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15. Nacht

Als in der folgenden Nacht Dinarsade ihre Schwester
Scheherasade aufgeweckt hatte, fuhr diese, mit Erlaubnis des Sultans,
folgendermaßen fort:

„Herr, der Kadi erzählte den drei Prinzen, bevor er
sein Urteil aussprach, folgende Geschichte:

„Es war einmal ein junger Mann, der ein junges
Mädchen leidenschaftlich liebte, und von ihr wieder geliebt wurde. Sie
wünschten beide, dass eine glückliche Heirat sie vereinen möchte: aber die
Eltern des Mädchens hatten andere Absichten mit ihr, sie versprachen sie mit
einem andern Manne, und waren eben bereit, sie ihm zu überliefern, als sie
ihrem Geliebten begegnete.

„Ihr wisst nicht, was vorgeht,“ sagte sie
weinend zu ihm; „meine Eltern geben mich einem Manne, den ich niemals
gesehen haben; ich muss auf die süße Hoffnung verzichten, die Eurige zu
werden: welche harte Notwendigkeit.“ – „Ach! Meine Königin,“
rief der verzweifelte Liebhaber aus, „meine Sultanin, was sagt ihr da? Ist
es möglich, dass man euch meinen Wünschen entreißt? O Himmel! Was soll aus
mir werden?“ Indem er diese Worte aussprach, kamen ihm die Tränen in die
Augen.

Sie begannen beide, sich über ihr Unglück zu beklagen,
und erweichten einander. Aber während der Liebhaber nur mit seinem Kummer
beschäftiget war, dachte die gute Geliebte zugleich daran, seinen Kummer zu
lindern. „Mäßiget diesen lebhaften Schmerz,“ sagte sie zu ihm;
„ich verspreche euch, in meiner ersten Hochzeitnacht, bevor ich mich mit
meinem Manne zu Bette lege, zu euch in eure Wohnung zu kommen.“ Dieses
Versprechen tröstete ein wenig den Liebhaber, welcher diese Nacht mit großer
Ungeduld erwartete.

Unterdessen machten die Eltern der Braut alle Anstalten zu
der Hochzeit; und kurz, sie vermählten sie mit dem ihr bestimmten Manne.

Es war Nacht, und schon hatten sich die Neuvermählten in
die Brautkammer zurückgezogen, und schickten sich an, sich zu Bette zu legen,
als der Mann gewahrte, dass seine Frau bitterlich weinte. „Was habt ihr,
liebe Frau?“ fragte er sie, „und was ist die Ursache eurer Tränen?
Wenn ihr Widerwillen hattet, euch mir hinzugeben, warum habt ihr mir es nicht
eher kund getan? Ich würde euch nie zur Heirat gezwungen haben.“

Die Frau antwortete, dass sie keinen Widerwillen gegen ihn
hätte. „Wenn das ist, liebe Frau,“ fuhr er fort, „warum denn
betrübt ihr euch so? saget es mir, ich beschwöre euch darum.“ Kurz, er
drang so stark in sie, dass sie ihm gestand, sie hätte einen Geliebten; jedoch
wäre weniger die Leibe zu ihm der Gegenstand ihres Kummers und ihrer Tränen,
als die Unmöglichkeit, worin sie sich befände, ihr ihm gegebenes Wort zu
halten.

Der Mann war ein gutmütiger Mensch, und dabei von
heiterer Laune; er bewunderte die Einfalt seiner Frau, und sagte zu ihr:
„Liebe Frau, ich weiß euch eurer Freimütigkeit so großen Dank, dass ich,
anstatt euch Vorwürfe zu machen, dieses unzeitige Versprechen getan zu haben,
euch vielmehr erlauben will, es zu erfüllen.“ – „Wie, Herr,“
unterbrach sie ihn, sehr überrascht, „ihr könnet einwilligen, dass ich
meinen Geliebten zu besuchen ginge?“ – „Ja, ich willige drein,“ erwiderte
der Mann, „unter der Bedingung, dass ihr vor Tage wieder hier seid, und dass
ihr mir gelobet, niemand wieder dergleichen Versprechen zu tun. Da ihr eurer
Zusage so getreu seid, so glaube ich darauf rechnen zu können.“ Sie schwur
ihm, wenn er so gefällig gegen sie wäre, ihr diesen Ausgang zu gestatten, sie
ihm immerdar getreu sein würde, und es das letzte Mal sein sollte, dass sie mit
ihrem Liebhaber spräche.

Im Vertrauen auf diesen Schwur ging der Mann selber hin
und öffnete ihr leise die Türe nach der Straße, damit niemand vom Hausgesinde
das Abenteuer erführe; und die Frau trat hinaus, noch in ihren
Hochzeitkleidern, bedeckt mit einer großen Menge von Perlen und Diamanten.

Kaum hatte sie zwanzig Schritte getan, als sie einem
Räuber begegnete, der, als er im Mondschein die Edelsteine erblickte, womit sie
geschmückt war, ganz entzückt vor Freuden ausrief: „Ha, welch ein Glück!
O Schicksal, welchen Dank bin ich dir schuldig, dass du mir die Gelegenheit
darbietest, auf einmal reich zu werden.“

Mit diesen Worten nähert er sich der Frau, hält sie an,
und schickt sich an, sie zu berauben. Aber indem er ihr ins Angesicht blickte,
erschien sie ihm auf einmal so schön, dass er ganz verdutzt davon ward.
„Was sehe ich?“ sagte er, „es ist keine Täuschung, die mich
blendet; o Himmel! kann man auf einmal so viel Reichtümer und so viel
Schönheit sehen? Welche Schätze! welche Reize! Ich weiß nicht, womit ich
anfangen soll. – Aber schöne Frau,“ fügte er hinzu, darf ich meinen
bezauberten Augen trauen? durch welchen Eigensinn des Schicksals wandelt eine so
reizende und so reich gekleidete Frau um diese Stunde allein auf der
Straße?“

Die Frau erzählte ihm unbefangen den Zusammenhang. Der
Räuber hörte ihr mit Verwunderung zu. „Wie? schöne Frau,“ sagte er
zu ihr; euer Mann hat für euch diese Gefälligkeit, und um eure Tränen zu
trocknen, hat er einem andern die köstlichste seiner Nächte abtreten
wollen?“ – „Ja, Herr,“ antwortete sie. „In Wahrheit, schöne
Frau,“ erwiderte der Räuber, „dieser Zug ist einzig. Ich bin davon
bezaubert; und da ich auch liebe, ungewöhnliche Dinge zu tun, so will ich weder
eure Juwelen, noch eure Ehre antasten; ich lasse euch euren Weg fortsetzen; ich
will ein eben so außerordentlicher Räuber sein, als euer Mann ein
außerordentlicher Ehemann ist: gehet und besuchet euren glücklichen Geliebten.
Aber ich will euch dahin führen und euer Begleiter sein: denn ihr könntet auf
einen minder bedenklichen Räuber stoßen, als ich bin.“

Mit diesen Worten fasste er sie bei der Hand, und
begleitete sie bis zum hause des Geliebten; darauf sagte er ihr Lebewohl, und
entfernte sich.

sie klopft an die Türe, man öffnet. Sie steigt hinauf in
das Zimmer ihres Geliebten; er ist sehr erstaunt, sie zu sehen. „O mein
Geliebter,“ sagte sie zu ihm, „ich komme mein euch gegebenes Wort zu
halten: heute bin ich verheiratet worden.“ – „Und wie,“ ruft der
junge Mann aus, “ wie habt ihr euch der glühenden Ungeduld eines
Bräutigams entziehen können? Ihr müsstet, wie mich deucht, in diesem
Augenblick in seinen Armen sein.“ Die Frau machte ihm hierauf ebenfalls
einen offenherzigen Bericht von dem, was zwischen ihr und ihrem Manne
vorgegangen war.

Der Geliebte war darüber nicht minder verwundert, als es
der Räuber gewesen war. „Ist es möglich, Herrin,“ sagte er zu ihr,
„dass euer Ehemann euch erlaubt hat, ein Versprechen zu erfüllen, welches
ihn entehrt, und das ihm ein Kleinod raubt, von welchem seine Einbildungskraft
sich die reizendste Vorstellung machen musste.“ – Ja, mein teurer
Geliebter,“ fuhr die Frau fort, „er willigt ein, dass ich euer
Verlangen erfülle, um mein Wort zu lösen; aber ihr seid nicht allein meinem
Manne dieses Gut schuldig, das er euch überlässt, ihr verdankt es auch der Großmut
eines Räubers, dem ich auf dem Wege hierher begegnet bin.“ Zugleich
erzählte sie ihm die Zwiesprache, welchen sie mit dem Räuber gehabt hatte. Die
Verwunderung des Geliebten verdoppelte sich: „Darf ich glauben,“ sagte
er, „was ich höre? Ein Bräutigam hat die Güte, einen solchen Schritt gut
zu heißen; ein Räuber ist großmütig genug, nicht die schönste Gelegenheit
benutzen zu wollen, welche der Zufall ihm jemals darbieten kann. Dies Abenteuer
ist ohne Zweifel neu, und verdient aufgeschrieben zu werden: alle kommende
Jahrhunderte werden es bewundern, aber, um die Bewunderung der Nachwelt noch zu
vermehren, will ich hinter dem Räuber und dem Bräutigam nicht zurückbleiben;
ich folge ihrem Beispiele. Also, schöne Frau, ich gebe euch euer Wort zurück,
und erlaubet, wenn es euch gefällt, dass ich euch nach eurem hause
begleite.“

Indem er dieses sagte, gab er ihr die Hand, und führte
sie bis an die Tür ihres Mannes, wo sie von einander schieden. Die Frau trat
hinein, und der Geliebte kehrte heim.

„Saget mir nun, meine Prinzen,“ fuhr der Kadi
von Kairo fort, „wen von diesen dreien haltet ihr für den Großmütigsten,
den Mann, den Räuber, oder den Geliebten?“

Der älteste Prinz sagte, derjenige, den er am meisten
bewunderte, das wäre der Mann. Der zweite Prinz behauptete, der Liebhaber sei
der bewundernswürdigste. „Und ihr, gnädiger Herr,“ fragte der Kadi
den jungen Prinzen, der noch schwieg, „welcher Meinung seid ihr?“ –
„Mir scheint,“ antwortete dieser junge Prinz, „dass der Räuber
der großmütigste ist: ich begreife nicht, wie er den Reizen der Braut
widerstehen, und vor allen, wie er sich enthalten konnte, sie zu berauben. Die
Diamanten, mit welchen sie geschmückt war, mussten seine Habgier mächtig
reizen, und es ist zu bewundern, wie er es vermochte, einen so großen Sieg
über sich davon zu tragen.“ –

„Prinz,“ erwiderte ihm der Kadi, indem er ihn
scharf anblickte, „ihr bewundert zu sehr die Gewalt, welche der Räuber
über sich hatte, als dass ich euch nicht im Verdacht haben sollte, die
Edelsteine eures seligen Vaters genommen zu haben: ihr habt euch selber verraten.
Bekennet es, gnädiger Herr, und lasst euch nicht von einer falschen Scham
zurückhalten; seid ihr schwach genug gewesen, einem Antriebe der Habgier zu
weichen, so könnt ihr jetzt eure Schwäche sühnen, indem ihr sie
bekennet.“

Der Prinz errötete bei dieser Anrede, und bekannte die
Wahrheit.

 

Die Sultanin von Persien erzählte diese Geschichte nicht
ohne Wirkung: Die boshaften Folgerungen, welche sie daraus zog, machten Sindbad
schwankend; und sie bestimmte ihn vollends durch folgende Rede: „Herr, ihr
seid eurem letzten Tage viel näher, als ihr wähnet: euer Sohn, dieser boshafte
Sohn, dessen Leben eure Wesire durch ihre gefährliche Beredsamkeit euch
verlängern lassen, wird euch vielleicht morgen schon den Dolch ins Herz
stoßen. Wehe mir!“ fügte sie hinzu, „was soll aus mir werden, wenn
ihr umkommet? Aber was frage ich, was aus mir werden soll? Mein Leben kümmert
mich wenig: ich fürchte nur den Tod meines Königs, meines Gatten, den ich
einzig liebe.“

Indem sie dieses sagte, fing sie an zu weinen; und ihre
Verstellung machte auf den Kaiser einen solchen lebhaften Eindruck, dass er ganz
erweicht ausrief: „Trocknet eure Tränen, schöne Sultanin; ich will meinem
Sohne nicht länger verzeihen; er ist nur zu schuldig, weil er euch in Tränen
versetzt. Wir wollen uns jetzo zur Ruhe legen; und seid versichert, gleich
morgen, sobald der weiße Widder den schwarzen bis in den äußersten Westen der
Erde vertrieben hat1), werde ich unserm gemeinsamen Feinde das Haupt abschlagen
lassen.“

Der Kaiser stand am folgenden Morgen wirklich mit dem
Vorsatze auf, der Königin Genugtuung zu gewähren; er setzte sich auf den Thron
und befahl dem Scharfrichter, ihm den Prinzen vorzuführen.

Der neunte Wesir ermangelte aber auch nicht, hervor zu
treten, und um Nurgehans Leben zu bitten; der König aber legte ihm
Stillschweigen auf, und sprach zornig zu ihm: „Wesir, es ist vergeblich, dass
du zu Gunsten meines Sohnes zu mir redest: sein Tod ist beschlossen.“

Darauf hub der Wesir ein zusammengefaltetes Papier empor,
überreichte es dem Kaiser, und sprach zu ihm: „Euer Majestät geruhe, sich
wenigstens dieses Papier vorlesen zu lassen, und zu vernehmen, was es enthält:
darnach möge sie tun, was sie gut dünkt.“

Sindbad nahm selber das Blatt, entfaltete es, und las
folgende Worte:

„O weiser und immerdar beglückter König! ich habe
die Sterndeutung zum besonderen Gegenstande meiner Forschungen gemacht; ich habe
dem Prinzen das Horoskop gestellt, und gefunden, dass er vierzig Tage lang in
äußerster Gefahr schweben wird: hütet euch wohl, ihn töten zu lassen, bevor
diese verflossen sind.“

Alle Wesire vereinigten ihre Bitten mit dieser Warnung:
„O König,“ sprachen sie, „um Gottes Willen, wartet, bis die
vierzig Tage vorüber sind; es wird euch nicht gereuen, diese Geduld gehabt zu
haben.“

„Ja, ohne Zweifel;“ setzte der neunte Wesir
hinzu, „und wenn der König es mir erlauben will, so will ich ihm eine
Geschichte erzählen, welche einige ähnlichkeit mit der Geschichte Nurgehans
hat; und Seine Majestät wird eingestehen, dass die Geduld alle Unfälle
besiegt.“ – „Wohlan, Wesir,“ sagte der König, „so erzähle
uns denn diese Geschichte.“

Darauf begann der neunte Wesir folgendermaßen:


1)
Der weiße und schwarze Widder bezieht sich wohl auf eine mythische Vorstellung
von Tag und Nacht.