Eine aufregende Geschichte

Torburg war keine große Stadt, und ein Gerüchtlein lief schnell durch seine Gassen. Die vier Buben Maxel, Hansjörg, Friedel und Fritze erzählten jedermann, der Professor Schnappel wolle das putzlebendige Kasperle von Meister Severin totmachen und in Spiritus setzen. Ein paar lachten darüber, aber alle Kinder glaubten das Gerede. Fritzes Mutter glaubte es auch. Die war eine Frau Bäckermeisterin, bei der viele Torburger ihre Wecken kauften, und an diesem Nachmittag bekamen alle Kunden zum frischen Kaffeeweck die Neuigkeit als Zugabe: »Wissen Sie schon? Das Kasperle soll in Spiritus gesetzt werden!«

»Jemine, wie graulich!« riefen ein paar Frauen, und auf dem Heimweg erzählten die es der Fleischermeisterin Hals an der Ecke vom Neumarkt, der Professor Schnappel wolle Kasperle in Spiritus setzen.

»Ach, Unsinn!« sagte die heitere Frau lachend.

»Ist kein Unsinn,« redete jemand dazwischen. Das war Dörte, des Professors Magd. »Er will es wirklich! Er setzt alles in Spiritus, was er studiert. Und er hat gesagt, er wolle Kasperle studieren. O je, o je, das arme liebe Kasperle! Tot weinen könnt‘ ich mich!«

Na, wenn es die Dörte selbst sagte, dann mußte es doch gewiß stimmen.

Das Gerüchtlein bekam auf einmal Siebenmeilenstiefel, rannte durch alle Gassen, und am Abend redete ganz Torburg davon, der Professor Schnappel wolle das Kasperle in Spiritus setzen. Immer weniger Leute lachten darüber, immer mehr glaubten es. Einige sagten trotzdem: »Unsinn!«, viele verlangten, man müsse es dem Bürgermeister sagen. Ja, zwei Frauen gingen sogar in des Bürgermeisters Haus. Doch der hatte zuviel von seinem Lieblingsgericht gegessen, das lag ihm im Magen, und als die Frauen ihm die schreckliche Geschichte mitteilten, knurrte er: »Meinetwegen kann er den Kasper in die Tinte setzen. Kasperles sind nur unnütze Dinger.«

Das war hart. Alle, die das Gerücht glaubten, bekamen das größte Mitleid mit Kasperle, und die Buben, die sich seine Freunde nannten, wurden von den andern Buben und Mädels lebhaft beneidet. Sie durften Kasperle beschützen, das war doch einmal etwas.

In Meister Severins Hause redete niemand von der furchtbaren Geschichte. Kasperle hatte zwar gesagt, der Professor wolle ihn in Spiritus setzen, doch Meister Severin hatte nur darüber gelacht und die andern mit ihm.

Am Nachmittag nahm Herr Severin das Kasperle mit in sein Zimmer hinauf, er wollte dort auf einer uralten Geige spielen. Da saß Kasperle still und geduldig auf dem Fensterbrett, lauschte den feinen, frommen Tönen und sah ganz, ganz anders aus als sonst. Immer ging es Kasperle so. Wenn Herr Severin oder sein Michele spielten, dann mußte er an die ferne schöne Insel denken, von der er doch gar nicht wußte, wo sie lag. Irgendwo im Weltmeer. Viele Blumen blühten dort, und nur Kasperles wohnten da. Aber alles wußte Kasperle nur wie einen schönen Traum, den er vor langer, langer Zeit geträumt und halt wieder vergessen hatte.

Nachher spielte Kasperle noch ganz brav, ohne lautes Getöse im Garten. Frau Liebetraut, die darinnen mit Mutter Annettchen zusammen saß, rief ein paarmal Kasperle, und dann antwortete Kasperle jedesmal: »Ja.«

Endlich rannte er in das Haus, kam bald wieder zurück und schrie: »Ich kann’s.«

»O lieber Himmel! Was für eine Dummheit kannste wieder?« fragte Mutter Annettchen.

Da setzte sich Kasperle auf einen Stuhl, nahm ein Buch in die Hand und sah dann plötzlich so aus wie drüben der Professor Schnappel.

»Aber Kasperle,« rief Frau Liebetraut, »du sollst doch nicht immer Gesichter schneiden! Der Herr Professor –«

Wutsch! hatte Kasperle ein bitterböses Teufelsgesicht aufgesetzt. »Er will mich in Spiritus tun,« rief er, »er ist schlimm.«

»Bewahre, der ist nicht schlimm!«

Kasperle glaubte sonst der schönen Frau Liebetraut alles, das glaubte er ihr aber doch nicht, und er rief trotzig: »Er ist doch bös!«

Frau Liebetraut antwortete nicht, denn Herr Severin kam gerade in den Garten, schwenkte einen Brief und rief: »Von Michael und Rosemarie.«

Hei! Da vergaß Kasperle allen Ärger über den Professor. Der Michele und seine Frau, die schöne Gräfin Rosemarie, das waren seine lieben, lieben Freunde. Er zappelte auf dem Stuhl herum vor Freude, wie ein Fischlein auf trockenem Land. Endlich hörte er etwas von ihnen! »Hallo, wo sind sie?«

»Kasperle, schrei nicht so arg!« sagte Herr Severin. »In Italien sind sie, und über das Meer wollen sie fahren, nach Ägypten, nach Indien, weit, weit in die Welt hinein.« Und dann las er den Brief vor, und weil Frau Liebetraut so sehr bat, spielte er auf einer kleinen Orgel innen im Haus noch lange schöne Weisen. Da hörte Kasperle wieder zu, und dann ging er brav und still in sein Bett; eins, zwei – da schlief er schon.

Er wachte auch so brav auf, und Frau Liebetraut selbst führte ihn hinüber zu seinem Freund Christli. Weil die Sonne hinter den Wolken Versteck spielte und der ganze Himmel nach Regen aussah, spielten Christli und Kasperle in dem Zimmer. Kasperle kasperte lustig herum. Christli lag auf einem Ruhebett und lachte. So verging beiden die Zeit.

Endlich kam die Gräfin Agathe herein und erzählte: »Kasperle, draußen stehen etliche Buben; sie sagten, sie müßten dich schützen und dich heimholen. Bist doch ein arg dummes Kasperle! Brauchst dich doch nicht zu fürchten!«

Doch Kasperle war das Heimholen schon lieb. Er wurde denn auch mit großem Jubel von seinen Freunden empfangen. Die aber bettelten heut: »Kaspere uns doch einmal etwas vor!«

Ach lieber Himmel, wie konnte da Kasperle nein sagen!

Er schnitt gleich seine allernärrischsten Gesichter, lachte und heulte, sprang und purzelbaumte, erst langsam, dann schneller und schneller und –

Ein gellender Schrei ertönte. Von den Buben unbemerkt war ein Herr über den Kirchplatz gekommen, der nahm das Kasperle am Hosenbödle und sagte: »So, nun hab‘ ich dich wieder.«

Es war der Professor Schnappel.

Ehe Kasperles Beschützer zu Hilfe kommen konnten, klappte die Haustüre, und Kasperle war in des Professors Haus. Nur sein Gebrüll tönte auf dem Kirchplatz, und das fuhr Maxel, Hansjörg, Friedel und Fritze in die Beine. Sie rannten, Hilfe zu holen. Zuerst ging’s auf den Schulplatz. Da quirlten Buben und Mädel herum, und Hansjörg brüllte als erster: »Jetzt steckt er ihn in Spiritus!«

Das Echo seiner Kameraden folgte gleich, und ein paar Augenblicke standen die Kinder alle wie erstarrt. Sie wußten nicht recht, waren die Buben übergeschnappt oder nicht. Aber da begann Hansjörg, der eine Stimme wie ein kleiner Löwe hatte, zu erzählen, und kaum war er fertig, gab es ein Zetergeschrei: »Er darf ihn nicht totmachen und in Spiritus setzen. Wir wollen Kasperle befreien.«

Kasperle war den Torburger Kindern eine ungeheuer wichtige Persönlichkeit geworden seit dem Tage seiner Ankunft. Recht gesehen hatten ihn freilich nur die vier Buben, aber geredet hatten sie alle von ihm. Und neugierig waren sie alle, und riesengroßes Mitleid hatten sie auch alle. Mädel, Buben, Große, Kleine, alle schrien sie aufgeregt durcheinander. Alle wollten gleich vor des Professors Haus ziehen, doch da rief Maxel bedeutsam: »Es müssen Große mitgehen.«

Ja, Große, ganz Torburg mußte mitlaufen, dann würde der Professor schon das Kasperle herausgeben.

»Wir laufen über den Markt.« Hansjörgs Stimme schrillte wieder.

»Aber vielleicht sitzt er schon im Spiritus!« ertönte es klagend. Die kleine Lisabeth, die ein sehr weiches Herzelein hatte, rief es. Und tropf, tropf! rannen ihr auch schon ein paar Tränlein aus den Augen.

Das steckte an: drei, vier Mädel schluchzten auf, doch Hansjörg brüllte: »Stille! So fix kommt er doch nicht in Spiritus. Marsch jetzt!«

»Übern Markt, übern Markt!« brüllten die andern, und die ganze Gesellschaft setzte sich in Bewegung. Es war gerade Wochenmarkt gewesen. Die Verkäuferinnen rüsteten sich just zum Abräumen und Einpacken, als heidi! mit Gelärm und Geschrei die ganze Kinderschar dahersauste. »Er setzt ihn in Spiritus, er setzt ihn in Spiritus! Hilfe, Hilfe!«

»Gott bewahre mich!« Die dicke Händlerin Freudenreich setzte sich gleich platt auf einen Haufen zusammengekehrter Marktreste nieder. »Was soll das? Was heißt das? Wer sitzt im Spiritus?«

»Kasperle, Kasperle!« kreischten die Kinder. »Der Professor Schnappel setzt ihn in Spiritus.«

»Unsinn!« rief eine handfeste Bäuerin. »Er will ihn gewiß nur abwaschen.«

»Nein, er macht ihn tot.«

»Unsinn!« riefen noch zwei andere Frauen, aber da kreischten die Kinder so mörderlich »Hilfe, Hilfe!«, daß es den Marktfrauen himmelangst wurde.

»Erzählt mal!« rief die Bäuerin. Und weil sie sah, daß Hansjörg seinen Schnabel am allerweitesten aufreißen konnte, nahm sie den Buben beim Genick, stellte ihn auf einen abgeräumten Tisch und gebot: »Der erzählt, ihr andern haltet’s Maul! Verstanden?«

Das war deutlich. Die Torburger Kinder schwiegen denn auch plötzlich muckstill, und Hansjörg begann zu erzählen. Als er in seiner Rede bei dem Ergreifen Kasperles durch den Professor Schnappel anlangte und beweglich Kasperles Gebrüll nachahmte, fielen alle Kinder ein: »Hilfe, Hilfe! Er steckt ihn in Spiritus!«

»Potz Donnerwetter! Was ist das für ein ungehöriger Lärm?« dröhnte eine laute Stimme in das Gekreisch hinein. Der Polizeiwachtmeister Stöterlein stand da und sah ungeheuer grimmig aus.

Die Händlerin Freudenreich, die eben erst von ihrem Gemüsehaufen aufgestanden war, plumpste vor Schreck gleich wieder um. Die Kinder aber ließen sich durch den barschen Ton nicht abschrecken. Der Wachtmeister Stöterlein kam ihnen gerade recht. Sie brüllten ihm in die Ohren: »Er steckt ihn in Spiritus; er macht ihn tot.«

»Wer? Was? Heiliger Bimbam! Was soll das heißen?«

Und wieder sagte die handfeste Bauersfrau: »Stille, ihr andern. Der da soll erzählen.«

Da kam Hansjörg wieder auf den Tisch, und er erzählte mit noch mehr Wichtigkeit als vorher das schreckliche Geschehen. Geraubt hatte der Professor Schnappel das Kasperle, und in Spiritus wollte er es stecken.

Die Kinder kreischten, ihre Stimmen gellten über den Markt, gellten den würdigen Ratsherren und dem Bürgermeister in die Ohren. Die kamen gerade von einer wichtigen Sitzung und beschauten sich etwas verwundert das ungewöhnliche Getriebe auf dem Platz.

»Komm mal mit!« Hansjörg schwebte durch die Luft, der Wachtmeister Stöterlein hatte ihn am Kragen gepackt, schwenkte ihn wie eine Fahne und setzte ihn gerade vor die weisen Herrn vom Rat der guten Stadt Torburg nieder. »Da, der soll’s sagen!« brummte der Wachtmeister.

Hansjörg war wie ein Held an diesem Tage. Alle guten Geister – konnte der kleine Dreikäsehoch schreien! Seine Stimme schmetterte den Ratsherren in die Ohren, und kaum war wieder der Schluß da, als Kinder und Marktfrauen aufkreischten: »Er setzt ihn in Spiritus, er macht ihn tot!«

»Zum Kuckuck, was geht uns so ein dummer Kasper an!« rief der Herr Bürgermeister.

Doch da wandten sich alle entrüstet dem Stadtoberhaupt zu, und selbst die Bauersfrau, die zuerst »Unsinn!« gesagt hatte, rief nun, dies sei nicht recht, man dürfe das Kasperle nicht so im Stich lassen. In Spiritus dürfe er nicht gesetzt werden, außerdem würde dann die neue Fürstin bitterböse werden, denn die habe gesagt, das Kasperle könnte sie gut leiden.

»Man muß ihn retten, man muß ihn retten!« Immer mehr Menschen fanden sich dazu, voller und voller wurde der Markt. Die Marktfrauen kümmerten sich weder um ihre Körbe, noch um ihre Wagen. Stehlen war in Torburg nicht Mode. Alle dachten nur an das Kasperle, und als der Bürgermeister sah, es würde ein richtiger Volksauflauf, herrschte er den Wachtmeister Stöterlein an: »Die andern sollen kommen! Wir wollen mal nach dem Rechten sehen.«

Hurra, das war ein Wort! Hansjörg hob vor Freude gleich ein Bein in die Luft, und dabei verlor er das Gleichgewicht und fiel dem dicksten Ratsherrn an den Bauch. Klatsch, klatsch! Da brannten dem Helden Hansjörg auf einmal beide Backen feuerrot, und da der Ratsherr drohte: »Es gibt mehr,« verschwand der kleine Held für ein paar Minuten im Getümmel.

»Jetzt kommt die Polizei!« Ein Jubelrufen tönte auf, und wieder gellte Hansjörgs Stimme hervor: »Hilfe, Hilfe! Wir retten Kasperle!«

»Donnerwetter, du infamer Bub! Laß doch das Gebrüll!«

Klatsch, klatsch! Diesmal sauste eine Ratsherrenhand auf Hansjörgs Hosenbödle nieder. Da blieb dem das Hilfegeschrei vor Schreck im Munde stecken.

Wahrlich, die vier Freunde mußten an diesem Tag viel leiden für Kasperle. Nach Hansjörg bekam Maxel von Wachtmeister Stöterlein einen Puff, der ihn gleich zehn Schritte weiter beförderte, und da Friedel und Fritze ihr Hilfeschreien unermüdlich fortsetzten, schlug der Herr Bürgermeister eigenhändig jedem auf den Mund, aber ordentlich. Da verging den Buben das Rufen, und so kam es, daß die vier wackeren Helfer ein Weilchen muckstill waren.

Freilich – es dauerte nicht lange.

Als sich der Zug nach dem Kirchplatz in Bewegung setzte, waren alle vier wieder voran und brüllten lauter als vorher. Sie brüllten ein paar Frauen vom Kochherd weg, brüllten den Meister Christoph aus seiner Schmiede heraus und brüllten auf dem Kirchplatz so sehr, daß es sogar die Waldhausleute, die alle in der Gartenstube saßen, hörten. Meister Severin hörte »Kasperle!« rufen. Da lief er flink hinaus und sagte erschrocken im Flur zu seiner Frau Liebetraut: »Wenn unser Kasperle nur keine Dummheit gemacht hat!«

Als Herr Severin auf den Kirchplatz trat, war der voller Menschen. Aus allen Gäßlein, die nach dem sonst so stillen Platze führten, strömten die Menschen herbei. Es war ein ungeheurer Lärm.

Herr Severin wurde aus dem Geschrei nicht klug. Hatte nun Kasperle etwas getan oder war Kasperle etwas geschehen? Doch ehe er das noch erfahren hatte, betrat der Bürgermeister des Professors Haus. Dörte hatte schreckensbleich ob des Getöses die Türe geöffnet. Als sie aber die vielen, vielen Menschen sah, flüchtete sie schreiend in ihre Kammer. Dem Bürgermeister aber folgten die Ratsherren, ihnen nach drängten die andern Leute, am heftigsten jedoch drängten die Kinder voran. Und trotzdem die drei Polizisten von Torburg Katzenköpfe rechts und links austeilten, es half alles nichts. Wer einen Katzenkopf erwischte, schrie »Au!« und puffte sich weiter durch.

So wälzte sich die Menschenmasse durch den weiten Hausflur bis zu der breiten Türe hin, die zu Professor Schnappels Studierzimmer führte. Und just an der Tür bekam ein Ratsherr einen Stoß, er wußte nicht von wem, aber unwillkürlich schubste er den Bürgermeister, und der flog wie eine Schwalbe am blauen Sommertag in das Zimmer hinein.

Von hinten tönten Stimmen: »Sitzt er schon in Spiritus?«

Aber Kasperle saß nicht in Spiritus. Der saß höchst gemütlich auf des Professors Schreibtisch und – fraß Kuchen. Denn »essen« konnte man das Geschlinge bei ihm nicht nennen.

Erst hatte Kasperle ungeheuerlich geschrien: »Ich will nicht in Spiritus, ich will nicht in Spiritus!« und es hatte ein Weilchen gedauert, bis der Professor verstanden hatte, was das Geschrei bedeuten sollte. Da hatte er mit dem Kopf geschüttelt, hatte den Finger an die Nase gelegt und gefragt: »Kasperle, willst du Kuchen essen?«

Wann hätte Kasperle da jemals nein gesagt! Er nickte also sehr eifrig, und als Dörte einen riesengroßen Napfkuchen brachte, vergaß Kasperle halb und halb seine Sorge. Nach dem ersten Viertel schon war er mit dem Professor gut Freund, und gerade hatte er den Napfkuchen halb aufgefuttert, als der Bürgermeister, die Ratsherren, die Polizei und die vielen, vielen Leute erschienen.

»Er ißt Kuchen, er steckt nicht in Spiritus!« schrie Hansjörg. Der war wieder einmal voran und seine lustige Himmelfahrtsnase tauchte neben dem Bürgermeister auf.

»Er ißt Kuchen – er sitzt nicht in Spiritus!« Verwundert, fast ein wenig enttäuscht kam es aus der Menge.

»Wir haben ihn gerettet! Hurra, wir haben ihn gere –«

»Heilloser Bengel, du, halt doch den Schnabel!« Klatsch! bekam Hansjörg wieder eins auf den Mund. Der Bürgermeister selbst schlug diesmal zu, denn in dem stieg ein gewaltiger Ärger empor.

Was weiß aber ein dummes, unnützes Kasperle davon, wie ärgerlich es für einen Bürgermeister und seine Ratsherren ist, auf ein törichtes Gerücht hereinzufallen! Dem Kasperle kam die ganze Sache höchst spaßhaft vor. Er machte noch einmal schluck, schluck! und dann – lachte er, lachte, wie es nur ein Kasperle kann, mit weit aufgerissenem Munde.

Zuerst lachten alle Kinder mit, dann fielen die Erwachsenen ein. Das Kasperle selbst schüttelte sich, Hansjörg wackelte wie ein Uhrpendel hin und her, Maxel bog sich wie ein Bäumchen im Winde, Friedel setzte sich auf die Erde und Fritze fiel vor Lachen auf den Bauch.

Und auf einmal fing auch der Professor zu lachen an, so herzhaft, wie er in seinem ganzen Leben nicht gelacht hatte.

Selbst die Ratsherren schmunzelten, einer lachte sogar gerade heraus. Nur der Bürgermeister lachte nicht. Der war böse, arg böse. Jemine, bei unserem Bürgermeister gibt es bald ein Donnerwetter! dachte der Wachtmeister Stöterlein, der sich seinen Säbel vor das Gesicht hielt, weil er meinte, da könnte ihn niemand dahinter lachen sehen.

Und es gab ein Donnerwetter mit Blitz und Krach und großem Geschrei. Der Bürgermeister hatte das Kasperle vom Schreibtisch gerissen, der Kuchen purzelte hinterher, und eben holte er zu einem tüchtigen Hieb aus, als der Professor ihm die Hand festhielt. »Es ist doch nur ein Kasperle!« sagte er. »Wenn der auf einen solchen dummen Gedanken kommt, ich wolle ihn in Spiritus setzen, dann ist es eben ein Kasperlegedanke. Hm, freilich, mir scheint, andere Leute haben auch manchmal Kasperlegedanken!«

Wutsch! lief da einer zum Hause hinaus, noch einer. Der Wachtmeister Stöterlein war plötzlich verschwunden, drei Ratsherren sagten, sie hätten es sehr eilig. Die Stube leerte sich, das Haus leerte sich. Meister Severin konnte hineinkommen, und im Flur traf er mit dem Bürgermeister zusammen. Der sah aus wie eine dicke, zornige Hornisse. Er rannte ohne Gruß an jedem vorbei, rannte über den Kirchplatz, und zuletzt blieben nur die Kinder übrig. Professor Schnappel wurde sie nicht los, erst als Meister Severin sagte: »Kasperle, renne du voran, aber gleich nach Hause, ja nicht aufhalten!« da rannten auch die Kinder weg.

Sie wollten alle Kasperle in der Nähe sehen. Der purzelbaumte aber eins, zwei, drei! über sie hinweg und wutschte in Meister Severins Haus hinein; ehe Hansjörg ihn noch erreicht hatte, war er schon drin.

Frau Liebetraut, die just auch hatte auf den Kirchplatz hinausgehen wollen, verschloß flink die Türe. Kasperle aber steckte den Kopf durch ein kleines Flurfenster, schnitt erst ein Räubergesicht, dann grinste er, und zuletzt versprach er ihnen: »Heute nachmittag komme ich raus.«

»Hurra, hurra!« brüllten die Kinder. »Fein wird das, fein!« Hansjörg aber versuchte gleich einen Purzelbaum zu schießen. Er stieß dabei Maxel an die Nase, verlor das Gleichgewicht und kollerte eine kleine Anhöhe hinab. Und die andern alle, Buben und Mädel, kollerten ihm vergnügt nach, gerade an des Bürgermeisters Hause vorbei.

Der sah es, hörte das Geschrei und brummte finster vor sich hin: »Ich werde der Prinzessin doch schreiben!« Was, das sagte er aber wieder nicht, das schluckte er wieder hinab.

Das feine Marlenchen kommt

Auf einmal hatte Kasperle viele gute Freunde in Torburg gewonnen, denn die ganze Stadt lachte über die Spiritusgeschichte. Da gab es gute Freunde, die jedesmal, so oft sie nur konnten, über den Kirchplatz liefen. Es gab Freunde, die Zuckerplätzchen mitbrachten und die Kasperle Dreierbrezeln schenkten. Es gab solche, die bettelten: »Mutter hat Kuchen gebacken, komm doch zu uns!« Es gab alte und junge Leute, die stehenblieben, wenn sie Kasperle trafen, ihm zuwinkten und fragten: »Wie geht’s, Kasperle?« So viele Freunde hatte Kasperle in seinem Leben noch nicht gehabt. Christli wurde ordentlich eifersüchtig, aber Kasperle sagte stets zu ihm: »Du bist mein bester Freund.«

Viele Freunde hatte Kasperle, aber auch einen bitterbösen Feind. Das war der Bürgermeister. Der vergaß die Spiritusgeschichte nicht. Und da er ein etwas rachsüchtiger Mann war, sann er darüber nach, wie er Kasperle aus Torburg entfernen könnte.

Davon ahnte Kasperle nichts. Der verlebte lustig seine Tage. Wenn er jetzt zu Christli wollte, dann machte er die Reise über des Professors Gartenmauer. Hopps! war er drüben, dann gab es ein Schwätzlein, und dann ging es weiter. Kasperle hatte keine Furcht mehr vor dem Professor. Viel eher hatte er ein wenig Angst vor Christlis Vater, weil der immer so ernst, fast finster dreinsah und dann so sehr dem Herzog August Erasmus glich. Aber bei Christli war es immer vergnüglich. Die Gräfin Agathe, die eigentlich noch eine recht hübsche, stattliche Frau war, war lieb und gütevoll zu dem Kasperle und sah seine Streichlein eben als rechte Kasperlestreichlein an.

Kam Kasperle aus des Fürsten Haus, dann warteten schon seine zweitbesten Freunde Hansjörg, Maxel, Fritz und Friedel auf ihn, und vor dem Mittagessen tobten sie erst noch einmal durch die Gassen.

Meister Severin ließ das Kasperle herumspielen, soviel es wollte. Die Waldhausleute wußten ja nun, in Torburg geschah Kasperle nichts, und das Fortlaufen, ja, davon hatte es genug. Nach dem Walde sehnten sie sich freilich alle, auch Kasperle, und es kam einmal vor, daß er bitterlich zu weinen anfing, als Christli vom Waldhaus erzählt haben wollte.

Ach, das Waldhaus stand ja nicht mehr! Und da sich, trotzdem die Prinzessin Maria nicht den Herzog August Erasmus geheiratet hatte, doch der Herzog mit seinem Nachbar aussöhnte, hätte Kasperle gar nicht mehr im Waldhaus wohnen können. Der Kasperlemann hatte berichtet, der Herzog sei eifriger denn je bemüht, das Kasperle zu fangen. Aber nach Torburg durfte er nicht hinein, das hatte der Fürst verboten. Darum konnte Kasperle im Städtchen herumkaspern, soviel er wollte. Es gab nur ein paar brummige Grillenfänger, die das Kasperle nicht leiden mochten, die meisten hatten den kleinen Schelm gern und freuten sich, wenn sie ihn in seinem grasgrünen Kittel von weitem sahen.

Kasperle trug ein grasgrünes Wämslein nach dem andern ab, aber er wollte keine andere Farbe, und als ihm einmal Frau Liebetraut ein blaues nähen wollte und er das dem Christli erzählte, bettelte der »Grün, ach bitte, grün!«

Christli war noch immer ein sehr blasser Knabe. Er spielte wohl einmal ein wenig auf dem Kirchplatz mit den andern Kindern, aber viel Lust hatte er nicht dazu. Am liebsten war er mit Kasperle allein, wie das Marlenchen. Von der kleinen gemeinsamen Freundin sprachen die beiden oft, und vielleicht kam darum Marlenchen eines Tages angefahren, weil sie so große Sehnsucht spürte.

Wieder einmal kopfkegelte Kasperle in Christlis Gärtchen hinein, und er rollte noch über den kleinen Rasenfleck, als er auf einmal ein Glöckchen klingen hörte, fein und hell. Da streckte er sich lang aus, starrte um sich, denn wo war er auf einmal?

Und da sah er Marlenchen stehen. Die lachte über des Kasperles großes Erstaunen, kam näher und tippte ihn sacht mit einem Fingerlein an. »Kasperle, kennst mich wohl nicht mehr?«

Jemine, Kasperle und das Marlenchen nicht kennen! Heidi, hopsassa! sprang er empor, und im nächsten Augenblick tanzte er mit dem Marlenchen im Garten umher und sang dazu:

»Marlenchen ist da,
Trallalala!«

»Was schreit Kasperle nur gar so arg?« fragte die Gräfin, die in den Garten kam.

Marlenchen hielt sich beide Hände vor ihr Gesichtlein und rief kichernd: »Aber er singt doch!«

Ja, wenn Kasperle sang, das klang freilich nicht so schön, wie wenn es Frau Liebetraut tat. Er sang aber gleich noch einmal, als Marlenchen erzählte, sie würde nun vier lange, schöne Sommerwochen bleiben. »Bis Jahrmarkt gewesen ist,« fügte sie hinzu.

Richtig, es stand ja Jahrmarkt bevor in Torburg. Der war weit bekannt, und viele Leute kamen dazu in die Stadt.

»Was willste denn auf dem Jahrmarkt?«

»Doch mal ein Kasperle sehen!« rief Marlenchen schelmisch.

Da drehte und wand sich Kasperle, schnitt Gesichter und schrie: »Dann brauchste nicht auf den Jahrmarkt gehen; hurra, jetzt gibt’s ’ne Vorstellung!«

Und es gab eine lange, lustige Vorstellung, und es gab einen ganz vergnügten Vormittag. Selbst Fürst Helmrich, der in seinem Studierzimmer saß, lachte manchmal, wenn der fröhliche Lärm immer heller anschwoll. Und zuletzt gab es noch eine wundervolle Überraschung. Marlenchens Vater besaß einen Garten vor dem Tore, neben Meister Helmers Garten war er, dort sollten die Kinder von jetzt an spielen. Es war ein richtiger großer Garten, der an dem Stadtwald endete. Man konnte sich darin verstecken, konnte auch bei schlechtem Wetter darin sitzen, denn der Garten hatte ein wunderniedliches, kleines Gartenhaus.

Kasperle wäre am liebsten eiligst hingelaufen, aber erst mußte er Mittag essen, und nachmittags hatte er seinen vier neuen Freunden und Meister Christoph versprochen, ihnen etwas vorzukaspern. Und Marlenchen sagte: »Sein Wort muß man halten. Ich gehe mit dir. Den ganzen Tag darf Christli noch nicht spielen.«

Da kasperte denn Kasperle am Nachmittag in der Schmiede, und das feine Marlenchen im weißen Kleid saß da wie ein Sternenprinzeßlein. Die Buben und Trudel und Marie, Maxels und Hansjörgs Schwestern, staunten sie an. Zuerst sahen sie beinahe nur das Marlenchen, bis das plötzlich zu lachen anfing, weil Kasperle ein Gesicht machte wie ihr guter alter Eicke Pimperling. Und Marlenchens Lachen steckte die andern an. Meister Christoph vergaß seine Arbeit, die Buben ihre Schulaufgaben, so lustig wurde es. Zuletzt vergaßen sogar Trude und Marie ihre Scheu vor dem feinen Marlenchen und hockten sich neben sie, und Marlenchen gab jeder eine Hand, und so saßen sie einträchtig wie alte, gute Freundinnen zusammen.

Hatte je die alte Schmiede so viel Lachen gehört! Es weiß niemand, ob sich die rußgeschwärzte Decke, der Amboß, die alten Holzstühle nicht arg darüber verwunderten. Wer kann so etwas sagen! Das Feuer glimmte nur leise, Kasperle stand im rosenroten Schein und trieb seine Narrenspossen. Aber auch Marlenchen saß fein und weiß im rosigen Licht. Und als sie Kasperle einmal ansah, schrie er plötzlich: »Hach!« und fiel klatsch um.

»O Kasperle, was fehlt dir denn?«

»Er lacht so sehr,« rief Hansjörg. Denn Kasperle hielt sich die Hände vor das Gesicht.

»Nein, er – weint,« sagte Marlenchen tief erschrocken.

Ja wirklich, er weinte. Das lustige, unnütze Kasperle weinte ganz bitterlich.

Warum denn nur? Sie fragten es alle. Und alle Buben wollten Kasperle streicheln und trösten. Aus Marlenchens Gesichtlein aber schwand aller Frohsinn und Trude und Marie streichelten Marlenchen, ja Trude sagte sogar etwas vorwurfsvoll: »Aber Kasperle, Marlenchen wird auch gleich weinen!«

»Nä, das soll se nicht.« Wupps! war Kasperle wieder auf, er wischte sich die Tränen aus den Augen, grinste schon wieder und sagte: »Ich möchte nur mal so aussehen wie – Marlenchen. Immer muß ich ein häääßliches Kasperle sein, huhuhu!« Da ging das Geheule schon wieder los.

»Aber Kasperle,« rief Marlenchen, »so gefällst du mir doch gerade, weil du so ein nettes Kasperle bist!«

Da riß Kasperle seinen Mund wie einen Scheffelsack auf. Hui! flog der Kummer zur Schmiede hinaus, und Kasperle fing wieder an zu kaspern. –

Obgleich nun für Kasperle keinerlei Gefahr mehr bestand, riefen die Buben nachher doch: »Wir schützen dich, wir bringen dich heim.«

»Und wir dich,« sagten Trude und Marie noch ein wenig schüchtern zu Marlenchen.

Und so wanderten sie alle miteinander heim. Voran gingen ganz feierlich und ein wenig steif die drei Mädel, hinterher kamen mit etwas Geschubse und Gepuff, mit Lärm und Lachen die vier Buben und Kasperle. Und als sie um eine Gassenecke bogen, kam es so, daß die braven, feierlichen Mädel schon voran waren und die lachenden, unnützen Buben gerade mit dem Bürgermeister zusammenprallten. Huch, schnitt der ein Gesicht! »Geht aus dem Wege!« raunzte er die fünf an.

Die Mädel drehten sich ganz erschrocken um, und Kasperle, der den Feind im Bürgermeister wohl merkte, zeigte mit dem Fingerlein auf ihn und wollte leise zu Marlenchen sagen: »Das ist er.« Aber ihm rutschte seine Stimme aus wie ein Schlitten auf der Eisbahn, und er brüllte die stille Gasse entlang: »Das ist er!«

»Aber Kasperle!« Marlenchen wurde ganz blaß. Der Bürgermeister aber drehte sich um, hob seinen Stock und – da war die Gasse leer.

Marlenchen wurde von allen Kindern gezerrt und geschoben, denn sie konnte vor Angst kaum gehen. Etwas aufgeregt langte die kleine Schar auf dem Kirchplatz an, über den Frau Liebetraut daherkam. Kasperle lief gleich zu ihr hin und berichtete sein neuestes Erlebnis. »Er kann mich nicht leiden, er ist mein Feind,« sagte er. Dazu setzte er ein bitterböses Prinzessinnengesicht auf.

»Aber Kasperle, in der Stadt zeigt man doch nicht mit – Um Himmels willen, Kasperle, was machst du?«

Ja, was machte Kasperle? Er streckte lang seine Zunge heraus, zog drei tiefe Falten über die Stirn und schrie: »So seh‘ ich ihn ’s nächste Mal an.«

»Das laß du lieber bleiben. Sonst verbietet er dir noch das Wohnen in Torburg,« sagte Frau Liebetraut, »und dann kannst du ja wohl wieder zum Herzog ziehen. Ich glaube, da kommt der Herr Bürgermeister zurück.«

Wutsch! war das Kasperle im Hause verschwunden. Die Kinder lachten alle, Frau Liebetraut lachte mit über das mutige Kasperle, denn just lief keine Maus über den Kirchplatz; von dem gestrengen Herrn Bürgermeister war nicht einmal eine Nasenspitze zu sehen.

»Kasperle, morgen früh auf Wiedersehen!« Marlenchen steckte den Kopf durch die Türe. Da saß Kasperle innen niedergeschlagen auf der Treppe und brummelte unwirsch vor sich hin: »Er ist doch mein Feind!«

»Bewahre, Kasperle!« Marlenchen nickte dem kleinen Unnützling noch zu, dann ging sie in das Haus des Fürsten zurück, denn dort war sie als Gast; die Gräfin Agathe war ihre Tante.

Die andern Kinder liefen auch heimwärts, und die vier Buben spielten an diesem Abend auch »Kasperle« zu Hause. Dabei zerschlug Hansjörg einen Milchkrug, und Fritze fiel mit seinem blonden Schopf in den Suppenteller. Die Eltern sagten, nötig wäre so etwas gerade nicht, aber ein bißchen lachen taten sie doch alle. Und böse waren sie dem Kasperle auch nicht. Nur die Eierfrau Grumbach, die neben Fritzes Elternhaus ihr Büdchen hatte, schalt, es sei gerade so, als ob in Torburg ein Gespenst herumgeisterte, denn etwas wie ein Gespenst sei das Kasperle.

»Ha, fein!« schrie Fritze. »Ich will ihn mal fragen, ob er bei dir herumgeistern will. Dann sollste mal sehen!«

Doch davon mochte die Eierfrau nichts wissen. Ja, sie zeterte, und als sie am nächsten Morgen etliche zerbrochene Eier aus ihrem Eierkorb heraussuchte, da rief sie: »Gewiß hat der Kasper heute nacht hier herumgegeistert!«

»Ich sag’s ihm!«

Daß der Fritze doch auch alles hören mußte! Frau Grumbach war sehr ärgerlich, und sie rief dem Buben noch nach: »Ich werfe dem Kasper alle schlechten Eier an den Kopf. Da, wie dir!« Und schwapp, schwapp! warf sie zwei Eier, aber leider traf eins die Frau Bürgermeisterin, die gerade einkaufen wollte, und rann als gelbe Tunke von dem neuen Sommerkleid herab. Das andere fiel dem Schuster Feierabend in den Schoß, der gegenüber auf seiner Hausbank saß und ein paar Schuhe flickte. Wütend warf er Frau Grumbach die Schuhe zu. »Da, das sind Ihre!« Einer davon rutschte in das Sirupfaß, das der Türe nahe stand.

Da gab es viel Geschrei und Geklage im Gäßchen. Und Frau Grumbach blieb dabei, dies alles sei Kasperles Schuld. Auch die Frau Bürgermeister sagte dies zu ihrem Mann. Da schlug der mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Ja, er muß fort, er darf nicht in Torburg bleiben.«

»Vielleicht nimmt ihn der Kasperlemann mit, wenn Jahrmarkt ist,« sagte die Frau Bürgermeisterin.

»Oder –« Der dicke Herr Bürgermeister schluckte, und niemand erfuhr, was »oder« bedeuten sollte, selbst seine Frau nicht, soviel sie ihn auch fragte. Wenn der Bürgermeister nicht reden wollte, sagte er »Punktum!«, und dann half alles Gefrage eben nichts mehr.

Im Garten vor dem Tore

Von all den Untaten, die man ihm zuschrieb, ahnte das Kasperle nichts; kein Wörtlein wußte er davon. Er wachte putzmunter auf, schmauste vergnügt sein Frühstück, hörte ein Weilchen still und fromm Meister Severin zu, und dann flitzte er in den Garten und purzelbaumte über das Mäuerlein, schwätzte mit dem Professor Schnappel und langte endlich bei Christli und Marlenchen an.

Die standen schon wohlausgerüstet da, der Diener setzte nun Christli, dem das Gehen noch etwas zuviel wurde, in einen kleinen Wagen, und fort ging es durch das Städtchen vor das Tor in des Herrn von Lindeneck Garten. Wer auf der Straße war, schaute dem Zuge nach.

»Das ist Prinz Christli. Wie blaß er noch aussieht!« riefen ein paar Frauen.

»Ei, und das feine Marlenchen ist da!«

»Ja, und sie geht mit dem Kasperle!«

Kasperle blähte sich auf wie ein Fröschlein, das gerade quak, quak! geschrien hat. Er bemerkte wohl die bewundernden Blicke und sah das feine Marlenchen an, als gehöre die ihm ganz allein. Potzhundert, wer hatte im Städtchen noch eine solche Freundin!

»O Kasperle, du fällst ja!«

Da lag Kasperle schon auf seiner Nase, die er allzu hoch in die Luft erhoben hatte. Ein wenig verdattert stand er auf, Marlenchen putzte ihm schnell sein grünes Wämslein zurecht, und weiter ging es.

Ein paarmal mahnte Marlenchen: »Kasperle, du mußt nicht so sehr in die Luft gucken, du fällst ja!« Doch Kasperle fiel nicht mehr, und der kleine Zug gelangte ohne Unfall bei dem alten Gärtner Helmer an.

Der begrüßte alle sehr freundlich. Marlenchen kannte er auch schon, und er sagte, sie sollten nur durch seinen Garten fahren, da ginge es schneller.

Sie fuhren die Wege entlang, die Kasperle so wohlbekannt waren, und kamen in des Herrn von Lindeneck Garten. War der schön! So viele Büsche standen in Blüte, und die Wege säumten bunte Blumen ein. Und dann kam das Gartenhaus. Das war wie ein kleines, zierliches Schloß gebaut. Marlenchen schloß es auf, und Kasperle sah in eine wunderfeine kleine Stube hinein. Da gab es einen zierlichen Tisch, gab vergoldete Stühlchen, gab ein Schränkchen mit feinem Geschirr, und Marlenchen sagte: »Hier schmausen wir.«

»Gleich!« schrie Kasperle.

»Nein, aber Kasperle, du kannst doch noch nicht hungrig sein!«

Marlenchen sah ihr Kamerädle ein wenig vorwurfsvoll an, und Kasperle setzte sich beschämt auf einen Stuhl.

Ja, aber was war denn das? »Dideldideldei, dumdumdalla!« klang es, und Kasperle blickte sich ganz verdutzt um. Wer spielte denn da?

Marlenchen und Christli lachten, und da merkte Kasperle endlich, das Stühlchen, auf dem er saß, spielte. War das fein! Am liebsten hätte sich nun Kasperle immerzu auf den Stuhl gesetzt, doch Marlenchen mahnte: »Wir wollen wieder in den Garten hinausgehen!«

Christli wurde in die Sonne gefahren, und nun fing ein fröhliches Spielen an. Die Stunden rannten davon, husch, vorbei! husch, vorbei! Und auf einmal sagte Marlenchen: »Jetzt essen wir Mittag!«

»Ich muß nach Hause!« schrie Kasperle erschrocken. Doch Meister Helmer, der mit einem verdeckten Korb in den Garten kam, sagte, Herr Severin wisse ja, wo Kasperle sei, er solle nur hier bleiben.

»Muhme Agathe hat es Frau Liebetraut gesagt,« rief Marlenchen, »wir dürfen den ganzen Tag bleiben.«

Den ganzen Tag im Garten bleiben dürfen, das war so schön, wie im Waldhaus zu sein.

Nach Tisch mußte Christli schlafen. Marlenchen und Kasperle aber liefen stille, schattige Wege entlang. Sie kamen an ein winziges Wäldchen, hörten ein Quellchen rinnen und sahen plötzlich auf eine weite Wiese. Dahinter lag Wald, stiegen Berge an, und Marlenchen zeigte mit der Hand dorthin: »Da liegt Schloß Lindeneck.«

»Und Himmelhoch.« Kasperle sah gleich wieder bitterböse aus, aber Marlenchen strich ihm mit einem Fingerlein über die krause Stirn. »Darfst nicht so böse dreinsehen.«

»Er ist doch böse, und sie ist noch böser!«

Marlenchen wußte gleich, daß ihr Freund den Herzog und die Prinzessin Gundolfine meinte, und sie sagte bedrückt: »Ja, böse sind sie schon. Aber weißt du, ich denke immer, der Herzog hat nur sein Herztürle zugeschnappt. Macht er’s auf, dann wär‘ es schon gut.«

»Nä, der hat gar keine Türe,« brummte Kasperle.

»Was denn?«

»Ein Kellerloch!«

Da mußte Marlenchen lachen, und Kasperle lachte mit. Sie setzten sich beide auf die niedrige Mauer, schauten über die Wiese nach dem Walde hin, und Marlenchen erzählte ihrem kleinen Freund von Christli, seinem Vater und von der guten Muhme Agathe, ihres Vaters Base. Deren Schwester war Christlis Mutter gewesen. Weil sie aber nur Gräfin, nicht Prinzessin gewesen war, hatte Prinzessin Gundolfine so lange gescholten und dem Herzog die Ohren vollgebrummt, bis der sich mit seinem Bruder gezankt hatte. Damals war der Fürst Helmrich nach Torburg gezogen. Ein Jahr vor Kasperles Ankunft bei Meister Helmer war es gewesen.

»O je,« schrie Kasperle, »da hätte ich ja Christli schon besuchen können!«

»Aber du dummes Kasperle! Da hat er ja noch gar nicht gelebt!« Kasperle seufzte schwer, und dann fing er herzbrechend zu weinen an.

»Kasperle, was fehlt dir? Dummes Kasperle, mußt nicht weinen!«

»Ich bin schon so alt,« schluchzte Kasperle, »und – und – ihr wachst alle groß und – ich – ich bleib‘ immer klein!«

»Aber ich bleibe doch deine Freundin wie Rosemarie und Frau Liebetraut, auch wenn ich groß bin,« versprach tröstend das Marlenchen.

»Aber heiraten tuste mich nicht!« schluchzte Kasperle.

Marlenchen kam es furchtbar komisch vor, daß Kasperle ans Heiraten dachte; sie lachte und lachte. Die Lerchen, die zum blauen Himmel aufflogen, wunderten sich, was da unten am Wiesenrand so wunderlieblich klang. Beinahe ein bißchen eifersüchtig wurden sie. Saß da gar vielleicht eine fremde Lerche auf dem Mäuerlein?

Marlenchens Lachen steckte Kasperle an. Er lachte mit, lachte so laut und vergnügt, daß auf einmal von ferne ein Rufen und Singen kam:

»Wer lacht da so?
Hallallala!
Wer ist so froh?
Tidallala!
Ich kenn‘ die Stimme, kenn‘ den Klang:
Der Kasper lacht am Wiesenhang.«

»Florizel!« schrie Kasperle.

Ja, es war wirklich Florizel, der da vor den Kindern auftauchte. Er setzte sich zu den beiden, erzählte von der Hochzeit im Fürstenschloß und daß er nun eine weite, weite Reise machen wolle.

»Wohin?« fragte Marlenchen.

»Rate einmal!«

»Nach Italien?«

»Falsch! Weiter, weiter!«

»Nach Ägypten wie die Störche?«

»Pah, so nah! Nach Indien will ich mindestens reisen.«

»Suchste meine Insel?« fragte Kasperle nachdenklich.

»Vielleicht finde ich sie, dann hole ich dich. Vielleicht treffe ich in der weiten Welt auch dein Michele und die schöne Rosemarie,« sagte Florizel.

»Nimm mich mit!« bat Kasperle gleich.

»Du kannst doch Marlenchen nicht verlassen und die Waldhausleute!«

Nein, das konnte Kasperle nicht. Er trug aber dem lustigen Spielmann hunderttausend Grüße und noch ein paar darüber auf. Marlenchen pflückte Florizel flink ein Sträußchen zum Andenken, und dann nahm der lustige Spielmann Abschied von den beiden.

Drei Schritte war er gegangen, da drehte er sich noch einmal um und rief: »Kasperle, geh nie allein! Die Prinzessin Gundolfine will dich fangen und dann dem Herzog schenken. Sie denkt nämlich, dann wird er sie zu seiner Frau Herzogin machen.«

»Hach!« Kasperle fiel rückwärts vom Mäuerlein in den Garten zurück, der Spielmann trällerte noch:

»Kasperlein, Kasperlein,
Hüt‘ dich fein
vor der Prinzessin im Nachbarland!
Sie hat eine böse, böse Hand,«

und dann lief er davon.

Kasperle blieb stumm und steif am Boden liegen, und erst allmählich rappelte er sich empor. Er kehrte aber mit Marlenchen so tief betrübt zu Christli zurück, daß der ganz erschrocken nach des Freundes Kümmernissen fragte.

Angst vor der Prinzessin Gundolfine! Diesmal lachte Christli den sonst so lachlustigen Freund aus. »Die darf ja gar nicht ins Land! Der Fürst ist meines Vaters Freund, der hat ihr das Hereinkommen verboten. Vor der Prinzessin brauchst du keine Angst zu haben.«

Kasperles Angst flog denn auch nach diesen Trostworten gleich davon wie ein Schmetterling. Bald dachte er gar nicht mehr daran, und die weiteren Tagesstunden vergingen den drei Kameraden in heiterem Frohsinn.

Viel zu früh, meinten alle drei, war die Heimgehstunde gekommen.

»Noch ein paar Minuten!« bettelten sie.

Doch die Gräfin Agathe, die die drei holen kam, schüttelte den Kopf. Christli mußte ins Bett gehen. Wer so lange krank gewesen war, der mußte noch brav sein und sich pflegen lassen. »Morgen ist wieder ein Tag!«

Ja, morgen und morgen und wieder morgen und immerzu morgen. Heisa! Kasperle machte einen Kopfstand vor Vergnügen über die vielen Tage, die kommen würden.

Nachher tobte er noch ein Weilchen mit seinen andern Freunden auf dem Kirchplatz herum. Der Bürgermeister ging zum ersten Male an diesem Tage über den Platz, und dabei hörte er Kasperle lachen, und er brummte vor sich hin: »Immer lärmt dieses schreckliche Kasperle herum. Ich begreife Meister Severin nicht, daß er sich den Unwirsch im Hause hält.«

Meister Severin aber saß inzwischen an der Orgel in der Kirche und spielte wunderherrlich. Kasperle hörte das Spielen und lief ihm nach. Er stand dann still im Kirchenwinkel, und die schöne Frau Liebetraut fand das kleine Kasperle ganz tränenüberströmt dem Spiele lauschend.

»O Kasperle, was fehlt dir?«

»Ich möcht‘ heim!«

Da fragte Frau Liebetraut nicht: Wohin? Sie ahnte, daß in des Kasperles kleinem Herzen wieder die Sehnsucht nach einer fernen, schönen Urheimat wach geworden war. Sie nahm den kleinen Schelm und führte ihn sacht zu Mutter Annettchen und Meister Friedolin. Die saßen beide geruhsam auf einer Bank im kleinen Gärtchen, und beide riefen sie: »Endlich kommt unser Kasperle!«

Da war das Kasperle einmal wieder daheim bei denen, die es liebten, und es vergaß seinen Kummer und flitzte im Gärtlein auf und ab, flitzte auch über die Mauer und fiel dem guten Professor beinahe in seine Abendsuppe. Doch der schalt nicht, er sah nur das Kasperle wieder einmal kopfschüttelnd an und sagte: »Merkwürdig, sehr merkwürdig! Ich könnte das nicht.«

»So über die Mauer purzelbaumen?« fragte von drüben herüber Meister Friedolin lachend.

Und dann lachten sie alle, hüben und drüben, bei dem Gedanken, der Professor, dieser hochgelehrte Herr, könnte anfangen, Purzelbäume zu schießen.

Kasperle lachte am meisten, und er lachte so lange, bis er vor Müdigkeit beinahe umfiel.

Ihm brauchte nachher niemand mehr ein Wiegenlied zu singen; er schlief im Umsehen ein und schlief einem neuen, schönen Tag entgegen.

Am andern Morgen glänzte die Sonne wieder, und wieder zogen die drei Kamerädles in den schönen Garten. Wieder verlebten sie dort einen wunderschönen Tag, und wieder kam ihnen viel zu früh die Heimgehstunde. Aber wieder blickten viele Menschen den drei Kindern freundlich nach, und wieder brummte der Bürgermeister, als er Kasperles Stimme hörte. Und weil die Kinder gerade Greifen spielten, schrie Kasperle, wobei er Hansjörg meinte: »Da ist er, halt ihn, halt ihn!«

Der Bürgermeister drehte sich wütend um. »Warte du!« rief er wütend.

Aber da jagte die ganze Schar just in ein Gäßlein hinein, und der gestrenge Herr merkte wohl, er war nicht gemeint gewesen. Dies ärgerte ihn noch mehr, und als er am Abend heimkam, ging er in sein Arbeitszimmer und schrieb einen Brief, einen langen, wichtigen Brief.

Am nächsten Morgen, gerade als die drei Freunde nach dem Garten wanderten, trafen sie eine alte Frau. »Hach,« kreischte Kasperle, »das war die Base Mummeline!«

»Wo denn, wo denn?« Marlenchen drehte sich wie ein Kreisel rundum, aber da war niemand und nichts zu sehen. »Kasperle, du träumst,« rief sie.

Da es auch Christli sagte, glaubte Kasperle schließlich selbst, er hätte es geträumt. Und just, als er ein Gesicht wie die Base Mummeline machte, schlich die in des Bürgermeisters Haus hinein und holte den langen, wichtigen Brief, um den heimlich fortzutragen.

Auf dem Torburger Jahrmarkt

Die drei Kameraden verlebten lustige Tage zusammen. War der Himmel einmal grau und regenverhangen, dann schrie Kasperle wohl: »Heute wird’s nicht fein,« aber es wurde doch immer fein.

Abends spielte dann Kasperle immer mit seinen andern Torburger Freunden zusammen. Einmal waren auch Christli und Marlenchen mitgekommen, aber der Doktor hatte dann gesagt, das Gebrüll sei zu groß, das halte Christli nicht aus. Nur Trude und Marie durften in den Garten kommen und Marlenchen besuchen, die brüllten nicht gleich so furchtbar, wie es Hansjörg zum Beispiel tat. Der dachte nur: Ich will wie Kasperle werden. Seit seiner Freundschaft mit diesem schrie und zappelte er, daß es seiner Mutter manchmal himmelangst wurde. Das schlimmste aber war, man verglich ihn mit einem Affen; daß er kaspern lernen wollte, darauf kam niemand.

Es ist schon schlimm, wenn einer so verkannt wird! Manchmal war Hansjörg ganz wütend, aber wenn gegen Abend Kasperle wieder auf den Kirchplatz geflitzt kam, dann wurde er gleich guter Laune. Und immer mehr redeten Kasperles lustige Spielkameraden von dem Jahrmarkt.

Eines Tages sagten sie sogar: »Morgen fangen sie an, Buden aufzustellen.«

Da lief Kasperle gegen Abend, als er aus dem Garten heimkam, noch flink mit nach dem Platz, auf dem der Jahrmarkt aufgebaut wurde, und sah da zu seinem großen Erstaunen auch schon den Kasperlemann. Der stand zwischen zwei grünen Wagen mit seinem Karren und sah ein bißchen trübselig drein.

»Hallo!« schrie Kasperle und kitzelte mit seinem Fuß den Kasperlemann an der Nase.

»Jegerl,« rief der, »so etwas kann doch nur Kasperle! Halloho, gut, daß ich dich wiedersehe, Kasperle! Wie geht es, wie steht es?«

»Gut!« schrie Kasperle und schlug einen Purzelbaum. Dabei kam er auf den größten der grünen Wagen zu sitzen. Drinnen verschluckte sich die Riesendame vor Schreck über den Puff an ihrem Kaffee; sie bekam Husten, und ihr Mann, der ganz klein und dünn war, schrie immerzu: »Sieh an die Decke, sieh an die Decke!«

Ja, da sah die Riesendame ein Kasperlebein, denn Kasperle war damit durch ein Loch gerutscht. Weil Kasperle aber nicht kunterbunt angezogen war, sondern sein grünes Seidenröcklein trug, sagte die Riesendame: »Es hängt ein riesengroßer Laubfrosch an der Decke!«

Kasperle zerrte und zog, und gerade hatte er sein Bein zurückgezogen, als er hörte, die Riesendame hielt ihn für einen Laubfrosch. Er mußte darüber so ungeheuerlich lachen, daß sein Gelächter über den Platz schallte.

»Der Laubfrosch lacht!« Die Riesendame war, was für eine Riesendame eigentlich nicht schicklich ist, sehr schreckhaft, und dann fiel sie um.

Pardauz! da lag sie, ihr Kaffeetopf auch, und ihr Mann jammerte: »Meine Riesendame ist tot!«

»I bewahre!« Der Kasperlemann steckte den Kopf zur Wagentüre hinein und rief: »Frau Müllern, jetzt werden die ersten Schmalzkuchen gebacken!« Und heidi! stand die Riesendame auf, wutsch! war sie draußen, und nun riß Kasperle den Mund vor Erstaunen auf: die Riesendame schmauste Schmalzkuchen, sie war also kein bißchen mehr tot!

»Ich will auch Schmalzkuchen,« rief er und purzelbaumte vom Wagendach herab. Es fand sich aber, daß die Buben alle kein Geld hatten. Wer kann denn auch wissen, daß es einen Tag vor Anfang des Jahrmarktes Schmalzkuchen zu schmausen gibt!

Der Kasperlemann hatte auch kein Geld. Ganz traurig sagte er es, und dabei schielte er hungrig und sehnsüchtig nach der Kuchenbude hin.

»Warum haste denn keins?« fragte Kasperle erstaunt. Der dachte an die vielen Gröschlein und Taler, die er verdient hatte.

»Ach, Kasperle, seit du nicht mehr bei mir bist, habe ich keinen Heller eingenommen!« klagte der Kasperlemann traurig. »Und gestern habe ich noch meinen Geldbeutel verloren.« Seitdem hatte er nichts mehr zu essen gehabt.

Das war freilich schlimm. Aber Kasperle war unverzagt. Er rannte zur Kuchenbude hin, drängte sich vor und schrie: »Ich bin das einzige lebendige Kasperle, ich möchte ’n Schmalzkuchen geschenkt haben.«

So etwas! Von dem Kasperle wußten alle, aber niemand hatte vermutet, ihn hier auf dem Jahrmarkt zu treffen.

»Der Laubfrosch!« rief die Riesendame entsetzt.

»Nä, ich bin Kasperle.«

»Da haste ’n Schmalzküchle.« Die Budenfrau hielt Kasperle einen schönen, großen Kuchen hin. Der nahm ihn, wog ihn auf der Hand und sagte: »Noch einen, davon wird er nicht satt.«

»Wer denn?«

»Der Kasperlemann.«

Kasperle erzählte mit schallender Stimme von dessen Verlust, und gleich rief die Budenfrau: »Da, bring ihm den Teller voll!« Sie hielt Kasperle einen ganz großen Teller Schmalzkuchen hin, und ein Mann, der neben ihm stand, schrie laut: »Man muß ihm helfen. Groschen her!«

Da flogen die Gröschlein aus den Hosensäcken; jeder wollte dem Kasperlemann helfen, und Kasperle durfte ihm alles hintragen, die Schmalzkuchen auch. Das wurde ihm ein bißchen schwer, und um das gute Düftlein nicht immer riechen zu müssen, streckte er die Nase immer höher in die Luft, und Hansjörg mahnte: »Kasperle, nimm dich in acht!«

Dann lag Kasperle wirklich mit Küchlein und Gröschlein auf dem Wiesenplan, und der Kasperlemann mußte sich seine guten Geschenke zusammensuchen. Er fand auch alles wieder, und er war gut, denn er aß nicht sämtliche Küchlein allein, sondern gab den Buben auch zu kosten. Und dann lobte er Kasperle noch sehr und sagte, der sei wirklich ein getreuer Freund.

Na, da soll einer nicht stolz nach Hause gehen, wenn er so genannt wird! Selbst die Riesendame sagte, wenn sie gewußt hätte, daß so ein nettes Kasperle auf ihrem Wagen säße, dann hätte sie sich nicht gefürchtet.

Kasperle wanderte ganz stolz dem Kirchplatz zu. Und weil er so viel gelobt worden war, dachte er, nun könne er auch wieder seine Nase in die Luft strecken.

»Du fällst!« mahnten wieder ängstlich seine Freunde.

Aber Kasperle fiel nicht. Er fing nur plötzlich an zu rennen, rannte und rannte bis auf den Kirchplatz. Dort legte er sich mitten auf den Platz und schrie: »Hach, sie war’s!«

»Wer denn? Aber Kasperle, was fehlt dir denn?« Die Kinder umdrängten ihn alle. Kasperle verdrehte seine Augen schrecklich, stöhnte und ächzte jämmerlich, und Hansjörg sagte auf einmal: »Er hat zuviel Schmalzküchle gegessen, ihm ist übel.«

»Nä,« schrie Kasperle entrüstet, »von den paar Küchle! Sie ist da!«

»Wer denn?«

»Die Prinzessin!«

Oh, die Kinder kannten alle Kasperles Abenteuer gut! Sie wußten auch gleich, er meinte die Prinzessin Gundolfine.

»Wo ist sie denn?«

»Sie hat aus einem Hause rausgeschaut.«

»Aus welchem Hause?«

O über das dumme Kasperle! In seiner Angst hatte er das Haus vergessen, hatte es sich gar nicht recht angesehen.

»Es kann vielleicht der Rote Ochse oder das Silberne Lamm gewesen sein,« sagte Maxel. »An beiden Wirtshäusern sind wir vorhin vorbeigelaufen.«

»Der Rote Ochse war’s, da hat Kasperle geschrien.«

»Ja, ja, da hat er geschrien.«

»Wir gehen und sehen nach, ob sie dort wohnt,« riefen Maxel und Fritze.

»Wir gehen mit.« Ein paar schlossen sich noch an, alle rannten zum Roten Ochsen hin und liefen hinein. Sie kamen aber sehr geschwinde wieder heraus, denn der Ochsenwirt war ein grober Mann, der fing ein ungeheures Geschimpfe an. Er nahm die Frage, ob eine Prinzessin im Roten Ochsen wohne, für einen Schabernack, und er redete sehr ungemütlich vom Stock, von Katzenköpfen und anderen unfreundlichen Dingen.

Im Silbernen Lamm ging es den Fragern nicht besser. Sie wurden zwar nicht ausgescholten, aber ausgelacht. »Ihr verkaspert noch ganz,« sagte die Wirtin. »Eine Prinzessin? Jemine, es ist noch nie einer eingefallen, bei uns zu wohnen! Wer weiß, wen Kasperle erblickt hat! Hier in Torburg tut ihm niemand etwas. Nun marsch, hinaus!«

Da liefen die Kinder wieder aus dem Silbernen Lamm hinaus, am Bürgermeisterhaus vorbei, das zwischen den Gasthäusern lag. Auf dem Kirchplatz saß Kasperle am Boden, er wartete, und ein paar Kinder warteten mit ihm. Er war tief enttäuscht, daß die Prinzessin nicht da war, und gleich machte er alle seine Prinzessinnengesichter, zog die Nase kraus und schief, sah böse drein, lächelte honigsüß, und das Jauchzen der Kinder gellte über den Kirchplatz.

Endlich tat Herr Severin die Tür auf und rief Kasperle, er solle hereinkommen.

»Schon,« riefen alle. »Es ist noch so früh!«

»Es ist Zeit zum Abendessen.«

»Ich hab‘ Hunger!« Kasperle sprang auf, lief in das Haus hinein, drehte sich an der Türe um und schnitt noch einmal ein Teufelsgesicht. Die Kinder lachten, schauten sehnsüchtig ihrem kleinen Kameraden nach und sagten: »Morgen wird’s fein, da fängt der Jahrmarkt an.«

Kasperle vergaß über dem Abendessen seine Angst; er dachte nicht mehr an die Prinzessin Gundolfine. Erst am nächsten Morgen, als er mit Christli und Marlenchen im Garten spielte, fiel es ihm wieder ein, was ihn gestern erschreckt hatte. Er erzählte den Kameraden davon, und die sagten: »Du hast geträumt.«

Christli schüttelte den Kopf.

»Vielleicht ist sie zum Jahrmarkt gekommen,« brummte Kasperle.

Christli und Marlenchen lachten ihn aus und sagten »Unsinn!«, und alle drei redeten sie dann vom Jahrmarkt und vergaßen darüber die Prinzessin.

Marlenchen durfte am Nachmittag mit auf den Jahrmarkt gehen. Christli noch nicht. Der Doktor tröstete: »Im Herbst, da gibt es wieder einen.«

Also wanderte Kasperle am Nachmittag mit dem feinen Marlenchen auf den Jahrmarkt. Frau Liebetraut wollte mitgehen, aber das kleine Lottchen war krank, da konnte sie nicht.

Ja, potz Wetter, der Torburger Jahrmarkt konnte sich sehen lassen! Da gab es wunderschöne Buden. »Schöner kann man es in einer großen Stadt, in der ein König wohnt, nicht finden,« sagten die Torburger immer.

Einmal hatte einer, der immer alles besser wissen wollte, gesagt, in Berlin, Paris oder London oder gar in Wien könnte es vielleicht noch schöner sein. Dem war es übel ergangen. O du lieber Himmel! Er durfte sich gar nicht mehr blicken lassen auf dem Jahrmarkt. Jeder rief ihm zu: »Der ist ja nicht schön genug! Geht doch nach Berlin, Paris, London oder Wien! Da gehört Ihr hin. Pfui, unseren Jahrmarkt so schlecht zu machen!«

Seitdem sagt kein Torburger etwas gegen den Jahrmarkt, und Kasperle war auch damit zufrieden. Fragte ihn jemand: »Na, Kasperle, auch hier? Wie gefällt es dir denn auf unserem Jahrmarkt?« dann riß Kasperle den Mund wie ein Scheunentor auf und schrie: »Fein!« Na, und Kasperle mußte doch wissen, ob ein Jahrmarkt fein war oder nicht.

Überhaupt Kasperle und das feine Marlenchen! Halb Torburg rannte hinter den beiden her. Die Kinder pufften, stießen und balgten sich; jedes wollte möglichst dicht neben Kasperle gehen. Blieb Kasperle vor einer Bude stehen, da rannten gleich alle herbei, und die Budenbesitzer flehten: »Komm doch herein, Kasperle! Du kannst umsonst auf dem besten Platz sitzen.«

Die Riesendame machte richtig einen Knicks vor Kasperle, und dann ging sie einsammeln, und weil Kasperle ein Gröschlein auf den Teller legte, taten es die andern auch alle. Hei, dachte Kasperle, das muß ich mal beim Kasperlemann tun! Und flugs lief er zu dem hin.

Der war ein bißchen in einen Winkel gerutscht, und er mochte klingeln, soviel er wollte, niemand kam. Wenn ein putzlebendiges Kasperle auf dem Jahrmarkt herumläuft, wer kümmert sich da um das Holzkasperle?

Aber nun kamen Kasperle und das feine Marlenchen vor der Bude an, und der Kasperlemann schrie: »Seid ihr alle da?«

»Ich bin da, ich, Kasperle.«

»Jemine, noch ein Kasperle!«

»Du kannst gar keine feinen Gesichter schneiden, Holzkasperle,« rief das lebendige Kasperle. »Paß auf, ich kann es besser!« Und bums, pardauz! sauste Kasperle in das Budchen hinein, steckte den Kopf zwischen dem roten Vorhang heraus und fragte: »Wie soll ich aussehen?«

»Wie ein Teufel!«

»Wie ein Räuber!«

»Wie die Prinzessin Gundolfine!« schrie Hansjörg.

Oje, konnte Kasperle Gesichter schneiden! Die Leute vor dem Budchen bekamen Bauchschmerzen vor Lachen, und der Kasperlemann brauchte nur immerzu Geld einzusammeln. Ein dicker Fleischermeister gab sogar einen großen runden Taler.

»Hach,« kreischte Kasperle, »ich falle um, ich schlafe ein!«

»Warum schläft er denn?« fragten die Leute.

»Ich träume,« schrie Kasperle.

»Was träumste denn?«

»Ich träume, ein dicker Fleischermeister habe dem Kasperlemann noch drei Taler gegeben.«

»Ein feiner Traum!« Der Meister lachte, dann holte er seinen Geldbeutel heraus, legte dem Kasperlemann richtig noch drei Taler auf den Teller und schrie: »Du hast richtig geträumt, Kasperle; der Kasperlemann hat noch drei Taler bekommen.«

»Hurra!« schrie Kasperle. Er nahm das rechte Bein in den Mund, dann hopste, sprang und kasperte er noch eine ganze Weile im Budchen, bis dem Kasperlemann das Beutelchen vor Gröschlein, Hellern und Talern fast platzte. Da rutschte er hinab, schlug einen Purzelbaum, und als alle riefen: »Weiter, weiter!«, da legte er sich platt auf die Erde und sagte: »Kasperle ist tot.«

Marlenchen erschrak zuerst etwas, als sie aber dem Freund so recht genau in das unnütze Schelmengesicht sah, rannte sie plötzlich davon und rief lachend: »Kasperle muß mich fangen!«

Und heidi! war Kasperle wieder lebendig. Er sprang auf und rannte hinter der Freundin her. Die Leute vor der Kasperlebude sagten: »Sie werden schon wieder kommen!«

Sie kamen aber nicht wieder, sie saßen vor der Kuchenbude und schmausten die allerschönsten Schmalzkuchen. Die Kuchenfrau suchte immer die größten aus, und immerzu sagte sie: »Kasperle, iß noch einen! Da, kriegst sie umsonst.«

Zuletzt mahnte Marlenchen: »Kasperle, höre auf, du platzt!« Und da geschah etwas Schreckliches: Kasperle rutschte von der Bank herunter und saß plötzlich unter dem Tisch. Käseweiß sah er aus.

»Ihm ist übel geworden,« riefen etliche.

»Von meinen Schmalzkuchen wird es niemals jemand übel,« sagte die Kuchenfrau beleidigt.

»Aber wenn einer so viel ißt!«

»Huhuhu!« heulte Kasperle. »Sie, sie, sie!« stöhnte er dann.

»Er meint Sie,« sagte der Würstelmann zur Kuchenfrau, auf die er eifersüchtig war.

»Nein, er meint die Prinzessin Gundolfine,« rief Marlenchen. »Aber wo ist sie denn?«

Kasperle saß zitternd unter dem Tisch, schnitt Gesichter wie die Prinzessin, und die Leute riefen alle: »Wo ist sie denn, wo ist sie denn?«

Man suchte überall, schaute sich um und um, aber eine Prinzessin sah man nicht. Alle sagten auch, eine Prinzessin käme doch mit Hofdamen und Diener, und davon war auch nichts zu sehen.

»Kasperle, komm heim!« bat Marlenchen ängstlich.

Kasperle kroch nun unter dem Tisch hervor, er hatte wirklich Heimgehlust. Die andern Kinder und selbst die großen Leute bettelten freilich: »Kasperle, bleib noch!« Aber Kasperle ging an Marlenchens Hand ganz still heimwärts, er tat nicht einmal mehr seinen Mund auf; ganz verdattert war er. Erst als der Jahrmarktsplatz eine Weile hinter den Kindern lag und die lustigen Begleiter Kasperle und Marlenchen verließen, sagte Kasperle: »Sie war doch da!«

»Ach, Unsinn, Kasperle!«

»Ja, sie war’s, und es gibt ein Unglück.«

»Dann darfst du morgen nicht auf den Jahrmarkt gehen, Kasperle,« sagte Marlenchen ängstlich.

»Nä, ich bleib‘ im Bett liegen.«

»Aber Kasperle, du bist doch nicht krank!«

Nein, krank war Kasperle ganz und gar nicht. Trotzdem war er den ganzen Tag recht verstriezelt, und er ärgerte sich, weil alle sagten, die vielen Schmalzkuchen seien daran schuld, und es war doch nur von seinem furchtbaren Schreck gekommen.

»Wo hast du denn die Prinzessin gesehen?« fragte Herr Severin.

»Wie – wie ’ne Bauersfrau sah sie aus,« brummte Kasperle.

»Wie eine Bauersfrau? Aber Kasperle, die hochmütige Prinzessin wird sich doch nicht als Bäuerin verkleiden!« Herr Severin wollte lachen, es gelang ihm aber nicht recht. Er dachte plötzlich: Morgen früh gehe ich einmal zum Bürgermeister, der muß mir helfen.

Geraubt

Am nächsten Morgen blieb Kasperle dabei, er wollte nicht auf den Jahrmarkt gehen. Dem blassen Christli war das schon arg recht. Der hatte sich am Tage vorher sehr nach seinem Kameraden gesehnt, und er freute sich auf den heiteren Gartentag. Die Sonne meinte es besonders gut, sie schien es sich vorgenommen zu haben: Heute scheinst du den Torburgern recht freundlich und warm zu ihrem Jahrmarkt.

Nach Mittag liefen die Leute darum auch alle auf den Platz. Alle fragten sie: »Ob heute Kasperle wohl wieder so pudelnärrisch kaspern wird?« Aber kein Kasperle ließ sich sehen. Das lag im Garten lang auf der Wiese und sah zu, wie Christli kasperte.

Der wollte nämlich von seinem Freund das Gesichterziehen lernen. Kasperle und Marlenchen saßen darum im Grase, sie waren Zuschauer, und Christli war Kasper. Aber es war kein gutes Kasperle, er blieb immer Christli, konnte kein Teufels-, Räuber-, Spitzbubengesicht machen, und wie die Prinzessin Gundolfine konnte er schon gar nicht dreinsehen. Er mühte sich ordentlich ab, aber es ging nicht.

»Ich glaube, es liegt an den Höslein,« sagte Kasperle plötzlich; »wir müssen tauschen.«

»Ach ja,« rief Christli, »jetzt ziehen wir uns um!«

Das war nun wirklich vergnüglich; Christli schlupfte in Kasperles grasgrünes Röcklein, dieser in Christlis feinen weißen Anzug, und dann schauten sie sich beide an, lachten und lachten. Marlenchen lachte mit, und als endlich Christli das Kaspern versuchte, da – konnte er es nicht.

»Fang mit dem Purzelbaum an!« riet Kasperle.

Sie saßen alle am Wiesenhang am Seitenrande des Wäldchens. Innen im kleinen Walde rief und lockte einmal ein Vogel, seltsam klang es, aber die Kinder hörten nicht darauf.

Und nun schoß Christli einen Purzelbaum. Bergab ging es ganz flink und geschickt. Er überschlug sich einmal, noch einmal, drehte sich ein wenig, kam an ein Gebüsch und – weg war er.

»Kasperle,« rief Kasperle, denn die Namen hatten sie auch vertauscht, »nun mußte rauf purzelbaumen.«

Unten blieb alles still.

»Kasperle, komm doch!« lockte Marlenchen.

Wieder blieb es still.

»Er hat sich versteckt,« sagten die beiden zueinander und schwiegen eine Minute.

»Es donnert,« sagte Kasperle plötzlich.

»Ach wo!« Marlenchen schaute zum Himmel empor. Strahlend hell war der. »Es war ein Wagen, – aber wo nur Christli bleibt?«

»Du mußt ‚Kasperle‘ sagen,« verbesserte Kasperle. Da riefen beide aus Leibeskräften: »Kasperle, komm doch!«

Es blieb alles still.

Eine jähe Angst ergriff die Kameraden. Sie rannten den Abhang hinab, suchten und riefen, riefen und suchten. Kein Christli war zu sehen. Einen Fluß, in den er gefallen sein konnte, gab es nicht, ein Erdloch auch nicht. Wo war er nur hin?

»Dort ist er hingelaufen,« rief Kasperle. Ein grünes Schleifchen lag da, eins von denen, mit denen seine Höslein unten geschmückt waren. »Er will uns necken, er ist in den Garten zurückgerannt,« sagten beide und liefen zusammen zurück.

Sie kamen an ihren Spielplatz, kein Christli war da. Die Türe des Gartenhäuschens stand offen. Sie schauten hinein, riefen, aber keine Antwort kam.

»Er ist zu Meister Helmer gelaufen,« riefen die beiden sich tröstend zu. Sie liefen auch zu Meister Helmer. Der saß vor seinem kleinen Haus im bunten Garten; er war allein. Er hatte Christli auch nicht gesehen. Der gute alte Mann geriet in Angst um das Prinzlein. Er ging mit Kasperle und Marlenchen suchen, denn er dachte: Christli ist vielleicht etwas zugestoßen und liegt irgendwo blaß und ohnmächtig. Er suchte und suchte, die beiden Kameraden halfen, aber nirgends war eine Spur von Christli zu erblicken. Nur da, wo Kasperle die Schleife gefunden hatte, sah Meister Helmer, daß jemand mit großen, schweren Schuhen gegangen war. Eine furchtbare Angst überfiel ihn. »Christli ist geraubt worden,« sagte er. »Schnell, schnell, man muß Hilfe holen!«

Marlenchen schluchzte auf, Kasperle brüllte gleich ganz entsetzlich, aber dann lief er doch, als Meister Helmer sagte: »Es eilt!«, um den Fürsten und Meister Severin zu holen. Und wie rannte Kasperle. Er sprang, purzelbaumte, riß beinahe drei Menschen, einen Hund und einen kleinen Herrn um und kam sehr geschwind auf dem Kirchplatz an. Dort geschah noch das letzte Unheil. Er riß einen um, der ihm sehr gewichtig entgegenkam: den Bürgermeister.

Plauz! saß der dicke Herr da. Kasperle aber raste schreiend weiter: »Christli ist geraubt worden, Christli ist geraubt worden!«

Der Bürgermeister wurde so weiß wie sein frischgewaschenes Schnupftuch. Was schrie Kasperle da? Und wie kam Kasperle überhaupt noch hierher?

»Christli ist geraubt worden, Christli ist geraubt worden!« Kasperles Geschrei scheuchte den Fürsten, den Professor und die Waldhausleute auf. Die kamen heraus, und der dicke Bürgermeister konnte sich nicht mehr vor ihnen verstecken. Eigentlich hätte er es gern getan.

»Kasperle, schrei nicht so, rede!« Wenn Meister Severin so sprach, dann wurde das Kasperle meist ganz vernünftig. Er erzählte jetzt auch, freilich mit jämmerlichem Geheul, was geschehen war.

»Mein Christli verschwunden!« Der Fürst wurde totenbleich, und da er den Bürgermeister noch immer auf dem Platz sitzen sah, rief er: »Herr Bürgermeister, haben Sie es gehört: Am hellen Tag wird mein Kind hier in Torburg geraubt!«

»Ach, das schwätzt der Kasper!« brummte der Bürgermeister und sah ganz bissig zu diesem hin.

»Das ist wahr!« Hei, sah Kasperle auf einmal fuchsteufelswild aus! Ordentlich ängstlich wich der Bürgermeister zurück.

»Aber Kasperle, du hast Christlis Anzug an!« rief da Frau Liebetraut.

Kasperle nickte und erzählte, wie das gekommen sei.

»Dann haben sie den Kasper rauben wollen – und«

»Kasperle hat recht gesehen, die Prinzessin Gundolfine war hier in Torburg,« rief der Meister Severin. Dabei sah er unwillkürlich den Bürgermeister an, sah den ganz grün werden, und er dachte bei sich: Er hat ein böses Gesicht – vielleicht auch ein böses Gewissen.

»Man muß suchen,« stotterte der Bürgermeister. »Ich werde sofort reitende Boten überallhin schicken. Aber geraubt, – ich kann es mir nicht denken! Er ist vielleicht in ein Erdloch gefallen.«

»Nä, wir haben alles durchsucht.« Kasperle sah trotzig drein. »Er ist fort.«

»Seit wann denn?«

Ja, das wußte Kasperle nicht genau. Ein paar Stunden mochten während dem Suchen vergangen sein. Der Nachmittag war schon weit vorgerückt, und der Fürst drängte: »Schnell, schnell! Die Polizei soll suchen, Herr Bürgermeister!«

»Ja gewiß, ganz schnell!« rief der.

Aber so arg schnell ging es nicht. Erst müsse der Garten ganz genau abgesucht werden, behauptete der Bürgermeister. Er sagte, am besten wäre es, vorläufig über den Raub zu schweigen. Ja, das wäre schon gegangen, wenn Kasperle nicht gewesen wäre! Der heulte so laut, daß bald ganz Torburg in Aufregung geriet. Es war doch unerhört: Am hellen Tage wurde in der guten Stadt ein Kind geraubt!

»Wir müssen suchen, wir müssen suchen!« rief alles.

»Niemand darf über die Grenze gehen; das ist verboten,« befahl der Bürgermeister.

Ja freilich, das war verboten, aber in der Dämmerung stieg doch die gute Gräfin Agathe in einen Wagen, um Christli nachzufahren. Sie sagte auch wie Frau Liebetraut: »Den hat die Prinzessin Gundolfine rauben lassen. Ich hole ihn; ich werde es schon herausbekommen, ob er im Schloß ist. Und vor mir fürchtet sich der Herzog August Erasmus ein wenig.«

Warum denn? dachte Marlenchen. Sie wußte noch nicht, daß manche, die bös und ungut sein können, sich vor sehr guten Menschen fürchten.

Als der Wagen abfahren sollte, kamen Meister Severin und Frau Liebetraut aus ihrem Hause. Marlenchen stand bitterlich weinend am Wagen, und auf einmal sagte die Gräfin: »Kasperle soll mir noch beschreiben, wie es in den Turm auf Burg Himmelhoch hineingeht. Wo ist er denn?«

Ja, wo war Kasperle.

»Vorhin hat er noch hier gesessen und geweint,« sagte Frau Liebetraut ängstlich.

»Sie haben ihn auch geraubt!« klagte Marlenchen erschrocken.

»Nä!« klang es jämmerlich aus dem Wagen heraus.

»Aber Kasperle, was machst du denn da?«

»Ich will mit, ich – ich – will Christli befreien; ich – ich bin – doch – sein Freund!« Kasperle schluchzte laut.

»O du gutes kleines Kasperle!« sagte der Fürst. In all seiner schweren Sorge um den Liebling war ihm das Kasperle, das so treu die Freundschaft hielt, ein rechter Trost.

»Es ist recht, mein Kasperle; du fährst mit, und wir befreien Christli zusammen. So, nun komm, lege dich unter den Sitz und wickle dich in die Decke, damit dich niemand sieht!« sagte die Gräfin.

Marlenchen schluchzte herzbrechend. »Ich will auch mit!« rief sie. Aber die Muhme Agathe sagte mild: »Du mußt Christlis Vater trösten.«

Da legte Marlenchen ihre kleine Hand in die des Fürsten und sagte: »Ich weiß schon, daß Christli zurückkommt, ich will aber fleißig darum beten.«

Zuletzt stieg Herr Severin, als Diener verkleidet, mit auf den Bock. »Kasperle, wir helfen alle zusammen,« sagte er.

Torburg hatte zwei Tore. Durch eins rannten alle, durch das andere niemand. Durch dieses fuhren an diesem Tag die Gräfin und Kasperle. Der kleine Schelm heulte; tropf, tropf! liefen ihm die Tränen herab, ein Dorfbrünnlein konnte nicht mehr Wasser vergießen.

»Sei ruhig, mein Kasperle!« sagte die Gräfin. »Hab‘ nur keine Angst, ich lasse dich nicht auf Himmelhoch!«

Herr Severin kannte allerlei Seitenwege, denn er lief oft stundenlang spazieren. Die fuhr man entlang. Durch den Wald ging es, da war es still und friedsam. Kasperle durfte unter dem Sitz hervorkriechen, und die Gräfin nahm ihn auf den Schoß. So fuhren sie durch die milde, warme Sommernacht.

Zuletzt versiegten Kasperles Tränen, und er schlief ein, schlief fest und ruhig, und die Gräfin betrachtete sein Gesicht und dachte: Wie hübsch kann doch das Kasperle aussehen! So lieb und brav und so gut ist es. Fährt mit zu dem Herzog, vor dem es doch solche Angst hat, um seines Freundes willen. Wirklich, der Herzog könnte sich eigentlich an Kasperle ein Beispiel nehmen.

Als der Morgen dämmerte, tauchte Burg Himmelhoch auf. Etliche Fenster waren erleuchtet, und die Gräfin dachte: Dort muß etwas geschehen sein. Sie bekam auf einmal heftige Angst um Christli. Der zarte, blasse Bube, – wer weiß, was man mit ihm angefangen hatte! Oh, sie wußte wohl, die Base Gundolfine konnte böse sein!

»Kasperle,« sagte sie ängstlich, »wache auf! Wir sind gleich da.«

»Wo denn?« Kasperle rieb sich die Augen. Erst wußte er gar nicht, wo er war, als aber die Gräfin sagte: »Kasperle, sei brav und schrei nicht! Wir kommen jetzt nach Himmelhoch,« erschrak er gewaltig, und die Gräfin mußte ihm den Mund zuhalten, sonst hätte er losgebrüllt. Ganz ängstlich kroch er wieder unter den Sitz, Gräfin Agathe wickelte ihn in ein Tuch, stellte noch einen kleinen Reisesack vor, und dann mahnte sie noch einmal: »Kasperle, sei vernünftig, schrei nicht, mache keine Dummheiten!«

»Huhu!« stöhnte Kasperle.

»Jetzt fahren wir zum Schloß hinauf, über die Brücke. Kasperle, sei still!«

Da war Kasperle plötzlich muckstill. Der Wagen rollte in den Burghof hinein, Herr Severin knallte mit der Peitsche und rief: »Hollahe, wir sind da!«

Einer kam angerannt, der brummte: »Wer sind denn wir?«

»Ich bin es.« Die Gräfin schaute zum Wagenfenster hinaus, und der Diener blickte sie etwas verdutzt an. »Ich will den Herzog sprechen.«

»Aber der liegt doch im Bett und schläft!«

»Warum ist denn so viel Licht im Schloß?«

»Der Herzog hat doch morgen Geburtstag!« sagte der Diener.

»Aber sprechen muß ich ihn.«

»Das geht nicht.«

Da war die Gräfin schon ausgestiegen, und der Herr Severin setzte ein Pfeiflein an den Mund und pfiff eine lustige Weise. Die lockte und rief.

»Sei stille!« rief der herzogliche Diener.

Da tat sich die Schloßtüre auf und Kasperle hörte eine gute, wohlbekannte Stimme. Der alte Haushofmeister war es. Der erkannte auch gleich die Gräfin, und merkwürdig, er war gar nicht sehr verwundert.

»Der Herzog steht bald auf,« sagte er und führte die Gräfin in das Schloß. Er führte sie durch einen langen Gang, öffnete sein Zimmer und da – lag Christli auf dem Sofa und schlief.

»Christli – also ist er doch hier!« rief die Gräfin.

Der alte Haushofmeister nickte. »Die Prinzessin Gundolfine hat ihn heute nacht gebracht. Sie denkt aber, es sei Kasperle, und sie will ihn morgen dem Herzog zum Geburtstag schenken.«

Christli hatte das Sprechen gehört, er schlug die Augen auf, sah seine gute Muhme und jauchzte: »Du bist da! Oh, mich hat so eine böse, böse Frau gestohlen!« Und dann erzählte er, wie es gekommen war. Er war beim Purzelbaumen ganz dicht an den Waldrand gefallen und hatte gedacht: »Jetzt bin ich mal ein Weilchen ganz still und lasse Kasperle und Marlenchen nach mir rufen.« Und wie er so dagelegen hatte, war plötzlich ein dunkles Tuch über ihn gefallen, und ehe er noch wußte, wie und was, hatte ihn jemand rasch zusammengerollt, hatte ihm etwas in den Mund gesteckt, und dann hatte er gefühlt, wie er fortgetragen wurde. Darauf wurde er in einen Wagen geworfen, und fort ging es.

Und da war es dem armen kleinen Prinzen Christli ganz übel ergangen. Die Prinzessin Gundolfine hatte ihn eingepackt liegen lassen und ihn sogar manchmal mit dem Fuß angestoßen und gefragt: »Na, Kasperle, wie gefällt es dir, daß du nun hier so still liegen mußt? Warte nur, dir soll es noch arg schlimm gehen!«

Christli hatte zwar das dicke Taschentuch, das ihm der Mann in den Mund gesteckt hatte, herausziehen können, er war aber ganz, ganz still gewesen. Sie halten mich für Kasperle, hatte er gedacht. Nun soll die böse Prinzessin auch erst im Schloß sehen, was für ein Kasperle sie gefangen hat.

Endlich hatte jemand gesagt: »Prinzessin, Sie werden Kasperle noch tot machen, er ist sowieso so still.«

Da hatte die Prinzessin den armen Christli liegen lassen, und als sie spät abends angekommen waren, hatte sie Christli eingewickelt, wie er war, in den Keller tragen lassen wollen. Aber da war der Herzog gekommen, und sie hatte nur noch rasch zu dem Haushofmeister gesagt, er solle das Paket gut in acht nehmen, das sei ihr Geburtstagsgeschenk für den Herzog, und im Keller müsse es liegen.

Der Haushofmeister hatte gleich gedacht: Da steckt eine böse Geschichte dahinter. Er hatte das Paket ausgewickelt und den blassen und erschöpften Christli darin gefunden, den er wohl kannte.

»Es ist schon ein Bote an den Fürsten von Wolkenstein unterwegs,« sagte der Haushofmeister. »Ich habe ihm geschrieben, daß Prinz Christli hier ist.«

»Warum haben Sie nicht nach Torburg zu Christlis Vater geschickt?« fragte die Gräfin erstaunt.

»Ei,« antwortete der Haushofmeister, »der Bürgermeister in Torburg ist ein guter Freund der Prinzessin, der hat ihr sicher geholfen, der und auch die alte Kräuterfrau Mummeline aus Waldrast.«

So hatte Kasperle doch recht gehabt mit seiner Angst.

»Armes Kasperle!« sagte Christli traurig.

Die Gräfin lächelte ein wenig. »Kasperle ist so ein guter Freund, wie du einer bist,« sagte sie. »Nun schlafe aber noch, mein Christli! Und wenn dich die Prinzessin Gundolfine holen läßt, dann gehe ich mit. Ich will es dem Herzog einmal sagen, wie böse sie ist!«

»Ich muß aber Christli wieder einpacken, wie er angekommen ist, denn die Prinzessin soll erst in Gegenwart des Herzogs sehen, wen sie mitgebracht hat.« Der alte Haushofmeister sah ordentlich böse drein, als er von der Prinzessin sprach.

»Wenn sie aber vorher hereinkommt?« Christli wurde nun doch ein wenig ängstlich.

»Ich schließe zu, und die Prinzessin mag mich suchen lassen, wo sie will; sie soll mich erst finden, wenn der Herzog schon aufgestanden ist und in den Thronsaal geht,« sagte der Haushofmeister. »Ich weiß schon allerlei Winkel im Schloß, wo man sich verstecken kann. Heute steht der Herzog auch sehr früh auf, weil so viele Leute kommen, um ihm zu gratulieren.«

Der gute alte Haushofmeister brachte selbst noch etwas zu essen herein, einen Krug Milch dazu, dann nahm er Abschied und sagte: »Na, unser Herzog wird Augen machen, wenn er statt Kasperle seines Bruders Sohn sieht! Ich glaube, – er schämt sich gewiß.«

Und dann ging der Haushofmeister hinaus, schloß sorgsam die Türe zu und sagte draußen zu Veit: »Du bleibst immer in meiner Nähe, und wenn die Prinzessin kommt, warnst du mich.«

Das versprach Veit, und just da klingelte der Herzog. Er wollte aufstehen.

Es ist auch Zeit, dachte der Haushofmeister.