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206. Nacht

Der Prinz von Persien begnügte sich nicht, diesen Brief
einmal zu lesen. Ihm deuchte, dass er ihn mit zu wenig Aufmerksamkeit gelesen
hätte. Er las ihn nochmals langsamer, und während des Lesens stieß er bald
klägliche Seufzer aus, bald vergoss er Tränen, und bald brach er in
Entzückungen der Freude und der Zärtlichkeit aus, je nachdem er von dem, was
er las, angeregt wurde. Kurz, er ward nicht müde, mit den Augen diese Züge
einer so geliebten Hand zu durchlaufen; und er war im Begriff, sie zum
dritten Mal zu lesen, als Ebn Thaher ihm vorstellte, dass die Vertraute keine
Zeit zu verlieren hätte, und dass er daran denken müsste, zu antworten.

„Ach,“ rief der Prinz aus, „wie soll ich
auf einen so hinreißenden Brief antworten? In welchen Worten soll ich, in der
Verwirrung, worin ich bin, mich ausdrücken? Mein Geist ist von tausend
qualvollen Gedanken bestürmt, und meine Empfindungen verschwinden in dem
Augenblick, wo sie entstehen, um neuen Platz zu machen. Während mein Leib noch
die Eindrücke meiner Seele nachzittert, wie könnte ich da das Papier halten,
und den Kalam1)
führen, um Buchstaben zu zeichnen?“

Indem er also sprach, zog er aus einem kleinen Schrank
neben ihm Papier, einen geschnittenen Kalam, und ein Tintenfass …“

Scheherasade bemerkte bei dieser Stelle, dass es Tag war,
und unterbrach ihre Erzählung. Sie nahm den Verlauf derselben in der nächsten
Nacht wieder auf, und sagte zu Schachriar:


1)
Die Araber, Perser und Türken halten beim Schreiben das Papier mit der linken
Hand gewöhnlich auf das Knie gestützt und schreiben mit der Rechten mit einem
kleinen, gleich unseren Federkielen geschnittenen und gespitzten Rohre (Kalam,
calamus, Halm). Diese Rohrart ist hohl und gleicht unserem Schilfrohr, ist aber
fester.