»Er ist fort. Es ist zu Ende!« sprach Anna zu sich selbst, am Fenster stehend und zur Antwort auf diese Worte erfüllten jene Eindrücke in der Finsternis nach dem Erlöschen des Lichtes, und des furchtbaren Traumbildes in Eins zusammengeflossen, ihr Herz mit kaltem Entsetzen. »Nein, es kann nicht sein!« schrie sie auf und schellte heftig, durch das Zimmer eilend. Ihr war es jetzt so bange, allein zu bleiben, daß sie, ohne das Erscheinen des Dieners abzuwarten, diesem entgegenkam.

»Erkundigt Euch, wohin der Graf gefahren ist,« sagte sie.

Der Diener versetzte, der Graf sei nach den Marställen gefahren.

»Der Herr haben befohlen zu melden, daß der Wagen sogleich zurückkehren würde, falls es Euch gefällig wäre, auszufahren.«

»Gut. Bleibt. Ich werde sogleich ein Billet schreiben. Schickt Michail mit dem Billet nach den Marställen, so schnell als möglich.«

Sie setzte sich und begann zu schreiben:

»Ich bin schuld. Kehre heim, wir müssen ins Klare kommen. Um Gott, komm, mir ist furchtbar.«

Sie siegelte und übergab dem Diener das Billet.

Jetzt fürchtete sie sich allein zu bleiben und begab sich, nachdem der Diener gegangen war, aus dem Zimmer nach der Kinderstube.

»Was ist das? Das ist er nicht! Das ist nicht Er! Wo sind seine blauen Augen, wo ist sein mildes, sanftes Lächeln?« war ihr erster Gedanke, als sie ihr dralles, rotbäckiges kleines Mädchen mit den schwarzen krausen Haaren anstatt Sergeys, den sie in einer Verwirrung ihrer Gedanken in der Kinderstube zu sehen erwartet hatte, erblickte.

Das Kind saß am Tische, hartnäckig und geräuschvoll mit einem Korkpfropfen auf den Tisch pochend, und schaute mit seinen zwei schwarzen Augen verständnislos die Mutter an.

Nachdem Anna der Engländerin geantwortet hatte, daß sie sich völlig wohl befinde und morgen aufs Land gehen werde, setzte sie sich zu ihrem Kinde und begann vor demselben den Pfropfen von einer Karaffe zu drehen. Das laute, tönende Lachen des Kindes und die Bewegung, welche dasselbe mit den Brauen machte, brachten ihr aber Wronskiy so lebhaft in die Erinnerung, daß sie, ein Aufschluchzen unterdrückend, hastig aufstand und hinausging.

»Ist denn wirklich alles zu Ende? Nein, es kann nicht sein«, dachte sie. »Er wird zurückkehren! Aber wie soll er mir jenes Lächeln erklären, seine Lebhaftigkeit, nachdem er mit ihr gesprochen hatte? Indessen auch wenn er mir es nicht erklärt, will ich ihm glauben. Glaube ich ihm nicht, dann bleibt mir noch Eins – aber ich will nicht.« –

Sie sah nach der Uhr. Es waren zwanzig Minuten vergangen.

»Jetzt hat er mein Billet bereits erhalten und kehrt zurück. Nicht lange mehr, noch zehn Minuten – aber wie, wenn er nicht zurückkehrt? Doch nein, das kann nicht sein! Er darf mich indessen nicht mit verweinten Augen sehen. Ich will gehen und mich waschen. Bin ich denn frisiert oder nicht?« frug sie sich, ohne sich erinnern zu können. Sie fühlte sich nach dem Kopfe, »ja, ich bin frisiert, aber wenn es geschah, weiß ich wirklich nicht mehr.« Sie glaubte nicht einmal der eigenen Hand und ging zu dem Trumeau, um nachzusehen, ob sie in der That frisiert sei oder nicht. Sie war frisiert und konnte sich dennoch nicht erinnern, wenn sie es gethan hatte. »Wer ist das?« dachte sie, in den Spiegel blickend, und ein fieberhaft glühendes Antlitz mit seltsam blitzenden Augen, die sie erschreckt ansahen, gewahrend. »Das bin ich doch,« erkannte sie plötzlich und ihre ganze Erscheinung musternd, fühlte sie plötzlich seine Küsse auf sich und zuckte zusammenschauernd mit den Schultern. Dann hob sie die Hand zu den Lippen und küßte sie. »Was ist das; ich bin von Sinnen,« sprach sie und begab sich in das Schlafzimmer, wo Annuschka aufräumte. »Annuschka,« sagte sie, vor der Zofe stehen bleibend und sie anschauend, ohne zu wissen, was sie ihr eigentlich sagen wollte.

»Ihr wolltet zu Darja Aleksandrowna fahren,« antwortete die Zofe, als ob sie verstanden hätte.

»Zu Darja Aleksandrowna? Ja, ich werde fahren.«

»Fünfzehn Minuten hin, fünfzehn Minuten zurück! Er wird schon kommen, er kommt sogleich.« Sie zog die Uhr hervor und sah darnach. Wie konnte er nur wegfahren, und mich in einer solchen Lage zurücklassen? Wie kann er leben, ohne mit mir ausgesöhnt zu sein?« Sie trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinab. Der Zeit nach hätte er schon zurücksein können. Aber ihre Berechnung konnte nicht richtig sein und sie begann aufs neue, sich zu vergegenwärtigen, wann er weggefahren war, und die Minuten zu berechnen. Gerade als sie nach einer größeren Uhr ging, um die ihrige darnach zu vergleichen, kam jemand angefahren. Durch das Fenster blickend, gewahrte sie seinen Wagen. Es kam jedoch niemand zur Treppe herauf, während unten Stimmen vernehmbar wurden. Der Bote war es, welcher im Wagen zurückkehrte. Sie ging zu ihm hinunter.

Der Graf war nicht zu treffen gewesen, er war auf der Chaussee von Nishegorod weggefahren.

»Was bringst du? Was« – wandte sie sich zu dem rotbäckigen, fröhlichen Michail, der ihr das Billet wieder zurückgab. »Er hat es ja gar nicht erhalten,« sagte sie sich. »Fahre mit diesem Billet auf das Dorf zur Gräfin Wronskaja, verstehst du? Und bringe sofort Antwort,« sagte sie zu dem Boten. »Aber was soll ich selbst thun?« dachte sie, »nun, ich werde zu Dolly fahren, oder, wahrhaftig, ich verliere den Verstand. Ich kann ja auch noch telegraphieren.« Sie schrieb sogleich eine Depesche nieder.

»Ich muß dich sprechen, komm sogleich.«

Nachdem sie das Telegramm abgeschickt hatte, ging sie sich anzukleiden. Bereits angekleidet und im Hut blickte sie nochmals der etwas beleibt gewordenen, ruhigen Annuschka in die Augen. Offenes Mitleid war in diesen kleinen, gutmütigen, grauen Augen sichtbar.

»Liebe Annuschka, was soll ich thun?« sagte Anna weinend, sich hilflos in einem Lehnsessel sinken lassend.

»Wozu sich so beunruhigen, Anna Arkadjewna! So geht es eben! Fahrt nur und zerstreut Euch,« antwortete die Zofe.

»Ja, ich werde fahren,« sagte Anna, sich ermannend und aufstehend. »Wenn in meiner Abwesenheit ein Telegramm einlaufen sollte, so soll es zu Darja Aleksandrowna geschickt werden – oder nein; ich werde selbst zurückkommen!« –

»Ja, man muß nicht grübeln, sondern etwas thun, ausfahren, und hauptsächlich dieses Haus verlassen,« sprach sie, mit Entsetzen die furchtbare Wallung wahrnehmend, welche in ihrem Herzen entstand, ging hastig hinaus und setzte sich in den Wagen.

»Wohin befehlt Ihr?« frug Peter, bevor er sich auf den Bock setzte. »Nach Znammka, zu den Oblonskiy!«