Sie trat ihm entgegen, ohne ihre Freude, ihn zu sehen, zu verhehlen. In dieser Ruhe, mit welcher sie ihm die kleine und energische Hand entgegenstreckte, ihn mit Workujeff bekannt machte und dann auf ein rothaariges, hübsches kleines Mädchen zeigte, welches hier bei einer Arbeit saß, und das sie ihre Pflegebefohlene nannte, lagen die Lewin bekannten, angenehmen Manieren der Frau aus der großen Welt, die stets ruhig und natürlich sind.

»Es ist mir sehr, sehr angenehm,« wiederholte sie, und in ihrem Munde erhielten diese einfachen Worte für Lewin aus unbekanntem Grunde eine eigentümliche Bedeutung. »Ich kenne und liebe Euch lange schon wegen Eurer Freundschaft für Stefan und wegen Eures Weibes; ich habe dieses nur kurze Zeit gekannt, aber es hat in mir den Eindruck einer reizenden Blüte hinterlassen, ja, einer Blüte! Sie wird also bald Mutter werden?«

Anna sprach ungezwungen und ohne Hast, bisweilen ihren Blick von Lewin auf ihren Bruder richtend. Erfterer empfand, daß der Eindruck, den er hervorbrachte, ein guter sein mußte, und sogleich wurde es ihm nun in ihrer Gesellschaft so leicht, so frei und behaglich zu Mut, als hätte er sie von Kindheit an gekannt.

»Ich habe mit Iwan Petrowitsch im Kabinett Alekseys Platz genommen,« sagte sie, Stefan Arkadjewitsch auf dessen Frage, ob man rauchen dürfe, – antwortend »damit er eben rauchen könne,« und nahm, auf Lewin blickend, anstatt zu fragen ob er rauche, ein Cigarrenetuis von Schildkrot, aus welchem sie eine Cigarette zog.

»Wie steht es jetzt mit deiner Gesundheit?« frug sie ihr Bruder.

»Wie soll es gehen; die Nerven sind stets dieselben.«

»Nicht wahr, ziemlich gut?« sagte Stefan Arkadjewitsch, bemerkend, daß Lewin das Porträt betrachtete.

»Ich habe noch nie ein besseres Porträt gesehen.«

»Und ziemlich ähnlich, nicht wahr?« sagte Workujeff.

Lewin schaute vom Porträt auf das Original. Ein eigentümlicher Glanz erleuchtete das Antlitz Annas, während sie seinen Blick auf sich ruhen fühlte. Lewin errötete, und wollte, um seine Verlegenheit zu verbergen, fragen, ob es schon längere Zeit her sei, daß sie Darja Aleksandrowna gesehen habe, doch im selben Augenblick begann Anna:

»Ich habe mit Iwan Petrowitsch soeben von den letzten Gemälden Waschtschenkoffs gesprochen. Habt Ihr sie gesehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen,« antwortete Lewin.

»Doch entschuldigt, ich habe Euch unterbrochen, Ihr wolltet sagen« –

Lewin frug, ob sie vor längerer Zeit Dolly gesehen hätte.

»Gestern war sie bei mir; sie ist wegen Grischa sehr schlecht auf das Gymnasium zu sprechen. Der Lehrer im Lateinischen scheint es, ist ungerecht gewesen gegen ihn.«

»Ich habe die Bilder gesehen; sie haben mir sehr gefallen,« wandte sich Lewin zu dem von ihr begonnenen Gespräch zurück.

Lewin sprach jetzt ganz und gar nicht mehr von jener handwerksmäßigen Stellung zum Gegenstande, aus der er am Morgen gesprochen hatte. Jedes Wort der Unterhaltung mit ihr erhielt eine eigentümliche Bedeutung. Schon mit ihr reden war ihm angenehm, noch angenehmer aber, ihr zuzuhören.

Anna sprach nicht nur natürlich, und klug, sondern auch klug und ohne Zwang, ohne ihren Gedanken Wert beizulegen, während sie den Ideen des anderen großes Gewicht beilegte.

Das Gespräch drehte sich um die neue Richtung in der Kunst, um die neue Illustration der Bibel durch einen französischen Künstler. Workujeff zieh den Künstler eines Realismus, der bis zur Derbheit ging. Lewin sagte, daß die Franzosen das Abstrakte in der Kunst entwickelt hätten wie niemand, und sie daher ein besonderes Verdienst in der Rückkehr zum Realismus erblickten. Schon darin, daß sie nicht mehr lögen, sähen sie Poesie.

Noch nie hatte Lewin etwas Vernünftiges, was er je einmal gesagt haben mochte, so viel Vergnügen gemacht, als dies. Das Gesicht Annas erglänzte plötzlich über und über, als sie diesen Gedanken momentan abwog. Sie begann zu lächeln.

»Ich lache,« sagte sie, »wie man lacht, wenn man ein sehr ähnliches Porträt sieht. Das, was Ihr sagtet, charakterisiert jetzt vollkommen die französische Kunst, wie sie jetzt ist, die Malerei, und selbst die Litteratur; Zola, Daudet. Doch ist es vielleicht stets so, daß man seine conceptions aus erdachten, abstrakten Gestalten konstruiert, dann aber, nachdem alle combinaisons ausgeführt sind, die von erdachten Gestalten langweilen und man beginnt, natürlichere wahrhafte Gestalten auszusinnen.«

»Das ist vollkommen richtig,« sagte Workujeff.

»Ihr waret wohl im Klub?« wandte sie sich zu ihrem Bruder.

»Ja. das ist ein Weib!« dachte Lewin, sich ganz vergessend und unverwandt in ihr schönes, bewegliches Gesicht blickend, welches sich jetzt plötzlich vollkommen verändert hatte. Lewin hörte nicht, wovon sie sprach, indem sie sich zu ihrem Bruder gewandt hatte, er war betroffen von der Veränderung ihres Ausdrucks. Vorher so herrlich in seiner Ruhe, drückte ihr Gesicht plötzlich eine seltsame Neugier, Zorn und Stolz aus. Doch dies währte nur eine Minute. Dann blinzelte sie, als denke sie an Etwas.

»Nun ja, dies ist aber doch für niemand von Interesse,« sagte sie und wandte sich zu der kleinen Engländerin. » Please, order the tea in the drawing-room.«

Das kleine Mädchen erhob sich und ging hinaus.

»Nun; hat sie das Examen bestanden?« frug Stefan Arkadjewitsch.

»Vorzüglich. Es ist ein sehr beanlagtes Mädchen und ein liebenswerter Charakter.«

»Und die Sache wird damit enden, daß du sie mehr liebst, als dein eigenes Kind.«

»So spricht ein Mann. In der Liebe giebt es kein mehr oder weniger; ich liebe meine Tochter mit einer bestimmten, dieses Mädchen mit einer anderen Liebe.«

»Ich sage eben zu Anna Arkadjewna,« sagte Workujeff, »daß sie, wenn sie auch nur ein Hundertstel der Energie, welche sie für diese Engländerin einsetzt, auf das gemeinsame Werk der russischen Kindererziehung verwendete, eine große, nützliche That vollbrächte.«

»Ja, das was Ihr da wollt, konnte ich nicht. Graf Aleksey Kyrillowitsch hat mich lebhaft ermuntert« – indem sie die Worte »Graf Aleksey Kyrillowitsch« aussprach, schaute sie schüchtern fragend Lewin an, welcher ihr unwillkürlich mit einem ehrerbietigen und bestätigenden Blicke antwortete, »mich mit dem Dorfschulwesen zu befassen. Ich kümmerte mich mehrmals darum; die Schulen sind mir sehr wert, aber ich vermochte es nicht, mich der Sache zu widmen. Ihr sprecht von Energie? Die Energie beruht auf der Liebe, und die Liebe läßt sich nicht irgend woher nehmen, nicht anbefehlen. So habe ich dieses Mädchen da lieb gewonnen, ohne selbst zu wissen, weshalb.«

Sie blickte wiederum Lewin an; ihr Lächeln, ihr Blick, alles sagte ihm, daß sie an ihn nur ihre Worte richte, seine Meinung würdige, und dabei im voraus wisse, daß sie sich gegenseitig verstanden.

»Ich begreife das vollkommen,« antwortete Lewin, »für die Schule und überhaupt für ähnliche Einrichtungen läßt sich nicht das Herz einsetzen, und ich glaube, daß eben infolge dessen diese humanistischen Einrichtungen stets so geringe Resultate erzielen.«

Anna schwieg eine Weile, dann lächelte sie. »Ja, ja,« bestätigte sie, »ich habe das nie vermocht. Je n’ai pas le coeur assez large, um ein ganzes Bewahrungshaus voller häßlicher kleiner Mädchen lieb haben zu können. Cela ne m’a jamais réussi. Es giebt jedoch so viele Frauen, welche sich hieraus eine position sociale begründet haben. Und jetzt,« sprach sie mit trauerndem, zutraulichem Ausdruck, äußerlich zu ihrem Bruder gewendet, augenscheinlich aber nur zu Lewin: »jetzt, wo mir eine Beschäftigung so nötig ist, kann ich es um so weniger.«

Plötzlich finster werdend – Lewin nahm wahr, daß sie es über sich selbst wurde, weil sie über sich gesprochen hatte – veränderte sie aber das Thema.

»Ich weiß von Euch,« sagte sie zu Lewin, »daß Ihr ein schlechter Bürger seid, und ich habe Euch doch verteidigt, so gut ich es verstand.«

»Wie habt Ihr mich denn verteidigt?«

»Bezüglich gewisser Angriffe. Indessen, ist nicht ein wenig Thee gefällig?« Sie erhob sich und nahm ein in Saffian gebundenes Buch zur Hand.

»Gebt mir dasselbe, Anna Arkadjewna,« sagte Workujeff, auf das Buch zeigend, »es ist recht wohl wert.«

»O nein; es ist noch so ungefeilt.«

»Ich habe ihm davon gesagt,« wandte sich Stefan Arkadjewitsch an seine Schwester auf Lewin deutend.

»Das hast du unnötigerweise gethan. Meine Schrift ist so nach Art jener Körbchen und Schnitzereien, die mir die Lisa Marzalowa aus den Ostrogs bisweilen verkaufte. Sie besuchte in seiner Gesellschaft die Ostrogs. Die Unglücklichen haben da Wunder an Geduldsproben geleistet.«

Lewin entdeckte einen neuen Zug an diesem Weibe, das ihm so außerordentlich gefiel. Außer Verstand, Grazie und Schönheit besaß sie auch Treuherzigkeit. Sie wollte vor ihm all das Drückende ihrer Lage gar nicht verheimlichen; und als sie dies gesagt hatte, seufzte sie, und ihr Gesicht, welches plötzlich einen strengen Ausdruck annahm, hatte sich gleichsam versteinert. Mit diesem Ausdruck auf den Zügen aber war sie noch schöner als vorher, doch derselbe war ein fremdartiger; er stand außerhalb dieses von Glück schimmernden, Glück erzeugenden Kreises von Ausdrücken, wie sie von dem Künstler auf dem Porträt aufgefangen worden waren. Lewin blickte noch einmal auf das Bild und auf ihre Gestalt, wie sie, den Arm des Bruders nehmend, mit diesem durch die hohe Thür schritt, und er empfand eine Zärtlichkeit und ein Mitleid mit ihr, das ihn selbst in Erstaunen versetzte.

Sie hatte Lewin und Workujeff gebeten, in den Salon zu treten, während sie selbst zurückgeblieben war, um mit dem Bruder über Etwas zu sprechen.

»Spricht sie von ihrer Ehescheidung, von Wronskiy, oder darüber, was er im Klub macht, oder von mir?« dachte Lewin, und die Frage, was sie mit Stefan Arkadjewitsch besprechen möchte, versetzte ihn so in Aufregung, daß er fast gar nicht vernahm, was ihm Workujeff über die Vorzüge des von Anna Arkadjewna geschriebenen Kinderromans erzählte.

Beim Thee wurde das nämliche, so angenehme, gehaltvolle Gespräch fortgesetzt. Es gab nicht nur keine einzige Minute, während welcher man nach einem Stoff für die Unterhaltung hätte suchen müssen, sondern im Gegenteil war fühlbar, daß man nur aussprach, was man sagen wollte, um sogleich bereitwillig innezuhalten und zu hören, was der andere sagte. Alles aber, was man auch sprechen mochte, sagte sie es nun selbst, oder Workujeff, oder Stefan Arkadjewitsch, alles erhielt wie Lewin schien, dank ihrer Aufmerksamkeit und ihren Bemerkungen, ein eigenartiges Gewicht.

Das interessante Gespräch verfolgend, versenkte sich Lewin während der ganzen Zeit in ihren Anblick und in ihre Schönheit, ihren Geist, ihre Bildung, und zugleich in ihre Natürlichkeit und Innerlichkeit. Mochte er zuhören oder reden, fortwährend dachte er an sie, an ihr inneres Leben, und bemühte sich, ihre Empfindungen zu erraten.

Er, der sie früher so streng verurteilt hatte, er rechtfertigte sie jetzt nach einem seltsamen Gedankengang, bemitleidete sie zugleich, und fürchtete, daß Wronskiy sie nicht vollkommen verstehen möchte. In der elften Stunde, als Stefan Arkadjewitsch sich erhob, um vorzufahren – Workujeff war schon zeitiger aufgebrochen – schien es Lewin, als sei er soeben erst angekommen. Nur ungern stand er gleichfalls auf.

»Lebt wohl,« sagte sie, seine Hand festhaltend und ihm mit anziehendem Blick ins Auge schauend; »ich freue mich recht sehr, que la glace est rompue.« Sie ließ seine Hand los und blinzelte mit den Augen. »Teilt Eurer Gattin mit, daß ich sie noch so lieb habe wie früher, und daß ich, wenn sie mir meine Situation nicht vergeben kann, wünsche, sie möge mir niemals verzeihen. Um vergeben zu können, muß man durchleben, was ich durchlebt habe, und davor behüte sie der Himmel.«

»Ich werde es sicher ausrichten,« sagte Lewin errötend.