Project Description

233. Nacht

„Herr, Euer Majestät kann sich die Bestürzung und
den Schmerz Kamaralsamans, als der Vogel ihm den Talisman aus der Hand gerissen
hatte, besser vorstellen, als ich ihn zu beschreiben vermag. Er stand bei diesem
höchst traurigen Zufall, der die Folge seiner unzeitigen Neugier war, und die
Prinzessin eines Kleinods beraubte, einige Augenblicke unbeweglich.

Trennung
des Prinzen Kamaralsaman von der Prinzessin Badur

Der Vogel hatte sich, nach seinem Raub, in geringer
Entfernung auf die Erde gesetzt, mit dem Talisman im Schnabel. Der Prinz
Kamaralsaman näherte sich, in der Hoffnung, er würde ihn fallen lassen. Sobald
er aber heran kam, flog der Vogel auf, und setzte sich abermals auf die Erde.
Der Prinz verfolgte ihn wieder, und der Vogel, nachdem er den Talisman
verschluckt hatte, flog weiter. Der Prinz, der sehr gewandt war, hoffte ihn
durch einen Steinwurf zu töten, und verfolgte ihn nochmals. Je mehr der Vogel
sich von ihm entfernte, je hitziger ward der Prinz, ihn zu verfolgen, um ihn
nicht aus dem Gesicht zu verlieren.

über Täler und Hügel, bergauf, bergab, lockte der Vogel
so den ganzen Tag den Prinzen hinter sich her, indem er ihn immer weiter von der
Wiese und der Prinzessin Badur entfernte. Anstatt am Abend sich in ein
Gesträuch zu ducken, wo Kamaralsaman ihn in der Dunkelheit hätte erhaschen
können, schwang er sich auf den Gipfel eines hohen Baumes, wo er in Sicherheit
war.

Der Prinz war in Verzweiflung über so viele vergebliche
Mühe, und überlegte, ob er nach seinem Lager zurückkehren sollte.
„Aber,“ sprach er bei sich selber, „auf welchem Weg? Werde ich
mich in der Dunkelheit nicht verirren? Werden meine Kräfte es mir zulassen? Und
wenn ich es vermöchte, wie dürfte ich vor der Prinzessin erscheinen, ohne ihr
ihren Talisman wieder zu bringen?“

In diese trostlosen Gedanken versunken, und überwältigt
von Müdigkeit, Hunger, Durst und Schlaf legte er sich nieder, und brachte die
Nacht am Fuße des Baumes zu.

Am folgenden Morgen erwachte Kamaralsaman, bevor der Vogel
den Baum verlassen hatte. Sobald er ihn wegfliegen sah, beobachtete er ihn, und
lief ihm wieder den ganzen Tag nach, mit ebenso wenig Erfolg, als den
vorhergehenden Tag, indem er sich von Kräutern und Früchten nährte, die er
auf seinem Weg fand.

Und so trieb er es bis zum zehnten Tag, indem er den Vogel
vom Morgen bis zum Abend mit den Augen und Füßen verfolgte, und die Nacht am
Fuß des Baumes zubrachte, wo der Vogel sich immer auf den höchsten Gipfel
schwang.

Den elften Tag gelangte Kamaralsaman so mit dem Vogel, der
immer weiter flog, und den er nicht abließ zu verfolgen, an eine große Stadt.
Als der Vogel an die Mauer kam, schwang er sich hinüber, flog jenseits weiter,
und entschwand gänzlich Kamaralsamans Blicken, der so die Hoffnung verlor, ihn
wieder zu sehen und den Talisman der Prinzessin jemals wieder zu erlangen.

Unbeschreiblich bekümmert hierüber ging Kamaralsaman in
die Stadt, welche am Ufer des Meeres lag und einen sehr schönen Hafen hatte. Er
wanderte lange durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin er sich wenden, oder wo
er bleiben sollte, und gelangte so an den Hafen.

Noch ungewisser, was er tun sollte, wanderte er längs des
Ufers hin, bis an die Tür eines Gartens, der offen stand, und schaute hinein.
Der Gärtner, der ein guter Greis und bei der Arbeit beschäftigt war, hub in
demselben Augenblick den Kopf in die Höhe, und sobald er den jungen Prinzen
erblickte, und erkannte, dass er fremd und ein Muselmann war, so bat er ihn,
schleunig einzutreten und die Türe zu verschließen.

Kamaralsaman trat ein und verschloss die Türe und indem
er sich dem Gärtner näherte, fragte er ihn, weshalb er ihn diese Vorsicht
gebrauchen ließe. „Es geschieht,“ antwortete der Gärtner, „weil
ich wohl sehe, dass ihr ein Muselmann und hier eben erst angekommen seid: Diese
Stadt ist nämlich größtenteils von Götzendienern bewohnt, die alle
Muselmänner tödlich hassen, und uns wenige hier von der Religion des Propheten
sogar misshandeln. Dies muss euch unbekannt sein, und ich betrachte es als ein
Wunder, dass ihr ohne eine üble Begegnung bis hierher gekommen seid. Denn diese
Götzendiener sind vor allem aufmerksam auf die fremden Muselmänner, und
beobachten sie bei ihrer Ankunft, um sie in irgend einer Schlinge zu fangen,
wenn sie gegen ihre Arglist nicht auf ihrer Hut sind. Ich preise Gott, dass er
euch an einen sicheren Ort geführt hat.“

Kamaralsaman dankte dem guten Alten recht herzlich für
die Zuflucht, die er ihm so edelmütig anbot, um ihn gegen jede Beleidigung
sicher zu stellen. Er wollte noch mehr darüber sagen, aber der Gärtner
unterbrach ihn, und sagte: „Lassen wir diese Höflichkeiten bei Seite.
Kommt und ruht euch aus.“

Er führte ihn in sein kleines Haus, und nachdem der Prinz
zur Genüge von dem gegessen hatte, was er ihm mit einnehmender Herzlichkeit
darbot, bat er ihn, ihm die Ursache seiner Ankunft mitzuteilen.

Kamaralsaman erfüllte die Bitte des Gärtners. Als er
seine Geschichte geendigt hatte, ohne ihm etwas zu verschwiegen, fragte er
seinerseits ihn, welchen Weg er nach dem Reiche seines Vaters zu nehmen hätte.
„Denn,“ fügte er hinzu, „an meine Rückkehr zu der Prinzessin
darf ich nicht mehr denken. Wo sollte ich sie, nach elf Tagen, seitdem ein so
außerordentliches Abenteuer mich von ihr getrennt hat, wieder finden? Ja, wie
weiß ich denn, ob sie gar noch auf der Welt ist?“ Bei dieser traurigen
Erinnerung konnte er sich nicht enthalten, Tränen zu vergießen.

Der Gärtner antwortete ihm, dass er von der Stadt, wo er
sich gegenwärtig befände, bis zu den von Muselmännern bewohnten und von
Fürsten ihres Glaubens beherrschten Ländern, ein volles Jahr zu reisen hätte,
dass man aber zur See in viel kürzerer Zeit zur Ebenholzinsel gelangen, und von
dort leichter nach den Inseln Chaledan kommen könnte, dass jedes Jahr ein
Kauffahrerschiff nach der Ebenholzinsel ginge, und er also diesen Weg zur
Rückkehr in sein Vaterland nehmen könnte. „Wärt ihr etliche Tage früher
gekommen,“ setzte er hinzu, „so hättet ihr euch auf dem dieses Jahr
abgesegelten Schiff einschiffen können. Wenn ihr indessen, bis im nächsten
Jahr wieder ein Schiff abfährt, bei mir bleiben wollt, so erbiete ich euch von
Herzen gern mein Haus, so wie es da ist.“

Der Prinz schätzte sich glücklich, diese Zuflucht an
einem Ort zu finden, wo er keine Bekanntschaft hatte, auch keine Lust, welche zu
machen. Er nahm also das Erbieten an, und blieb bei dem Gärtner. Während er
nun die Abfahrt des Kauffahrteischiffes nach der Ebenholzinsel erwartete,
beschäftigte er sich den Tag über mit Gartenarbeiten und die Nacht, wo nichts
seine Gedanken von seiner geliebten Prinzessin Badur abzog, brachte er unter
Seufzen, Klagen und Weinen hin.

Wir lassen ihn hier, um zur Prinzessin Badur
zurückzukehren, welche wir unter ihrem Zelt schlafend verlassen haben.

Geschichte
der Prinzessin Badur, nach ihrer Trennung von dem Prinzen Kamaralsaman

Die Prinzessin schlief ziemlich lange, und als sie
erwachte, verwunderte sie sich, dass der Prinz Kamaralsaman nicht bei ihr war.
Sie rief ihren Frauen, und fragte sie, ob sie nicht wüssten, wo er wäre.
Während diese sie versicherten, sie hätten ihn wohl herein treten, aber nicht
hinausgehen gesehen, bemerkte sie, als sie ihren Gürtel wieder nahm, dass der
kleine Beutel daran offen und ihr Talisman nicht mehr darin war. Sie zweifelte
nicht, dass Kamaralsaman ihn genommen hätte, um zu sehen, was er wäre, und
dass er ihn ihr wiederbringen würde.

Sie erwartete ihn bis zum Abend mit der größten
Ungeduld, und konnte nicht begreifen, was ihn nötigte, so lange von ihr
entfernt zu bleiben. Als sie sah, dass es schon dunkle Nacht, geriet sie in
unaussprechliche Betrübnis. Sie verfluchte tausend Mal den Talisman, und den,
der ihn gemacht hatte, und wenn die Ehrfurcht sie nicht zurückgehalten hätte,
so würde sie die Königin, ihre Mutter, verwünscht haben, die ihr ein so
unseliges Geschenk gemacht hatte.

Höchst trostlos über dieses Ereignis, das um so
schmerzlicher war, als sie nicht wissen konnte, wie der Talisman die Entfernung
des Prinzen verursacht hatte, verlor sie jedoch nicht die Besinnung, vielmehr
fasste sie einen herzhaften Entschluss, wie wenigen ihres Geschlechtes eigen
ist.

Es wusste im Lager niemand, als die Prinzessin und ihre
Frauen, dass Kamaralsaman verschwunden war, denn seine Leute ruhten sich, oder
schliefen damals schon unter ihren Zelten. Da sie nun eine Meuterei fürchtete,
wenn sie Kunde davon bekämen, so mäßigte sie zuvörderst ihren Schmerz, und
verbot ihren Frauen, irgend etwas zu sagen oder kund zu geben, das den
geringsten Verdacht davon erwecken könnte. Hierauf legte sie ihr Kleid ab, und
zog eines von den Kleidern Kamaralsamans an, mit dem sie viel ähnlichkeit
hatte, dergestalt, dass ihre Leute sie am folgenden Morgen für ihn hielten, als
sie hervortrat und ihnen befahl, zusammenzupacken und aufzubrechen.

Als alles bereit war, ließ sie eine ihrer Frauen in ihre
Sänfte steigen, sie selber bestieg ein Pferd, und so ging der Zug vorwärts.

Nach einer Reise von mehreren Monaten zu Lande und zur
See, gelangte die Prinzessin, welche unter dem Namen des Prinzen Kamaralsaman
die Fahrt nach den Inseln Chaledan fortgesetzt hatte, nach der Hauptstadt des
Reichs der Ebenholzinseln, deren damaliger König Armanos1)
hieß.

Diejenigen ihrer Leute, welche zuerst ans Land stiegen, um
ihr eine Wohnung zu suchen, verbreiteten, dass das neu angekommene Schiff den
Prinzen Kamaralsaman brächte, der von einer langen Reise zurückkäme, und den
das Unwetter genötigt hätte, hier anzulegen. Das Gerücht davon erschallte
bald bis in den Palast des Königs.

Der König Armanos ging sogleich mit einem großen Teil
seines Hofstaates der Prinzessin entgegen, und traf sie, da sie beim
ausgestiegen und auf dem Weg nach der für sie bestellten Wohnung war. Er
empfing sie, wie den Sohn eines ihm befreundeten Königs, mit welchem er stets
in gutem Einverständnis gelebt hatte, und führte sie in seinen Palast, wo er
sie nebst allen ihren Leuten aufnahm. Er erzeigte ihr alle erdenkliche Ehre, und
bewirtete sie drei Tage hindurch mit außerordentlicher Pracht.

Als die drei Tage verflossen waren und der König Armanos
die Prinzessin, die er stets für den Prinzen Kamaralsaman hielt, von ihrer
Wiedereinschiffung und Fortsetzung ihrer Reise reden hörte, er aber große
Freude hatte, einen so wohl gebildeten, anmutigen und geistvollen Prinzen bei
sich zu sehen, so nahm er sie bei Seite, und sprach zu ihr: „Prinz, bei dem
hohen Alter, worin ihr mich seht, und bei der geringen Hoffnung, noch lange zu
leben, habe ich den Kummer, keinem Sohn mein Reich hinterlassen zu können. Der
Himmel hat mir nur eine einzige Tochter geschenkt, deren hohe Schönheit nicht
besser beraten sein könnte, als mit einem so wohl gebildeten, so hochgeborenen
und so vollkommenen Prinzen, wie ihr. Statt also an die Rückkehr in die Heimat
zu denken, so nehmt sie von meiner Hand, nebst meiner Krone, die ich sogleich zu
euren Gunsten niederlegen will, und bleibt bei uns. Es ist wohl Zeit, dass ich
mich in Ruhe setze, nachdem ich die Last der Krone so lange Jahre getragen habe.
Ich kann es mit keiner größeren Zufriedenheit tun, als wenn ich meine Staaten
durch einen so würdigen Nachfolger beherrscht sehe …“

Die Sultanin Scheherasade wollte fortfahren, aber der
schon anbrechende Tag verhinderte sie daran. Sie nahm dieselbe Erzählung in der
folgenden Nacht wieder auf, und sprach zum Sultan von Indien:


1)
Armanos bedeutet der Armenier.