Der Flug nach der Sternenwiese

Der Flug nach der Sternenwiese

»Nanu!« sagten die anderen Maikäfer, die gerade unter der großen Kastanie ein Konzert abhielten, »hat der hochnäsige Geigensumsemann doch ein paar Kinder gefunden, mit denen er zum Mond fliegt?«

Sie waren so erstaunt, daß in ihr Brummkonzert ein ganz falscher Takt kam. Die drei aber flogen so schnell, daß die Hemdchen der Kinder wie kleine Fahnen in der Luft flatterten. Beinahe hätten sie zwei kleine, verliebte Nachtschmetterlinge, die nicht aufpaßten, über den Haufen geflogen. Jetzt waren sie über dem See. Der funkelte leise. Alle seine Wellen waren von Silber. Und die dummen, dicken Karpfen, die dort wohnten, glotzten durch das Wasser, sehr erstaunt. ›Oh!‹ dachte der Karpfenururgroßpapa, ›das sind aber ein paar seltsame Enten, die da oben flattern.‹ Er hielt alles, was in der Luft flog, für Enten. Fünfhundert Jahre war er alt, aber schrecklich dumm, weil er fast immer schlief. ›Oh, oh!‹ dachten die andern Karpfen. So viel hatten sie schon lange nicht gedacht, und von der Anstrengung schwitzten sie große Luftblasen; die stiegen im Wasser hoch wie kleine Perlen. Aber schon flogen die drei Abenteurer über den Wald hin. »Guck!« sagte das kleine Reh Ziepziep zu seiner Mutter, »da fliegen zwei weiße Fledermäuschen!«

Doch die Mutter wußte es besser, denn sie hatte feine Ohren und hörte alles, was man im Walde erzählt. »Es ist der Maikäfer Sumsemann, der mit zwei Kindern nach dem Mond fliegt«, sagte sie. »Wollen sie den Mond fressen?« fragte Ziepziep. Es glaubte nämlich, daß man den Mond fressen könnte, weil er so ähnlich aussah wie eine gelbe Butterblume. »Frag nicht so dumm und iß deinen Salat!« sagte die Mutter. Ziepziep war wirklich noch zu klein, um die berühmte Geschichte von dem Holzdieb und dem Maikäferbeinchen zu verstehen. Immer schneller und immer höher flogen die drei. Das Haus, die Wiese, der See, der Wald lag bald tief unter ihnen. Die Hügel, die Berge, an denen die weißen Nachtnebel hingen, versanken. Und dann lag die ganze Erde dort unten, unermeßlich tief in der blauen, stillen Nacht; mit allen ihren Ländern und Meeren; die große, liebe Erde in tiefem Schlaf. Das Herz klopfte den Kindern, aber tapfer hielten sie die Ärmchen ausgebreitet und machten keine einzige falsche Bewegung. Der Maikäfer flog ihnen voran; er geigte unermüdlich und sang sein Liedchen dazu. Seltsam! Ganz anders sahen jetzt die Sterne aus als von der Erde, wenn man sie abends vom Garten her betrachtete. Als ob sie freundliche, liebe, lachende Gesichtchen hätten mit silbernen Löckchen drum. Immer mehr wurden es, je höher man flog. Nur die großen konnte man von der Erde sehen, die kleinen sah man erst jetzt. Es waren viel, viel hunderttausend. Und plötzlich begann es durch den schweigenden Himmelsraum wie von unzähligen Glöckchen zu klingen; zuerst ganz fein und leise, dann immer lauter und deutlicher und immer schöner. Nein! es waren keine Glöckchen!

Jetzt hörten sie es deutlich; es waren viel tausend kleine Silberstimmchen ringsum. Die Sterne sangen in der Nacht; und so war ihr Lied:

»Auf der Erde ist Frieden,
Auf der Erde ist Ruh,
Alle Kinderlein schlafen,
Haben die Äugelein zu.

Hoch am Himmel, im Schweigen
Der heiligen Nacht,
Halten viel tausend Sternlein
Treu ihre Wacht.

Alle Tierlein auf dem Felde
Alle Vöglein im Wald,
Alle Fischlein im Wasser
Träumen nun bald.

Silberglöckchen, die läuten,
Und Silberlicht rinnt,
Und die Sternlein, die singen;
Süß träumt das Kind.«

Rings um die drei kleinen Abenteurer war während dieses Gesanges ein wundersames Leuchten, das immer stärker wurde. Es ging von einer weiten, silbernen Wolke aus, die vor ihnen im unendlichen Himmelsraum schwamm, wie ein großer Nebel. Man sieht manchmal des Nachts auf der Erde, hinter dem Garten über dem Fluß, oder über dem See solche Nebel. Wie Tücher sehen sie aus, die still und weiß in der Luft liegen. Nur viel heller, viel größer war dieser Nebel im Himmelsraum vor den Kindern. Und als sie nun immer näher kamen, sahen sie sehr sonderbare Dinge darauf. Hunderte, Tausende von kleinen Stühlchen standen dort um ein schönes, silbernes Pult herum, genau, wie die Kinderstühlchen in der Schule um das Lehrerpult. Neben dem Pult hing eine dicke, silberne Glockenschnur mit einer wunderschönen Troddel vom Himmel herunter; auf der andern Seite aber stand eine riesengroße Pauke neben einem mächtigen, silbernen Fernrohr. Weit hinten, auf einem Hügelchen, von dem ein feiner Nebelweg nach vorn lief, sah man einen niedlichen, weißen Schäfchenstall mit einem rosenroten Dach darauf und runden, komischen Fenstern, die wie kleine Äugelchen guckten. Um das Ganze aber lief ein Gitterchen, so zart, als sei es aus Porzellan gesponnen worden. Was war dies nur alles?

Es war die Sternenwiese, der sie sich näherten. Sie liegt mitten im Himmel und war die erste Station auf ihrer großen Fahrt.

Die Sternenwiese

Die Sternenwiese

Auf der Sternenwiese wohnt das Sandmännchen, das eine sehr wichtige Persönlichkeit im Himmelsraum ist und viele Ämter hat. Es muß den Sternen Unterricht im Singen geben, und es muß aufpassen, daß sie am Tage, wenn sie noch nicht am Himmel stehen, ihre Strahlen ordentlich putzen. Lauter kleine, silberhaarige Mädchen sind die Sterne. Jedes Kind auf der Erde hat sein Sternchen. Und wenn das Kind nicht artig war, wenn es Kuchen stibitzt hat, oder wenn es gar gelogen hat, so entstehen auf der schönen Strahlenkrone seines Sternenmädchens häßliche Flecken, sie verbiegt sich, oder sie bekommt Scharten. Dann muß das kleine Sternchen putzen mit seinem goldenen Putzläppchen und sich mühen in der Sternenschule auf der Wiese, damit das Krönchen wieder blank und hell wird zur Nacht. Das ist oft furchtbar schwer, und die kleinen Sternchen seufzen dabei vor Mühe. Manchmal weinen sie sogar, denn das Sandmännchen ist sehr streng und läßt es ihnen nicht durchgehen, wenn auch nur das kleinste Fleckchen noch da ist. Meistens aber sind sie fröhlich und oft gar schrecklich ausgelassen; besonders im Winter, wenn Weihnachten nicht mehr weit ist. Dann hat das Sandmännchen Mühe, Ordnung zu halten; so viel lachen sie. Manchmal lachen sie über die Mondschäfchen, die am Tage in dem Stall auf dem kleinen Hügel wohnen und Purzelbäumchen schießen; manchmal über die Himmelsziegen, die so komisch meckern; manchmal lachen sie auch über gar nichts und so laut, daß man es beinahe auf der Erde hören könnte. Das darf natürlich nicht sein. Dann haut das Sandmännchen auf die Pauke, sie bekommen einen Schreck und sind stille, wie die Fischchen im See; aber nicht sehr lange. So geht es auf der Sternenwiese zu, wenn auf der Erde Tag ist. Wenn aber der Abend kommt, wenn die Sonne auf der Erde untergeht, dann stellt sich der Sandmann feierlich vor sein Pult, alle Sternchen setzen ihre Kronen aufs Haar und sehen andächtig zu ihm auf. Er wendet im goldenen Mondbuch auf dem Pult feierlich eine Seite um und schreibt hinein, was die Kinder auf Erden am letzten Tag Gutes getan haben. Er weiß alles, denn die Sternchen merken es an ihren Strahlenkronen. Ist dies geschehen, so setzt er sein großes, silbernes Sandsiegel unter die Schrift, zwinkert ernsthaft mit seinen kugelrunden, freundlichen Äugelchen und zieht an der Glockenschnur. In demselben Augenblick läutet es leise über den ganzen Himmel hin von ungezählten Glöckchen. Zu dieser Musik aber huschen alle Sternenmädchen von der Wiese fort und an den Himmel. Dort stehen sie dann für die Nacht als winzige Lichtpünktchen, jedes an seinem Platz. Sandmännchen aber läuft zu seinem Fernrohr und guckt, ob sie auch alle richtig stehen, denn manchmal verirrt sich eins ein wenig an dem großen, dunklen Himmel; besonders den kleinen passiert das leicht. Manchmal rücken sie auch heimlich ein bißchen zusammen, weil sie sich noch was zu erzählen haben. Sie tuscheln und kichern nämlich ebenso gern miteinander wie die kleinen Mädchen auf der Erde. Das ist natürlich nicht erlaubt, und Sandmännchen hält streng darauf, daß so etwas nicht einreißt am Himmel.

Ja, das Sandmännchen hat wirklich sehr viel zu tun; besonders am Abend!

Wenn die Sternchen am Himmel stehen, muß es die Mondschäfchen aus dem Stall lassen, damit sie in der Nacht auf die Himmelsweide kommen. Das ist auch ein tüchtiges Stück Arbeit. Vergnügt sind die nämlich und fürchterlich ausgelassen! Sie purzeln mit ihren silbernen Fellchen wie kleine Kullerbällchen durcheinander, und bis sie schließlich ruhig auf der Weide oben am Himmel das schöne Sternschnuppengemüse grasen, vergeht eine ganze Zeit. Auch dann noch muß das Sandmännchen aufpassen, daß sie nicht etwa heimlich den Kometenkohl oder die Himmelschoten anknabbern, die dort zwar wachsen, aber den Schäfchen verboten sind, weil die Nachtfee sie braucht, wenn sie ihre großen Mitternachtsessen gibt, zu denen die mächtigen Naturkräfte eingeladen werden.

Sind die Mondschäfchen ordentlich auf die Weide gebracht, so ist noch eine ganz besonders wichtige Angelegenheit zu erledigen. Es steht auf der Sternenwiese neben der großen Pauke ein kugelrundes Säckchen, und aus diesem Säckchen schüttet der Sandmann einen feinen Silbersand in ein langes Pusterohr. Dann geht er gravitätisch nach den vier Himmelsrichtungen an den Rand der Wiese, beugt sich weit über das Gitter und bläst den leuchtenden Staub viermal in den Himmelsraum hinaus. Der Staub aber verteilt sich ganz, ganz fein und rieselt durch die Luft herab auf die Erde mit dem Licht des Mondes zusammen. Überall dort, wo Kinderaugen aus dem Bettchen in die Luft gucken, fliegt dieser silberne Sand aus Sandmännchens Pusterohr herum und legt sich leise auf die Augenlider. Die werden müde und schwer davon; man muß sie zumachen und schläft ein. So schickt das Sandmännchen den Kindern den Schlaf und auch die schönen Träume.

Mit allen diesen Arbeiten war das Männchen gerade fertig geworden, als Peterchen und Anneliese mit dem Maikäfer durch die Nacht herangeflogen kamen. Sie sahen deutlich, wie es steifbeinig auf der Wiese umherlief in seinem Schlafrock, der mit Sternen bestickt war. Auf dem Kopf hatte es eine lange Zipfelmütze und an den Füßen komische, riesengroße Pantoffeln. Von einer Seite der Wiese nach der andern lief das Männchen und paßte auf, daß am Himmel nichts in Unordnung kam. Und richtig! plötzlich hatte es die drei Abenteurer entdeckt! Es stutzte, zwinkerte mit den Augen, guckte, schnaubte sich und zwinkerte wieder. Dann aber lief es emsig zu seinem Fernrohr, richtete das auf die Kinder, guckte durch, wischte sich die Äugelchen, putzte das Glas am Fernrohr, guckte noch einmal … und nun hatte es erkannt, was da ankam. Es blies die Backen auf und schlug sich vor Erstaunen auf den kleinen Spitzbauch. Seine Augen wurden so groß wie Kuchenteller, und sein Mund stand so weit auf wie eine Ladentür. Was da vor sich ging, war aber auch etwas ganz Unerhörtes am Himmel! Viele Tausend Jahre war der Sandmann alt, aber so etwas war noch nicht passiert auf der Sternenwiese, seit er hier Ordnung hielt! Zwei Kinder im Nachthemdchen und ein geigender Maikäfer kamen durch den großen Himmelsraum herangeflogen, als wäre das so ein Sonntagnachmittags-Vergnügen. Dies ging nicht mit rechten Dingen zu! Hier mußte er sehr energisch sein!

Er stürzte also eiligst zu seiner großen Pauke, schlug darauf und schnitt ein furchtbar böses Gesicht. In dem Augenblick landeten die Kinder mit dem Maikäfer behutsam auf der Sternenwiese.

»Bum – bum – bum! Hier ist der Mond!
Rausgeschmissen wird, wer hier nicht wohnt!«

schrie der Sandmann sie an und fuchtelte mit dem Paukenstock in der Luft herum.

Na, das war gerade kein liebenswürdiger Empfang auf der ersten Station ihrer Reise!

Der Maikäfer aber dachte: ›Mit Höflichkeit kommt man am weitesten‹; und so machte er eine sehr schöne Verbeugung mit Kratzfüßchen hinten,raus und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, Herr Sandmann. . »Was? – was? – entschuldigen?« quiekte das Männchen ganz rot vor Aufregung. »Was will Er hier? Ein Maikäfer gehört auf die dicke Kastanie im Garten, aber nicht auf die Sternenwiese am Mond! Ich werde mal gleich ein paar Stemraketen gegen Ihn abschießen, daß Ihm der Bauch platzt, Er Nasegrün!

Stemraketen?

Der Maikäfer bekam natürlich Angst und dachte daran, sich tot zu stellen. Peterchen hatte zwar keine Angst, denn er hatte ja sein Holzschwert bei sich, aber er war etwas verlegen und wußte nicht recht, was man wohl tun sollte, wenn das Männchen wirklich mit Stemraketen zu schießen anfinge. Anneliese aber … ja, das hätte man wirklich nicht von der kleinen Anneliese gedacht! Sie trat plötzlich ganz mutig vor, nahm aus ihrem Körbchen ein rotbäckiges Äpfelchen und hielt es dem grimmigen Sandmann dicht unter die spitze Nase. »Nanu?« sagte der höchst erstaunt; »was ist denn das für ein tapferes, kleines Frauenzimmerchen?« Dabei schnüffelte er schon neugierig an dem schönen Apfel herum. So etwas gab es nämlich nicht am Himmel oben. Auf der Weihnachtswiese, die auf dem Mond lag, wuchsen allerdings die vergoldeten Äpfelchen und Nüßchen; aber davon konnte das Männchen keine bekommen, die waren für die Kinder auf der Erde. Nun lief ihm doch das Wasser im Munde zusammen. »Gib mal her!« sagte es. Anneliese machte einen Knicks und sagte: »Bitte schön!«

Happs! … biß das Männchen hinein. Ordentlich komisch war, wie es plötzlich vergnügt wurde. Es schmunzelte von einem Ohr bis zum andern beim Kauen und rieb sich das Bäuchlein, so gut schmeckte es ihm.

Als der Apfel aufgegessen war, faltete der Sandmann die Hände auf dem Rücken und sah die Kinder an. Er wollte böse aussehen, aber der Apfel hatte so gut geschmeckt, daß es ihm nicht mehr richtig gelang, ein grimmiges Gesicht zu schneiden. »Ihr Hemdenmätze, was wollt ihr denn hier? Ihr sollt doch schlafen!« schmunzelte er. Jetzt trat Peterchen mit einer Verbeugung vor und erklärte den Grund der Reise. Ja, von der Geschichte hatte der Sandmann schon gehört. Sie war einmal auf einem Kaffeeklatsch bei der Nachtfee erzählt worden, vor etwa tausend Jahren; und damals waren alle Gäste sehr gerührt gewesen von dem Schicksal der Sumsemänner. »Hm, hm«, meinte das Männchen jetzt und rollte mit den Augen, so stark dachte es nach. Aber da kam ihm schon wieder der Geruch von den Äpfeln in die Nase, die Peterchen in seinem Korbe hatte. »Gib mir noch einen Apfel!« sagte es plötzlich mitten im Denken und hielt die Hand hin. Das tat Peterchen natürlich gern. Als der Sandmann nun auch den zweiten Apfel verspeist hatte, war all sein Grimm verflogen, und er nickte wohlwollend mit dem Kopfe. »Jaja, die Geschichte der Sumsemänner, die war überall am Himmel bekannt.«

Aber sollte der Maikäfer nun wirklich zwei artige Kinder gefunden haben, um das Beinchen zurückzuerobern? Das wäre doch ein ganz gewaltiges Glück für die Sumsemänner!

Es mußte also festgestellt werden, ob die Kinder artig waren; sonst ging die Geschichte nicht. Mit großen, feierlichen Schritten begab sich das Sandmännchen zu seinem Sprachrohr und rief nach dem Himmel hinauf: »Die Sternchen von Anneliese und Peterchen sollen mal schnell herunterkommen!

Und was geschah?

Zwei winzige Sternpünktchen lösten sich hoch oben vom Himmelsgrund und fielen leuchtend herab auf die Wiese. Im gleichen Augenblick standen dort zwei wunderschöne kleine Mädchen mit blonden Locken und lachenden Augen. Silberne Hemdchen hatten sie an und silberne Schuhe; funkelhelle Strahlenkronen aber blinkten auf ihren Köpfen. »Peterchen, mein Peterchen!« rief das eine Sternchen. »Meine kleine Anneliese!« rief das andere. Und dann gab’s eine fröhliche Begrüßung. Die Kinder liefen zu ihren Sternchen, und sie umarmten und küßten sich. Dem dicken Maikäfer kamen ordentlich die Tränen in die Glotzaugen vom Zusehen, so hübsch war es. Rührung durfte aber nicht einreißen, denn die Geschichte war ernst. Also tat das Sandmännchen wieder sehr grimmig, verbat sich die Küsserei und fragte die Sternchen, ob die beiden Kinder, Peterchen und Anneliese, kein‘ Fleckchen auf die Kronen ihrer Sternchen gemacht hätten. Da lächelten beide Sternchen und schüttelten ihre silbernen Locken. Blitzblank waren die Kronen. Jetzt schmunzelte das gute Sandmännchen, denn es freute sich sehr darüber, und die Kinder durften den Sternchen noch einen Kuß geben. »Ach, war das schön!«

So ein Sternchenkuß schmeckt so lieb, daß man es wirklich gar nicht beschreiben kann; man muß es erleben; und man erlebt es, wenn man gut ist.

Husch! waren die Sternchen wieder fort und standen als Lichtpünktchen am Himmel. Die Kinder guckten ihnen ganz traurig nach, aber plötzlich mußten sie laut lachen. Der Maikäfer tanzte nämlich wie ein Verdrehter auf der Sternenwiese herum und warf dabei mit den Beinchen mindestens ein Dutzend Sternenstühlchen um, die dort standen. Er freute sich, daß die Kinder artig waren, denn in seiner Familiengeschichte stand, artige Kinder müßten es sein, sonst sei alle Mühe umsonst. Nun war es sicher, daß er sein Beinchen wiederbekam. Schrecklich freute er sich!

Der Sandmann verstand zwar, daß das Sumsemännchen sich freute; aber, daß es die Sternenstühlchen umwarf, war gegen die Ordnung, und er verbat sich dieses maikäferhafte Benehmen sehr energisch. »Ein Freudentanz sollte das sein? Ein ganz dummes Rumgebrumsel sei es! Auf der Sternenwiese mache man so was nicht; überhaupt, wenn man so dick wäre und so unsicher auf den Beinen!«

Da hatte der Sumsemann seine Strafpredigt weg. ›Das Sandmännchen ist sehr ungebildet‹, dachte er, denn die Maikäfertänze sind die schönsten Tänze der Welt, das weiß jeder. ›Und er, der Sumsemann, sei unsicher auf den Beinen? So was Lächerliches! Alle wüßten, wie elegant er auf den Kastanienblättern im Garten tanzen konnte; und nun sollte man ihn erst mal sehen, wenn er das sechste Beinchen wieder hätte!‹

Beinahe hätte er laut gelacht; aber er verkniff sich das Lachen, denn er war vorsichtig und wollte sich nicht unbeliebt machen. »Entschuldigen Sie, Herr Sandmann!« sagte er, machte einen Kratzfuß und sah bescheiden aus. Nur ganz heimlich warf er den Kindern ein paar Kußhändchen zu. Sandmännchen hatte den Finger an seine Nase gelegt und dachte tief nach. Es war nämlich eine recht gefährliche Geschichte, die von den beiden Kindern unternommen werden sollte; und weil er sie schon sehr lieb hatte, wollte er ihnen nun auch mit allen Kräften beistehen auf der weiteren Fahrt. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Gerade heute, um 12 Uhr mitternachts, gab die Nachtfee einen Kaffeeklatsch für die Naturgeister in ihrem Schloß. Er war auch eingeladen. Die Nachtfee war sehr mächtig; viel mächtiger als er. Sie war es ja auch gewesen, die vor vielen hundert Jahren den bösen Holzdieb auf den Mondberg verbannt und den Sumsemännern erlaubt hatte, mit artigen Kindern das Beinchen von dort wieder herunterzuholen. Wenn er die Kinder also mitnähme auf das Schloß der Nachtfee zu dem Kaffeeklatsch? Sie war eine gütige Fee und würde ihnen sicher ihren Schutz leihen. Peterchen und Anneliese konnten bei dieser Gelegenheit sogar die Naturgeister kennenlernen, die ihnen vielleicht später beistehen würden. Ja, das war ein prächtiger Gedanke!

Das Männchen machte einen Sprung in die Luft vor Vergnügen über diesen Einfall, daß sein spitzes Bäuchlein nur so wackelte; dazu schrie es: »Ich hab’s! ich hab’s! ich habe einen himmelsraketenmäßig prächtigen Gedanken, Kinderchen!

Und er erklärte ihnen alles, was er vorhatte. Das war allerdings ein wunderbar schöner Plan!

Peterchen freute sich gewaltig auf die Naturgeister, und Anneliese auf die schöne Nachtfee. Der Sumsemann hatte zwar wieder Angst, denn die Bekanntschaft mit den Naturgeistern schien ihm gefährlich; doch er unterdrückte es, tat mutig und fand den Einfall des Sandmännchens sehr schön. Der Sandmann aber zog jetzt eine riesengroße Taschenuhr aus dem Schlafrock, tippte mit dem Finger auf das Zifferblatt und sagte:

»Gleich muß er da sein!«

Er meinte nämlich seinen Mondschlitten, mit dem er zum Schloß der Nachtfee fahren wollte. Und richtig, da kam auch schon etwas durch die Luft!

Ein schneeweißer Schlitten war es, der von acht Nachtfaltern an silbernen Bändern gezogen wurde. Lautlos, wie ein Wölkchen glitt er heran und hielt vor den Kindern. Die Nachtfalter hatten große, leuchtend grüne Augen und schlugen geheimnisvoll mit ihren schönen, schimmernden Flügeln. Dazu bewegten sie ihre goldenen Fühlhörner, an denen gläserne Glöckchen klangen. Staunend sahen die Kinder dies. Aber es gab keine Zeit mehr mit Verwundern zu verlieren. Der Weg, den sie zu fahren hatten, war weit. So nahmen sie alle schnell im Schlitten Platz. Man saß wie auf seidenen Wolken darin. Sandmännchen ergriff die Zügel, die Nachtfalter hoben die Schwingen, leise klangen die Glasglöckchen und .,. fort ging die Fahrt über die Sternenwiese hin, auf die Milchstraße zu, an deren fernem Ende das Schloß der Nachtfee lag.

Die Schlittenfahrt auf der Milchstraße

Die Schlittenfahrt auf der Milchstraße

Noch nie sind Kinder so schön gefahren, wie Peterchen und Anneliese in Sandmanns Mondschlitten auf der Milchstraße zum Schoß der Nachtfee fuhren!

Aus einem leise leuchtenden Schaum war der Weg unter ihnen, glänzender als frischer Schnee und zarter als der Schaum der klarsten Wellen. Lautlos glitt der Schlitten auf diesem Zauberwege durch den Himmelsraum. Nur die kleinen, gläsernen Glöckchen an den Fühlern der Falter klangen leise im Takt, so, wie die schönen Tiere ihre Flügel hoben und senkten. Mächtige Bäume wuchsen zu beiden Seiten der Milchstraße; durchsichtig waren sie und mit großen, weißen Blumen bedeckt. »Das sind die Milchbäume«, erklärte das Sandmännchen; »aus ihren Blumen tropft der süße ~ Den essen die Sternenmädchen, wenn sie hungrig sind.«

Unter diesen blühenden Alleebäumen ging es dahin, und die weißen Blumen kamen den Kindern einmal so nahe, daß Annneliese das Händchen ausstreckte, um eine solche Blüte abzupflücken. Sie bekam es zwar nicht fertig, denn der Schlitten fuhr viel zu schnell, aber alle Finger waren von dem herrlichen Milchstraßenhonig naß.

Nun ging es ans Ablutschen!

Peterchen machte natürlich auch Anspruch auf den Honig, und Anneliese war gut. Sie ließ ihn drei von ihren Fingerchen ablutschen. Die anderen beiden aber, die größten, behielt sie doch für sich. Das war auch ihr gutes Recht. Wirklich, so etwas Süßes hatten sie noch nie geschmeckt!

Jetzt kamen sie an einer Wiese vorbei, auf der sich eine Herde sehr sonderbarer Tiere tummelte. Beinahe sahen sie wie Ziegen aus und beinahe wie kleine Wölkchen mit Beinen. Immerfort huschten sie herum, aber sie bewegten die Beinchen gar nicht dabei. Als ob ein Wind sie durcheinanderwirbelte, sah es aus, und dazu meckerten sie, daß es klang, als ob tausend Kinder sich totlachen wollten. »Es sind die Himmelsziegen«, erklärte das Sandmännchen; »sie grasen hier den Mondspinat ab. Zu Weihnachten werden ihnen die goldenen Hörnchen abgebrochen; dann ist auf der Sternenwiese für die Sternenmädchen ein großer Festschmaus. Es gibt Milchstraßenschlagsahne mit Himmelsziegenhörnchen. Das schmeckt unbeschreiblich gut!«

Die Kinder konnten sich wohl denken, daß so etwas gut schmeckt.

Und nun fuhren sie an einem sonderbaren See vorüber. Sein Wasser flimmerte wie geschmolzenes Silber, über das ein leiser Wind geht. Es war leuchtende Nebelluft, die leise Wellen schlug. In dem See wimmelte es von unzähligen kleinen Fischen; die funkelten wie bunte Flämmchen. Immerfort zuckten, huschten und zitterten sie herum. Totenstill war’s dabei. »Das ist der Tausee mit den Irrlichterfischchen!« erklärte der Sandmann. »In jeder stillen Nacht kommt ein wunderschönes Mädchen leise an das Ufer des Tausees, das Taumariechen, die Tochter der Nachtfee. Mit einer Schale, die aus einem einzigen Diamanten geschnitten ist, schöpft sie aus dem See. Dann schwebt sie zur Erde hinab und sprengt den kühlen Tau über Gärten, Wiesen und Wälder, damit alle Blumen und Bäume, alle Gräser und Kräuter frisch und schön sind am Morgen. Manchmal geschieht es, daß einige von den funkelnden Fischen mit in die Schale des Taumariechens kommen Die werden dann auch mit dem Tau über die Wiesen gestreut, und man kann sie in stillen Nächten huschen und funkeln sehen. »Elmsfeuerchen« sagen die Menschen, oder »Irrlichter«.

Und weiter ging die Fahrt. An der Weide der Himmelskühe und Mondkälber kamen sie jetzt vorüber, die wie große, dicke Wolken herumrutschten auf den weißen Wiesen und immerfort fraßen. Nicht durchsichtig waren sie wie die Mondschäfchen und Himmelsziegen auf den anderen Weiden, sondern große, undurchsichtige graue Klumpen. »Sie sind gar nicht beliebt bei den Sternchen«, sagte der Sandmann; »weil sie oft die Aussicht auf die Erde mit ihren dicken Bäuchen versperren, so daß die Sternchen ihre schlafenden Kinder dort unten nicht recht sehen können. Aber die Nachtfee braucht die Himmelskühe. Aus ihrer Milch wird die Mondbutter gemacht. Die braucht der Koch der Nachtfee zum Kuchenbacken; besonders für die schönen Mondscheinfladen, die es manchmal auf dem Kaffeeklatsch bei der Nachtfee gibt.«

Das Sandmännchen schmunzelte ordentlich bei dem Gedanken an die Mondscheinfladen. Sie waren nämlich sein Leibgericht. Und heute nacht sollte es auch welche geben. Das hatte der Milchstraßenmann, der die Mondbutter liefern muß, verraten. ›Am Himmel gibt’s doch viele gute Sachen‹, dachten die Kinder; ›soviel Gutes zu essen!‹ Nur der Sumsemann saß hinten im Schlitten und sah etwas gelangweilt aus. Für ihn war das alles nichts. Kein einziges grünes Blättchen hatte er bisher entdecken können. Alles war von Silber oder von Zucker. Für Mondbutter, Sternblumenklee, Milchstraßen- Schlagsahne und Himmelsziegenhörnchen hatte er gar kein Verständnis als anständiger Maikäfer. Na aber schließlich brauchte er ja das Zeug nicht zu essen. Und hier war doch die Hauptsache, daß er, der Herr Sumsemann, sein Beinchen wiederbekam. Deshalb wurde die ganze Reise unternommen. Er war also die Hauptperson!

Als er sich darüber klar wurde, sah er wieder sehr zufrieden und stolz aus.

Am hundertsten Meilenstein fuhren sie eben vorüber, da fing es an zu schneien. Ein sonderbarer Schnee war das!

Millionen Lichtflocken tanzten um sie her; winzige, sprühende Sternchen. Sie stiebten so dicht um den Schlitten, daß man vor lauter Fünkchen nichts mehr sehen konnte. »Da sind wir in eine Sternschnuppenwolke geraten«, meinte das Sandmännchen; »aber das schadet nichts; davon brennt man nicht an.«

Die Kinder fanden es sehr lustig. Sie griffen nach den Fünkchen und wollten gar zu gern Sternschnuppen-Schneebällchen daraus machen; aber das war nicht so einfach. Beinahe wäre Peterchen dabei aus dem Schlitten gefallen. Anneliese lachte immerfort und steckte die Zunge heraus in das Schnuppengestöber. Das prickelte nämlich zu komisch. Nur dem Sumsemann war es wieder recht ungemütlich. Schneegestöber ist eben für Maikäfer etwas Greuliches. Das kann man schließlich begreifen. Eben wollte er sich totstellen, da waren sie aus der Wolke heraus, und vor ihnen lag das Schloß der Nachtfee auf himmelhohen, silbergrauen Wolken – unbeschreiblich schön!

Der Schlitten hielt am Fuße der Treppe aus weißem Glase, die breit zwischen den Wolken hinaufführte zum Tor des Schlosses. Nun stiegen sie an der Hand des Sandmännchens die Treppe hinauf. Sehr feierlich war es.

Die Geschichte der Sumsemanns

Die Geschichte der Sumsemanns

»Sumsemann« hieß der dicke Maikäfer, der im Frühling auf einer Kastanie im Garten von Peterchens Eltern hauste, nicht weit von der großen Wiese mit den vielen Sternblumen. Er war verheiratet gewesen; aber seine Frau war nun tot. Ein Huhn hatte sie gefressen, als sie auf dem Hofe einherkrabbelte am Nachmittag, um einmal nachzusehen, was es da im Sonnenlicht zu schnabulieren gab. Für die Maikäfer ist es nämlich sehr gefährlich, am Tage spazierenzugehen. Wie die Menschen des Nachts schlafen müssen, so schlafen die Maikäfer am Tage.

Aber die kleine Frau Sumsemann war sehr neugierig und so brummte sie auch am Tage herum. Gerade hatte sie sich auf ein Salatblatt gesetzt und dachte: ›Willst mal probieren, wie das schmeckt!‹ … Pick! – da hatte das Huhn sie aufgefressen.

Es war ein großer Schmerz für Herrn Sumsemann, den Maikäfer. Er weinte viele Blätter naß und ließ seine Beinchen schwarz lackieren. Die waren früher rot gewesen; aber es ist Sitte bei den Maikäfern, daß die Witwer schwarze Beine haben in der Trauerzeit. Und Herr Sumsemann hielt auf gute Sitte, denn er war der letzte Sohn einer sehr berühmten Familie.

Vor vielen hundert Jahren nämlich, als der Urahn der Familie Sumsemann sich gerade verheiratet hatte, geschah ein großes Unglück. Er war mit seiner kleinen Frau im Wald spazierengeflogen – an einem schönen Sonntagabend. Sie hatten viel gegessen und ruhten sich ein wenig auf einem Birkenzweiglein aus.

Da sie aber sehr mit sich selbst beschäftigt waren, denn sie waren jung verheiratet, merkten sie nicht, daß ein böser Mann durch den Wald herbeikam; ein Holzdieb, der am Sonntag stehlen wollte. Der schwang plötzlich seine Axt und hieb die Birke um. Und so schrecklich schlug er zu, daß er dem Urgroßvater Sumsemann ein Beinchen mit abschlug. Fürchterlich war es!

Und sie fielen auf den Rücken und wurden ohnmächtig vor Angst. Nach einiger Zeit aber kamen sie zu sich von einem hellen Schein, der um sie leuchtete.

Da stand eine schöne Frau vor ihnen im Walde und sagte: »Der böse Mann ist bestraft für seinen Waldfrevel am Sonntag. Ich bin die Fee der Nacht und habe es vom Monde aus gesehen. Zur Strafe ist er nun mit dem Holz, das er umgeschlagen hat, auf den höchsten Mondberg verbannt. Dort muß er bleiben bis in alle Ewigkeit, Bäume abhauen und Ruten schleppen.«

Aber der Urgroßvater Sumsemann schrie und sagte: »Wo ist mein Beinchen, wo ist mein Beinchen, wo ist mein kleines sechstes Beinchen?«

Da erschrak die Fee.

»Ach«, sagte sie, »das tut mir sehr leid; es ist wohl an der Birke hängengeblieben und nun mit auf den Mond gekommen.«

»Oh, oh, mein Beinchen, mein kleines sechstes Beinchen!« schrie der arme Urgroßvater Sumsemann, und seine kleine Frau weinte schrecklich. Sie wußte, daß nun alle ihre Kinder nur fünf Beinchen haben würden statt sechs, denn es vererbt sich. Und das war schlimm. Als aber die Fee den großen Jammer sah, hatte sie Mitleid mit den Käfertierchen und sagte: »Ein Mensch ist zwar sehr viel mehr als ein Maikäfer, und deshalb kann ich die Strafe für den bösen Mann nicht aufheben; aber ich will erlauben, daß gute Menschen, wenn ihr sie findet, euch das Beinchen wiedergewinnen können. Wenn ihr zwei Kinder findet, die niemals ein Tierchen quälten, dann dürft ihr auf den Mond mit ihnen und das Beinchen wiederholen.«

Da waren die beiden etwas getröstet und flogen heim und trockneten ihre Tränen.

Diese Geschichte hatte sich bald unter allen Käfern herumgesprochen; alle Mücken, Grillen und Ameisen wußten es, sogar die Libellen und Schmetterlinge hatten davon gehört. Die Familie der Sumsemanns war berühmt geworden. Sie galt auf allen Wiesen und in allen Bäumen für ein sehr vornehmes Geschlecht. Aber die Sumsemänner und Frauen hatten viel Leid von ihrem Ruhm, denn immer wieder wurden sie totgeschlagen, wenn sie nachts in die Stuben kamen, um die Kinder zu bitten; oft von rohen und unverständigen Dienstmädchen, oft auch von den Kindern selbst. Dies war der große Fluch, der auf der Familie lastete. Und so kam es, daß zuletzt nur noch ein Sumsemann übrig war auf der Welt, der Witwer, dessen Frau von dem Huhn gefressen wurde, weil sie so neugierig am Tag herumflog, statt zu schlafen.

Er war ein sehr vorsichtiger Mann, hielt sich immer ein wenig abseits von den anderen Maikäfern, und besonders, seit seine Frau tot war, liebte er die Einsamkeit.

Da saß er in der Dämmerung, wenn er sich satt gegessen hatte, auf irgendeinem Zweiglein, geigte sehnsüchtige Liederchen an den Mond und die große Ballade vom sechsten Beinchen, das noch immer dort oben war. Manchmal spielte er sich auch ein lustiges Liedchen. Dazu tanzte er dann auf den großen Kastanienblättern herum. Das sah sehr komisch aus. Die anderen Maikäfer veranstalteten allabendlich ein großes Brummbaß- und Paukenkonzert unter dem Baum. Herr Sumsemann aber sagte regelmäßig ab, wenn sie ihn dazu einluden, und das ärgerte sie sehr. »Er ist hochnäsig«, sagten sie, »seit er nicht mehr den Brummbaß, sondern die Geige spielt.«

Aber es war nur Neid von ihnen. Sie hatten nämlich alle nur ihre Pauken und dicken Brummbässe; er aber hatte eine kleine silberne Geige, die funkelte wie das Mondlicht und hatte einen Ton, so fein wie die winzigen, singenden Mücken, die in der Sonne tanzen. Diese Geige war ein altes Familienerbstück. Einst hatte ein Herr Sumsemann der Grille Zirpedirp, die auf der Sternblumenwiese wohnte, das Leben gerettet, als sie zu hoch auf einen Baum gestiegen war und einen Schwindelanfall bekam. Zum Dank für diese mutige Tat hatte die Grille ihrem Lebensretter die silberne Geige geschenkt. Die erbte seither im Geschlechte der Sumsemanns immer der älteste Sohn, und sie wurde hoch in Ehren gehalten. So war nun der letzte Sumsemann auch der letzte Erbe. All dies machte ihn sehr stolz. Man kann es begreifen. Er führte ein bequemes Leben, war dick und vorsichtig und dachte immer daran, daß er sich nicht in Gefahr bringen dürfe. Nur manchmal, wenn der Abend gar so schön war, packte es ihn, und er wurde mutig. Dann trank er ein Vergißmeinnichtschnäpschen nach dem anderen zur Erinnerung an seine Frau – obwohl sie damit ganz gewiß nicht einverstanden gewesen wäre –, und in sehr angeregter Stimmung summte er in Zickzacklinien durch die Gärten. Er störte die Mücken bei ihrem Abendtanz und die Leuchtkäfer beim Versteckspielen. Er rempelte die Apfelblüten an, daß die kleinen Marienkäferkinderchen herauspurzelten, die da eben einschlafen wollten. Er zerriß der schieläugigen Spinne die Fangnetze und rannte … bums! … gegen alle Fenster, weil er nicht mehr genau unterscheiden konnte, ob ein Fenster offen oder geschlossen war. Es tat ihm aber nichts, denn er hatte einen sehr harten Schädel. »Hoppla!« sagte er meistens nur und flog weiter, von gewaltigem Tatendurst getrieben. ›Ein Ritter bin ich‹, so dachte er, ›und der letzte Sumsemann!‹

In der Kinderstube

In der Kinderstube

So war der letzte Sumsemann denn auch eines schönen Abends in das Schlafzimmer von Peterchen und Anneliese geraten, als die Kinder gerade von der dicken Minna zu Bett gebracht wurden.

Peterchen hatte natürlich sein Gebrumm gehört und wollte ihn greifen. Gut war nur, daß Minna die Jagd nicht erlaubte, denn sonst wäre Sumsemann vielleicht in eine schlimme Lage geraten. Sie war wahrscheinlich schwerhörig, denn sie hatte gar nichts gehört und glaubte, daß Peterchen ihr nur etwas vormachen wolle, um im Hemdchen noch so »ein bissel« im Zimmer herumzuturnen.

Der Schreck war dem edlen Sumsemann aber doch scheußlich in die Glieder gefahren, und, trotzdem er gerade heute besonders viele Vergißmeinnichtschnäpschen getrunken hatte, war all sein Mut fort. Er lag oben auf der Gardinenstange und stellte sich tot. Dies ist ein altes und bewährtes Mittel bei den Maikäfern, in großen Gefahren. Derweil aber paßte er genau auf, was im Zimmer geschah. Die Minna ging fort, als sie die Kinder ins Bettchen gepackt hatte, und Peterchen unterhielt sich mit Anneliese natürlich gleich über den Maikäfer. Jetzt wurde es wieder gefährlich!

Der Sumsemann bekam oben auf der Gardinenstange kolossales Herzklopfen, als Peterchen plötzlich leise aufstand, um ihn zu suchen, weil Anneliese ein bissel Angst hatte.

›Wer weiß, es hätte ihm doch ans Leben gehen können; obwohl die Kinder ja sonst gut waren. Aber man darf sich auf die Gutmütigkeit der Menschen nicht verlassen.‹ Dies wußte er aus seiner Familiengeschichte.

Das Geschick war ihm aber günstig; denn, gerade als Peterchen an der Gardine war und die Gefahr am höchsten stieg, kam die Mutter herein. Husch! wurde der kleine Junge wieder ins Bettchen gesteckt; beide Kinder mußten die Hände falten und das Nachtgebet sprechen. Dann sang die Mutter ihnen noch ein Schlaflied. Und sie sang die berühmte Maikäferballade. Hier ist sie:

»War einst ein kleines Käferlein,
Summ – Summ – Summ – Hatte zwei braune Flügelein,
Summ – Summ – Summ – Und sechs Beinchen hatte es auch
Unter seinem schwarz-weißen Bauch,
Summ – Summ – Summ.

Saß auf einem grünen Baum,
Summ – Summ – Summ – Träumte einen schönen Traum,
Summ – Summ – Summ – Träumte von Sonne, Mond und Sternen
Und von fremden Länderfernen,
Summ – Summ – Summ.

Als der dunkle Abend kam,
Summ – Summ – Summ – Käferlein sein Ränzel nahm,
Summ – Summ – Summ – Wollt‘ auf die große Reise gehn
Und die weite Welt besehn,
Summ – Summ – Summ.

Flog über einen breiten Bach,
Summ – Summ – Summ – Verlor ein kleines Beinchen, ach!
Summ – Summ – Summ – Reiste nur noch mit fünf Beinen,
Tat so bitterlich drum weinen,
Summ – Summ – Summ.

Flog es nach dem Mond geschwind,
Summ – Summ – Summ – Kam ein großer Wirbelwind,
Summ – Summ – Summ – Brach ein Flügelchen entzwei;
Ach, das gab ein groß‘ Geschrei!
Summ – Summ – Summ.

Fiel in einen tiefen Wald,
Summ – Summ – Summ – Starb an seinem Kummer bald,
Summ – Summ – Summ – Mußt‘ die Reis‘ ein Ende haben;
Sandmännchen hat es eingegraben,
Summ – Summ – Summ.«

›Seltsam!‹ Herr Sumsemann oben auf der Gardinenstange wunderte sich, daß die Menschen dies Lied auch kannten. Es war ihm aber ein neuer Beweis für die Berühmtheit der Maikäfer auf der weiten Welt, und dies beruhigte ihn sehr. Als die Kinder nun eingeschlafen waren und die Mutter aus dem Zimmer ging, faßte er neuen Mut. Ganz leise rappelte er sich auf und spazierte in der Stube herum.

Er besah und beschnüffelte alles. Eine Puppenstube, ein Schaukelpferdchen, ein Lämmchen, Soldaten und Bilderbücher waren da. Lauter langweilige Sachen!

In der Puppenstube war allerdings etwas Zucker; aber Zucker? Puh, den mochte er nicht! Er verstand gar nicht, wie man so was essen könnte. Dann waren noch zwei Körbchen mit Äpfel da. Die Mutter hatte sie den Kindern für morgen hingestellt, wenn sie recht brav ausgeschlafen hätten. Er schüttelte den Kopf. ›Wie konnte man nur Äpfel essen?!‹ Unbegreiflich war ihm das. Greuliche Bauchschmerzen hätte er bekommen. Er aß nur Salat; das war vornehm. ›Komisch, was den Menschen alles gut schmeckt!‹ dachte er, und dabei mußte er laut lachen. Da er aber so viel Vergißmeinnichtschnäpse getrunken hatte, geriet er plötzlich aus dem Gleichgewicht und purzelte auf den Rücken. Au!… das war eine außerordentlich fatale und unangenehme Lage für den dicken Sumsemann, denn jeder weiß, daß es für Maikäfer sehr schlimm ist, auf den Rücken zu fallen, weil sie sich dann gar nicht mehr recht aufrappeln können. Er angelte also mit seinen fünf Beinchen in der Luft herum und dachte: ›Ja, ja, das kommt von den Schnäpschen, die man zum Andenken an die tote Ehefrau trinkt!‹

Lebte sie noch, sie hätte ihm sicher eins ausgewischt für die vielen Schnäpschen. Er wiegte sich nach rechts und links wie ein kleines Boot, kreiselte herum wie eine Karussell und quälte sich sehr. Endlich geriet er in die Nähe eines Tischbeins, und daran konnte er sich stützen, so daß er wieder hochkam. Ganz schmutzig war sein schöner, brauner Rock geworden. Alle Knöpfe waren abgeplatzt, und eine lange Naht war aufgerissen. Gut, daß ihn seine Frau nicht mehr sehen konnte. Nun saß der Sumsemann eine Weile am Tisch und dachte nach, womit er sich die Zeit vertreiben könnte. Da er aber weiter nichts anzufangen wußte und über die traurige Stimmung hinwegkommen wollte, nahm er seine kleine Geige und spielte sich ein lustiges Maikäfertänzchen; dazu sang er:

»Eins, zwei, drei – eins, zwei, drei,
Fiel eine Biene in den Brei;
Plumsdibums,
Dideldumdei!
Alle Käfer sitzen drum herum,
Lachen sich schief,
Lachen sich krumm,
Brumm, brumm!

Vier, fünf, sechs – vier, fünf, sechs,
Macht eine Fliege einen Klecks;
Putschpitschpatsch,
Klickklackklecks!
Pfui, ruft jeder rechte Käfermann,
Seht sie an,
Was sie kann,
Heran, heran!

Sieben, acht, neun – sieben, acht, neun,
Tanzen alle kleinen Käferlein;
Ringelreih,
Dideldudeldei!
Um die dicke Linde mit Gesumm,
Rechts herum,
Links herum,
Brumm, brumm!«

Dabei wurde er so fidel, daß er ganz vergaß, wo er war, und sehr erschrak, als Peterchen und Anneliese plötzlich laut auflachten, weil er gar so komisch herumsprang bei seinem Tanz. Er hatte sie nämlich mit seiner Musik aufgeweckt und gar nicht bemerkt, daß sie ihm schon eine ganze Weile zusahen. Eigentlich hatte er Angst und wollte sich schnell totstellen, aber die Kinder lachten so vergnügt, daß er sich wieder ein Herz faßte. Er legte also seine Geige auf den Tisch, strich seine schöne, schwarz-weiße Weste glatt, richtete die kleinen Fühlhörnchen an seinem Kopf auf, machte eine Verbeugung und stellte sich vor: »Herr Sumsemann!«

Die Kinder waren aus ihrem Bettchen geklettert, und da sie wußten, was sich gehört, machte Peterchen auch eine Verbeugung, Anneliese einen Knicks, und sie stellten sich ebenso vor. Nun aber waren sie schrecklich neugierig, beguckten und befühlten den Sumsemann überall, bewunderten die kleine silberne Geige und wollten alles wissen.

Dem dicken Maikäfer wurde ganz schwindlig von all den Fragen nach der Grille Zirpedirp und nach der toten Frau, die das Huhn gefressen hatte. Plötzlich hatte Peterchen auch entdeckt, daß ihm ein Beinchen fehlte. Der wußte nämlich ganz genau, wieviel Beinchen ein ordentlicher Maikäfer haben muß, und darum fragte er nun.

So war also wirklich der große Augenblick für den Letzten der Sumsemanns gekommen: Zwei gute Kinder fragten ihn nach seinem Beinchen. Viel hundert Jahre hatten seine Ahnen und Vorfahren dies ersehnt und waren totgeschlagen worden. Und jetzt – jetzt!!

Ihm wurde ganz grün vor den Augen, seine Flügel zitterten vor Aufregung, und beinahe wäre er auf den Rücken gefallen. Aber er beherrschte sich doch, so gut es ging, holte tief Luft, wischte sich mit einem grünen Lindenblättchen, das er immer als Taschentuch benutzte, den Schweiß von der Stirn, machte eine sehr geheimnisvolle Miene und sagte: »Ja, das ist eine sehr traurige und wunderbare Geschichte!«

Nun wollten die Kinder natürlich die Geschichte hören, schleppten drei Schemelchen herbei, und gleich darauf saßen sie, der Maikäfer in der Mitte, Peterchen links und Anneliese rechts dicht neben ihm. Es war totenstill in der Stube und sehr geheimnisvoll. Der Mond sah groß und gelb durch die Blumen vor dem Fenster, und der Maikäfer erzählte langsam und feierlich mit einem leisen brummenden Stimmchen die Geschichte vom Beinchen, von der Nachtfee und vom Mondmann. Staunend hörten die Kinder zu. Ja, das war wirklich eine wunderbare und geheimnisvolle Geschichte!

Es war ihnen ganz seltsam zumute. als der Maikäfer nun mit dem Erzählen fertig war und sie mit zwei großen Tränen in seinen runden Glotzäugelchen fragend anguckte. Peterchen war sehr gerührt, und Anneliese wischte sich mit ihrem Hemdzipfelchen sogar die Augen, weil ihr immer die Tränen kamen. Dann aber faßte sich Peterchen ein Herz und sagte, daß er das Beinchen schon recht gern mit Anneliese vom Mond herunterholen möchte; aber der Mond – das hatte er schon mal gehört vom Vater –, der wäre sehr weit fort, da oben irgendwo ganz hoch in der Luft; und wer nicht fliegen könnte, würde wohl niemals hinaufkommen. Anneliese wußte zwar noch weniger vom Mond als Peterchen; aber hoch war er sicher, vielleicht noch höher als der Schornstein auf dem Haus, und sie hatte doch ein klein bißchen Angst, daß man kaputtgehen könnte, wenn man da hinaufwollte, ohne richtig fliegen zu können. Sie sah ganz verlegen aus. Der Sumsemann aber wußte: wenn die Kinder nur wollten, so war es schon gut; wenn sie den guten Willen hatten, zu helfen, dann konnte er sie sogar das Fliegen lehren. So stand es nämlich in der Familiengeschichte der Sumsemanns deutlich mit weißer Tinte auf grünen Blättern geschrieben. Er hatte es auswendig gelernt. Selig umarmte er die beiden Kinder und sagte, daß sie das Fliegen sehr leicht von ihm lernen könnten, wenn sie nur ein bißchen aufpaßten, wie er es mache. Na, das war was für Peterchen und Anneliese!

Sie fingen laut an zu lachen und tanzten wie toll in ihren Hemdchen im Zimmer herum. Aber es galt keine Zeit zu verlieren, wenn sie noch nach dem Mond fliegen wollten. Und so setzte der dicke Maikäfer sich in Positur, um den Kindern etwas vorzufliegen. »Aufgepaßt!« sagte er, nahm seine kleine silberne Geige ans Kinn, spielte und sang dazu:

»Rechtes Bein – linkes Bein,
Rechtes Bein – linkes Bein,
Rechtes Bein und linkes Bein,
Summ! – dann kommt das Flügelein
Summ – Summ – Summ!«

Da flog er auch schon im Zimmer herum, und die Kinder klatschten vor Vergnügen laut in die Hände. Jetzt sollten sie es nachmachen. Es war ein feierlicher Augenblick!

Peterchen stellte sich in Positur, und Anneliese daneben, mit ein ganz klein wenig Herzklopfen. Der Maikäfer stand vor ihnen mit der Geige, sie mußten die Ärmchen ausbreiten, und während er geigte und sang, machten sie gehorsam die komischen Schritte nach, die er vorhin vorgemacht hatte. Plötzlich als er sang: »Summ! – dann kommt das Flügelein.« Was war das? Sie hoben sich von der Erde in die Luft … ja … sie flogen richtig rund im Zimmer herum!

Zuerst waren sie so erstaunt, daß sie nur die Augen ganz weit aufrissen und auch die Mäulchen. Dann aber konnte es Anneliese nicht mehr aushalten vor Vergnügen; denn es war wirklich zu schön, so wie ein richtiger Käfer in der Luft herumzusummen. Sie lachte laut auf, strampelte mit den Beinchen und klatschte begeistert in die Hände… Bauz!! Da lagen sie beide auf der Nase!

Sie guckten den Herrn Sumsemann sehr erstaunt an. »Das kommt vom Klatschen«, sagte der. Natürlich, wenn man fliegen will, darf man nicht in die Hände klatschen! Das tun ja die Maikäfer auch nicht beim Fliegen. Obwohl sie sich doch ein wenig weh getan hatten beim Herunterpurzeln aus der Luft, verkniffen sie die Tränen und standen tapfer wieder auf. Anneliese war sehr verlegen, denn sie hatte ja angefangen mit der Strampelei. »Noch einmal!« hieß es jetzt, und wieder geigte und sang der Käfer, sie machten die Schritte, die er vorgemacht hatte, und als die Zeile kam: »Summ! – dann kommt das Flügelein.. .« flogen sie, genau wie vorher, ganz hoch in die Luft. Nun hüteten sie sich aber zu klatschen, und, obwohl es so schön war, daß sie wieder laut lachen mußten, hielten sie doch ihre Arme ruhig ausgebreitet und strampelten nicht mit den Beinen wie vorher. So blieben sie in der Luft, solange der Maikäfer geigte, und als das Liedchen aus war, glitten sie sanft, wie zwei kleine Schmetterlinge, auf die Erde herab. Es war sehr schön gewesen!

Peterchen meinte, daß es bei ihm richtig gebrummt hätte beim Fliegen, und Anneliese hatte auch so etwas bei sich gehört. Herr Sumsemann fand das ganz in der Ordnung, denn das Brummen gehört ja bei den Maikäfern auch zum Fliegen. Nun also konnte das große Abenteuer beginnen. Gelb und rund stand der Mond über der Sternblumenwiese vor dem Fenster. »Es ist sehr weit«, sagte der Maikäfer, obgleich es ganz nah aussah; aber er mußte es wissen. Darum sollten sie Proviant mit auf die Reise nehmen. Hierfür waren die Äpfel von Muttchen gut. Aber auch die Puppe und den Hampelmann wollten sie nicht daheim lassen. Die mußten doch große Abenteuer miterleben!

Der Maikäfer zog zwar zuerst eine krause Nase, denn für Puppen und Hampelmänner hatte er gar kein Verständnis, der dumme Kerl; aber schließlich meinte er doch, »man könne nicht wissen, wozu es gut sei«; und so durften Püppchen und Hampelhänschen mit. Natürlich schnallte sich Peterchen sein kleines Holzschwert ums Hemd, denn Kämpfe gab es sicher zu bestehen. Damit war auch der Maikäfer sehr einverstanden. Er hatte nämlich doch etwas Angst vor der großen Reise. Wir wissen schon, daß er von Natur nicht sehr mutig war. Jetzt waren sie soweit. Sie stellten sich hintereinander auf; der Maikäfer vorn, mit der kleinen Geige, dann Peterchen, dann Anneliese. Das Liedchen ertönte, sie hoben die Arme, machten die Schritte, wie sie es gelernt hatten, und … plötzlich ging die Wand des Zimmers weit auseinander, die Sternblumenwiese lag vor ihnen, von Tausenden von Glühwürmchen beleuchtet, und sie flogen hinaus … über die Wiese hin… immer weiter … auf den großen, goldenen Mond zu, der vor ihnen über die Bäume guckte.

Die Mondkanone

Die Mondkanone

Ein bissel unheimlich sah es doch in der Schlucht aus. Da waren so finstere Schatten und so sonderbar geformte Steine, daß man sich eigentlich hätte fürchten können, wenn man Zeit dazu gehabt hätte. Wenn man aber keine Zeit dazu hat, dann fürchtet man sich eben nicht. Das ist eine alte Geschichte. »Halt Petz!« rief das Sandmännchen plötzlich. Der Bär war noch so im Lauf, daß er auf allen vieren ein Stück weiterrutschte, ehe er sich gebremst hatte. Dicht neben einem großen Felskegel, der einen pechschwarzen, langen, spitzen Schatten über einen freien Platz warf, hielt er still. Genau an der Stelle, wo der Schatten aufhörte, stand die Mondkanone auf einem kleinen grauweißen Hügelchen. Sie war halb darin versunken und mußte wohl schon viele tausend Jahre hier stehen, denn der Mondstaub lag so dick auf ihr, daß nur hie und da noch das Metall des gewaltigen Kanonenrohres ein wenig hervorblitzte. Aus grauem Silber war dieser Kanonenlauf; noch dicker als ein Regenwasserfaß und wohl zehnmal so lang. Ein kleines Leiterchen lehnte neben der Mündung, die steil in die Luft gerichtet war, und nicht weit davon stand ein Kanonenwischer, zum Putzen des Laufes, ehe geschossen wird. Der Wischer sah eigentlich sehr lächerlich aus, wie eine mächtige, kreisrunde Igelbürste, mit einem langen Stiel daran. »Wir sind am Ziel der Reise!« sagte jetzt das Sandmännchen. Also kletterten sie eiligst von dem großen Bären herunter, der sich augenblicklich zum Heimgalopp umdrehte; er hatte seine Pflicht getan, wollte sein Futter haben und seine Ruhe im Bärenstall. Damit hatte er natürlich recht, bekam zum schönen Dank von den Kindern noch ein Äpfelchen, vom Sandmann einen freundlichen Klaps auf den dicken Bärenschinken und trottete davon. Die drei Abenteurer aber standen am Fuße des himmelhohen Berges, und das Sandmännchen nahm eine sehr feierliche Miene an. Jetzt kam nämlich das große Ereignis, dessentwegen sie die Reise gemacht hatten: die Begegnung mit dem Mondmann und die Eroberung des Beinchens. Hoch oben, auf der höchsten Spitze des Berges, hauste der Mondmann, und dort stand auch in einem kleinen Wald die Birke, an der das Beinchen damals hängengeblieben war. Mit großer Wichtigkeit erklärte der Sandmann den Kindern, daß er sie jetzt in die Kanone hineinladen würde, zuerst den Sumsemann, dann das Peterchen, dann die kleine Anneliese, denn man müsse auf den Berg hinaufgeschossen werden; anders sei es unmöglich, dort hinaufzukommen. Wenn sie aber alle oben wären, müßten sie in dem kleinen Wald das Beinchen suchen, es von dem Bäumchen herunternehmen und dem Sumsemann vorsichtig, an der richtigen Stelle, mit Spucke wieder ankleben. Sollte ihnen beim Suchen etwa der Mondmann begegnen, der dort oben immerfort herumliefe, so sei das auch weiter nicht schlimm. Artigen Kindern könne er nichts tun, wenn er auch noch so grimmig täte. Würde aber der greuliche Kerl gar nicht zu besänftigen sein, dann gäbe es ein unfehlbares Mittel: die Kinder sollten nur ihre Sternchen zur Hilfe rufen. Sie würden schon sehen, wie das dem Mondmann bekäme. Als das Sandmännchen mit seiner Erklärung fertig war, schnaubte es sich die Nase, denn ihm war wieder ziemlich gerührt zumute. Daß es von den beiden, lieben Kindern Abschied nehmen sollte, ging ihm doch nahe; und schließlich – der Mondmann da oben? Es könnte möglicherweise einen wirklichen Kampf geben, und einfach war das nicht. Als die Kinder merkten, daß dem guten Sandmännchen so ein wenig weich ums Herz war, fielen sie ihm plötzlich um den Hals, um sich zu bedanken, und gaben ihm herzhafte Küßchen. Na, das war was für das Sandmännchen!

Nun aber hieß es, ans Werk zu gehen; denn, kam der Morgen, ehe die Kinder das Beinchen hatten, so war alles umsonst. Der Sandmann ergriff den Kanonenwischer, kletterte auf dem Leiterchen zur Mündung der Kanone und putzte den Lauf umständlich und gründlich. Es war ja, seit der Mondmann damals vor tausend Jahren hinaufgeschossen wurde, nicht mehr daraus geschossen worden; und wenn der Lauf innen nicht so blitzblank war wie eine Kakaobüchse, konnten sich die Kinderchen leicht beim Herausfliegen die Nasen abscheuern. Ernsthaft und aufmerksam guckten sie zu. Ordentlich schwitzen tat das Sandmännchen, und wenn es sich mal einen Augenblick verpustete, gab es den Kindern noch gute Ratschläge, wie sie den Mondmann behandeln müßten; natürlich höflich, denn auch die rohesten und gräßlichsten Leute muß man immer höflich und freundlich behandeln, dann werden sie nämlich meistens verlegen und ganz zahm. So, jetzt war der Lauf blank!

»Vorwärts Sumsemann! rein in die Kanone!« rief das Sandmännchen. Ja … wo war denn der? Nirgends war der Maikäfer zu sehen!

»Er hat sich gewiß versteckt, weil er immer so Angst hat«, meinte Anneliese. Na das hatte gerade noch gefehlt! Um sein Beinchen ging es, und da kniff er womöglich im letzten Augenblick aus, der Jammerpipps?

Peterchen fand das höchst unmännlich. Sie machten sich natürlich schleunigst auf die Suche nach dem Auskneifer, und richtig! – da lag er hinter der nächsten Felsennase, ganz still und stellte sich tot. So ein Feigling!

Sandmännchen packte ihn am Kragen und rüttelte ihn gehörig.

»Summ – summ – wenn es schießen tut,
Hab‘ ich Angst, hab‘ ich Angst, ich geh‘ kaputt!«

stotterte der edle Ritter, als man ihn zur Rede stellte. »Ach was«, polterte der Sandmann, »Seinetwegen wird die Sache gemacht, und da strampampelt Er hier? Vorwärts, rein in die Kanone!«

Im Augenblick war er gepackt, hochgehoben und, obwohl er wie toll zappelte, köpflings in den Lauf gestopft. Die Kinder mußten laut lachen, so komisch sah das aus. Sandmännchen aber lief geschäftig zum hinteren Ende der Kanone, richtete die Mündung nach dem Gipfel des Berges, zielte genau, rief: »Achtung – Augen zumachen!« und riß an der dicken Abzugsschnur. Bums!!! … gab es einen gewaltigen Knall, ein dicker Dampfstrahl fuhr aus dem Lauf der Kanone, und mitten darin sah man den Sumsemann wie ein braunes Kanonenkügelchen gen Himmel sausen. Der Sandmann beobachtete den Schuß ganz genau. Ja, er hatte gut gezielt; der Maikäfer war oben!

Nun kam Peterchen an die Reihe. Er wurde hochgehoben. »Glück auf die Reise!« sagte das Sandmännchen und ließ ihn sacht in den Kanonenlauf hinunterrutschen. Komisch war’s da drin, wirklich wie in einer großen Kakaobüchse!

Peterchen wollte sich gerade noch ein bißchen diese sonderbare Umgebung besehen, da hörte er, wie draußen das Sandmännchen rief: »Augen zu!«

Schnell kniff er die Augen zu. In demselben Augenblick gab es auch schon einen Knall rings um ihn herum und … sirrrrrrr… schwirrte er aus der Kanone, in einem wunderschönen Bogen himmelwärts den Berg hinauf. Wupp! da saß er oben auf der Kante des Berggipfels, dicht neben dem Sumsemann. Beide guckten sich ganz erstaunt an, aber sie hatten sich noch gar nicht so recht besonnen – bums… . wupp! – saß auch schon Anneliese als dritte neben ihnen. »Ach!« sagten sie alle drei und sperrten die Mäuler auf. Dann aber mußten sie über ihre eigenen, erstaunten Gesichter lachen. Selbst der Sumsemann grinste, nachdem er sich vorher genau befühlt hatte, ob auch noch alles heil an ihm sei. Es war eigentlich das erste Mal, daß er grinste; seine Fühlerhörnchen bibberten ordentlich vor Vergnügen. Er war überzeugt, daß dieses Erlebnis ihn für alle Zeiten zum Helden der Maikäfer machen würde. Aus einer Kanone war noch nie ein Maikäfer geschossen worden; das war ein Abenteuer, eine Tat des Mutes und der Männlichkeit, wie sie noch keiner der vielen Frühlingsritter auf den Kastanien, Linden oder Buchen der Erde vollbracht hatte!

Er erhob sich umständlich, plusterte sich auf, daß er noch einmal so dick wurde, wie er sonst war, und spazierte mit sehr komischen stolzen Gebärden vor den Kindern umher. ›Ein Denkmal muß mir gesetzt werden‹, dachte er; ›im Rasen bei der dicken Kastanie, unter einem breiten Maiglöckchenblatt und in der Stellung eines Ritters, der auf einer Kanonenmündung sitzt. An jedem Sonntagabend, wenn der Mond kommt, müssen sich alle Maikäfer der Gegend dort versammeln und ein feierliches Baßgeigenkonzert mit Paukenbegleitung veranstalten. Extra komponiert wird es zur Erinnerung an die Taten des großen Nationalhelden Sumsemann.‹

Er sah wirklich schon beinahe aus wie ein Maikäfer-Nationaldenkmal, als er sich nach diesem weltbewegenden Gedanken vor den beiden Kindern aufpflanzte und mit geheimnisvoll düsterem Tone sagte:

»Nun laßt uns das Beinchen suchen gehn, Damit die Tat vollkommen werde, Und alle Käfer staunend stehn vor dem Ruhme Sumsemanns auf der Erde!

Peterchen und Anneliese mußten natürlich innerlich ein wenig lächeln über diesen komischen Stolz des guten Herrn Sumsemann; aber sie ließen sich das nicht merken, weil sie höfliche Kinder waren. Sie erhoben sich also ebenfalls, strichen ihre Hemdchen glatt, nahmen ihre Sachen und begaben sich auf die Suche nach dem Beinchen.

Der Kampf mit dem Mondmann

Der Kampf mit dem Mondmann

Auf dem Monde war eigentlich alles sonderbar und wunderlich; aber auf dem Gipfel des Mondberges war es doch am allerseltsamsten. Bäume standen da, die gar nicht wie Bäume, sondern wie Baumgespenster aussahen. Grauweiß waren sie und ganz gebeugt unter der Last einer uralten Asche, die wohl einst nach großen Stürmen auf dem Monde wie Schnee auf ihre Zweige niedergefallen sein mochte. Jeder Baum warf einen langen Schatten. Pechschwarz, gleich dicken Tintenstrichen lagen diese Schatten auf dem geistergrauen Boden und sahen sehr unheimlich aus. Hin und wieder standen große, grünliche Pilze, die gewiß sehr giftig waren, zwischen den Wurzeln der Gespensterbäume, und uralter, eisgrauer Schimmel hatte alle Steine am Boden dick überzogen. Kein Ton war zu hören; kein Vogel sang, kein Lufthauch regte einen Zweig in diesem toten Walde, eisekalt war es und grabesstill ringsum. Die Kinder hätten sich gewiß sehr gefürchtet, wenn sie Zeit dazu gehabt hätten; aber sie hatten so viel zu tun mit dem Suchen nach dem Maikäferbeinchen, daß sie gar nicht merkten, wie unheimlich es eigentlich hier oben war. Man fürchtet sich wirklich nur, wenn man nichts zu tun hat. Das hatten sie jetzt schon öfter gemerkt. Sie froren nicht einmal, trotzdem sie doch nur in ihrem Nachthemdchen waren, so emsig sprangen sie von einem Baume zum anderen und suchten nach der Birke mit dem Beinchen. »Hurra! « schrie Peterchen plötzlich; »da hängt das Beinchen – ich sehe es, ich sehe es!«

Richtig! In der Mitte eines kleinen, mit Mondstaub und Schimmel überzogenen Platzes stand einsam ein Bäumchen, das wirklich aussah wie eine tief zugeschneite kleine Birke. Im Stamm dieser Birke steckte ein langer, rostiger Nagel, und an einem roten Bändchen hing daran ein einzelnes Maikäferbeinchen totenstill in der dunklen Luft. Hellauf jubelten die Kinder, und selbst den Sumsemann, dem das Maikäferherz schon wieder beim Anblick dieses unheimlichen Waldes in das unterste Rockschlippchenende gerutscht war, packte die Freude bei dieser Entdeckung so, daß er die Flügel entfaltete, selig zu brummen anfing und den Kindern noch vorausfliegen wollte, trotzdem sie so schnell liefen, als sie konnten… Da ereignete sich etwas Unerwartetes: Hinter einem großen Stein, der neben der Birke lag, sprang plötzlich der Mondmann zähnefletschend und brüllend hervor. Die Kinder blieben auf der Stelle stehen und faßten sich bei der Hand.

Greulich sah der Mondmann aus! Riesengroß war er, hatte ein graues, verhungertes Gesicht, so voller Falten und Runzeln wie ein alter Stiefel. Schauderhaft häßlich war sein Mund; eine Schnauze war es fast, mit langen, gelben Zähnen; um seinen Kopf starrte verfilztes schmutziges Haar, und der Bart hing in wüsten Zotteln auf seine lange, eisgraue Kutte; auf dem Rücken baumelte ihm an einem Strick ein großes Reisigbündel, und in der einen Hand trug er eine mächtige, blanke Axt. So stand er vor den beiden kleinen, mutigen Hemdenmätzen. Mutig waren sie, das muß man sagen; denn, trotzdem sie einen tüchtigen Schreck bekommen hatten, nahmen sie nicht Reißaus, wie das gewiß viele andere Kinder getan hätten, sondern blieben tapfer stehen. Peterchen machte sogar eine schöne Verbeugung und, obwohl ihm das Herz gewaltig klopfte, fragte er den wilden Mann höflich, ob er hier oben wohl ein Maikäferbeinchen in Verwahrung habe. Der Mondmann fletschte die gelben Zähne und brüllte:

»Was wollt ihr winzigen Würmer hier? Was wollt ihr in meinem Waldrevier? Ein Maikäferbein, ein Maikäferbein, Soll hier auf meinem Mondberg sein?«

Peterchen erzählte ihm nun unerschrocken alles, was er von der Beinchengeschichte wußte, und Anneliese nickte immer zur Bestätigung mit dem Kopfe, denn sprechen konnte sie nicht vor Herzklopfen. Der Mondmann aber stand dabei grimmig grinsend vor ihnen, schaukelte immer von einem Bein auf das andere und schnüffelte mit seiner Schnauze nach den kleinen Äpfelchen, die sie bei sich hatten. Als Peterchen ihn dann am Schluß seiner Erzählung bat, das Beinchen herzugeben, fauchte er:

»Du bittest mich sehr? – Was gibst du mir, Wenn ich es dir gebe, denn wieder dafür?«

Anneliese hielt ihm schnell ihr letztes Äpfelchen hin. Rapps! … hatte er es gefressen und schnüffelte nach Peterchens Körbchen, in dem auch noch einiges übrig war. Höflich gab es Peterchen … fort war’s! Und während der Unhold noch diesen zweiten Apfel schmatzend verschlang, roch er schon die Pfefferkuchen, die der Weihnachtsmann ihnen mit auf die Reise gegeben hatte. Gierig wollte er sie haben. Es war gewiß für die Kinder ein schwerer Entschluß, aber sie gaben ihm auch die schönen Pfefferkuchen. Man mußte sich wirklich ekeln und entsetzen; denn mit dem bunten Einwickelpapier und mit dem Bindfaden fraß der wüste Mann die Päckchen, wie ein Ochse, der Heu frißt. Währenddessen aber schielten seine grünen Augen schon nach dem Hampelmann, den Peterchen unter dem Arm hatte. Er wollte ihn durchaus haben, und als Peterchen ihn zögernd reichte … nein, das war wirklich toll … da biß er ihn mitten durch und schluckte ihn herunter, etwa wie unsereiner eine Erdbeere!

Peterchen war noch ganz starr von dem Schreck über diesen Hunger, da griff der Mondmann schon nach Annelieses Püppchen. Das war nun sehr schlimm!

Anneliese wollte ihr Püppchen durchaus nicht hergeben und fing bitterlich zu weinen an.

»Immer her, immer her mit dem Puppenkind!
Sonst geb‘ ich das Beinchen nicht raus! – geschwind!«

brüllte der wilde Mann. Ja, um den Preis mußte auch das liebe, kleine Püppchen geopfert werden. Es war furchtbar!

Anneliese hielt sich beide Augen fest zu und weinte schrecklich, als er ihm den Kopf abbiß, daß die Porzellansplitter nur so knisterten zwischen seinen scheußlichen Zähnen. Nicht einmal in die Schnauze schnitt er sich dabei! Das hatte sie nämlich im stillen gehofft. Dann war auch dies Püppchen verschlungen, das letzte, was sie hatten. Der Mondmann strich sich den Bauch und leckte sich die Schnauze vor Behagen; die Kinder aber dachten: »Nun ist er zufrieden und gibt uns endlich das Beinchen heraus«, denn es hatte ihm doch alles, auch das Porzellanköpfchen vom Püppchen und der Sägespäneleib vom Hampelmann, prächtig geschmeckt. Nein, der Unhold lief schon wieder schnüffelnd herum, als hätte er noch immer nicht genug!

Das war doch eigentlich toll! Peterchen war sehr entrüstet über solche Gierigkeit und Unbescheidenheit und verlangte jetzt energisch das Beinchen, denn Äpfelchen, Pfefferkuchen, Hampelmann und Püppchen waren gewiß ein sehr ansehnlicher Kaufpreis. Die Kinder hatten nichts mehr zu verschenken. Mit glimmrigen Augen guckte der Mondmann sie an – von oben bis unten –, zog langsam ein riesenlanges Messer aus seinem Kittel, wetzte es sorgfältig an einem großen Stein vor ihnen und schmunzelte und schmatzte dazu vor sich hin:

»Zwei Menschlein kamen zu mir herauf.
Mit Haut und Haaren freß‘ ich sie auf!
Tausend Jahr‘ hab‘ ich nichts gegessen!
Tausend Menschen könnte ich fressen!
Schlachten will ich sie, langsam braten
Am Spieß; sie werden mir wohl geraten!
Ich lasse sie backen hundert Stunden;
Dann sollen mir ihre Gliederlein munden!«

Und damit wollte er sich auf die Kinder stürzen. Was sollten sie nun tun?

Anneliese klammerte sich an Peterchen, und dieser zog mutig sein kleines Holzschwert. Niemand konnte denken, daß der kleine Junge damit den wilden Menschenfresser besiegen würde; aber in diesem Augenblick, als er das Schwert hob, geschah etwas ganz Unerwartetes:

Pechfinster wurde es, ein lohender Blitz zuckte, und mit himmelerschütterndem Donnerschlag sprang der Donnermann aus der Weltnacht auf den Berggipfel, stürzte sich auf den Mondmann, schlug ihn – Krach! – krach! – krach! – über den Kopf und stieß ihn mit einem so fürchterlichen Fußtritt vor den Bauch, daß der widerwärtige Menschenfresser wie ein Sack auf dem Boden herumkollerte. Dann war der Donnermann wieder in der Nacht verschwunden, und nur ein fernes Rollen hörte man noch, das bald verklang. So schnell war das alles geschehen, daß die Kinder kaum Zeit hatten, es richtig zu begreifen.

»O weh, mein Bauch! – O weh, mein Bein!
Verfluchte Pein! – verfluchte Pein!«

schrie der Mondmann und wälzte sich auf dem Boden zwischen den Bäumen herum. Fast mußten die Kinder lachen, so sonderbare Verrenkungen machte er dabei. Er hatte so furchtbare Hiebe bekommen, daß er sich vor Schmerzen bog, wie eine Riesenmade. Trotzdem versuchte er, wieder auf die Beine zu kommen, und schnaufte:

»Das war der Donnermann, ihr Kröten!
Ihr habt ihn wohl um Schutz gebeten?
Es soll euch aber Donnern und Blitzen
Vor meinem Grimm und Hunger nicht schützen!
Ich schlachte euch doch und brate mir fein
All eure weißen Gliederlein!«

Da kam er auch schon hoch, griff nach dem Messer und wollte sich zum zweitenmal auf die Kinder stürzen. Peterchen hob sofort wieder sein Schwert gegen ihn, und als habe er auf dieses Kommando des kleinen Jungen nur gewartet, tauchte jetzt mit weit geblähten Backen der dicke Wassermann aus der Tiefe herauf. Ehe sich der Mondmann recht besonnen hatte, schoß ihm aus dem breiten Froschmaul des Wassermanns ein eiskalter Wasserstrahl mit solcher Gewalt mitten ins Gesicht, daß er sich nach hinten überschlug und zum zweiten Male am Boden herumwälzte. Er wollte natürlich brüllen; aber, kaum riß er die Schnauze auf … zisch! … fuhr ihm der Wasserstrahl hinein, so daß er nur glucksen und prusten konnte; und nicht eher hörte der Wassermann zu spritzen auf, bis der Mondmann triefend von dem eiskalten Wasser wie ein Toter dalag; dann sagte er befriedigt ein paarmal: »blubberquacks«, nickte den Kindern gutmütig zu und versank wieder. Diesmal war es wirklich so komisch gewesen, als der Mondmann umgespritzt wurde und immer nur prusten und glucksen konnte, wenn er brüllen wollte, daß selbst Anneliese lachen mußte. Überhaupt waren beide Kinder jetzt schon viel beherzter als zuerst, nachdem sie erfahren hatten, wie die guten Naturkräfte ihnen treuen Beistand leisteten, wenn es sehr gefährlich wurde. Darum gingen sie nun auch ganz ruhig ein Stückchen näher an den umgespritzten Menschenfresser, um ihn sich zu begucken. Da lag er, naß wie ein Pudel; aber doch noch nicht ganz leblos, denn von Zeit zu Zeit schnaufte er. Peterchen dachte einen Augenblick, man könnte nun wohl das Beinchen holen; aber da bewegte sich der wüste Riese schon wieder. Er kollerte ein paarmal herum, vorwärts und rückwärts und keuchte:

»Hat er mich auch halbtot gespritzt, Es hat euch Kröten doch nichts genützt! –Ich komme schon hoch – ich will mich schon rappeln! Ihr sollt mir dennoch am Bratspieß zappeln!«

Da war er auch schon wieder auf den Beinen und taumelte auf sie zu.

»Trotz Donnerbrummen und Wasserspritzen,
Sollt ihr prutzeln und braten und knusprig schwitzen!«

brüllte er und schwang mit greulichem Grunzen das Messer. Jetzt hob Peterchen zum dritten Male sein kleines Holzschwert, und zum dritten Male geschah etwas für den Mondmann ganz Unerwartetes:

Rauschend fuhr es aus der Höhe herunter, mit pechschwarzen, riesigen Flügeln. Über den Mondberg hin ging ein Wirbelwind, daß sich die grauen Bäume, die so tot und unbeweglich gestanden hatten, knisternd bogen, gleich Grashälmchen auf einer Wiese. Was war das?

Der Sturmriese kam den Kindern zur Hilfe. Mit seinen mächtigen Fäusten riß er im Walde den dicksten Baum aus dem Boden, warf ihn krachend über den Mondmann und war im Nu wieder fort, wie er im Nu gekommen war. Das ging wieder so schnell, daß man sich kaum darüber besinnen konnte, und die Kinder merkten erst richtig, was geschehen war, als sie den Mondmann jetzt wie einen geprügelten Riesenhund vor Wut und Schmerz aufheulen hörten. Unter dem Baumstamm lag er festgeklemmt auf dem Boden, konnte sich nicht rühren und brüllte so fürchterlich, daß der ganze Berg davon zitterte. Peterchen hatte jetzt natürlich einen gewaltigen Mut. Er wußte, daß auf sein Kommando die großen Naturgewalten herbeikamen. Also ging er unverzagt, sein kleines Schwert in der Hand, ganz dicht an den gefangenen Unhold heran und sagte: »Siehst du, Mondmann, das kommt davon, daß du das Beinchen nicht herausgeben und uns auffressen wolltest, trotzdem wir dir schon so viel zu essen gegeben hatten. Nun bist du gefangen und kannst nichts machen, und wir, wir holen das Beinchen und lachen!«

Anneliese aber machte ihm eine lange Nase und sagte: »Ätsch!«

Man kann sich wohl denken, wie das den Mondmann ärgerte. Er pfiff vor Wut wie ein verrostetes Türschloß, spuckte nach den Kindern und fletschte die Zähne.

»Oooh! wenn auch Feuer, Wasser und Wind
Mit euch im Bunde gegen mich sind
Wartet nur, wartet, ich will mich schon rächen,
Euch freche Wichte noch spießen und stechen!«

So fauchte er und zerrte dabei wütend an dem Baum, unter dem er festgeklemmt lag. Furchtbar stark mußte er sein, denn wirklich bewegte sich der dicke Stamm über ihm von seinem wütenden Rütteln so, daß Peterchen schnell zurücksprang. Es war auch die höchste Zeit gewesen! Krick – krack! brachen ein paar Äste, der Baum rollte schwerfällig herum, und der Mondmann kam frei. Dicken Schaum hatte er vor Grimm an der Schnauze.

»Jetzt ist es mit eurer Frechheit vorbei!
Jetzt hau‘ ich euch mit der Axt entzwei!
Jetzt stampfe ich euch zu Mus und Brei!«

So heulte er, griff nach seiner mächtigen, blanken Axt, da ihm das Messer vom Sturmriesen zerbrochen worden war, und stürzte vorwärts…

Peterchen hob wieder sein Schwert, aber im Augenblick hatte der Mondmann es ihm aus der Hand geschlagen. Da rief Anneliese plötzlich ganz laut:

»Sternchen – Sternchen – kommt herbei!«

Die Kinder wären ganz gewiß verloren gewesen, wenn Annelieschen nicht gerufen hätte, denn Peterchen war im Augenblick so erschreckt, daß er nicht wußte, was er tun sollte. Auf Annelieses hellen Ruf aber geschah jetzt das Wunderbarste:

Ein weißes Leuchten ging vom Himmel nieder, und neben den Kindern standen, in einer Geschwindigkeit, die man nicht ausdenken kann, ihre beiden Sternchen mit gegen den Mondmann hoch erhobenen Händen. Blendendes Licht strahlte von diesen Händen gegen die weit aufgerissenen Augen des Unholdes, als er eben die Kinder packen wollte. Er stutzte, als sei er mit einem Hammer vor den Schädel geschlagen, taumelte zurück, ließ die Axt fallen und fuhr sich mit beiden Händen an die Augen.

»Nanu – was ist das? – bin ich blind?
Ich sehe nicht mehr, wo die Kröten sind!
Ich kann sie nicht finden – ich kann sie nicht sehen!«

keuchte er, tappte tolpatschig im Walde herum und stieß immerfort, weil er vollkommen geblendet war, mit seinem dicken Kopf an die Bäume und Felsen. »Au!« – brüllte er jedesmal und torkelte weiter.

»Hier müssen sie sein! – Dort müssen sie stehen!« schnaufte er und lief – bums! – genau in der verkehrten Richtung wieder gegen einen spitzen Felsen, daß ihm das Blut nur so herausspritzte. Aber trotz allem rappelte er sich wieder hoch und lief wie ein Besessener weiter. Schließlich hörten sie nur noch ganz fern, wie er schrie:

»Ich freß‘ euch mit Haut und Haaren, Gezücht! Ihr entgeht mir nicht – ihr entgeht mir nicht!«

Die Kinder waren so erstaunt, daß sie gar nichts sagen konnten; sie schmiegten sich nur ganz dicht an ihre Sternchen und waren sehr froh. Für einen Augenblick war es ganz still, dann beugten sich die Sternchen liebreich, jedes über sein Kind, hauchten ihnen einen leisen Kuß ins Haar und sagten mit ihren silberreinen Stimmchen:

»Macht schnell, macht schnell, verliert keine Zeit! Lebt wohl, der Tag ist nicht mehr weit!«

Fort waren sie, wie sie gekommen waren, und die Kinder blieben allein.

Das Beinchen

Das Beinchen

»Keine Zeit verlieren!« hatten die Sternchen gerufen. Nun hieß es also, schnell das Beinchen zu holen!

Peterchen machte sich denn auch sofort ans Werk, kletterte an der Birke herauf und knüpperte es von dem Nagel, an dem es tausend Jahre gebaumelt hatte, während Anneliese unten, die Ärmchen reckend, auf den Zehen stand, um das berühmte Urgroßvater-Beinchen in Empfang zu nehmen. Es war ein sehr feierlicher Augenblick!

So! Nun hatte Anneliese das Bein, und sie stolzierten mit ihrer Trophäe zum Sumsemann, der sich natürlich schon im ersten Augenblick der Begegnung mit dem Mondmann totgestellt hatte. Er lag, als gehöre er überhaupt nicht dazu. in einer Ecke, zwischen Giftpilzen und beschimmelten Steinen, ein braunes, unscheinbares Klümpchen. Es war gar nicht leicht, ihn zu erkennen. Sie betrachteten den scheintoten Helden eine Weile und freuten sich, was er nun wohl für ein Gesicht machen würde. Dann aber suchten sie sich an ihm die Stelle für das Beinchen. Peterchen fand ein kleines Loch unter dem dritten, schwarz-weißen Westenstreifen; da mußte es bestimmt hin. Anneliese spuckte also tüchtig auf das obere Urgroßvater-Beinchenende, und dann drückten sie es mit vereinten Kräften in das Loch hinein. Anstrengend war das, ordentlich ächzen mußte Anneliese dabei. Endlich saß es! Sie probierten und fanden, daß es wirklich ganz ungeheuer fest saß, so daß es gewiß nicht so leicht wieder abgerissen oder abgehauen werden konnte. Es ist ja bekannt, daß Spucke wunderschön klebt. Als sie mit diesem Geschäft fertig waren, gingen sie mit großer Freude daran, den Maikäfer zu wecken. Sie rüttelten und schüttelten ihn; aber er war so in Angst, daß er sich toter stellte als jemals vorher; und als Peterchen ihn mit seinem Namen anrief, brummt er nur immer ganz leise: »Ich bin tot, ich bin ganz tot, ich kann nicht mehr tot gemacht werden, weil ich schon ganz tot bin!«

Schließlich schrie ihm Peterchen in die Ohren:

»Herr Sumsemann, Herr Sumsemann!
Sehn Sie sich mal Ihr Beinchen an!«

Da fuhr der dumme Kerl wie ein erschreckter Floh in die Höhe und glotzte in die Gesichter der Kinder. »Hat er euch gefressen, der Mann?« fragte er ganz verängstigt, obwohl er doch eigentlich sehen konnte, daß sie nicht gefressen waren, weil sie vor ihm standen. Natürlich quietschte Anneliese nur so vor Vergnügen über solch dumme Frage. Peterchen aber nahm eine sehr wichtige Miene an, zeigte auf das angeklebte Beinchen und sagte noch einmal:

»Herr Sumsemann, sehn Sie sich bitte Ihr Beinchen an!«

Der dicke Kastanienritter schien immer noch nicht recht zu begreifen, was er tun sollte, so zögernd sah er nun an sich herunter… Da! … als hätte der Blitz plötzlich vor ihm eingeschlagen, erfaßte er, was vorgegangen war. Er sprang auf, kreiselte und tanzte um die Kinder herum und sang:

»Summ – summ – hurra! Summ – summ – hurra!
Mein Beinchen ist da, mein Beinchen ist da! –
Ich dank‘ euch, ich dank‘ euch viel tausendmal!
Nun hat sie ein Ende, die alte Qual,
Der Sumsemänner fünfbeiniges Leid;
Zwei Kinderchen haben uns befreit
Von dem schrecklichen Fluch. Hurra – hurra –
Das sechste Beinchen ist wieder da!«

Er war mit dem ausführlichen Freudentanz, der zu diesem Gesang gehörte, noch lange nicht fertig, als er durch eine plötzliche Erscheinung gestört wurde, die eine dringende Warnung für die drei Abenteurer bedeutete. Es war ja den Kindern gesagt worden, daß sie noch vor Sonnenaufgang wieder zur Erde zurückkehren müßten, da sie sich sonst nie wieder vom Monde herunterfinden würden. Nun leuchtete plötzlich ein wundersam fremder Schein aus dem dunklen Himmel über dem Monde. Der graue Boden bekam eine Farbe gleich grünrot überlaufenem Silber, auf allen Bäumen und Pflanzen funkelte der Mondstaub wie rosenroter Schnee. Über der höchsten Bergzinne aber, gerade vor sich, sahen die Kinder im gleichen Augenblick die liebliche Tochter der Sonne, die Morgenröte. Sie hatte die Arme über das Haupt erhoben, von ihren Händen tropften Rubinfunken, und rote Nebel wehten aus ihrem Haar. Das Haupt weit in den Nacken gelegt, sang die Morgenröte, mit einer Stimme, die jubelnder war als die aller Lerchen, und klingender als die aller Nachtigallen der Erde:

»Der Sonne goldener Wagen naht,
Von der Erde weichen die Träume,
Es kränzen des Himmels heiligen Raum
Des Tages silberne Säume.
Ich fliege über die Welt dahin,
Mit dem Bruder, dem Morgensterne;
Frühwolken, wie blitzende Blumen blühn
Über der duftenden Ferne.
Schon weckt der Tag den schlafenden Hain
Zu des Frühlings leuchtendem Glück.«

Hier wandte sie lächelnd den Kindern das wunderschöne Antlitz zu und nickte voll Liebe:

»Nun eilt euch – eilt euch, ihr Kinderlein!
Kehrt schnell auf die Erde zurück!

Dann entschwand sie wieder; hinter ihr aber blieb der große Himmel von Purpur übergossen, und das blasse Mondland darunter glühte, als hätten Millionen Rosen auf seinem elfenbeinfarbenen Grunde die Knospen gesprengt. Die Kinder standen noch unbeweglich vor Staunen über die unbeschreibliche Schönheit dieser Erscheinung; da zupfte sie der

Maikäfer leise am Hemdchen, gab ihnen das rechte und das linke Vorderkrällchen und sagte mit tiefem Ernst und mit sehr feierlicher Stimme:

»Nun ist sie vorüber, die seltsame Fahrt,
Bei der ihr mir treue Begleiter wart.
Mein Beinchen habe ich endlich wieder,
So wollen wir schnell zur Erde nieder!
Faßt euch bei den Händen und, hört ihr den Spruch,
So schließt eure Augen; in sausendem Fall
Geht’s nieder in unser Heimattal.«

Die Kinder gehorchten sofort, denn sie fühlten, daß es großer Ernst war, als der Sumsemann dies sagte. Sie umfaßten sich also und standen dicht aneinandergeschmiegt. Der Maikäfer aber rief laut:

»Mutter Erde, wir rufen dich an:
Fern dir führte uns unsere Bahn;
Hör uns, unsere Not war groß,
Nimm uns wieder in deinen Schoß!«

Da öffnete sich der Boden, und die drei Abenteurer sanken, eng umschlungen, hinab in die Tiefe.

Wieder daheim

Wieder daheim

Als der Maikäfer seinen Spruch gesprochen hatte, war es den Kindern ganz dunkel vor Augen geworden; sie fühlten, wie der Boden sich unter ihnen auftat und wie sie in eine fast unendliche Tiefe hinabsausten. Sehen konnten sie nichts, und hören konnten sie nur ein ungeheures Brausen und Summen. Krampfhaft hielten sie einander umklammert und konnten weiter nichts denken, als daß sie sich nur nicht loslassen durften. So ging es eine ganze Weile, und dann war es ihnen plötzlich, als sänge mitten in dem Brausen und Summen ein kleiner Vogel. Immer lauter wurde das Zwitschern und Singen, das Summen aber wurde immer leiser, bis es ganz aufhörte und nur noch das trillernde Vögelchen zu hören blieb. Da wagten die Kinder, die Augen aufzumachen. Ha!… sie saßen in ihrem Kinderzimmerchen, eng umschlungen, im Nachthemdchen mitten auf dem Tisch!

Die Sonne warf gerade den ersten blitzenden Strahl durch das Fenster, und auf dem Fliederbusch draußen pfiff ein kleiner Zeisig vergnügt sein Morgenliedchen. Beide Kinder waren so erstaunt, daß sie sich zunächst mit weit aufgerissenen Augen anguckten. Dann sagte Peterchen – aber erst nach einer ganzen Weile: »Anneliese!« und Anneliese sagte: »Peterchen!«

Als sie dabei merkten, daß sie ganz richtig noch Peterchen und Anneliese waren und nicht etwa Fledermäuschen, Mondschäfchen oder Kanonenkugeln, platzten sie los und lachten schrecklich. Sie hatten aber auch wirklich sehr komische Dinge erlebt und waren nach so viel Gefahren und Abenteuern, ohne eine einzige Beule oder sonst ein Wehwehchen, wieder daheim in ihrem Stübchen. Grund zur Freude war also genug. Alles um sie her war ganz in Ordnung. Schaukelpferd, Puppenstube, Bilderbücher und… hurra! das Püppchen und Hampelhänschen auch; so gesund, als wären sie niemals vom Mondmann aufgefressen worden. Selbst die Körbchen mit den Äpfeln standen hübsch auf dem Tisch, wie die Mutter sie am Abend hingestellt hatte. Das war wirklich wunderbar!

Sie waren noch damit beschäftigt, all dies jubelnd festzustellen, da hörten sie draußen die dicke Minna kommen. Husch! – waren sie im Bettchen. Die Minna kam herein, wie an jedem anderen Morgen und rief:

»Aufstehen, aufstehen, Kinderlein! Die Sonne ist schon über der Wiese! Aufstehen, Peterchen, Anneliese!

Peterchen, der kleine Strick, tat, als ob er eben aufwachte und rieb sich umständlich die Augen. Dann fragte er ganz verschlafen, ob es schon so hell wäre. »Natürlich!« sagte die Minna und zog die Gardinen am Fenster zurück! Summ! – schwirrte etwas in der Stube umher!

»Der Maikäfer!« riefen die Kinder wie aus einem Munde und waren im Nu aus dem Bett. Schwupp! – hatte die Minna ihn schon und wollte ihn ins Feuer stecken. Aber da kam sie bei Peterchen schön an. »Was? den Sumsemann totmachen? Der darf nicht totgemacht werden, der ist unser Sumsemann, den muß man fliegen lassen!« rief er und zog sie energisch am Schürzenband. Die Minna schüttelte den Kopf; sie konnte nicht begreifen, was das alles heißen sollte; sie war eben zu dumm, die Minna. Schließlich aber gab sie den kleinen Käfer der Anneliese auf so dringendes Bitten doch ins Händchen und ging hinaus, um die Mutter zu holen.

Kaum waren die Kinder allein, so liefen sie zum Fenster und betrachteten den Käfermatz. Er lag in Annelieses Händchen und stellte sich tot. Natürlich, die Minna hatte ihn auch schauderhaft erschreckt!

Peterchen zählte sofort seine Beinchen. Ja, es waren richtig sechs Beinchen!

Also, das Abenteuer war nicht umsonst gewesen, die Beincheneroberung war geglückt, wirklich geglückt, und die Sumsemanns waren nach tausend Jahren zu ihrem Recht gekommen durch die Taten Peterchens und Annelieses. Anneliese meinte, man könne es wirklich nicht sehen, daß das Beinchen angeklebt sei, und aus tiefster Überzeugung sagte sie:

»Spucke klebt schön!«

Jeder wird das glauben nach dieser Erfahrung!

Da krabbelte das Käferchen wieder. »Er merkt, daß wir es sind, und fürchtet sich nicht mehr«, meinte Peterchen, und sie freuten sich beide. Dann machten sie schnell das Fenster auf, Anneliese hielt ihr Händchen hinaus, und sie sangen das berühmte Fliegeliedchen. Der kleine Sumsemann aber krabbelte emsig auf den ausgestreckten Zeigefinger Annelieses, breitete auf der obersten Spitze seine Flügel aus und … summ … flog er hinaus in den blauen Morgen, über den Garten, über die Wiese, weit, weit!

»Ade, ade, Herr Sumsemann!
Kommen Sie gut zu Hause an!«

riefen sie und winkten ihm nach. Da kam die Mutter herein, umarmte ihre beiden Kinderchen, gab ihnen einen lieben Gutenmorgenkuß und außerdem – das war eigentlich seltsam! – jedem Kind ein schönes Pfefferkuchenpäckchen mit einem Gruß vom Weihnachtsmann. Es waren genau die Kuchenpäckchen, die das Pfefferkuchen-männchen ihnen auf der Weihnachtswiese in der Nacht gepflückt hatte. Nun war es klar – nun war es ganz gewiß, daß die Mutter mit dem Weihnachtsmann eng bekannt und sehr befreundet war, daß sie schon das ganze Abenteuer von ihm wußte und auch die Geschichte vom Mondmann, der alles aufgefressen hatte. Der Weihnachtsmann hatte natürlich alles gesehen, Püppchen, Hampelmann, Äpfel und Pfefferkuchen; hatte sie aus des Mondmanns Bauch wieder herausgezaubert und der Mutter schnell auf die Erde geschickt, zur Belohnung für die Kinder. Es war ganz gewiß so – es konnte ja gar nicht anders sein! Und hell jubelnd fielen sie ihrem lieben, lieben Muttchen um den Hals!

Das Märchen von dem Baron von Hüpfenstich

Das Märchen von dem Baron von Hüpfenstich

In dem ehrlichen Lande regierte der König Haltewort, ein sehr guter, aber noch viel strengerer Herr, dann und wann auch sehr grob. Er hatte sehr viel zu tun, denn er hielt Wort, und seine Vorfahren waren so vielversprechende Herrn gewesen, daß er alle Hände voll hatte, für sie Wort zu halten, besonders da einer manchmal das Gegenteil vom andern versprochen hatte. Aber das machte ihn nicht irr. Er hielt immer recht wacker zu Wort. Sonst kümmerte er sich um nichts und war gar nicht neugierig; denn er fürchtete immer, er möchte ein neues Versprechen erfahren, das er halten müsse, und das wäre ihm fatal gewesen. Er lebte sehr friedlich in seinem Lande und hatte mit allen Königen der Welt einen Frieden geschlossen, welcher in den Worten bestand: Tue mir nichts, ich tue dir auch nichts.

Dieser gute König hatte eine Tochter, die sehr neugierig war und überall mit ihrem Näschen vornedran sein mußte. Sie war so neugierig gewesen zu wissen, wie es auf der Welt aussähe, daß ihre Mutter ihr noch gar die Wiege nicht zurechtgemacht hatte, als das Kind schon vom Himmel herab der Frau Mutter entgegenhüpfte, worüber die gute Königin, die gern alles in der Ordnung hatte, vor Schrecken starb, indem sie ihr Töchterlein ans Herz drückte und sprach: »Mein Kind will wissen, wie es auf der Welt aussieht, drum muß ich sehen, wie es im Himmel aussieht. Möge die Woche, um die du mir zu früh gekommen bist, dir einstens treue Dienste leisten.« Nach diesen Worten starb die Königin, und die umstehenden Frauen zeigten dem herbeigerufenen König Haltewort den Tod der Königin und die Geburt seiner Tochter an.

Der König fragte vor allem: »Wie lauteten die letzten Worte meiner Gemahlin, damit ich sie ihr halten kann, da sie selbst gestorben ist.« Da sagte die älteste Hofdame: »Sie sprach: Mein Kind will wissen« – »So soll die Prinzessin heißen«, sagte der König; »sie soll Prinzeß Willwischen heißen, weil die sterbende Mutter sie so angeredet.« – Nun ließ er sich noch die übrigen Worte der Verstorbenen sagen; aber da war nichts bei zu halten, nur daß die Woche, um die sie zu früh gekommen, ihr große Dienste leisten solle; das konnte er nicht recht begreifen und nahm sich vor, viel darüber nachdenken zu lassen.

Nun ließ er die gute Königin ins Grab und das Kind Willwischen in die Wiege legen.

Eine große Sorge hatte der gute König jetzt, die plagte ihn sehr: er hatte seiner Gemahlin versprochen, er wolle, wenn sie vor dem Kinde sterbe, Mutterstelle an ihm vertreten. Wie er das machen sollte, wenn er Wort halten wollte, wußte er nun gar nicht, er ließ auch darüber stark nachdenken. Und sieh da! nach einer halben Stunde kam der Hofnachdenker herein und sprach: »Ihro Majestät! haben Sie etwas heraus?« Der König sagte: »Haben Sie etwas?« Der Nachdenker sagte: »Ihro Majestät, ich habe nichts heraus«, und der König sagte: »Ich habe auch nichts.« Da sagte der Nachdenker: »Da haben wir also alle beide nichts heraus«, und nun gingen sie wieder frisch ans Nachdenken.

Nach einigen Stunden kamen sie ebenso zusammen und gingen ebenso auseinander. Nun hätten die Hofdamen dem Kind Willwischen gern eine Amme gegeben; aber Haltewort gab es nicht zu und sagte, er wolle schon Wort halten und selbst Mutterstelle vertreten.

Zur größten Verwunderung schien das Kind Willwischen gar keine Nahrung zu bedürfen, es ward dick und gesund, und der König glaubte, daß es bloß von seinem Nachdenken lebe. Endlich fiel es ihm einmal in der Nacht ein, daß eine gute Mutter manchmal nachts nach dem Kinde sehen müsse; das ließ er sich nicht zweimal einfallen, sondern sprang gleich beim ersten Mal mit gleichen Beinen aus dem Bett und ging in die Nebenstube, wo die Wiege stand.

Ganz sachte, sachte machte er die Türe auf; aber welche Wunder sah er da! Eine ziemlich alte Frau hatte das Kind Willwischen an der Brust, und sieben andere Wickelkinder lagen vor ihr hübsch eingefatscht wie sieben Backfische in einer Reihe an der Erde. »Ei! das ist keine Kunst«, schrie der König, »wenn Ihr dem Kinde zu trinken gebt; aber es geht platterdings nicht an, ich habe versprochen, Mutterstelle zu vertreten, und darum dürft Ihrs nicht, also marsch fort! Nehmt Eure sieben Backfische nur in der Schürze mit, und laßt Euch nicht mehr hier sehen.« – »Gebt mir meinen Wochenlohn«, sagte die Frau und gab dem Willwischen frische Windeln und legte es in die Wiege; da gab ihr der König seine Traumbörse; denn er nahm immer einen Beutel voll Geld mit ins Bett, um, wenn ihm in der Nacht jemand im Traum vorkam, dem er bei Tag Geld versprochen hatte, Wort halten zu können.

Nun sagte die Frau zum König: »Haltewort! ich verlasse dein Kind, jetzt ist ohnedies meine Zeit aus, es ist gleich zwölf Uhr, und die neue Woche geht an; aber weil du mir meinen Wochenlohn so ehrlich gezahlt hast, so will ich dir auch sagen, wie du an dem Kind Mutterstelle vertreten kannst. Du mußt mir aber versprechen, dem ersten Verbrecher, der dich beleidigt, und sollte er dich auch bis aufs Blut stechen, zu verzeihen und ihn mit dem Besten, was du hast, zu ernähren.« – »Bis aufs Blut stechen!« sagte der König; »das ist ein starkes Stück; aber ich verspreche es dir aus mütterlicher Liebe.« – »Wohlan!« sagte die Frau, »so ernähre den Verbrecher, und du wirst dein Kind ernähren«, und verschwand.

Der König aber fühlte einen Stich in dem Arm und erwachte; da sah er, daß ihm nur geträumt hatte, denn er lag ganz breit in seinem Bette. Der heftige Stich, den er am linken Arm fühlte, machte, daß er dahin faßte, und was ergriff er da? Einen sehr großen Floh. Erzürnt rieb der König ihn zwischen den Fingern und wollte ihn soeben mit dem Nagel totknicken, als ihm sein Versprechen, das er der Frau im Traum gegeben, einfiel; er wolle dem Verbrecher nicht allein verzeihen, sondern ihn sogar mit seinem Besten ernähren. Er setzte daher den Floh in ein leeres Medizinglas gefangen und sprach: »Dir soll verziehen sein und du sollst mein Blut trinken.« – Dieses tat er besonders, weil er seine Traumbörse nicht mehr fand, und also gewiß glaubte, er habe sie der Frau gegeben, und es müßte doch mehr als ein leeres Traumgebild sein.

Er dachte einige Stunden lang über diese Sache nach und betrachtete den Verbrecher in dem Arzneiglas; der schien zu schlafen. Er schüttelte das Glas, da wurde der Floh wach, und das Kind Willwischen weinte in der Nebenstube. Er wiegte das Arzneiglas, da hörte er auch die Wiege des Kindes sich bewegen, und Floh und Kind schliefen ein, und Haltewort auch. Morgens weinte das Kind wieder, und der Floh war sehr unruhig im Glase, der König setzte den Floh auf seinen Arm und ließ ihn sein Blut trinken, da ward auch das Kind Willwischen still.

Genug, der König merkte, daß alles, was er dem Floh tat, der Prinzessin auch geschah, und deswegen ließ er dem Floh nichts abgehen, und auch das Kind Willwischen ward groß und stark. Der Verbrecher im Arzneiglas aber ward bald so dick und fett, daß er keinen Platz mehr in dem Glase hatte und in eine große Flasche mußte gesetzt werden. Der König tat alles dieses sehr insgeheim, und niemand hatte den Floh bis jetzt gesehen. Bald war auch die Flasche nicht mehr groß genug, und der König setzte ihn in seinen Stiefel; aber nun wurde es dem König unmöglich, ihn länger zu ernähren, denn er wurde selbst ganz krank und mager darüber. Er fing daher an, das Kind Willwischen mit Mehlbrei zu füttern, und gab dem Floh Ochsenblut.

Und so wuchs die Prinzessin und der Floh heran, ohne sich persönlich zu kennen; der Floh war schon so groß geworden wie ein Rind, und Willwischen sechzehn Jahre alt, als ein unglücklicher Zufall sie bekannt machte.

Willwischen war ganz erstaunlich neugierig und guckte durch alle Schlüssellöcher. Nun hätte sie längst gern gewußt, was der König nur immer in seiner Schlafkammer verborgen habe; denn nie wollte er sie hineinlassen, und doch hörte sie oft ein gewaltiges Geschnurre und Geklapper darin, als wenn ein Geißbock darin herumspränge. Die Neugier ließ sie nun gar nicht mehr ruhen, und so lauschte sie einstens in der Nacht an der Tür des Königs, der folgendes Gespräch mit dem Floh hielt, von dem sie aber nicht wußte, daß es ein Floh war. Der König sprach: »Sag mir einmal, du Bengel! was soll ich nun mit dir anfangen? Du wächst mir über den Kopf und machst mir die Stube fast zu eng.« Da antwortete der Floh: »Bester König! ich kann es auch gar nicht mehr vor Langerweile hier aushalten; ich dächte, du gäbst mir eine hübsche Livree und machtest mich zum Edelknaben bei meiner Schwester Willwischen.« – »Schwester? Wie meinst du das? Unterstehst du dich, die Prinzessin deine Schwester zu nennen?« sagte der König; und der Floh sprach hierauf: »Bin ich etwa nicht von königlichem Geblüt?« – »Gewissermaßen wohl«, erwiderte der König, »aber ich verbitte mir, davon zu sprechen.« – »Was braucht es vieler Worte?« sagte der Floh; »ich verlange standesmäßigen Unterhalt; ich mag nicht länger unter Euerm Bett neben alten Pantoffeln schlafen, es liegt ein juchtenledernes Felleisen da unten, dessen Geruch mir schrecklich zuwider ist; ich sage dir, König, läßt du mich nicht zu Willwischen, so steche ich mich selbst tot.« – »Gut«, sagte der König, »es soll geschehen. Jetzt schlaf wohl, mein Herr von Hüpfenstich!« – »Ich danke für den Titel, Herr König Haltewort! Schlafet wohl!« sprach der Floh.

Nun ward es still in des Königs Kammer, und Willwischen legte sich zu Bett; aber schlafen konnte sie nicht; die Neugier, wer ihr Bruder gewissermaßen sei, wer ihr Edelknabe werden wolle, ließ sie nicht ruhen.

Am andern Morgen ward der Hofschneider zum König gerufen. Als er herauskam, rief ihm die Prinzessin: »Heda, Herr Höllenfleckel! was hat der König bestellt?« Der Schneider sagte: »Einen vollständigen Anzug für Herrn von Hüpfenstich, Ihre königliche Hoheit.« – »Wer ist Herr von Hüpfenstich?« sagte die Prinzessin. »Ach, ein sehr munterer Herr«, sagte der Schneider, »ich habe ihm über Tisch und Bett nachspringen müssen, als ich ihm das Maß nahm; aber die Arbeit pressiert, untertänigster Diener!« und so lief er fort. Nun kam der Schuster aus des Königs Zimmer. »Heda, Herr Schlappenpech!« rief Willwischen, »was hat der König bestellt?« – »Tanzschuhe und Sammetstiefel für den Herrn von Hüpfenstich«, sagte er. »Wer ist das?« sagte sie. »Ei! ein Herr von ungemeiner Leichtfüßigkeit, ich mußte ihm über Tisch und Bänke nachsetzen, ihm das Maß zu nehmen; aber die Arbeit pressiert, gehorsamer Diener!« sagte der Schuster.

Nun kam der Perückenmacher heraus, und mit dem ging es ebenso. Endlich kam der König und fand Willwischen ganz betrübt in der Ecke des Saales sitzen. »Was fehlt dir, mein Kind Willwischen?« sagte er. »Ei, ich habe einen kuriosen Traum gehabt«, sagte sie »und den mußt du mir erfüllen, Vater! sonst werde ich krank.« – »Wenns möglich ist, soll es geschehen«, sagte der König, und Willwischen sagte nun, sie habe geträumt, daß sie einen sehr schönen und flinken Edelknaben gehabt, und der habe ihr unendliche Freude gemacht mit seiner großen Leichtigkeit und Geschicklichkeit; aber sie habe gar nicht erfahren können, wo er her sei, und nun solle ihr der König sagen, wo der Edelknabe her sei.

Der König sprach: »Einen Edelknaben, der leicht und geschickt ist, sollst du haben, wo er aber her ist, muß er dir selbst sagen, ich weiß es nicht. Morgen soll er dir beim Frühstück zuerst aufwarten.«

Die Prinzessin mußte sich gedulden. Als der Schneider am anderen Morgen die braunsamtene Uniform mit goldenen Tressen brachte, betrachtete sie Willwischen sehr neugierig, so auch die roten Saffianstiefel, die der Schuster brachte, und die schöne braune Perücke und alles, was in des Königs Stube getragen wurde.

Endlich ging die Türe auf, der König trat heraus, und neben ihm stand ein sehr kurioser Kerl, der große Floh, Herr von Hüpfenstich, in einem braunsamtenen Husarenhabit, mit roten Stiefeln, einer schwarzen Bärenmütze und einer großen Allongeperücke; er hatte eine Tasse Chokolade auf einem goldenen Präsentierteller in der Hand, und schien sich eine entsetzliche Gewalt anzutun und sich gewaltig zurückzuhalten. Er war so auf dem Sprung wie ein gespannter Hahn an einer Flinte, wenn der Finger des Schützen am Drücker liegt; er stand da wie ein Aderlaßschnepper über der Ader. Die Prinzessin saß am andern Ende des Saals und stand auf, um dem König guten Morgen zu sagen. Dieser blieb aber in der Entfernung stehen und sprach: »Willwischen! hier bringt dir der Herr von Hüpfenstich, dein neuer Edelknabe, eine Tasse Chokolade; ich hoffe, er wird seine Sache gut machen und dir gefallen.«

Willwischen verneigte sich und streckte die Augen vor Neugier wie eine Schnecke heraus. »Ihro Majestät haben zu befehlen«, sprach sie. Da sagte der König zu dem braunen Husaren: »Nun, Hüpfenstich! lasse Er sehen, wie Er eine Prinzessin zu bedienen weiß.« Kaum hatte der König diese Worte halb ausgesprochen, als der Hüpfenstich mit seiner Chokolade einen Bogensprung durch den langen Saal machte und vor der Prinzessin mit seinem Präsentierteller auf den Knieen lag. Die Prinzessin war so darüber erschrocken, daß sie mit einem Schrei in Ohnmacht fiel. Herr von Hüpfenstich wußte aber so, was er zu tun hatte, daß der König kaum am andern Ende des Saales angekommen war, um ihm ein paar Ohrfeigen zu geben, als er die Prinzessin auch schon durch einen Aderlaß am Arm wieder zu sich zu bringen suchte.

Der König geriet über diese Aufmerksamkeit in das größte Vergnügen, und als Willwischen die Augen aufschlug, drehte Herr von Hüpfenstich bereits den Quirl in der Chokoladekanne so geschwind, daß sie die Schaumchokolade mit großem Appetit genoß und sich bald erholte.

Alles dieses ging so geschwind und plötzlich vor, daß einem Hören und Sehen dabei verging; aber der König ernannte ihn sogleich zum geheimen Geschwindigkeitsrat und gab ihm den schnellen Katharinenorden. Zugleich ließ er ihm die Stiefel so schwer mit Gold beschlagen, daß er nicht mehr so entsetzlich springen konnte, und so ging es eine Zeitlang recht gut.

Willwischen konnte ohne Hüpfenstich nicht mehr leben; allen Hofdamen mußte er zur Ader lassen; alle schnellen Geschäfte mußte er ausführen. Besonders schön wußte er hinten auf den Wagen zu springen, und auf der Hasenhetze war er allen Hunden voraus. Kurz, er war so angenehm, daß alles die Finger nach ihm leckte. Es ist nicht zu wundern, daß er durch diese große Begünstigung endlich sehr frech und sehr hoffärtig ward, viele ehrliche Leute quälte und plagte er, so daß alle die, welche sich zurückgesetzt sahen, nur auf eine Gelegenheit harrten, ihn aus der Gnade des Königs und womöglich ins höchste Verderben zu bringen.

Als ihm der König einstens mit Übergehung vieler verdienter Offiziere ein Husarenregiment gab, wurde der Unwillen auf das höchste gereizt, und die zurückgesetzten Offiziere machten eine förmliche Verschwörung gegen ihn. Einer unter ihnen, der Rittmeister Zwickelwichs, nahm das Geschäft auf sich, den Hüpfenstich ins Unglück zu stürzen. Er schmeichelte sich bei ihm ein, und wurde endlich sein vertrauter Freund und lobte seinen Eigenschaften so, daß Hüpfenstich vor Hoffart fast zum Narren ward; endlich setzte er ihm in den Kopf, er solle bei dem König die Prinzessin Willwischen zur Gemahlin begehren. Der Prinzessin aber ließ er durch ihre Kammerfrau die größte Neugier erregen, wer Hüpfenstich doch wohl eigentlich sei.

Hüpfenstich ward der Kopf bald so verdreht, daß er einstens den König nach der Parade beiseite zog und ihm sagte: »Ihro Majestät sind von meinen Verdiensten so überzeugt, daß Sie mir nicht abschlagen werden, der Gemahl Ihrer Tochter Willwischen zu werden.« Der König sprach hierauf zu ihm sehr erzürnt: »Hopp! hopp! Herr von Hüpfenstich, weiß Er, wer Er ist? Wenn Er es nicht weiß, will ich es Ihn lehren«, und somit drehte er ihm den Rücken. Hüpfenstich schüttelte es durch Mark und Bein, als er dies gehört hatte; es war ihm nur einmal so gewesen in seinem Leben, nämlich als ihn der König, da er ihn als gemeiner Floh zum ersten Mal in den Arm stach, zwischen den Fingern rieb.

Finster und ahnungsvoll führte er sein Regiment unter Willwischens Fenster vorbei; aber er ließ nicht ihr Lieblingsstückchen blasen, er ließ sein Pferdchen nicht tanzen. Die Prinzessin konnte gar nicht begreifen, warum er diese gewöhnliche Artigkeit unterlassen habe. »Ach!« dachte sie, »er muß wohl etwas sehr Vornehmes sein, daß er so stolz gegen mich tut; o, wenn ich nur wüßte, wer er eigentlich ist!«

Der Rittmeister Zwickelwichs hatte wohl gesehen, wie der König den Hüpfenstich angefahren hatte, und suchte ihn nun auf, um ihn zu trösten. Er fand ihn in der Reitbahn, wo er aus Zorn und Ärger ganz verzweifelte Sätze machte. Als er ein wenig ruhig geworden, sagte der Zwickelwichs zu ihm: »Teurer Freund und Kamerad! du bist schrecklich gekränkt; das kannst du nicht auf dir sitzen lassen, ich will dir einen Vorschlag tun, der dich rächt und glücklich macht. Du weißt, es ist das benachbarte Königreich jetzt in der Gewalt des Königs Allmeinius, er respektiert den Frieden: Tue mir nichts, ich tue dir auch nichts, gar nicht und zieht bereits seine Strickreiter zusammen, uns den Krieg anzukünden; er hat mir herübersagen lassen, wenn Ihr mit dem Husarenregiment zu ihm kommen wolltet, wolle er Euch zum Statthalter des ehrlichen Landes machen, sobald er den König Haltewort gefangen habe. Wie wärs, wenn Ihr das Willwischen hinter Euch auf den Sattel nähmt und über die Grenze rittet, und wir ritten alle hintendrein?« Dem übermütigen, zornigen Hüpfenstich gefiel diese Verräterei sehr gut, und er sagte zu dem Zwickelwichs: »Ich will die Prinzessin schon hinwegbringen, komme du mir nur mit den Husaren nach.«

Als alles dies verabredet war, ging Hüpfenstich zu der Prinzessin; sie war sehr verdrießlich und fragte, warum er nicht ihr Leibstückchen habe blasen lassen bei der Parade. Hüpfenstich sagte: »Ach, Ihro königliche Hoheit! es ist heute der Sterbetag meiner erhabenen Eltern; verzeihen Sie, daß mir die Trauer nicht erlaubte, die Trompete blasen zu lassen.« – »Aber«, sagte die Prinzessin, »wer sind denn Eure Eltern? Ihr wollt mir sie nie nennen.« – »Hier darf ichs nicht«, erwiderte Hüpfenstich; »ach! ich bin sehr unglücklich; wenn ich Euch hier sage, wer ich bin, so muß ich sterben.« – »Das ist außerordentlich kurios«, sagte Willwischen, »aber ich muß und will es wissen, teurer Freund! Giebt es denn gar kein Mittel, mir es zu sagen?« – »Eines, teure Prinzessin! Wenn Ihr heute abend im Mondschein wollt am Ende des Schloßgartens spazieren gehen, da werde ich es wagen, ganz unbelauscht Euch das wunderbare Geheimnis zu vertrauen.« – Die Prinzessin willigte ein, sie kam gegen Abend an das Ende des Schloßgartens, da war Hüpfenstich; aber er sagte der Prinzessin nichts, er schwang sie auf den Rücken und machte so ungeheure Sprünge mit ihr bis in das Land des Königs Allmein.

Als er über die Grenze war, setzte er die weinende Prinzessin in einem Walde in das Gras und sagte ihr: »Willwischen! weine dich nur aus, ich habe dich entführt; meine Husaren kommen auch nach, und wenn mich der König Allmein zum Statthalter des ehrlichen Landes macht, so wirst du meine Gemahlin, und dann sage ich dir, wer ich bin. Jetzt muß ich mich hier in dem Bache baden und mich dann recht putzen, damit ich hübsch sauber vor den König Allmeinius treten kann.« Nach diesen Worten machte er einen Sprung über einige Hecken hinweg, hinter welchen ein Bach lief, um sich dort zu baden.

Willwischen war so verwirrt und betrübt und ermüdet, daß sie einschlief. Aber auf einmal hörte sie Trompeten blasen und sah, als sie erwachte, das Husarenregiment über die Wiese angesprengt kommen. Sie erhob sich und warf sich auf die Kniee und bat um Hülfe. Aber es war gar nicht nötig; denn der Zwickelwichs hatte alles gleich dem König Haltewort gesagt, und die Husaren kamen nach, um den Hüpfenstich gefangenzunehmen. Sie eilten gleich ans Wasser, und Hüpfenstich, der bemerkte, daß er verraten war, wollte fortspringen; aber er konnte nicht, weil er ganz naß war. Sie banden ihm also Hände und Füße und legten ihn quer über ein Pferd, setzten die Prinzessin in einen Wagen und kehrten nach der Hauptstadt zurück. Der König hatte dort schon einen hohen Galgen aufrichten lassen, und es ward nun überlegt, mit welchem Tod der Verbrecher gestraft werden sollte. Endlich fällte der König das Urteil, es solle ihm erst die Uniform und dann die Haut abgezogen werden. Dies geschah. Als man ihm die Uniform abgezogen hatte, sagte die Prinzessin: »Hüpfenstich! wenn du mir sagst, wer du bist, so will ich meinen Vater um Pardon bitten.« Hüpfenstich schüttelte mit dem Kopf. Da ward ihm die Haut abgezogen, und die Prinzessin sagte wieder: »Hüpfenstich! sage, wer du bist, so will ich meinen Vater um Pardon bitten.« Aber Hüpfenstich schüttelte nicht mit dem Kopf, sondern – er war nicht mehr da; kein Mensch wußte, wo er hingekommen war.

Man verwunderte sich sehr darüber; aber was war zu tun? Man mußte sich mit der Haut begnügen; die ward an den Galgen aufgehängt, und der Platz ward niemals leer von Menschen, welche die wunderliche Haut des Husarenobristen von Hüpfenstich ansahen. Sie hatte so viele Beine und Borsten und Schnurrbärte und einen so schrecklichen Zopf; kein Mensch konnte herausbringen, was er doch wohl immer für ein Tier mochte gewesen sein. Willwischen starb schier vor Neugierde, zu erfahren, wer er wohl möge gewesen sein, und quälte ihren Vater Tag und Nacht; aber der König Haltewort hatte versprochen, es nie zu sagen.

Willwischen sollte sich nun bald vermählen; der König Haltewort war schon sehr alt und wollte gern einen Nachfolger haben; er bat also seine Tochter, sie möge unter den vielen Prinzen, die um ihre Hand ansuchten, einen wählen. Sie sagte aber: »Ich will keinen nehmen, ehe ich weiß, von wem die Haut ist.« Da sagte der König endlich: »Wohlan! mein Kind, wenn das dein Wille ist, so will ich in aller Welt bekannt machen lassen, daß der, welcher rät, von wem die Haut ist, dein Gemahl werden soll. Bist du das zufrieden?« – »Ja, ja«, sagte Willwischen, und der König ließ nun überall bekannt machen: wer errate, welche Haut in der Residenz am Galgen hänge, der solle seine Tochter zur Frau haben.

Nun entstand ein entsetzliches Gefahre und Gereite und Geschiffe und Gelaufe nach der Residenz. Da kamen Prinzen und Ritter und Lederhändler und Riemer und Sattler und Säckler und Gerber und Schuster und Buchbinder und Kürschner und Pelzhändler und Jäger und Seelenverkäufer und Juden und Professoren der Naturgeschichte, und wer nur mit Häuten und Leder zu tun hatte und mit dergleichen Bescheid wußte, kam, um seine großen Kenntnisse an den Tag zu legen und die schöne Prinzessin Willwischen zu gewinnen.

Als die Leute vom hundertsten ins tausendste hin und her rieten und den König immer fragten, ob sie recht geraten hätten, ward er ungeduldig und sagte: »Es kömmt hier nicht drauf an, zu erraten, sondern zu wissen, was für eine Haut es ist, drum sage jeder seine Meinung.« Da sagte einer: Es ist ein Meerochse; der andere: ein Landkraken; der dritte: ein Muhdrache; ein Prenzlauer Rhinozeros; ein Kümmeltürke; mir scheint es eine Gensdarmenhaut, sagte ein armer Dorfschuster, wurde aber gleich eingesteckt. Endlich trat ein Professor auf und behauptete, es sei die Haut eines afrikanischen Buschmanns. Der Seelenverkäufer aber behauptete, sie sei von einem Amsterdamer Juden. Kurz, keiner konnte es erraten, und alle zogen ab.

So ging dies mehrere Monate lang, und die Neugier Willwischens stieg immer höher. Schier war im ganzen Reiche kein Mensch, der nicht schon geraten hatte.

Nun kam eines Morgens, da die Stadt noch zu war, ein gewaltiger Grobian vors Tor und pochte mit seiner Faust an, daß die Angeln krachten: »Aufgemacht! aufgemacht!« schrie er, »ihr Schlafmützen!« Die Torschreiber sprangen aus den Betten und fragten durchs Schlüsselloch: wer so anpoche; da antwortete eine Stimme wie ein Büffelochse: »Macht auf! ich bin der Wellewatz.«

Zitternd öffnete der Torwächter und sah einen abscheulichen Kerl hereinschreiten. Er stieß beinahe oben am Tor an und war so breit und zottig wie ein Pelznickel. »Ach, dürfte ich um Ihren Charakter bitten«, sagte der Torschreiber, »daß ich Sie aufschreiben kann.« Aber der Herr Wellewatz donnerte so auf ihn ein: »Ich heiße Wellewatz und bin ein privatisierender Menschenfresser«, daß der arme Torschreiber vor Schrecken hinter das Schilderhaus fiel.

Wellewatz trabte mit seinen breiten Füßen durch die Straßen; alles schlief noch, und da er Hunger hatte und einige Bäckerknechte am Backofen beschäftigt sah, griff er zu und fraß sie wie Krametsvögel ohne Brot hinunter. Als er auf den Markt kam, sah er den Galgen mit der Haut und las den Anschlagzettel, daß der die Prinzessin zum Weibe erhalte, wer rate, was es für eine Haut sei. Er schüttelte den Kopf und lachte und rief mit lauter Stimme: »Auf! auf! König Haltewort! Dein Schwiegersohn ist da. Auf auf! Prinzessin Willwischen! Dein Mann ist da.«

Da flogen alle Fensterläden auf, und tausend erschrockene Gesichter guckten heraus, und die Sonne ging auf und schien dem Wellewatz in die Augen, da nieste er, daß die Fenster im Schlosse sprangen und die Scherben der Prinzessin ins Bett fielen. Weil ihm aber niemand »zur Gesundheit« gesagt hatte, wurde der Wellewatz so böse, daß er das Steinpflaster aufriß und nach den Leuten warf.

Endlich kam der König ans Fenster und wollte soeben wegen dem großen Lärm recht tüchtig zanken; aber als er den entsetzlichen Wellewatz vor Augen sah, wurde er vor Schrecken ganz sanft und sagte: »Was steht zu Seinen Diensten, mein Freund?« – Da antwortete der Wellewatz: »König Haltewort! Rufe deine Tochter Willwischen herbei, ich will die Haut erraten.« – »Es ist zwar noch ein wenig früh«, sagte Haltewort, »aber meinethalben. Er hat doch einmal die ganze Stadt aus den Federn gejagt.« Schon wollte der König zu Willwischen gehen, da kam sie selbst; die Neugierde, was für ein Lärm in der Stadt sei, ließ sie nicht ruhen. Als sie an das Fenster trat, patschte der Wellewatz in die Hände und lachte, daß die große Stadtmühle vor Schrecken darüber stillestand. »Ei potz tausend Büffelochsen!« schrie er, »welche schöne Prinzessin für eine Flohhaut!« Bei den Worten Flohhaut lief dem König der Angstschweiß von der Stirne, und in der Stadt lief das Wort Flohhaut von Mund zu Mund, und alle Türmer bliesen Flohhaut, und alle Trommelschläger trommelten Flohhaut, alle Chorschüler sangen Flohhaut, Flohhaut ward die Parole der braunen Husaren, und alle Kanonen wurden losgebrannt; denn Haltewort hatte mit dem Schnupftuch geweht, und das war das bestimmte Zeichen, daß die Haut erraten sei.

Die Prinzessin lag in Ohnmacht, und Wellewatz stieg die Treppen hinauf; ach! da war kein Herr von Hüpfenstich, der ihr zur Ader gelassen hätte. Wellewatz stieß ihr einen Bund Zwiebel unter die Nase, und sie kam zu sich. Sie stürzte sich in die Arme des Vaters: »Ist es wahr? Ist es wahr?« weinte sie. »Es ist wahr«, sagte er und erzählte die ganze Geschichte des Herrn von Hüpfenstich. »Mein Kind Willwischen! Deine Neugier hat dich so weit gebracht, du mußt nun mit dem Wellewatz fortgehen, denn ich muß Wort halten.«

Nun hätte man Willwischens Jammer hören sollen; sie warf sich an die Erde und umklammerte die Füße ihres Vaters und flehte so beweglich, daß es hätte einen Stein bewegen sollen. Aber der König sprach immer: »Mein liebes Kind! du heißt Willwischen, und ich heiße Haltewort, und da kommt es nun so heraus, du mußt nun fort mit dem Wellewatz.« Aber sie wimmerte immerfort, und Wellewatz ward schon ungeduldig und sprach: »Liebste Frau! Ich rate dir, werde ruhig und schreie mir die Ohren nicht voll, sonst werde ich andere Saiten aufspannen.«

Der König machte nun dem Wellewatz allerlei Vorschläge, damit er von Willwischen ablassen solle. Er wollte ihn zum Hoftürken, zum Generalissimus, zum Theaterdirektor, zum Oberjägermeister machen. Wellewatz wollte nicht. Der König hängte ihm alle verflossenen, gegenwärtigen und zukünftigen Orden um den Hals. Wellewatz wollte nicht. Der König machte ihn zum Herzoge Watz von Wellenwurz. Er wollte nicht. Endlich sagte er: »Ich sehe, daß Er gar keine Ehre im Leibe hat.« Da antwortete der Wellewatz: »Nein, aber zwei Bäckerknechte«, und erwischte die Prinzessin Willwischen beim Rockzipfel und zerrte sie zur Stadt hinaus. Weil sie sich aber so gar erbärmlich stellte, so ward der König auch auf sie zornig und schimpfte und zankte hintendrein. Die ganze Stadt war in Auflauf, und es ward auf allen Straßen folgendes Lied gesungen:

Heil dir, o Wellewatz!
Der sich so schnelle Platz
Bei uns gemacht,
Du rietst dir halt den Schatz,
Hast nun die Braut beim Latz,
Giebst ihr so laut den Schmatz,
Daß es nur kracht.

Heil dir, Willwischen Braut!
Die wissen will die Haut
Vom Hüpfenstich,
Wer auf die Neugier baut,
Durch Schlüssellöcher schaut
Und auf Husaren traut,
Den triffts wie dich.

Ach! Herr von Hüpfenstich!
Wer ließ entschlüpfen dich
Aus deiner Haut?
Dein Balg am Galgen hing,
Mancher sich balgen ging,
Durch deinen Balg nun fing
Wellewatz die Braut.

Der König aber sperrte sich mit seinem Nachdenker ein und ließ stark über seinen Unfall nachdenken.

Wellewatz packte vor dem Tor das Willwischen auf seine Schulter und ging mit ihr querfeldein immer fort, fort, über Stock und Stein, durch Distel und Dorn, über Berg und Tal, und kam am Abend in einen dicken dunkeln Wald, wo sich die Wölfe einander gute Nacht sagen. »Du magst wohl Hunger haben«, sagte er zu Willwischen; »warte, ich will dir gleich etwas Süßes zu schmecken geben. Ich höre meinen Zuckerbäcker schon brummen.« Willwischen zitterte und bebte, denn sie kamen zu einem großen Bären, der mit einem großen Bienenkorb unter dem Arm nach seiner Höhle spazierte. Wellewatz holte ihn bald ein und gab ihm eine Ohrfeige, daß er um und um fiel, dann riß er eine Honigwabe aus dem Korb, wo alle Bienen und alles Wachs noch drin staken, und wollte, Willwischen sollte sie essen. Aber ihr schauderte.

»Potz Leckermaul!« sagte der Wellewatz »so hungere!« und fraß den ganzen Honigkorb allein aus. Willwischen aber aß einige wilde Brombeeren, die da herum wuchsen.

Der Wellewatz packte sie wieder auf und sagte: »In einigen Stunden werden wir in meinem Schlosse Knochenruh ankommen.« Das war ein schrecklicher Name. Der Mond schien, der Wind wehte, und in den hohen Fichten klapperte es. »Das ist mein Lustgarten Klapperbach«, sagte Wellewatz; »die Totengerippe, die da in den Bäumen rappeln, scheuchen mir die Raben weg; ich habe die Kerls alle selbst aufgezehrt und brauche keine Schwarzröcke dazu.« Willwischen war vor Angst und Schrecken eine einzige Gänsehaut; sie zitterte so, daß der Wellewatz zu ihr sagte: »Klappere nicht so mit den Beinen, du kitzelst mich, und wenn du mich lachen machst, so freß ich dich vor Liebe auf.« Ach, wie still hielt sich da Willwischen. Endlich kamen sie an einen freien Platz im Walde vor ein wunderbares, hohes Gebäude. Der Mond schien. Das Haus war nicht ganz fertig gebaut. Auf der linken Seite fehlte ein Turm, auf der rechten war es fertig. Es war nicht ohne Kunst gebaut. Lauter Totenbeine und Totenköpfe, die standen oben herum, und weil die Haare noch auf ihnen waren, spielten diese recht schön im Wind und sausten. Es war gar nicht so übel ausgedacht.

Wellewatz blieb mit Willwischen auf dem Rücken eine Zeitlang vor dem Schloß in stiller Bewunderung stehen; endlich sagte er: »Wie gefällt dir das, mein Schatz? Siehe, alle die Knochen haben meine Vorfahren und ich selbst abgenagt, und mit welchem Geschmack sind sie geordnet! Ist das nicht modisch? Ist das nicht gothisch? Aber jetzt, mein Schatz! auf unserm Hochzeitsschmaus da soll es so hergehen, daß der ganze Turm auf dem linken Flügel mit den Knochen soll fertig gebaut werden. Wie gefällt dir das, mein Schatz?« – »O Gott! entsetzlich schön«, seufzte Willwischen. Nun führte er sie hinein; alles Knochen und alles Knochen.

»Da ist dein Kabinett«, sagte Wellewatz; ach! es war mit lauter Kinderknöchelchen tapeziert! »Hier hast du was zu essen«, sagte Wellewatz; es waren lebendige Krebse. »Ich habe keinen Appetit«, sagte Willwischen. »Wird schon kommen«, sagte Wellewatz und aß die Krebse ruhig hinunter. »Wenn sie einen im Magen so mit den Scheren kneipen«, sagte er, »das macht Appetit. Aber gute Nacht, laß dir was Gutes träumen; ich will auf die Jagd gehen und Vorrat anschleppen. Morgen lade ich meine Vettern ein, da soll Hochzeit werden«, und damit ging er fort und schlug die Türe zu, daß der ganze Knochenpalast eine halbe Stunde lang klapperte.

Willwischen war vor Schreck und Hunger und Jammer ganz von Sinnen, sie konnte es vor Angst nicht mehr in dem Hause aushalten, auch quälte sie der Hunger. Sie schlich zur Türe hinaus und setzte sich in den Wald und riß Gras aus und aß es und sagte einmal übers andere Mal: »Ach Gott! warum heiße ich Willwischen? Ach Gott, warum bin ich so neugierig? Ach! wäre ich wieder bei meinem Vater! Ich wollte ja in meinem Leben gar nichts mehr erfahren. O! wer hilft mir aus diesem schrecklichen Elend?«

Während sie so jammerte, hörte sie im Walde reden und glaubte schon, Wellewatz kehre mit einigen guten Freunden zurück. Sie wollte geschwind wieder in das Knochenschloß laufen, aber sie fiel über ein Bein und stürzte vor Mattigkeit lautschreiend an die Erde.

Als sie wieder zu sich kam, war die Sonne aufgegangen, und sie lag in den Armen einer freundlichen alten Frau, welche ihr Zuckerbrot und Wein gab und zu ihr sprach: »Ei Kind Willwischen! wie lange habe ich dich nicht gesehen, und in welchem elenden Zustande muß ich dich wieder finden!« Willwischen erstaunte sehr, daß die Frau ihren Namen nannte; aber sie fragte gar nicht, wer sie sei, weil ihr die Neugierde auf ewig vergangen war. Die Frau aber fing von selbst an und sagte: »Mein Kind Willwischen! ich kenne dein ganzes Unglück, und ich will dir helfen. Als deine sterbende Mutter dich in den Armen hatte, sagte sie: ›Die Woche, welche du zu früh auf die Welt kamst, möge dir einst gute Dienste leisten.‹ Nun sieh! ich bin die Woche; ich habe dich sieben Nächte neben meinen sieben Söhnchen an meiner Brust ernährt, bis dein Vater mich fand und fortschickte, und da hab ich den Hüpfenstich zu ihm geschickt, den verzauberten Floh, dessen Haut dich in das Elend mit dem Wellewatz gebracht. Aber ein ander Mal mehr! halte dich nun ruhig und geh in das Schloß, und lasse dir nichts merken, wenn der Wellewatz wiederkömmt. Morgen nacht um ein Uhr komme ich mit meinen sieben Söhnen, das sind erstaunlich geschickte und kluge Bursche, die sollen dich nach Hause fuhren.« Nun gab sie dem Willwischen noch Wein und Zuckerbrot und befahl ihr, heimlich davon zu essen, küßte sie und ging weg.

Willwischen sah ihr lange mit Tränen nach und schlich dann in das gräßliche Schloß zurück. Gegen Mittag kam Wellewatz zurück; er trug ein Wildschwein an einer jungen Fichte gespießt auf der Schulter und brachte noch ein Nest voll junger wilder Katzen. »Holla! Willwischen!« schrie er, »da ist Mundvorrat, hungern sollst du mir nicht, und Gesellschaft kriegst du auch; ich muß heute abend wieder weg, ich muß mir einige Handwerksburschen zum Hochzeitsbraten einfangen, die Bäckerknechte in deines Vaters Stadt schmeckten vortrefflich; ich habe dir deswegen eine Dame von hohem Stande auf heute nacht zur Gesellschaft gebeten, die Frau von Euler; das wilde Katzennest kannst du ihr vorsetzen; daß du mir keine von den kleinen Katzen herausfrißt, ehe die Dame kömmt.« – »Ach, gewiß nicht, mir ekelt, und gar lebendig!« sagte Willwischen. »Ja, ja, papperlapapp, ich kenne euch Leckermäuler, ihr sprecht immer von Ekel, und dann leckt ihr die Finger darnach.«

Unterdessen hatte er ein Feuer angemacht und das Wildschwein an dem Spieß drüber befestigt; Willwischen mußte es umdrehen, und er riß ein Stück nach dem andern herunter und verschlang es mit Haut und Haar. Als er wieder wegging, sagte er: »Daß du mir nur die Frau von Euler gut unterhältst, sonst giebts Prügel.«

Willwischen saß wieder allein in dem Knochenhaus und zitterte und bebte wegen der Frau von Euler. Was konnte sie sich von einer Dame versprechen, die lebendige wilde Katzen fraß. Sie guckte die armen Wildkätzchen recht mitleidig an: »Ach!« sagte sie, »ihr armen Dinger! euch geht es nicht besser als mir«, und gab ihnen etwas von dem Wildschwein zu fressen; »wenn es möglich ist, will ich euch erretten«, und somit trug sie die Tierchen in einen entlegenen Teil des Hauses.

Als es dunkel ward, vernahm sie einige gräßliche Töne; sie wußte nicht, woher; aber auf einmal flatterte mit abscheulichem Geräusch und Gekrächze etwas den Schornstein herunter in die Stube. Willwischen sah mit Angst nach dem Winkel, da glühten zwei runde Augen ihr entgegen, und es knappte entsetzlich mit dem Schnabel; es war eine ungeheure, riesenhafte, alte Nachteule, sie raschelte auf Willwischen zu; aber die floh mit großem Geschrei zur Türe hinaus und schlug die Knochentüre zu.

»Scharmante Frau von Wellewatz!« rief die Eule ihr nach, »wie schreckhaft und blöde sind Sie. Hat der Herr von Wellewatz mich nicht gemeldet? Ich habe Sie gewiß in süßen Schwärmereien gestört; kommen Sie doch wieder herein.« Willwischen sagte: »Ich will nur Licht anzünden.« – »Nein, das wäre zu naiv«, schrie die Eule, »ich habe kranke Augen, ich verbitte mir das Licht; allons! kommen Sie herein, und bringen Sie mir mein Abendbrot mit.« Willwischen goß den Wein, den ihr die Frau Woche gegeben, in eine Schüssel voll Brot und machte so eine kalte Schale, die schob sie zur Türe herein und sagte: »Bedienen Sie sich einstweilen, gnädige Frau!« und hielt die Türe fest zu. »Delikat! Delikat!« hörte sie die Frau von Euler sagen, »aber eine kuriose scheue Person hat sich der Wellewatz geholt, sie muß vom Lande sein.« Über solchem Geschwätz fraß die Frau von Euler die Weinsuppe aus und schlief berauscht ein.

Willwischen saß in rechter Herzensangst auf der Schwelle der Haustüre. Auf einmal hörte sie Gesang im Walde, und der kam immer näher; da sah sie die Frau Woche anspaziert kommen mit ihren sieben Söhnen, und der erste hatte eine blaue Jacke an und sang recht handwerksburschenmäßig vor den andern her:

Wittwischen! liebstes Willwischen mein!
Wann werden wir wieder beisammen sein?
Am Montag!
Ei so wollt ich, daß alle Tag Montag wär,
Auf daß ich bei meiner Willwischen wär!

Kaum waren sie heran, so sagte Frau Woche: »Nun, ihr Bengels! da habt ihr endlich eure Prinzessin; jetzt zeigt eure Künste und macht, daß wir sie sicher nach Haus zum König Haltewort bringen.« Dann sagte sie zur Prinzessin: »Sieh, Willwischen! ich bin die Woche und die Jungen sind der Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sonnabend und Sonntag.« – »Erzählt nicht so lang«, sagte der Montag, »wir müssen fort; hast du dein Bündelchen geschnürt, Willwischen?« – »Ach! ich will nur die jungen Wildkätzchen mit in den Wald nehmen«, sagte sie und ging, das Nest zu holen.

Montag trat aber in die Stube, wo die Frau von Euler an der Erde schlief, und nahm sie auf den Rücken und schleppte sie vor den Knochenpalast und nagelte sie mit den Flügeln an das Tor und schrie ihr in die Ohren: »Sie können dem Herrn Wellewatz nur alles erzählen, es liegt uns gar nichts dran.« Nun wachte die Frau von Euler auf und zappelte und schrie gewaltig. Aber die Woche zog mit Willwischen, von den sieben Söhnen umgeben, den Montag an der Spitze, immer in den Wald hinein, und da Willwischen Katzen schreien hörte, dachte sie, das ist gewiß meiner Katzen Mutter, und stellte das Nest in eine Baumhöhle.

So waren sie bis um zwölf Uhr der folgenden Nacht gegangen, als plötzlich die Frau Woche sich an die Erde legte und lauerte. »Aufgepaßt, Montag!« schrie sie, »Wellewatz ist nach Haus gekommen, die Frau von Euler hat ihm alles gesagt, er hat die Beine auf die Schultern genommen und wird gleich hier sein.«

Kaum hatte sie dies gesagt, als sie auch schon ein Gekrache und Geräusch im Wald von Wellewatz‘ breiten Fußtritten hörten. Da sprang aber der Montag vor, nahm die Feder, die er hinterm Ohr hatte, tauchte sie in das Dintenfaß, das er am Gürtel hängen hatte, und spritzte die Feder aus: da entstand ein Dintenklecks zwischen ihnen und dem Wellewatz, wie ein kleines schwarzes Meer. Wellewatz wollte anfangs durchwaten, als es ihm aber zu tief ward, schrie er: »Ich komme ohne Löschpapier nicht durch«, und lief nach Haus, solches zu holen.

Die Reisenden eilten immer fort, und Dienstag sang an der Spitze dasselbe Liedchen, wie gestern der Montag, nur daß er statt »am Montag« »am Dienstag« sang. Nachts um zwölf Uhr lauerte Frau Woche wieder an der Erde und sprach: »Dienstag! mache du nun dein Kunststück; der Wellewatz hat soeben sein großes Löschpapier über den Klecks gelegt; gleich wird er da sein.« Kaum hatte sie das gesagt, als sie den Wellewatz bereits ganz in der Nähe singen hörten:

Löschpapier und Fließpapier
Und grüne Petersilie.

Da nahm der Dienstag seine Streusandbüchse und streute sie hinter sich aus, und es entstand auf einmal ein so tiefes Sandmeer hinter ihnen, daß der Wellewatz bis an die Knie einsank.

»Ich muß nach Haus und muß mir meine Chaussee holen«, sagte er und kehrte wieder um. Nun ging der Mittwoch an der Spitze, und der Dienstag war der letzte. Der Führer sang wieder wie sein Vorgänger, nur sang er »am Mittwoch« statt »am Dienstag«.

Nachts um zwölf Uhr lauschte die Frau Woche wieder und sprach: »Geschwind, Mittwoch! mache deine Kunststücke. Wellewatz hat eben einen langen Steinweg über das Sandmeer geschlagen und fährt mit sechs Schimmelgerippen Extrapost an.« Als sie dies gesagt hatte, hörten sie schon das Posthorn blasen und den Wellewatz dazu singen:

Fahr! fahr! fahr auf der Post!
Frag! frag! frag nicht, was es kost’t,
Spann mirs Willwischen ein,
Ich will der Postknecht sein

Da legte der Mittwoch sein Lineal hinter sich, und sieh da! ein ungeheurer Schlagbaum lag quer über den Weg, an den die Schimmelgerippe so anrannten, daß sie zu tausend Knochensplittern zusammenprasselten.

»Halloh!« schrie ein schnauzbärtiger Kerl, der hinter einem Baum hervortrat, »er fährt wie ein Narr! Ich bitte mir den Wegezettel von der letzten Station aus.« – »Ich habe keinen Wegezettel«, sagte Wellewatz. – »Ja, da müssen Sie wieder zurück und sich einen holen.« Wellewatz ärgerte sich abscheulich, und weil sein Fuhrwerk zertrümmert war, mußte er zu Fuß zurück. Als er umgekehrt war, kam der Zolleinnehmer zu Willwischen, und sie sah, daß es niemand anders war als der wilde Kater, dem sie seine Jungen gerettet hatte. Er freute sich, daß er ihr habe seine Dankbarkeit erweisen können, und sie zogen weiter.

Nun trat der Donnerstag an die Spitze, und alles ging wie das vorige Mal. Als sie nachts der Wellewatz wieder einholte, steckte der Donnerstag seine Schreibfeder in die Erde, und es entstand daraus ein großer Wald von entsetzlich großen Gänseflügeln, die immer durcheinander wehten, daß der Wellewatz nicht durch konnte, und wieder nach Hause mußte, um sich eine Axt zu holen.

In der folgenden Nacht führte der Freitag den Zug, die Frau Woche hörte den Wellewatz den Wald niederhauen. »Jetzt, jetzt kömmt er«, schrie sie, »jetzt mache deine Künste, mein Freitag!« Der Freitag nahm seinen Bleistift und machte einen langen Strich an den Boden, der ward sogleich ein breiter wilder Fluß. Der Wellewatz aber war schon entsetzlich ungeduldig, er riß die Kleider vom Leibe und schwamm hinüber; aber das Wasser war reißend und trieb ihn weit hinunter. In der folgenden Nacht, als der Sonnabend den Zug führte, schrie Frau Woche auf einmal; »Er kömmt! er kömmt!« Da stieß der Sonnabend seine blecherne Federbüchse in die Erde, und es ward auf einmal ein ungeheuer hoher Turm daraus, auf welchen sie alle miteinander hinaufstiegen, und da Wellewatz ankam, lachten sie ihn von oben herunter brav aus. Er ließ sich aber nicht irre machen, sondern lief wieder nach Haus, um eine große Leiter zu holen.

In der nächsten Nacht kam der Sonntag an die Spitze der Gesellschaft, und als die Frau Woche ausrief: »Ich höre den Wellewatz schon seine große Leiter heranschleifen«, befahl er, daß alle den Turm verlassen und sich verstecken mußten. Das taten sie; nun legte Wellewatz die Leiter an und stieg oben in den Turm hinein; da nahmen sie die Leiter weg, und machten den Turm zu, und der Sonntag stieß an den Turm, der fiel um und war nichts als eine entsetzlich große Federbüchse, worin der Wellewatz stak. Nun sagte der Sonntag: »Liebe Prinzessin! liebe Mutter! liebe Brüder! Der Wellewatz ist glücklich gefangen, die Gefahr ist vorüber, lasset uns Gott danken.«

Da knieten sie alle nieder und dankten Gott, und Willwischen weinte vor Freuden; denn sie hörten die Glocken ihrer Vaterstadt läuten, so nahe waren sie.

Sie setzten ihren Zug nun fort, und sieh da! der Wellewatz wälzte sich ihnen in der großen Federbüchse nach; was ihnen recht lieb war, denn so konnten sie ihn lebendig gefangen bringen.

Nun zogen sie in die Stadt hinein, und die Federbüchse rollte immer nach. Der König umarmte seine Tochter mit vielen Tränen der Freude; da sie ihm aber sagte, daß Wellewatz in der Federbüchse stecke, sagte er: »Ei! ei! mein Kind, wenn er noch lebt, so mußt du wieder zu ihm, weil ich mein Wort halten muß«; da tat die Prinzessin einen lauten Schrei vor Schmerz und bat den Vater, doch erst darüber nachdenken zu lassen. Das versprach der König Haltewort.

Nach Tische waren sehr große Lustbarkeiten in der Stadt, alle Handwerkszünfte brachten der Prinzessin Willwischen ein Geschenk; auch ließ der König ausrufen: wer seine Tochter von dem Wellewatz frei machen könne, der solle begehren, was er wolle. Als die Bäckerzunft eben einen schönen großen gebackenen Husaren von Butterteig vor die Prinzessin zum Geschenk niedersetzte und alle über die große Ähnlichkeit mit dem seligen Hüpfenstich lachten, rief der Herold jene königliche Aufforderung aus. Willwischen sah mit trauriger Erinnerung auf den gebackenen Husaren und schrie auf einmal aus: »O mein Hüpfenstich! sie haben einen guten Mann in Butter gebacken, und mir war er mehr! O wenn du noch lebtest, du wärest flink, mir zu helfen; ach! ich habe dich immer geliebt, Hüpfenstich! Hüpfenstich! abgeschiedener Geist, hilf mir!« Bei diesen Worten der Prinzessin sprang der Kuchenhusar auf, und seine Wachholderaugen funkelten, und sein Mund von Rosinen sprach laut und vernehmlich: »Geliebteste Prinzessin! teuerster König! Hüpfenstich lebt noch. Als mir die Haut abgezogen wurde, flog meine Seele bei dem Hofbäcker vorbei, und da dieser gerade meine Figur zum Spott gebacken, kroch ich in den Teig hinein. Da hab ich den gräßlichen Anblick gehabt, wie der Wellewatz zwei Bäckerknechte morgens ohne Brot gefressen.«

»Da steht der Tod drauf«, schrie der König: »Viktoria! nun sind wir ihn los.« Der Wellewatz sollte mitsamt der Federscheide in das Wasser geworfen werden; weil er sich aber immer herum drehte, so nahmen sie ihn als eine Mühlwelle, und hat er nachher lange Jahre die königliche Mühle getrieben. Das närrischste ist, daß er immer noch meint, er laufe hinter Willwischen her. Weil der gebackene Herr von Hüpfenstich durch seine Angabe die Prinzessin gerettet hatte, fragte ihn der König Haltewort, was er zur Belohnung wolle. »Die Prinzessin soll mich aufessen«, sagte er. Willwischen wollte nicht, aber er bat so dringend, daß sie ein tüchtiges Stück aus ihm herausbiß. Aber kaum hatte sie es getan, als ein wunderschöner Prinz vor ihr stand und sagte: »Nun ist alles richtig.« – »Ja, es ist alles richtig«, rief Willwischen aus und umarmte den schönen jungen Prinzen. Der König war es zufrieden und schenkte ihm die Hälfte seines Reichs. Der alte König Haltewort aber heiratete die Frau Woche zur Belohnung ihrer edlen Handlungen, und die sieben Söhne kriegten jeder ein Regiment.