Project Description

228. Nacht

„Herr, als die Königin von China in das Gemach trat,
worin die Prinzessin, ihre Tochter versperrt war, setzte sie sich neben sie.
Nachdem sie sich nach ihrer Gesundheit erkundigt hatte, fragte sie sie, welche
Ursache sie zur Unzufriedenheit mit ihrer Amme hätte, die sie so misshandelt.
„Meine Tochter,“ sagte sie, „das ist nicht anständig. Niemals
muss eine hohe Prinzessin, wie du, sich zu solchen Ausbrüchen hinreißen
lassen.“

„Frau Mutter,“ antwortete die Prinzessin,
„ich sehe wohl, dass Euer Majestät mich auch verspotten will, aber ich
erkläre, dass ich eher keine Ruhe haben werde, als bis der liebenswürdige
Jüngling, der diese Nacht bei mir geschlafen hat, mein Gemahl ist. Ihr müsst
wissen, wo er ist. Ich bitte euch inständig, ihn wieder kommen zu lassen.“

Zugleich sprach sie folgende Verse aus!

„Ach wie groß war seine Schönheit! – Doch
Schönheit ist nur ein geringer Teil seiner Eigenschaften.
Sein schlanker Wuchs, gleich einem schwanken Zweige, ist nicht weniger reizend,
als die frischen Rosen seiner Wangen.
Diese Wangen sind rosenfarbene Blätter, auf denen die Male (welche ihm so
schön stehen) als die Punkte erscheinen zu den Nunen1)
seiner Augenbrauen, die mit Tintenschwärze darauf gezeichnet sind.
Ich hörte nicht auf, von der Zeit seine Rückkehr zu erbitten. – möchte er
doch kommen! Allein sich fern zu halten, scheint ihm eigen zu sein. –
Gern würde ich der Zeit als dann ihre Ungerechtigkeit verzeihen, und einen
dichten Schleier darüber decken. –
Uns umarmend haben wir die Nacht zugebracht. Umarmung war unser Mitgenosse: Er
war freudetrunken von meiner Gazellengestalt, und ich von dem Becher seines
Mundes.
Ich drückte ihn fest an mich, wie ein Geiziger seinen Reichtum festhält, aus
Furcht, es möchte mir eine von seinen Schönheiten geraubt werden.
Ich hielt ihn in meinen Armen, als ob er eine Gazelle wäre, vor dem Eindruck
deren Blick ich mich fürchte.“ –

„Meine Tochter,“ erwiderte die Königin,
„du setzest mich in Erstaunen, und ich verstehe deine Reden nicht.“

Jetzt vergaß die Prinzessin die Ehrfurcht, und versetzte:
„Frau Mutter, der König, mein Vater, und ihr, habt mir zugesetzt, um mich
zur Vermählung zu bewegen, als ich keine Lust dazu hatte. Diese Lust ist mir
jetzt gekommen, und ich will durchaus den Jüngling, von welchem ich euch gesagt
habe, zum Gatten haben, oder ich bringe mich um.“

Die Königin versuchte es bei der Prinzessin mit Güte,
und sagte zu ihr: „Meine Tochter, du weißt selber recht wohl, dass du in
deinem Gemach allein bist und kein Mann hereinkommen kann.“

Die Prinzessin aber, anstatt sie anzuhören, unterbrach
sie und bezeigte sich so ungebärdig, dass die Königin genötigt war, sich mit
großer Betrübnis zu entfernen und hin zu gehen, um den König von allem zu
benachrichtigen.

Der König von China wollte selber die Sache ergründen.
Er kam in das Zimmer der Prinzessin, seiner Tochter, und fragte sie, ob es wahr
wäre, was er vernommen hätte?

„Herr Vater,“ antwortete sie, „reden wir
nicht davon. Erzeigt mir nur die Gnade, mir den Gatten wiederzugeben, der diese
Nacht bei mir geschlafen hat.“

„Was, meine Tochter,“ versetzte der König,
„hat jemand diese Nacht bei dir geschlafen?“

„Wie, Herr Vater,“ erwiderte die Prinzessin,
ohne ihm Zeit zu lassen, fort zu fahren, „ihr fragt mich, ob jemand bei mir
geschlafen hat? Euer Majestät ist es nicht unbekannt. Es ist der schönste
Jüngling, den je die Sonne beschienen hat. Damit Euer Majestät nicht
zweifle,“ fuhr sie fort, „dass ich ihn gesehen, er bei mir geschlafen,
ich ihm geliebkost und alle Mühe angewendet habe, ihn aufzuwecken, ohne es zu
bewirken, so beliebt hier diesen Ring anzusehen.“

Sie streckte die Hand hin, und der König von China wusste
nicht, was er sagen sollte, als er sah, dass es ein Mannesring war. Weil er aber
ihre ganze Erzählung nicht begreifen konnte, und er sie als eine Wahnsinnige
hatte einsperren lassen, so hielt er sie noch für ebenso toll, als zuvor. Und
aus Furcht, sie möchte sich an ihm selber, oder an andern ihr Nahenden
vergreifen, ließ er ihr, ohne weiter mit ihr zu reden, Fesseln anlegen und sie
noch enger einsperren, und gab ihr nur ihre Amme zur Bedienung, mit einer
starken Wache an der Türe.

Der König von China war untröstlich über das Unglück,
das der Prinzessin, seiner Tochter, zugestoßen war, indem sie, wie er wähnte,
den Verstand verloren hätte, und dachte auf Mittel ihrer Heilung. Er
versammelte seinen Rat und nachdem er ihren Zustand geschildert hatte, fügte er
hinzu: „Wenn jemand unter euch so geschickt ist, ihre Heilung zu
unternehmen und zu bewirken, so will ich sie ihm zur Frau geben, und ihn zum
Erben meines Reiches und meiner Krone einsetzen.“

Der Wunsch, eine so schöne Prinzessin zu besitzen, und
die Hoffnung, einst ein so mächtiges Königreich zu beherrschen, wie das von
China, machten großen Eindruck auf einen schon bejahrten Emir, der mit im Rat
saß. Da er der Zauberei kundig war, so schmeichelte er sich mit einem
glücklichen Erfolg, und bot sich dem König an.

„Ich bewillige es,“ fuhr der König fort,
„aber ich sage dir zum voraus, es geschieht nur unter der Bedingung, dir
den Kopf abhauen zu lassen, wenn es dir nicht gelingt: Es wäre unbillig, einen
so großen Preis davon zu tragen, ohne von deiner Seite etwas dafür zu wagen.
Und was ich dir sage, sage ich zugleich allen andern, die nach dir sich anbieten
werden, im Fall du die Bedingung nicht annimmst, oder es dir misslingt.“

Der Emir nahm die Bedingung an, und der König selber
führte ihn zu der Prinzessin.

Diese verhüllte ihr Gesicht, sobald sie den Emir kommen
sah, und sprach: „Herr Vater, Euer Majestät überrascht mich durch die
Zuführung eines Mannes, den ich nicht kenne, und vor dem mein Antlitz sehen zu
lassen die Religion verbietet.“

„Meine Tochter,“ erwiderte der König,
„seine Gegenwart darf dir keinen Anstoß geben. Es ist einer meiner Emire,
der dich zur Gattin begehrt.“

„Herr Vater,“ versetzte die Prinzessin, „es
ist nicht derjenige, den ihr mir schon gegeben habt, und von dem ich den
Verlobungsring empfangen habe und hier trage: Ihr werdet nicht übel deuten,
wenn ich keinen andern annehme.“

Der Emir hatte erwartet, dass die Prinzessin
ausschweifende Dinge tun oder sagen würde, und war sehr erstaunt, als er sie so
ruhig sah und so verständig reden hörte. Er erkannte wohl, dass ihr Wahnsinn
nichts anderes als eine heftige Liebe wäre, die ihren guten Grund haben
müsste. Er wagte es nicht, sich gegen den König hierüber zu erklären. Dieser
hätte es nicht dulden können, dass die Prinzessin ihr Herz einem andern
geschenkt, indem er sich zu seinen Füßen warf, sagte er: „Herr, nach dem,
was ich soeben gehört habe, würde es unnütz sein, wenn ich die Heilung der
Prinzessin unternähme. Ich weiß kein Mittel gegen ihr übel, und mein Leben
ist Euer Majestät verfallen.“

Der König, erzürnt über die Unfähigkeit des Emirs, und
über die Mühe, die er ihm verursacht hatte, ließ ihm den Kopf abhauen.

Einige Tage darauf ließ der König, um sich nicht
vorzuwerfen, etwas zur Heilung der Prinzessin versäumt zu haben, in seiner
Hauptstadt öffentlich kund machen: Wenn ein Arzt, Sterndeuter, oder Zauberer,
so geschickt wäre, die Prinzessin wieder zu Verstand zu bringen, so möchte er
nur kommen, jedoch unter der Bedingung, den Kopf zu verlieren, wenn er sie nicht
heilte. Er ließ dieselbe Kundmachung in den vorzüglichsten Städten seines
Reiches und an den Höfen der benachbarten Fürsten ergehen.“

Der erste, der sich nun dazu erbot, war ein Sterndeuter
und Zauberer. Der König ließ ihn durch einen Verschnittenen nach dem
Gefängnis seiner Tochter führen. Der Sterndeuter zog aus seinem Sack unterm
Arm ein Astrolabium, eine kleine Himmelskugel, ein Kohlenbecken, mehrere
Spezereien zum Räuchern, ein kupfernes Gefäß, und verschiedene andere Dinge,
und befahl, ihm Feuer zu bringen.

Die Prinzessin von China fragte, was alle diese Anstalten
bedeuteten. „Prinzessin,“ antwortete der Sterndeuter, „sie dienen
dazu, den bösen Geist zu beschwören, von welchem ihr besessen seid, ihn in
dies Gefäß, das ihr hier seht, zu verschließen, und ihn auf den Grund des
Meeres zu werfen.“

„Verfluchter Sterngucker,“ rief die Prinzessin
aus, „wisse, dass ich aller dieser Vorrichtungen nicht bedarf, dass ich
meinen gesunden Verstand habe, und das du selber ein Unsinniger bist. Wenn deine
Macht so weit reicht, so bringe mir nur den her, den ich liebe. Das ist der
beste Dienst, den du mir leisten kannst.“

„Prinzessin,“ erwiderte der Sterndeuter,
„wenn es sich so verhält, so dürft ihr ihn nicht von mir, sondern einzig
von dem König, eurem Vater, erwarten.“

Hierauf steckte er alles wieder in seinen Sack, was er
daraus hervorgezogen hatte, sehr verdrießlich, dass er sich so leicht auf die
Heilung einer eingebildeten Kranken eingelassen hatte.

Als der Sterndeuter von dem Verschnittenen wieder vor den
König von China geführt wurde, ließ er jenen nicht zu Wort kommen, sondern
sprach selber sogleich zu dem König mit Dreistigkeit: „Herr, laut der
Bekanntmachung, die Euer Majestät ergehen ließ, und selber mir bestätigte,
hielt ich die Prinzessin für wahnsinnig, und ich war gewiss, sie durch die mir
bekannten Geheimnisse wieder zu Verstande zu bringen, aber ich habe bald
erkannt, dass sie keine andere Krankheit hat, als die Liebe, und meine Kunst
erstreckt sich nicht bis zur Heilung dieses übels. Euer Majestät kann es
besser heilen, als irgend jemand, wenn sie ihr den verlangten Gemahl gibt.“

Der König ergrimmte über diese Unverschämtheit des
Sterndeuters, wofür er es hielt, und ließ ihm den Kopf abhauen.

Um Euer Majestät nicht durch Wiederholungen zu
ermüden,“ fuhr Scheherasade fort, „sage ich nur, dass sich 150,
sowohl Sterndeuter, als ärzte und Zauberer, zur Heilung erboten, die alle
dasselbe Schicksal hatten und ihre Köpfe wurden über allen Toren der Stadt
aufgesteckt.

Geschichte
Marsawans und Fortsetzung der Geschichte Kamaralsamans

Die Amme der Prinzessin von China hatte einen Sohn, Namens
Marsawan, Milchbruder der Prinzessin, den sie mit ihr gesäugt und aufgezogen
hatte. Beider Freundschaft war während ihrer Kindheit, so lange sie beisammen
waren, so groß gewesen, dass sie sich wie Bruder und Schwester behandelten,
selbst nachdem ihr vorgerücktes Alter ihre Trennung notwendig gemacht hatte.

Unter mehreren Wissenschaften, wodurch Marsawan seit
seiner frühsten Jugend seinen Geist gebildet, hatte seine Neigung ihm besonders
zum Studium der Astrologie und Geomantie2)
und anderer geheimer Wissenschaften hingezogen, und er hatte sich darin sehr
geschickt gemacht. Nicht zufrieden mit dem, was er von seinen Lehrmeistern
gelernt, hatte er sich, sobald er sich stark genug für die Beschwerden fühlte,
auf Reisen begeben. Es war kein berühmter Mann in irgend einer Kunst und
Wissenschaft, den er nicht in den entferntesten Städten aufgesucht und sich
lange genug bei ihm aufgehalten hätte, um von ihm alles zu lernen, was ihm
zusagte.

Nach einer Abwesenheit von mehreren Jahren kam Marsawan
endlich nach der Hauptstadt von China zurück, wo die über dem Stadttor, durch
welches er hereinkam, aufgesteckten Köpfe ihn höchst erstaunten. Sobald er
wieder zu Hause war, fragte er, was dieselben bedeuteten. Vor allen Dingen
erkundigte er sich nach der Prinzessin, seiner Milchschwester, die er nicht
vergessen hatte. Da man seine erste Frage nicht beantworten konnte, ohne die
zweite, so vernahm er, was er verlangte, mit großem Schmerz, in Erwartung, dass
seine Mutter, die Amme der Prinzessin, ihm mehr davon sagen würde.“

Scheherasade endigte hier für diese Nacht ihre
Erzählung. Sie nahm dieselbe in der nächsten Nacht mit folgenden Worten wieder
auf, indem sie sich zu dem Sultan von Indien wandte:


1)
Nun ist der Name des Buchstaben N, über den ein Punkt gehört, um ihn von
andern ähnlich gestalteten Buchstaben zu unterscheiden. Das N, wenn es einzeln
steht, hat die Gestalt der umgekehrten Augenbrauen.