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221. Nacht

In der folgenden Nacht, sobald die Sultanin Scheherasade
von ihrer geschäftigen Schwester Dinarsade geweckt worden war, erzählte sie
dem Sultan von Indien die Geschichte Kamaralsamans, wie sie versprochen hatte,
und begann:

Geschichte
der Liebe des Prinzen Kamaralsaman von der Insel Chaledan und der Prinzessin
Badur von China

„Herr, ungefähr zwanzig Tagereisen von der
persischen Küste liegt in dem großen Meer eine Insel, welche die Insel
Chaledan1)
heißt. Die Insel ist in mehrere große Landschaften geteilt, die alle durch
blühende und stark bevölkerte Städte sich auszeichnen und ein mächtiges
Königreich bilden. Hier herrschte einst ein König Namens Schachsaman2),
der vier Frauen, sämtlich Königstöchter, in rechtmäßiger Ehe, und sechzig
Beischläferinnen hatte.

Schachsaman schätzte sich für den glücklichsten
Herrscher auf der ganzen Erde, wegen der Ruhe und Wohlfahrt seines Reiches. Nur
ein einziger Umstand trübte sein Glück, dass er nämlich schon hochbejahrt und
noch kinderlos war, obwohl er eine so große Menge Weiber hatte. Er wusste
nicht, wem er diese Unfruchtbarkeit beimessen sollte. In seiner Betrübnis
betrachtete er es als das größte Unglück, das ihm begegnen konnte, wenn er
stürbe, ohne einen Erben von seinem Stamm zu hinterlassen.

Lange verleugnete er den heißen Schmerz, der ihn quälte,
und er litt umso mehr, als er sich Gewalt antat, seinem Kummer nicht sehen zu
lassen. Endlich brach er das Schweigen, und eines Tages, nachdem er sich gegen
seinen Großwesir unter vier Augen über sein Unglück bitter beklagt hatte,
fragte er ihn, ob er nicht ein Mittel wüsste, demselben abzuhelfen.

„Wenn das, was euer Majestät mich fragt,“
antwortete dieser weise Minister, „von den gewöhnlichen Vorschriften der
menschlichen Weisheit abhinge, so würdet ihr bald der Erfüllung eures heißen
Wunsches teilhaftig sein. Aber ich bekenne, dass diese Frage über meine
Erfahrung und Kenntnisse geht: In dergleichen Anliegen kann man allein zu Gott
seine Zuflucht nehmen. mitten in unserem Glück, das uns oft seiner vergessen
lässt, gefällt es ihm, uns an irgend einer Stelle zu kränken, damit wir
wieder an ihn denken, seine Allmacht erkennen, und von ihm bitten, was wir nur
allein von ihm erwarten dürfen. Ihr habt Untertanen, die es sich besonders
angelegen sein lassen, ihn zu verehren, ihm zu dienen und um seinetwillen ein
strenges Leben zu führen: Mein Rat wäre also, dass Euer Majestät ihnen
Almosen austeile, und sie aufforderte, ihre Gebete mit den eurigen zu
vereinigen. Vielleicht wird unter der großen Menge einer rein und angenehm
genug vor Gott erfunden, um die Erhörung eurer Wünsche zu erlangen.“

Der König Schachsaman billigte diesen Rat sehr, und
dankte dem Großwesir dafür. Er ließ jeder Brüderschaft dieser gottgeweihten
Leute reiche Almosen austeilen. Er berief selbst die Vorsteher derselben, und
nachdem er sie mit einem schlichten Mahl bewirtet hatte, erklärte er ihnen
seine Absicht und bat sie, ihre frommen Brüder davon zu unterrichten.

Schachsaman erlangte von dem Himmel, was er begehrte. Das
zeigte sich bald an der Schwangerschaft einer von seinen Frauen, die ihm nach
Verlauf von neun Monaten einen Sohn gab. Zum Dank dafür sandte er den
Brüderschaften der frommen Muselmänner neue, seiner Größe und Macht würdige
Almosen, und man feierte die Geburt des Prinzen nicht allein in der Hauptstadt,
sondern auch im ganzen Umfang seines Reiches, durch öffentliche Freudenfeste,
eine ganze Woche lang.

Man brachte ihm den Prinzen, sobald er geboren war, und er
fand ihn so schön, dass er ihm den Namen Kamaralsaman, (Mond oder Schönheit
der Zeit) gab.

Und als der Knabe vier Jahre alt war, besaß er viel Anmut
und Schönheit, dass ein Dichter folgende Verse auf ihn dichtete:

„Sobald man ihn sieht, spricht man: Gepriesen sei
Gott, der ihn gestaltete und bildete!
Er ist aller, aller schönen Menschen Fürst, und alle müssen bekennen, dass
sie seine Untertanen sind.“

Der Prinz Kamaralsaman wurde mit aller erdenklichen
Sorgfalt erzogen. Sobald er das gehörige Alter erreicht hatte, gab der Sultan
Schachsaman, sein Vater, ihm einen weisen Hofmeister und geschickte Lehrer.
Diese, durch ihre Fähigkeiten ausgezeichneten Männer fanden in ihm einen
leichten, gelehrigen, und für alle ihre Unterweisungen fähigen Geist, sowohl
in Betreff der Sitten als der Wissenschaften, die einem Prinzen geziemen. Im
reiferen Alter erlernte er ebenso alle Leibesübungen, und er zeigte dabei so
viel Anmut und so bewunderungswürdige Geschicklichkeit, dass er alle Welt
entzückte, und vor allen den Sultan, seinen Vater.

Als der Prinz das Alter von fünfzehn Jahren erreicht
hatte, entwickelte sich seine Schönheit im höchsten Grad, so dass folgende
Verse von ihm galten:

„Er war schlanken Wuchses, seine Haare waren so
schwarz und seine Stirn so glänzend weiß, dass, je nachdem man diese oder jene
betrachtete, man in die dunkle Nacht oder in den hellen Tag zu sehen glaubte.
Missbilligt aber nicht das Mal auf seiner Wange. Ist denn das herrliche
Anemonenblatt wegen seiner schwarzen Punkte minder schön?“

Der Sultan, der ihn zärtlich liebte, beschloss jetzt, ihm
den höchsten Beweis davon zu geben, nämlich, vom Thron zu steigen, und ihn
selber darauf zu setzen. Er sprach darüber mit seinem Großwesir, und sagte zu
ihm: „Ich fürchte, dass mein Sohn in der Müßigkeit der Jugend nicht
allein alle Vorzüge einbüße, womit die Natur ihn überhäuft hat, sondern
auch die, welche er durch die gute Erziehung, die ich ihm zu geben mich bemüht
habe, sich erworben hat. Da ich jetzt in einem Alter bin, dass ich daran denken
muss, mich zurückzuziehen, so bin ich fast entschlossen, ihm die Regierung zu
übergeben, und möchte mich für meine übrigen Tage damit begnügen, ihn
regieren zu sehen. Lange schon habe ich gearbeitet, und ich bedarf der
Ruhe.“

Der Großwesir wollte dem Sultan nicht alle die Gründe
vorstellen, welche ihn hätten bewegen können, von seinem Entschluss
abzustehen. Im Gegenteil, ging er auf seine Absicht ein, und antworte ihm:
„Herr, der Prinz ist, wie mir scheint, noch zu jung, um ihn so früh mit
einer so schweren Bürde zu beladen, als die Regierung eines mächtigen Staates
ist. Euer Majestät fürchtet mit gutem Grund, dass er durch die Müßigkeit
sich schade: Aber um dem vorzubeugen, sollte Euer Majestät es nicht geraten
finden, ihn zuvor zu vermählen? Die Ehe fesselt und bewahrt einen jungen
Prinzen vor Zerstreuung. Dabei könnte Euer Majestät ihm Zutritt zum Staatsrat
geben, wo er allmählich lernen würde, den Glanz und das Gewicht einer Krone
würdig aufrecht zu erhalten, deren ihr euch mit der Zeit zu seinen Gunsten
entäußern könnt, sobald ihr ihn durch eigene Erfahrung dazu fähig
erkennt.“

Schachsaman fand den Rat seines ersten Ministers sehr
vernünftig. Und sobald er ihn entlassen hatte, ließ er den Prinzen
Kamaralsaman rufen.

Der Prinz, der bisher täglich zu bestimmten Stunden den
Sultan, seinen Vater besucht hatte, ohne dazu gerufen zu werden, war etwas
überrascht durch diesen Befehl. Anstatt mit der gewöhnlichen Unbefangenheit
vor ihm zu erscheinen, grüßte er ihn mit großer Ehrfurcht, und stand vor ihm
mit niedergeschlagenen Augen.

Der Sultan bemerkte das Gezwungene des Prinzen, und sagte
zu ihm mit beruhigendem Ton: „Mein Sohn, weißt du, warum ich dich habe
rufen lassen?“ – „Herr,“ antwortete der Prinz mit Bescheidenheit,
„Gott allein dringt bis in die Herzen: Ich werde es mit Vergnügen von Euer
Majestät vernehmen.“ – „Es geschieht,“ fuhr der Sultan fort,
„um dir zu sagen, dass ich dich vermählen will. Was dünkt dich
dazu?“

Der Prinz Kamaralsaman hörte diese Worte mit großem
Missvergnügen. Sie machten ihn verwirrt, der Schweiß trat ihm vor die Stirn,
und er wusste nicht, was er antworten sollte. Er schwieg einige Augenblicke,
dann antwortete er: „Herr, ich bitte euch um Verzeihung, wenn ich über die
Erklärung Euer Majestät bestürzt erschien: Bei meiner großen Jugend versah
ich mich dessen noch nicht. Ich weiß sogar nicht, ob ich mich jemals zum Band
der Ehe werde entschließen können. Nicht allein wegen der Unruhe, welche die
Frauen erregen, wie ich sehr wohl einsehe, sondern auch, wie ich in unseren
Schriftstellern gelesen haben, wegen ihrer Ränke, ihrer Bosheit und ihrer
Treulosigkeit:

„Fragt ihr mich über die Weiber, so weiß ich euch
Bescheid zu geben. Ich kenne ihre Fehler:
Wenn des Mannes Haupt weiß wird, oder sein Reichtum sich vermindert, so hat er
keinen Teil mehr an ihrer Liebe.“

Vielleicht werde ich nicht immer so gesonnen sein. Nichts
desto weniger fühle ich, dass ich Zeit bedarf, bevor ich mich zu dem
entschließe, was Euer Majestät von mir fordert.“

Scheherasade wollte fortfahren, aber sie sah, dass der
Sultan von Indien, der den anbrechenden Tag bemerkt hatte, schon aufstand, und
also hörte sie auf zu reden. In der folgenden Nacht nahm sie ihre Erzählung
wieder auf, und sprach zu ihm:


1)
Chaledan sind die Kanarinen oder
glückseligen Inseln.
2)
Schach-sam