verlauf der drei Tage saß die schöne Sklavin
prächtig geputzt und geschmückt, allein in ihrem Zimmer auf dem Sofa und an
eins der Fenster gelehnt, die auf das Meer hinaus schauten, als der König, auf
die Nachricht, dass er sie nun besuchen könnte, herein trat. Die Sklavin,
welche einen andern Tritt, als den bisherigen der dienenden Frauen hörte,
wandte sogleich den Kopf, um zu sehen, wer es wäre. Sie erkannte den König,
aber ohne sich zu erheben, um ihn mit Höflichkeit zu empfangen, nahm sie ihre
vorige Stellung am Fenster wieder ein, als wenn er die gleichgültigste Person
von der Welt wäre.

Der König von Persien war äußerst erstaunt, zu sehen,
dass eine so schöne und wohl gebildete Sklavin so wenig Lebensart verstände. Er
schob diesen Mangel auf die schlechte Erziehung, welche sie erhalten, und auf
die geringe Sorgfalt, die man angewendet hätte, ihr die ersten Regeln der
Wohlanständigkeit beizubringen.

Er trat zu ihr ans Fenster, wo sie, ungeachtet der
Gleichgültigkeit und Kälte, womit sie ihn empfangen hatte sich von ihm
anschauen, bewundern und selbst liebkosen und umarmen ließ, so viel er wollte.

Unter diesen Liebkosungen und Umarmungen hielt der König
inne, um sie anzuschauen, oder vielmehr mit den Augen zu verschlingen.
„Meine Allerschönste, meine Reizende, meine Bezaubernde!“, rief er
aus, „sagt mir, ich bitte euch, wo stammt ihr her, und wo und wer sind der
glückliche Vater und die glückliche Mutter, die ein so vollendetes
Meisterstück der Natur, wie ihr seid, auf die Welt gesetzt haben? Wie liebe ich
euch, und wie will ich euch lieben! Niemals habe ich für eine Frau empfunden,
was ich für euch empfinde. Ich habe zwar viele Frauen gesehen, und sehe ihrer
noch täglich eine große Anzahl: Aber niemals habe ich so viel Reize gesehen,
die mich mir selber entführen, um mich ganz euch hinzugeben. – Mein liebes
Herz,“ fügte er hinzu, „ihr antwortet mir nichts. Ihr gebt mir selbst
durch keine Zeichen zu erkennen, dass ihr für so viel Zeichen meiner Liebe, die
ich euch gebe, empfindlich seid. Ja, ihr wendet nicht einmal eure Augen her, um
den meinigen das Vergnügen zu gewähren, ihnen zu begegnen, und euch zu
überzeugen, dass man euch nicht mehr lieben kann, als ich euch liebe. Warum
beharrt ihr in diesem Stillschweigen, das mich erstarrt? Woher kommt dieser
Ernst, oder vielmehr diese Trauer, die mich betrübt? Sehnt ihr euch nach eurem
Vaterland, euren Verwandten, euren Freunden? Wie aber! Vermag denn ein König
von Persien, der euch anbetet, nicht euch zu trösten und alle andere Dinge auf
der Welt zu ersetzen?“

Welche Beteuerungen seiner Liebe aber der König von
Persien auch der Sklavin machte, und was er auch sagen mochte, um sie zu
bewegen, den Mund zu öffnen und zu reden, die Sklavin blieb auffallend kalt,
mit stets niedergeschlagenen Augen, ohne sie aufzuheben, um ihn anzublicken, und
ohne ein einziges Wort vorzubringen.

Der König von Persien, gleichwohl erfreut, einen Kauf
gemacht zu haben, womit er so zufrieden war, drang nicht weiter in sie, in der
Hoffnung, dass die gute Behandlung, die er ihr angedeihen ließe, sie schon
verändern würde. Er klatschte in die Hände, und sogleich traten mehrere
Frauen ein, denen er befahl, das Abendessen aufzutragen.

Als aufgetragen war, sagte er zu der Sklavin: „Kommt
her, mein Herz, und setzt euch mit mir zu Tisch.“ Sie stand auf von ihrem
Sitz, und als sie dem König gegenüber saß, legte dieser ihr vor, ehe er
selber aß, und bediente sie ebenso bei jeder Schüssel, während der Mahlzeit.
Die Sklavin aß mit ihm, aber stets mit niedergeschlagenen Augen, ohne ein
einziges Wort zu erwidern, so oft er sie auch fragte, ob die Speisen nach ihrem
Geschmack wären.

Um das Gespräch zu verändern, fragte der König sie, wie
sie hieße, ob sie mit ihrer Kleidung und den Juwelen ihres Schmuckes zufrieden
wäre, wie ihre Wohnung und das Gerät darin ihr gefielen, und ob die Aussicht
auf das Meer sie ergötzte, aber auf alle diese Fragen beobachtete sie dasselbe
Stillschweigen, so dass er nicht mehr wusste, was er davon denken sollte. Er kam
auf den Gedanken, dass sie wohl stumm sein könnte. „Aber,“ sagte er
bei sich selber, „wäre es möglich, dass Gott ein so schönes, so
vollkommenes und vollendetes Geschöpf hervorgebracht, das einen so großen
Mangel hätte? Das wäre sehr schade! Gleichwohl könnte ich mich nicht
entbehren, sie zu lieben, wie ich sie liebe.“

Als der König von Tisch aufgestanden war, wusch er sich
die Hände auf der einen Seite, und die Sklavin tat desgleichen auf der andern.
Er nahm diese Zeit wahr, die Weiber, welche ihm das Waschbecken und Handtuch
reichten, zu fragen, ob sie mit ihnen gesprochen hätte. Die eine nahm das Wort
und antwortete ihm: „Herr, wir haben sie ebenso wenig sprechen gehört, als
Euer Majestät. Wir haben sie im Bad bedient, sie in ihrem Zimmer gekämmt, ihr
den Kopfputz aufgesetzt und sie gekleidet, aber nicht einmal hat sie den Mund
geöffnet, uns zu sagen: „Das steht gut, das gefällt mir.“ Wir
fragten sie: „Gebieterin, habt ihr noch etwas nötig? Wünscht ihr irgend
etwas? Fordert nur, befehlt uns.“ Wir wissen nicht, ist es Verachtung,
Betrübnis, Stumpfsinn, oder ist sie gar stumm: Genug, wir haben nicht ein
einziges Wort von ihr herausbringen können. Das ist alles, was wir Euer
Majestät zu sagen vermögen.“

Die Verwunderung des Königs von Persien wurde durch das,
was er hier hörte, noch vermehrt. Da er glaubte, dass die Sklavin einen Grund
zur Betrübnis haben könnte, so wollte er versuchen, sie aufzuheitern. Deshalb
ließ er alle Frauen seines Palastes zusammenrufen. Sie kamen, und diejenigen,
die sich auf Saitenspiel verstanden, spielten, die andern sangen oder tanzten,
oder taten beides zugleich: Zuletzt führten sie verschiedene Spiele aus, welche
den König ergötzten. Die Sklavin allein nahm keinen Teil an allen diesen
Ergötzlichkeiten. Sie blieb auf ihrem Sitz stets mit gesenkten Augen, und mit
einer Gleichgültigkeit, worüber alle die andern Frauen nicht weniger erstaunt
waren, als der König.

Alle begaben sich endlich wieder in ihre Zimmer, und der
König, der allein zurückblieb, ging mit der schönen Sklavin zu Bette.

Am folgenden Morgen stand der König von Persien so
zufrieden auf, als er es noch mit keiner von allen den Frauen gewesen war, die
er jemals gesehen hatte, keine ausgenommen, und noch verliebter in die schöne
Sklavin, als den vorigen Tag. Er gab dies wohl zu erkennen: Denn er beschloss,
sich einzig und allein ihr zu widmen, und führte diesen Entschluss aus. Noch
denselben Tag entließ er alle seine anderen Frauen, mit den reichen Kleidern,
den Juwelen und Kleinodien, welche sie zu ihrem Gebrauch hatten, und gab jeder
eine starke Geldsumme und die Freiheit, sich nach Gefallen zu verheiraten, und
er behielt nur die Matronen und anderen bejahrten Frauen, die zur Umgebung der
schönen Sklavin dienten. Diese gewährte ihm zwar ein ganzes Jahr hindurch
nicht den Trost, ihm nur ein einziges Wort zu sagen. Er unterließ indessen
nicht, stets mit allen ersinnlichen Gefälligkeiten um sie bemüht zu sein, und
ihr die ausgezeichnetesten Beweise einer sehr heftigen Leidenschaft zu geben.

Das Jahr war verflossen, und eines Tages saß der König
bei seiner Schönen, und beteuerte ihr, dass seine Liebe, anstatt sich zu
mindern, stets an Gewalt zunähme: „Meine Königin,“ sagte er zu ihr,
„ich kann zwar nicht erraten, wie ihr darüber denkt, nichts ist jedoch
wahrer, und ich schwöre es euch zu, dass ich nichts weiter wünsche, seitdem
ich das Glück habe euch zu besitzen. Ich achte mein Königreich, so groß es
auch ist, geringer als ein Sonnenstäubchen, sobald ich euch sehe und euch
tausendmal sagen kann, dass ich euch liebe. Ich verlange nicht, dass ihr bloß
meinen Worten glauben sollt: Ihr könnt aber nicht daran zweifeln, nach dem
Opfer, welches ich durch die Entfernung der großen Anzahl schöner Frauen, die
ich in meinem Palast hatte, eurer Schönheit gebracht habe. Ihr werdet euch
erinnern, es ist ein Jahr vergangen, seit ich sie alle entließ. Es gereut mich
in diesem Augenblick, da ich davon spreche, so wenig, als da ich sie zum letzten
Male sah. Es wird mich niemals gereuen. Nichts würde an meinem Glücke, an
meiner Zufriedenheit und Freude fehlen, wenn ihr nur ein Wort sagtet, um
auszudrücken, dass ihr mir dafür einigen Dank wisset. Aber wie könntet ihr
mir es sagen, wenn ihr stumm seid! Und welcher Grund ist, dies nicht zu
fürchten? Seit einem vollen Jahr bitte ich euch täglich tausendmal, mit mir zu
sprechen: Ihr aber beobachtet ein für mich so trauriges Stillschweigen. Wenn es
unmöglich ist, dass dieser Trost mir von euch zu Teil werde, so gebe der Himmel
wenigstens, das ihr mir einen Sohn schenkt, der nach meinem Tod mein Thronerbe
sei! Ich fühle mein Alter täglich immer mehr, und jetzt schon bedürfte ich
seiner, um mir die schwere Last meiner Krone tragen zu helfen. – Ich komme auf
mein herzliches Verlangen zurück, euch sprechen zu hören: Es sagt etwas in
mir, dass ihr nicht stumm seid. Ich flehe euch, teure Frau, ich beschwöre euch,
brecht dieses lange beharrliche Stillschweigen. Sagt mir nur ein einziges Wort,
danach will ich gerne sterben.“

Die schöne Sklavin, die nach ihrer Gewohnheit, den König
stets mit gesenkten Augen angehört, und ihn dadurch veranlasst hatte, nicht
allein zu glauben, dass sie stumm wäre, sondern auch, dass sie in ihrem Leben
nicht gelacht hätte, begann auf diese Rede zu lächeln. Der König von Persien
gewahrte es mit einer solchen überraschung, dass er einen lauten Freudenruf
tat. Da er nicht zweifelte, dass sie auch sprechen wollte, so erwartete er
diesem Augenblick mit unbeschreiblicher Ungeduld.