3. Kapitel. Loge Nr. 341 Vermissa.

3. Kapitel. Loge Nr. 341 Vermissa.

Am Morgen, der diesem ereignisreichen Tage folgte, verließ McMurdo seine Wohnung bei Jakob Shafter und bezog Quartier bei der Witwe McNamara am Rande der Stadt. Scanlan, seine erste Bekanntschaft, hatte Veranlassung, nach Vermissa zu übersiedeln und zog zu ihm. Die beiden waren die einzigen Mieter, und die Vermieterin, eine leichtherzige, alte Irin überließ sie ganz sich selbst, so daß sie jede Freiheit der Rede und des Handelns genossen, die Leute solcher Art, vereint durch ein gemeinsames Geheimnis, nur wünschen konnten. Shafter hatte so weit nachgegeben, daß er McMurdo gestattete, bei ihm die Mahlzeiten einzunehmen, wenn er wollte, so daß der Verkehr des jungen Mannes mit Ettie keine Unterbrechung erlitt. Im Gegenteil, er wurde im Verlaufe der folgenden Wochen immer enger und McMurdo fühlte sich in seinem neuen Heim so sicher, daß er in seinem Schlafzimmer die Banknotenpresse auspackte und einer Anzahl Logenbrüder unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit gestattete sie zu besichtigen und einige Muster mitzunehmen, die so geschickt nachgeahmt waren, daß sie ohne Gefahr und Schwierigkeit ausgegeben werden konnten. Warum McMurdo, im Besitze einer derartigen Kunst, sich herabließ zu arbeiten, war seinen Gefährten rätselhaft. Er machte ihnen jedoch klar, daß mangels offenkundiger Erwerbsquellen die Polizei bald hinter ihm her sein würde.

Ein Polizeibeamter hatte ihm tatsächlich bereits nachgespürt, aber das Glück wollte es, daß ihm der Vorfall eher nützte als schadete. Nach seiner Einführung in McGintys Gasthaus vergingen wenige Abende, die er nicht dort verbrachte. Es war seine Absicht, sich mit den »Jungens«, mit welchem freundschaftlichen Titel die gefährliche Bande, die diesen Ort bevölkerte, gewöhnlich belegt wurde, näher zu befreunden. Sein schneidiges Auftreten, die Kühnheit seiner Sprache machten ihn bald allseitig beliebt. Die Schnelligkeit und kunstvolle Geschicklichkeit, mit der er einmal einen Gegner in einem Raufhandel abfertigte, verschafften ihm die Achtung dieser gewalttätigen Gesellschaft. Der erwähnte Vorfall führte dazu, diese Achtung noch zu erhöhen. Eines Abends, zur Zeit des stärksten Besuches, öffnete sich die Tür und ein Mann trat ein, gekleidet in die blaue Uniform und Schirmmütze der Kohlen- und Eisenpolizei. Diese war eine von den Eisenbahnen und Bergwerksbesitzern organisierte Hilfstruppe, dazu bestimmt, die Arbeit der Zivilpolizei, die gegenüber dem organisierten Terror und Rowdywesen der Gegend vollkommen hilflos war, zu unterstützen. Schweigen senkte sich auf die versammelten Gäste, als der Mann eintrat, und gar mancher verstohlene Blick fiel auf ihn. Die Beziehungen zwischen Verbrechern und der Polizei sind indessen in den Vereinigten Staaten eigenartig. McGinty, der hinter dem Bartisch stand, zeigte keine Überraschung, als der Polizeiinspektor eintrat und sich unter seine Kunden mischte.

»Ein Glas puren Whisky, es ist bitter kalt draußen,« sagte der Polizeioffizier. »Ich glaube, wir haben uns noch nicht gesehen, Rat McGinty.«

»Sie sind wohl der neue Polizeikapitän?« fragte McGinty.

»Stimmt. Wir verlassen uns auf Sie und die anderen tonangebenden Bürger, uns zu helfen, Gesetz und Ordnung in dieser Stadt aufrechtzuerhalten. Kapitän Marvin ist mein Name – von der Kohlen- und Eisenpolizei.«

»Wir würden besser ohne Sie auskommen, Kapitän Marvin,« erwiderte McGinty kalt, »denn wir haben unsere eigene Polizei und haben keinen Bedarf für Importware. Was sind Sie anderes, als das bezahlte Werkzeug der Kapitalisten, von diesen gedungen, die ärmeren Mitbürger niederzuschlagen oder niederzuschießen.«

»Na, na, wir wollen uns darüber nicht streiten«, sagte der Polizeioffizier gutgelaunt. »Sie tun wahrscheinlich Ihre Pflicht oder was Sie dafür halten, worüber Sie und ich vielleicht verschiedener Meinung sind.« Er hatte sein Glas geleert und war eben im Begriff zu gehen, als sein Blick auf Jack McMurdo fiel, der finsterblickend an seiner Seite gestanden hatte.

»Hallo, hallo!« rief er, indem er ihn von oben bis unten musterte, »ein alter Freund, wenn ich mich nicht irre.«

McMurdo zog sich vor ihm zurück.

»Ich war niemals ein Freund von Ihnen oder der irgendeines anderen verdammten Polizisten,« sagte er.

»Nun gut, dann also ein Bekannter,« sagte der Polizeikapitän. »Sie sind Jack McMurdo aus Chicago, ich irre mich nicht. Es hat keinen Zweck, zu leugnen.«

»Ich leugne es nicht,« antwortete McMurdo achselzuckend, »glauben Sie, ich schäme mich meines eigenen Namens?«

»Sie hätten aber alle Ursache dazu.«

»Was, in des Teufels Namen, wollen Sie damit sagen?« brüllte McMurdo mit geballten Fäusten.

»Ruhe, Ruhe, Jack. Dieses Poltern macht auf mich keinen Eindruck. Bevor ich in diesen gottverdammten Kohlenspeicher kam, war ich Polizeioffizier in Chicago und erkenne jeden unserer Galgenvögel, wenn ich ihn sehe.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie Marvin von der Zentrale in Chicago sind?« rief McMurdo bestürzt.

»Jawohl, noch immer derselbe alte Teddy Marvin, zu dienen. Wir haben dort die Erschießung von Jonas Pinto noch nicht vergessen.«

»Ich war es nicht.«

»So, Sie waren es nicht. Das ist eine beweiskräftige, unparteiische Zeugenschaft, nicht wahr? Immerhin ist Ihnen sein Tod sehr gelegen gekommen, sonst hätte man Sie gefaßt, wegen Ihrer schönen Banknoten. Wir wollen das jedoch dahingestellt sein lassen, denn, unter uns gesagt – vielleicht sage ich damit mehr, als meine Pflicht zuläßt – wir haben gegen Sie keinen einwandfreien Beweis gehabt, und Sie können jederzeit nach Chicago zurück, schon morgen, wenn Sie wollen.«

»Ich bin hier ganz zufrieden.«

»Mir recht. Ich habe Ihnen einen nützlichen Wink gegeben, und Sie sind ein eigensinniger Tropf, wenn Sie ihn zurückweisen.«

»Nun gut, Sie haben es wahrscheinlich gut gemeint und ich muß Ihnen wohl danken,« sagte McMurdo keineswegs freundlicher.

»Mir soll es recht sein, solange Sie sich auf der richtigen Seite des Gesetzes halten« sagte der Kapitän. »Aber so wahr ich hier stehe, wenn Sie mir in die Quere kommen, dann gibt es etwas. Also gute Nacht – und auch Ihnen eine gute Nacht, Rat McGinty.«

Dieser Vorfall hatte McMurdo den Nimbus eines Helden eingetragen. Man hatte sich schon vorher über seine Taten in Chicago Verschiedenes zugeraunt. Er hatte aber alle Fragen nach dieser Richtung mit bescheidenem Lächeln abgewehrt, wie einer, der eine Huldigung für unverdiente Größe ablehnt. Jetzt aber war die Sache amtlich festgestellt. Die Besucher der Bar umringten ihn und schüttelten ihm erfreut die Hand. Er war einer der Ihren geworden. Obzwar er viel ertragen konnte, würde der gefeierte Held an jenem Abend die Nacht unter dem Bartisch beschlossen haben, wenn ihn nicht Scanlan beizeiten nach Hause geführt hätte.

Am Abend des folgenden Sonnabends wurde McMurdo in die Loge eingeführt. Da er bereits Mitglied einer Loge in Chicago war, glaubte er, daß dies ohne weitere Förmlichkeiten vor sich gehen würde. Die Loge in Vermissa hatte indessen ihren eigenen Ritus, auf den sie stolz war und dem jeder Bewerber sich unterwerfen mußte. Sie versammelte sich in dem großen Raum, der eigens für diesen Zweck im Unionhaus reserviert war. Etwa sechzig Mitglieder waren versammelt, die indessen nicht die ganze Macht der Loge darstellten, da es in den anderen Niederlassungen des Tales und jenseits der Berge auf beiden Seiten des Tales mehrere Schwesterlogen gab, die untereinander ihre Mitglieder austauschten, wenn es Ernstliches zu tun gab, so daß Verbrechen meistens von ortsfremden Mitgliedern ausgeführt wurden. Insgesamt zählte die Loge in dem gesamten Kohlenbecken nicht weniger als fünfhundert Mitglieder.

Die Versammlung saß in dem kahlen Raum an einem langen Tisch. Ein zweiter an der Seite war mit Gläsern und Flaschen beladen, auf die einige Mitglieder schon verlangend ihre Blicke richteten. McGinty saß am Kopfende des Tisches mit einer flachen, schwarzen Sammetmütze auf seinen strähnigen, dunklen Haaren und einer purpurfarbenen Stola um den Hals, die ihm das Aussehen eines Priesters in der Ausübung eines teuflischen Rituals verliehen. Zu seiner Rechten und Linken befanden sich die höheren Würdenträger der Loge, unter ihnen das grausame, interessante Gesicht Ted Baldwins. Jeder von ihnen trug eine Schärpe oder eine Medaille als Abzeichen seiner Würde. Der Großteil bestand aus Männern im reifen Alter. Die übrigen indessen waren junge Burschen zwischen achtzehn und fünfundzwanzig, die stets willfährigen und fähigen Werkzeuge zur Ausführung der Befehle der älteren. Unter den letzteren bemerkte man Gesichter, in denen sich eine raubtierartige, verbrecherische Veranlagung deutlich abspiegelte, aber der Durchschnitt war derartig, daß man in diesen Reihen aufgeweckter, offenblickender junger Leute schwerlich eine gefährliche Mörderbande vermutet hätte: Verbrecher, die schon längst bis zu einem Grade sittlicher Verderbtheit heruntergesunken waren, daß sie mit grauenerregendem Stolz über die Kunstfertigkeit der Ausführung ihrer schrecklichen Taten prahlen konnten, und den Mann, der sich durch besondere Rohheit hervortat, mit auszeichnender Verehrung behandelten. Es erschien ihrer verzerrten Lebensanschauung als eine mutige und ritterliche Tat, sich freiwillig zur Ermordung eines Mannes anzubieten, der ihnen niemals etwas zuleide getan hatte, und den sie in den meisten Fällen nicht einmal von Angesicht kannten. Es konnte geschehen, daß sie nach vollbrachter Tat um die Ehre stritten, wer den tödlichen Streich geführt habe, und daß sie sich und die anderen damit vergnügten, zu schildern, wie sich ihre Opfer im Todeskampf wanden und ihr Wehklagen nachzuahmen. Zuerst wurden diese Taten mit dem strengsten Geheimnis umgeben, aber zur Zeit dieser Erzählung sprach man darüber ganz freimütig, denn wiederholte Fehlschläge der Gerichte, die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, hatten sie in Sicherheit darüber gewiegt, daß kein Zeuge es wagen würde, gegen sie aufzutreten, zumal ihnen stets eine beliebige Anzahl von Entlastungszeugen zur Verfügung stand. Außerdem gestattete es ihr wohlgefüllter Bundesschatz, sich die besten Rechtsanwälte des Landes zu sichern. In den zehn langen Jahren dieses schandbaren Zustandes war es noch zu keiner einzigen Verurteilung gekommen, und die alleinige Gefahr, die den Rächern drohte, kam von den Opfern selbst, von denen gelegentlich eines, obwohl überraschend und von einer großen Überzahl angefallen, seinen Angreifern einen ernstlichen Denkzettel zu versetzen vermochte.

Man hatte McMurdo darauf vorbereitet, daß er eine Art Feuerprobe zu gewärtigen habe. Aber niemand wollte ihm sagen, worin sie bestehe. Er wurde von zwei feierlich aussehenden Brüdern in den Außenraum geführt. Durch die hölzerne Zwischenwand konnte er das Murmeln vieler Stimmen im Versammlungssaal hören. Ein- oder zweimal fing er seinen eigenen Namen auf und schloß daraus, daß seine Bewerbung zur Verhandlung stand. Danach trat ein Funktionär ein, der eine grün-goldene Schärpe über der Brust trug.

»Der Logenmeister befiehlt, ihn zu fesseln, ihm die Augen zu verbinden und ihn dann hereinzuführen.«

Die drei entfernten seinen Rock, rollten ihm den rechten Hemdärmel auf und schlangen dann ein Seil um seinen Körper, mit dem sie seine Arme über den Ellbogen am Körper festbanden. Dann zogen sie ihm eine dicke schwarze Kappe über den Kopf und den oberen Teil des Gesichts. Derartig blind gemacht, wurde er in den Versammlungsraum geführt. Kein Lichtstrahl drang durch seine Vermummung, die Mütze verursachte ihm eine drückende Schwüle. Er hörte das Geräusch und Gemurmel der Leute um ihn. Dann drang die Stimme McGintys, dumpf und entfernt klingend, durch die Umhüllung an sein Ohr.

»John McMurdo, Ihr seid bereits ein Mitglied des ehrwürdigen Ordens der freien Männer.«

McMurdo verbeugte sich zustimmend.

»Eure Loge ist Nr. 29, Chicago.«

Er wiederholte seine Verbeugung.

»Dunkle Nächte sind bedrückend,« sagte die Stimme.

»Jawohl für einsame Wanderer,« antwortete er.

»Die Wolken hängen schwer.«

»Jawohl, ein Sturm ist im Anzug.«

»Sind die Brüder befriedigt?« fragte der Logenmeister.

Ein allseitiges, zustimmendes Murmeln folgte.

»Durch unsere Zeichen und Gegenzeichen wissen wir, Bruder, daß Ihr einer der Unseren seid,« sagte McGinty.

»Ihr müßt jedoch auch wissen, daß in unserem und einigen benachbarten Sitzen unserer Loge bestimmte Gebräuche bestehen und auch bestimmte Pflichten auf unsere Mitglieder fallen, die eine besondere Eignung erfordern. Seid Ihr zur der Prüfung bereit?«

»Ich bin es.«

»Habt Ihr starke Nerven?«

»Jawohl.«

»Dann macht einen Schritt vorwärts, um es zu beweisen.«

Bei diesen Worten fühlte er zwei scharfe Spitzen, die auf seine Augen drückten, so daß es ihm kaum möglich schien, vorwärts zu schreiten, ohne sie in seine Augen zu bohren. Er nahm jedoch seinen ganzen Mut zusammen und schritt entschlossen aus. Als er dies tat, wich der Druck von seinen Augen. Ein leises beifälliges Murmeln war seine Belohnung.

»Er hat gute Nerven,« sagte die Stimme. »Könnt Ihr Schmerz ertragen?«

»So gut wie jeder andere,« antwortete er.

»Prüft ihn.«

Er hatte die größte Mühe, einen Aufschrei zu unterdrücken, als ein entsetzlicher Schmerz durch seinen Unterarm schoß. Fast wäre er durch den plötzlichen Schreck ohnmächtig niedergesunken, aber er biß die Zähne zusammen und krampfte die Hände ineinander, um seine Qual zu verbergen.

»Ich kann noch mehr vertragen als das,« sagte er.

Diesmal grüßte ihn lauter, rückhaltsloser Beifall. Kaum jemals zuvor hatte ein Mitglied der Loge die Prüfung so gut bestanden. Er fühlte einige Hände, die ihm beifällig auf den Rücken klopften, die Mütze wurde ihm vom Kopf gezogen. Blinzelnd und lächelnd stand er da, am die Glückwünsche seiner Brüder entgegenzunehmen.

»Noch ein Wort, Bruder McMurdo,« sagte McGinty. »Ihr habt bereits den Eid der Verschwiegenheit und Treue abgelegt, haltet euch gegenwärtig, daß die Strafe für einen Bruch dieses Eidschwures der sofortige und unabwendbare Tod ist.«

»Ich bin mir dessen bewußt,« sagte McMurdo.

»Und Ihr seid bereit, die Anordnungen des jeweiligen Logenmeisters unter allen Umständen zu befolgen?«

»Ich bin es.«

»Dann begrüße ich euch als Mitglied der Loge 341, Vermissa. Ihr seid von nun an aller Rechte und Pflichten dieser Loge teilhaftig. Stellt die Getränke auf den Tisch, Bruder Scanlan, wir wollen auf unseren würdigen neuen Bruder trinken.«

Man hatte McMurdo wieder seinen Rock gebracht. Bevor er ihn anzog, untersuchte er seinen rechten Unterarm, der ihn noch heftig schmerzte. Er fand in das Fleisch eingebrannt einen klar gezeichneten Kreis mit einem Dreieck im Innern, tief und rot, wie ihn das Brandeisen hervorgebracht hatte. Einige seiner Nachbarn zogen ihre Ärmel hoch und zeigten ihm dasselbe Mal.

»Wir haben es alle,« sagte einer, »aber nicht alle haben es so tapfer empfangen.«

»Schon gut,« meinte McMurdo, »es will nicht viel besagen. Aber es schmerzt und brennt höllisch.«

Nachdem die Trinksprüche, die der Einweihungsfeierlichkeit folgten, erledigt waren, wurde zur Tagesordnung der Loge geschritten. McMurdo, der nur an die harmlosen Veranstaltungen in Chicago gewöhnt war, horchte dem, was folgte, mit gespitzten Ohren und größerer Überraschung zu, als er sich zu zeigen gestattete.

»Der erste Punkt der Tagesordnung,« sagte McGinty, »ist die Verlesung eines Briefes des Distriktmeisters der Grafschaft Merton, Loge 249. Der Brief lautet:

Geehrter Herr!

Wir haben eine Arbeit an Andrew Rae, Teilhaber der Firma Rae & Sturmash, Kohlenbergwerksbesitzer in unserer Nähe, auszuführen. Sie werden sich wohl erinnern, daß Ihre Loge uns einen Dienst zu erwidern hat, in Anbetracht der Arbeit, die zwei unserer Brüder im letzten Herbst an einem Polizeimann geleistet haben. Belieben Sie zwei gute Leute zu uns zu senden, die von unserem Schatzmeister Higgens, dessen Adresse Ihnen bekannt ist, in Empfang genommen werden. Er wird ihnen mitteilen, wo und wann sie zu handeln haben.

Im Namen der Freiheit!

J. W. Windle D. M. E. O. F.

 

Windle hat uns noch nie eine Absage erteilt, wenn wir Anlaß hatten, einen oder zwei Leute von ihm auszuborgen, und wir dürfen ihn daher nicht im Stich lassen.«

Mr. Ginty hielt inne und ließ seine dunklen, bösartigen Augen über die Versammlung schweifen.

»Wer meldet sich freiwillig?«

Einige der jungen Leute hielten ihre Hände hoch. Der Logenmeister blickte sie beifällig lächelnd an.

»Gut, Tiger Cormac, Sie sind der Richtige. Wenn Sie die Sache ebenso gut machen wie das letztemal, kann es nicht fehlgehen. Sie auch, Wilson.«

»Ich habe keine Pistole,« antwortete der Freiwillige, ein junger Mensch, fast noch im Knabenalter.

»Es ist Ihr erster Fall, nicht wahr? Sie müssen auch einmal die Feuertaufe empfangen. Es ist eine große Sache für Sie. Und was die Pistole anbetrifft, darüber brauchen Sie sich kein Kopfzerbrechen zu machen, die wird man Ihnen geben. Wenn Sie sich am Montagmorgen melden, ist es früh genug. Wir werden euch bei eurer Rückkehr festlich empfangen.«

»Gibt es eine Belohnung diesmal?« fragte Cormac, ein untersetzter, brünetter, brutal aussehender junger Mann, dessen Wildheit ihm den Beinamen Tiger eingetragen hatte.

»Ihr dürft nicht an Belohnung denken. Es ist eine Ehrensache der Loge. Möglicherweise werden sich am Boden unserer Schatztruhe einige Dollar finden, wenn ihr eure Sache gut macht.«

»Was hat der Mann getan?« fragte der junge Wilson.

»Das geht einen so jungen Menschen wie Sie nicht das geringste an. Das Urteil haben unsere Brüder drüben gefällt. Wir haben nicht mitzureden. Alles, was wir zu tun haben, ist, es auszuführen, genau so wie es die anderen für uns tun würden. Da wir schon einmal dabei sind, möchte ich erwähnen, daß zwei Brüder von der Mertonloge nächste Woche zu uns herüberkommen, um bei uns ein Geschäft zu erledigen.«

»Wer wird es sein?« fragte einer.

»Sie tun gut daran, nicht zu fragen. Wenn Sie nichts wissen, können Sie nichts aussagen und Sie laufen keine Gefahr. Es sind Leute, die ihre Sache richtig machen werden, darauf könnt ihr euch verlassen.«

»Es ist die höchste Zeit,« rief Ted Baldwin. »Die Leute werden hier schon wieder übermütig. Erst vorige Woche sind drei unserer Leute von Werkmeister Blaker entlassen worden. Der Mann hat schon längst einiges verdient, und wir müssen sehen, daß er es bekommt.«

»Was bekommt?« flüsterte McMurdo seinem Nachbar zu.

»Die Ladung einer Rehpostenpatrone«, rief der Mann, laut auflachend. »Was hatten Sie denn sonst erwartet, Bender?«

McMurdos verbrecherische Seele schien bereits den Geist seiner schändlichen Umgebung in sich aufgenommen zu haben.

»Es gefällt mir gut hier,« sagte er. »Die richtige Gesellschaft für einen ganzen Mann.«

Einige in seiner Umgebung hatten diese Bemerkung gehört und kargten nicht mit Beifall.

»Was ist los dort unten?« rief der schwarzhaarige Logenmeister vom Ende des Tisches herüber.

»Unser neuer Bruder hat eben gesagt, daß es ihm bei uns gefalle.«

McMurdo erhob sich augenblicklich von seinem Stuhl.

»Und ich möchte noch hinzufügen, verehrungswürdiger Meister, daß ich es mir zur Ehre anrechnen würde, wenn ein Mann gebraucht wird, ausgewählt zu werden.«

Diese Bemerkung wurde mit Applaus begrüßt. Einigen der älteren Mitglieder erschien sie jedoch etwas voreilig.

»Ich würde vorschlagen,« sagte der Sekretär Harraway, ein geierartig aussehender alter Graubart, der neben dem Vorsitzenden saß, »daß Bruder McMurdo wartet, bis es der Loge beliebt, ihn zu bestimmen.«

»Ich wollte nichts anderes. Es liegt ganz in Ihren Händen«, sagte McMurdo.

»Auch Ihre Zeit wird kommen, Bruder,« bemerkte der Vorsitzende. »Ich habe Sie bereits als geeignete Kraft vorgemerkt und bin der Ansicht, daß unsere Loge mit Ihnen Ehre einlegen wird. Wir haben heute eine kleine Sache zu erledigen, bei der Sie mitwirken können, wenn Sie wollen.«

»Ich möchte lieber warten, bis etwas vorkommt, das sich der Mühe lohnt.«

»Trotzdem können Sie heute mittun, damit Sie den Boden kennen lernen, auf dem wir hier stehen. Ich komme später noch darauf zurück. Inzwischen habe ich –« dies mit einem Blick auf seine Tagesordnung – »noch einige Punkte vorzubringen. Zunächst möchte ich unseren Schatzmeister fragen, wie wir in bezug auf unsere Geldmittel stehen. Wir haben Jim Carnaways Witwe eine Pension zu zahlen. Er wurde im Dienste der Loge getötet, und es ist unsere Pflicht, danach zu sehen, daß sie keine Not leidet.«

»Jim wurde im vorigen Monat erschossen, als versucht wurde, Chester Wilcox in Marley Creek zu töten,« wurde McMurdo von seinem Nachbar belehrt.

»Gegenwärtig stehen wir uns recht gut,« sagte der Schatzmeister mit dem Kontobuch vor sich. »Die Firmen haben sich in der letzten Zeit freigebig gezeigt. Gebrüder Walker schickten uns hundert, die ich aber zurückgeschickt habe, wobei ich fünfhundert verlangte. Wenn der Betrag am nächsten Mittwoch nicht eingegangen ist, wird dem Aufzug in ihrem Werk etwas zustoßen. Im vorigen Jahr mußte erst die Erzbrecheranlage in Brand geraten, bevor die Leute vernünftig wurden. Dann hat uns die Westsektion Kohlengesellschaft ihren Jahresbeitrag gezahlt. Wir haben genug in der Hand, um unsere Verbindlichkeiten zu decken.«

»Und wie ist es mit Archie Swindon?« fragte einer der Brüder.

»Er hat alles verkauft und ist fortgezogen. Der alte Halunke hat uns einen Brief hinterlassen, worin er sagt, daß er lieber ein freier Straßenkehrer in New York, als ein großer Bergwerksbesitzer in den Händen einer Erpresserbande sein wolle. Er kann froh sein, daß er weg war, bevor uns der Brief erreichte. Jedenfalls darf er sich hier nicht mehr blicken lassen.«

Ein ältlicher, glattrasierter Mann mit gutmütigem Gesicht und klarer Stirn erhob sich von dem Ende des Tisches, das dem Vorsitzenden gegenüberlag.

»Herr Schatzmeister,« sagte er, »darf ich fragen, wer den Besitz des Mannes gekauft hat, den wir aus unserer Gegend vertrieben haben?«

»Jawohl, Bruder Morris, es war die State & Merton County Eisenbahngesellschaft.«

»Und wer kaufte das Bergwerk von Todman und das von Lee, die im vorigen Jahr aus ähnlichen Gründen auf den Markt kamen?«

»Dieselbe Gesellschaft, Bruder Morris.«

»Und wer kaufte die Eisenwerke von Manson und von Shuman und die von van Dehor und von Atwood, die alle in der letzten Zeit veräußert wurden?«

»Der Käufer war die West Gilmerton Allgemeine Bergwerksgesellschaft.«

»Nach meiner Ansicht kann es uns völlig gleichgültig sein, Bruder Morris, wer sie kauft, da der Betreffende sie doch nicht aufpacken und davontragen kann.«

»In aller Ehrerbietung möchte ich dem erwidern, daß es für uns nicht gleichgültig sein kann. Dieser Eigentumswechsel dauert nun schon an die zehn Jahre. Wir haben allmählich fast alle kleinen Besitzer vertrieben mit dem Ergebnis, daß wir an ihrer Stelle heute die großen Gesellschaften, wie die Eisenbahngesellschaft, die Allgemeine Bergwerksgesellschaft usw., finden, die ihren Sitz in New York oder Philadelphia haben und sich aus unseren Drohungen nicht das geringste machen. Wir können uns zwar an die ortsansässigen Betriebsleiter halten, aber was dann geschieht, ist, daß man einfach andere senden wird. Wir beschwören dadurch für uns eine sehr gefährliche Lage herauf. Die kleinen Leute konnten uns nichts anhaben. Sie hatten weder das Geld noch die Macht dazu. Solange wir sie nicht bis auf den letzten Blutstropfen ausgepreßt hatten, blieben sie hier unter unserer Macht. Aber wenn diese großen Gesellschaften einmal entdecken, daß wir zwischen ihnen und ihren Dividenden stehen, werden sie keine Mühe und keine Ausgaben scheuen, uns nachzuspüren und vor die Gerichte zu bringen.«

Ein vielsagendes Schweigen senkte sich bei diesen Worten auf die Versammlung, und die Gesichter verdüsterten sich im Austausch finsterer Blicke. So allmächtig und sicher hatten sie sich gefühlt, daß ihnen niemals auch nur der Gedanke einer möglichen Vergeltung zu Bewußtsein gekommen war. Selbst die Verwegensten unter ihnen durchfuhr bei den Worten ein eisiger Schreck.

»Ich möchte raten,« fuhr der Sprecher fort, »daß wir die kleinen Leute nicht allzu derb anfassen. Wenn sie eines Tages samt und sonders vertrieben sind, wird die Macht unseres Bundes gebrochen sein.«

Unangenehme Wahrheiten sind nicht beliebt. Ärgerliche Ausrufe wurden hörbar, als der Sprecher wieder seinen Sitz einnahm.

McGinty erhob sich mit finster gekräuselter Stirn.

»Bruder Morris,« sagte er, »Sie waren immer ein Flaumacher. Solange die Mitglieder dieser Loge zusammenstehen, gibt es keine Macht in den Vereinigten Staaten, die uns etwas anhaben kann. Haben wir nicht schon oft genug vor Gericht gestanden? Nach meiner Ansicht werden es die großen Gesellschaften bequemer finden zu zahlen, als zu kämpfen, genau so wie es die Kleinen getan haben. Und nun« – McGinty nahm bei diesen Worten seine schwarze Sammetkappe und seine Stola ab – »komme ich zum Schluß der Tagesordnung, auf der nur noch eine kleine Sache steht, die ich vorhin schon erwähnt habe, und die wir, bevor wir auseinandergehen, erledigen können. Wir wollen jetzt zu brüderlichen Erfrischungen und geselliger Unterhaltung schreiten.«

Wahrlich, sonderbar ist das Wesen des Menschen. Hier waren Männer, denen Mord wohl vertraut war, die oftmals den Vater einer Familie niederschlagen, einen Mann, gegen den sie persönlich nicht das geringste hatten, – ohne auch nur einen Funken Reue oder Mitleid, selbst angesichts seiner jammernden Frau und hilflosen Kinder, zu fühlen; und doch konnte sie das Zarte und Traurige in der Musik zu Tränen rühren. McMurdo hatte eine schöne Tenorstimme, und wenn er sich noch nicht die Gunst der Loge errungen hätte, so würde er dies jetzt durch den Vortrag einiger volkstümlicher, sentimentaler Gesänge getan haben. Schon am ersten Abend machte sich der junge Rekrut zu einem der beliebtesten Mitglieder, zu baldiger Beförderung und höheren Würden vorbestimmt. Es bedurfte indessen noch anderer Eigenschaften, als die des guten Gesellschafters, um einen würdigen Freimann abzugeben, und darüber wurde er belehrt, bevor die Nacht zu Ende war. Die Whisky-Flaschen hatten bereits die Runde gemacht. Das Blut war erhitzt und der Geist bereit zu Untaten, als sich der Logenmeister nochmals zu einer Ansprache erhob.

»Jungens,« sagte er, »wir haben hier in der Stadt einen Mann, dem wir ein wenig die Flügel beschneiden müssen, und es liegt an euch, dies zu tun. Ich spreche von James Stanger, Redakteur des ›Herald‹. Ihr wißt doch alle, wie er über uns schon wieder das Maul aufgerissen hat?«

Ein zustimmendes Murmeln folgte, vermengt mit einigen kräftigen Flüchen. McGinty zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche.

»Gesetz und Ordnung! Das ist die Überschrift. ›Der Terror regiert im Kohlen- und Eisengebiet. Zwölf Jahre sind nunmehr seit den ersten Verbrechen vergangen, die das Bestehen einer Mörderbande in unserer Mitte bekundeten. Seit dieser Zeit gab es keine Pause in der Kette der Freveltaten, und wir haben nun einen Zustand erreicht, der uns zum Schandfleck der ganzen zivilisierten Welt macht. Ist dies der Lohn dafür, daß unser großes Land alle, die dem Zwang Europas entrinnen wollen, an seinen Busen nimmt? Können wir es zulassen, daß diese Leute sich zu Herrschern über uns, die ihnen Schutz und Zuflucht gewährten, aufwerfen? Daß eine Schreckensherrschaft und Gesetzlosigkeit in dem Schatten der geheiligten Falten unseres sternengeschmückten Freiheitsbanners errichtet wird, die uns mit Entrüstung erfüllen würde, wenn wir zu lesen bekämen, daß dergleichen unter einer despotischen Monarchie der alten Welt vorgekommen sei. Wir alle kennen diese Leute. Die Organisation ist offenkundig und greifbar. Wie lange werden wir sie noch dulden?‹ –

»Genug von diesem schmierigen Geschreibsel,« rief der Vorsitzende, indem er die Zeitung mit einer Hand vom Tisch fegte. »So drückt sich der Mann über uns aus. Ich frage euch, was sollen wir darauf antworten?«

»Umbringen!« riefen einige Dutzend erhitzter Stimmen.

»Ich protestiere dagegen,« rief Bruder Morris, der Mann zaghaften Gemüts. »Ich sage euch, Brüder, unsere Hand ist in diesem Tal bereits zu schwer geworden, und der Zeitpunkt ist vielleicht nicht mehr fern, wo sich die Leute im Selbstschutz zusammenfinden werden, um uns zu zermalmen. James Stanger ist ein alter Mann. Er ist in der ganzen Stadt und in der Umgebung hoch geachtet. Seine Zeitung steht immer für das Volkswohl ein. Wenn ihr den Mann umbringt, wird eine Bewegung durch unseren Staat ziehen, die nur mit unserer Vernichtung enden kann.«

»Und wie stellen Sie sich diese Vernichtung vor, Sie Hasenfuß?« rief McGinty. »Durch die Polizei? Die eine Hälfte steht in unserem Sold und die andere hat Angst vor uns. Oder durch die Gerichte? Ist das nicht schon vorher versucht worden und mit welchem Ergebnis?«

»Es gibt aber einen gewissen Richter Lynch, der vielleicht angerufen werden wird,« sagte Bruder Morris.

Ein allgemeiner Ausbruch des Zornes folgte dieser Bemerkung.

»Ich brauche nur meinen Finger zu heben,« rief McGinty, »um zweihundert Leute auf die Beine zu bringen, die diese Stadt von einem bis zum anderen Ende ausräuchern.«

Plötzlich erhob er seine Stimme, und sein dunkles Gesicht verzog sich zu einer schrecklichen Grimasse des Zornes:

»Bruder Morris, nehmen Sie sich in acht. Ich habe bereits seit längerem ein Auge auf Sie. Sie sind ein Feigling und wollen auch die anderen zu Feiglingen machen. Es wird für Sie ein böser Tag sein, Bruder Morris, wenn Ihr Name auf der Geschäftsordnung erscheint, und ich glaube, er gehört schon jetzt darauf.«

Morris war bei diesen Worten totenbleich geworden, und seine Knie schienen zu schlottern, als er sich in seinen Stuhl zurückfallen ließ. Mit zitternder Hand erhob er sein Glas und trank, bevor er Worte der Antwort fand.

»Ich bitte um Vergebung, verehrungswürdiger Meister, – Vergebung von Ihnen und jedem Bruder der Loge, – wenn ich mehr gesagt habe, als ich durfte. Ich bin ein treues Mitglied – ihr alle wißt es – es ist nur die Furcht, daß unserer Loge etwas zustoßen könnte, die mir diese Besorgnisse eingegeben hat. Aber ich habe mehr Vertrauen zu Ihrer Urteilskraft, verehrungswürdiger Meister, als zu meiner eigenen, und ich verspreche, künftighin den Mund zu halten und Sie nicht mehr zu erzürnen.«

Das düstere Gesicht des Logenmeisters erhellte sich etwas bei diesen unterwürfigen Worten.

»Nun gut, Bruder Morris, es würde mir sehr leid tun, wenn es sich als notwendig erweisen sollte, Ihnen eine Lehre zu erteilen. Solange ich in der Loge den Vorsitz führe, soll es eine einige Loge sein, einig in Wort und Tat. Und nun, Jungens,« fuhr er fort, indem er seine Blicke über den Tisch schweifen ließ, »nun möchte ich das Folgende sagen. Wenn wir Stanger so behandeln würden, wie er es verdient, würden wir vielleicht mehr Unannehmlichkeiten haben, als sich lohnt. Diese Zeitungsschreiber halten alle zusammen, und jeder verdammte Wisch im ganzen Land würde nach Polizei und Truppen schreien; aber ihr könnt ihm eine eindringliche Warnung geben. Wollen Sie die Sache übernehmen, Bruder Baldwin?«

»Selbstverständlich,« rief der junge Mann eifrig.

»Wieviel Leute wollen Sie haben?«

»Etwa ein halbes Dutzend und zwei Aufpasser. Sie kommen mit, Gower, und Sie, Mandsel, und Sie, Scanlan, und die zwei Willabys.«

»Ich habe dem neuen Bruder versprochen, daß er mittun darf.«

Ted Baldwin warf auf McMurdo einen Blick, der zeigte, daß er weder vergeben noch vergessen hatte.

»Er kann mitkommen, wenn er will,« sagte er schroff. »Mehr brauchen wir nicht. Vorwärts, je eher wir an die Arbeit gehen, desto besser.«

Die Gesellschaft zerstreute sich mit Schreien, Kreischen und Bruchstücken trunkenen Gesanges. Die Bar war noch immer von nächtlichen Zechern umlagert, und viele der Brüder schlossen sich ihnen an. Die kleine Bande, die für den Auftrag ausgewählt worden war, gelangte unbemerkt auf die Straße, wo sie sich in Gruppen zu zweien und dreien teilte, um kein Aufsehen zu erregen. Die Nacht war bitter kalt, der Halbmond warf sein helles Licht aus einem frostigen, sternbesäten Himmel. Sie versammelten sich wieder in einem Hof neben einem großen Gebäude. Zwischen den hellerleuchteten Fenstern prangte in großen Goldbuchstaben die Aufschrift »Vermissa-Herald«. Von innen heraus drang das Getöse und Rollen der Druckpressen.

»Sie bleiben hier bei der Tür stehen und passen auf, daß die Straße für uns freibleibt,« sagte Baldwin zu McMurdo. »Arthur Willaby bleibt bei Ihnen, die anderen kommen mit mir. Ihr braucht keine Angst zu haben, Jungens, denn wir haben ein Dutzend Zeugen, die, wenn nötig, beschwören werden, daß wir jetzt in der Union-Bar sind.«

Es war fast Mitternacht geworden, und die Straßen lagen verlassen da. Bis auf einige Zecher auf dem Nachhauseweg war niemand zu sehen. Der kleine Trupp überschritt die Straße und stieß die Tür zu dem Zeitungsgebäude auf, worauf Baldwin und seine Leute die Treppen hinaufsprangen. McMurdo und sein Begleiter blieben unten. Von oben ertönte plötzlich ein gellendes Hilfegeschrei, gefolgt von dem Lärm stampfender Füße und fallender Stühle. Einen Augenblick später stürzte ein grauhaariger Mann auf den Treppenpodest, wo er indessen ergriffen wurde, bevor er weitergelangen konnte. Seine Augengläser fielen klirrend die Treppe hinunter, bis vor McMurdos Füße. Dann folgte ein dumpfer Fall und lautes Stöhnen. Der Alte lag mit dem Gesicht zur Erde, während ein halbes Dutzend Stöcke auf ihn niedersausten. Er wand und krümmte sich; seine langen, dünnen Glieder zuckten unter den Schlägen. Nach einer Weile hielten sie inne; nur Baldwin schlug mit einem teuflischen Lächeln in seinem grausamen Gesicht weiter, auf den Kopf des Mannes los, den dieser vergeblich mit seinen Armen zu schützen suchte. Sein weißes Haar war bereits von breiten Blutstreifen durchzogen. Baldwin war noch immer über sein Opfer gebeugt und ließ kurze, scharfe Schläge niedersausen, wenn ein Teil des Kopfes sichtbar wurde, als McMurdo die Treppe hinaufstürzte und ihn zurückstieß.

»Sie werden den Mann umbringen,« sagte er, »hören Sie auf.«

Baldwin sah ihn verblüfft an.

»Der Teufel soll Sie holen,« rief er. »Was haben Sie sich einzumischen, das jüngste Mitglied unserer Loge? Zurück!« Er erhob seinen Stock, aber McMurdo zog mit Blitzesschnelle seine Pistole aus der Hüftentasche.

»Jawohl, zurück! Aber Sie! Ich schieße Ihnen Ihr Gesicht entzwei, wenn Sie Hand an mich legen. Und was die Loge betrifft, war es nicht der Befehl des Logenmeisters, daß der Mann nicht umgebracht werden soll? Und was wollten Sie eben anderes tun, als ihn töten?«

»Recht hat er,« sagte einer der Leute.

»Schnell, schnell, macht daß ihr fortkommt,« kam die Stimme des Mannes, der unten Wache hielt. »Alle Fenster sind schon erleuchtet, und wir werden in fünf Minuten die ganze Stadt auf unseren Fersen haben.«

In der Straße hörte man bereits Rufe, während unten in der Halle sich eine kleine Gruppe von Setzern bildete, die allmählich eine drohende Haltung einnahm. Die Bande ließ den leblosen Körper des Redakteurs am Kopfe der Treppe liegen, stürmte hinunter und ins Freie, worauf sie sich zerteilte. Wieder beim Union-Haus angelangt, mischten sich einige davon unter die Menge in der Bar und gaben dem Meister flüsternd zu wissen, daß die Arbeit gründlich besorgt sei. Andere wieder nahmen ihren Weg durch Seitenstraßen und erreichten auf Umwegen ihr Heim.

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4. Kapitel. Das Tal des Grauens.

4. Kapitel. Das Tal des Grauens.

Als McMurdo am nächsten Morgen erwachte, hatte er allen Grund, sich an seine Einführung in die Loge zu erinnern. Sein Kopf schmerzte in Nachwirkung der vielen Getränke, und der Arm, auf dem er das Brandmal empfangen hatte, war heiß und geschwollen. Da er seine eigene Einkommensquelle hatte, nahm er es nicht sehr genau mit seinen Pflichten. Er frühstückte spät und blieb des Morgens zu Hause mit Briefschreiben beschäftigt. Nachher las er den »Daily Herald«. In einer Sonderspalte, die für die letzten Nachrichten bestimmt war, fand er einen Artikel mit der Überschrift:

»Schandtat im Herald-Gebäude! Der Redakteur schwer verwundet!«

Es war ein kurzer Bericht über den Vorfall, der ihm selbst besser bekannt war, als dem Schreiber. Der Bericht schloß mit folgenden Worten:

»… Die Sache liegt jetzt in den Händen der Polizei, aber es kann kaum erwartet werden, daß ihre Bemühungen erfolgreicher sein werden, als bei ähnlichen Anlässen der Vergangenheit. Einige der Männer wurden erkannt, und auf diese Weise wird es vielleicht möglich sein, sie des Verbrechens zu überführen. Es braucht wohl nicht erst betont zu werden, daß diese Schandtat auf das Schuldkonto jener schändlichen Verbrecherbande zu setzen ist, die schon allzu lange über unsere Gemeinde herrscht, gegen die der ›Herald‹ bisher unverdrossen gekämpft hat, und die er unbeirrt weiter bekämpfen wird. Die vielen Freunde Mr. Stangers werden sich freuen zu hören, daß er, obgleich er in der grausamsten und brutalsten Weise mißhandelt wurde und schwere Verwundungen am Kopf davontrug, in keiner unmittelbaren Lebensgefahr schwebt.«

Danach war noch zu lesen, daß eine Abteilung der Kohlen- und Eisenpolizei, bewaffnet mit Winchestergewehren, zum Schutz des Herald-Gebäudes abgeordnet worden sei.

McMurdo hatte die Zeitung niedergelegt und war eben dabei, sich mit einer unter den Wirkungen des gestrigen Trinkgelages noch unsteten Hand die Pfeife anzuzünden, als es klopfte und ihm seine Wirtin einen Brief hereinbrachte, der von einem Jungen abgegeben worden war. Der Brief trug keine Unterschrift und lautete wie folgt:

»Ich möchte Sie gern sprechen, aber nicht in Ihrem Hause. Sie werden mich neben dem Fahnenmast auf Miller Hill finden. Wenn Sie meinem Wunsch folgen, werde ich Ihnen eine Mitteilung machen, die für Sie und für mich von Wichtigkeit ist.«

McMurdo überlas den Brief zweimal in äußerster Überraschung, ohne Vorstellung, was er zu bedeuten habe und von wem er herrühren könne. Wäre er in einer weiblichen Handschrift geschrieben gewesen, so hätte er ihn für den Anfang eines jener Abenteuer gehalten, die ihm aus früheren Zeiten wohl vertraut waren. Aber er war von Manneshand und wies die Merkmale guter Bildung auf. Nach einigem Zögern entschloß er sich, der Sache auf den Grund zu gehen.

Miller Hill war ein ungepflegter öffentlicher Park, inmitten der Stadt gelegen. Im Sommer war es ein beliebter Aufenthaltsort des Volkes, aber im Winter war er trübselig genug. Von oben hatte man einen Fernblick über die ganze rußige, planlos angelegte Stadt und das lange gewundene Tal, mit seinen verstreuten Bergwerken und Fabriken, eingesäumt von schwärzlichem Schnee und den bewaldeten, weiß übergossenen Hängen darüber.

McMurdo schlenderte die Krümmungen des Pfades entlang, der von einer immergrünen Hecke eingefaßt war, bis er zu dem verödeten Restaurant gelangte, das im Sommer der Sammelpunkt der Vergnügungssüchtigen war. Daneben stand ein kahler Flaggenmast, an dessen Schaft er einen Mann gewahrte, mit tief heruntergezogenem Hut und aufgeklapptem Rockkragen. Als der Mann McMurdo sein Gesicht zuwandte, erkannte dieser in ihm Bruder Morris, der sich am Abend vorher dem Mißfallen des Logenmeisters ausgesetzt hatte. Nachdem der Logengruß ausgetauscht worden war, ging Morris ohne Zeitverlust auf den Gegenstand der von ihm herbeigeführten Unterredung über.

»Ich wollte mit Ihnen sprechen, Herr McMurdo,« sagte er zögernd, wie jemand, der sich auf schwankem Boden weiß. »Es war sehr freundlich von Ihnen, zu kommen.«

»Warum haben Sie Ihren Brief nicht unterzeichnet?«

»Man muß vorsichtig sein, Herr. Man kann nie wissen, wem solch ein Brief in die Hände fällt. Außerdem weiß man nicht, wem man in solchen Zeiten trauen kann und wem nicht.«

»Logenbrüdern können Sie doch sicherlich trauen?«

»Nicht immer,« rief Morris lebhaft. »Was einer von uns sagt, selbst was er denkt, scheint stets seinen Weg zu McGinty zu finden –«

»Herr Morris,« warf McMurdo mit ernstem Tone ein, »erst gestern abend habe ich, wie Sie wissen, dem Logenmeister Treue geschworen. Sie wollen mich doch nicht verleiten, meinen Schwur zu brechen?«

»Wenn das Ihre Auffassung von der Sache ist,« sagte Morris enttäuscht, »dann tut es mir leid, Sie bemüht zu haben. Es ist traurig, daß zwei Bürger eines freien Landes nicht offen ihre Meinungen austauschen können.«

McMurdo, der seinen Gefährten sorgfältig im Auge behalten hatte, milderte seine abweisende Haltung.

»Ich habe auch an mich zu denken,« sagte er, »ich bin hier ein Neuling, wie Sie wissen, und bewege mich auf fremdem Boden. Es ist nicht an mir, den ersten Schritt zu tun, Herr Morris. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, will ich es gern anhören, da ich schon einmal hier bin.«

»Um es dann Meister McGinty zu hinterbringen,« sagte Morris bitter.

»Darin tun Sie mir Unrecht,« rief McMurdo. »Was mich persönlich betrifft, halte ich streng loyal zur Loge, wie ich Ihnen gerade heraus sagen muß, aber ich wäre ein erbärmlicher Wicht, wenn ich Ihr Vertrauen mißbrauchen würde. Was Sie mir sagen, bleibt unter uns, aber ich muß Sie darauf vorbereiten, daß Sie bei mir weder Hilfe noch Sympathie finden werden.«

»Diese von Ihnen oder einem anderen zu erwarten, habe ich längst aufgegeben,« sagte Morris bitter. »Vielleicht gebe ich mich mit dem, was ich sagen will, in Ihre Hände,« fuhr er fort, »aber so schlecht Sie auch sein mögen, – und nach gestern abend zu schließen, scheinen Sie sich zu einem ebenso großen Bösewicht auswachsen zu wollen, wie die anderen, – Sie sind, wie Sie selbst sagen, noch ein Neuling, und Ihr Gewissen kann noch nicht abgestumpft sein. Darum möchte ich gern mit Ihnen sprechen.«

»Nun, und was haben Sie zu sagen?«

»Wenn Sie mich verraten, möge mein Fluch Sie treffen.«

»Sie können darüber unbesorgt sein.«

»Also dann möchte ich Sie fragen, ob es Ihnen, als Sie in Chicago in den Bund der freien Männer eintraten und Ihr Gelübde ablegten, in den Sinn gekommen ist, daß es Sie auf die Verbrecherbahn führen könnte?«

»Wenn Sie es Verbrechen nennen wollen,« antwortete McMurdo.

»Kann es darüber zweierlei Meinungen geben?« rief Morris mit vor Erregung zitternder Stimme. »Sie wissen offenbar noch nicht viel davon, wenn Sie es anders bezeichnen möchten. War es nicht ein Verbrechen, den alten Mann von gestern abend, alt genug, Ihr Vater zu sein, zu schlagen, bis ihm das Blut aus den weißen Haaren tropfte? War das ein Verbrechen, oder was war es sonst?«

»Es gibt Leute, die sagen würden, daß es ein Kampf ist,« sagte McMurdo, »ein Klassenkampf bis aufs Messer, wobei jeder zuschlägt, wie er kann.«

»Waren Sie darauf vorbereitet, als Sie in Chicago in den Freimänner-Orden eintraten?«

»Nein, das war ich nicht, das muß ich zugeben.«

»Auch ich hatte keine Ahnung, als ich in Philadelphia eintrat. Der Orden war nur eine Wohltätigkeits-Vereinigung und der Treffpunkt meines Freundeskreises. Dann hörte ich von diesem Ort. Verflucht sei die Stunde, da der Name zum erstenmal an mein Ohr drang. Ich kam her, um mich zu verbessern. Mein Gott! Zu verbessern! Es klingt wie bitterer Hohn. Meine Frau und meine Kinder nahm ich mit. Am Marktplatz eröffnete ich einen Kurzwarenladen. Es ging mir gut. Man erzählte sich, daß ich ein Freimann sei, und zwang mich, der Loge beizutreten, so wie Sie es gestern abend taten. Am Arm trage ich das Brandmal der Schande, aber im Herzen ein noch viel schlimmeres. Ich entdeckte, daß ich den Befehlen eines ruchlosen Bösewichtes unterstand und in einem Netzwerk von Verbrechen gefangen war. Was konnte ich tun? Jedes Wort, das ich in bester Absicht aussprach, wurde als Verrat ausgelegt, wie gestern erst wieder. Ich kann nicht weg, denn alles, was ich habe, steckt in meinem Geschäft. Wenn ich aus der Loge austrete, wird man mich umbringen, und der Himmel weiß, was dann aus meiner Frau und meinen Kindern werden soll. Freund, ich sage Ihnen, es ist schrecklich – schrecklich!« Er verbarg sein Gesicht in den Händen, während sein ganzer Körper in heftigem Schluchzen erbebte.

»Sie sind zu weichherzig für die Sache,« antwortete McMurdo achselzuckend. »Sie eignen sich nicht dazu.«

ein kaltherziger Mörder werden, oder gibt es etwas, das Sie davon noch zurückhalten kann?«

»Wie würden Sie dies anfangen?« fragte McMurdo brüsk. »Sie wollen doch nicht den Verräter spielen?«

»Der Himmel soll mich davor bewahren!« rief Morris. »Schon die Absicht würde mich das Leben kosten.«

»Gut, daß Sie so denken,« sagte McMurdo. »Ich halte Sie für einen schwachen Menschen, der sich die Sache zu sehr zu Herzen nimmt.«

»Zu sehr! Warten Sie, bis Sie hier ein bißchen älter geworden sind. Blicken Sie hinunter ins Tal, und betrachten Sie die Hunderte von Schornsteinen, die es überragen. Ich sage Ihnen, daß die Wolken des Verderbens dichter und niedriger über dem Tal hängen als die des Rauches. Es ist das Tal des Grauens – das Tal des Todes. Im Herzen der Bevölkerung wohnt Schrecken, von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen. Nur Geduld, junger Mann, Sie werden es selbst erkennen.«

»Nun denn, ich werde Ihnen sagen, was ich davon halte, nachdem ich mehr gesehen habe,« sagte McMurdo leichthin. »Klar ist nur, daß Sie nicht hierher gehören, und je schneller Sie Ihr Geschäft verkaufen, – auch wenn Sie nur 10 v. H. des Wertes erlösen, – desto besser ist es für Sie. Was Sie mir sagten, ist bei mir sicher aufgehoben; aber der Himmel sei Ihnen gnädig, wenn Sie ein Angeber –«

»Nein, nein,« rief Morris flehend.

»Nun gut, wir wollen es dabei bewenden lassen. Ich werde an das, was Sie mir gesagt haben, denken, und vielleicht komme ich noch einmal darauf zurück. Ich nehme an, daß Sie es gut mit mir meinen. Aber jetzt muß ich wieder nach Hause.«

»Noch eins, bevor Sie gehen,« sagte Morris. »Man hat uns vielleicht beobachtet und wird wissen wollen, was wir zu sprechen hatten.«

»Gut, daß Sie daran denken.«

»Ich habe Ihnen eine Anstellung in meinem Laden angeboten.«

»Und ich habe sie ausgeschlagen. Das geht niemand etwas an. Auf Wiedersehen, Bruder Morris. Hoffen wir das Beste für die Zukunft.«

Als McMurdo am Nachmittag desselben Tages in Gedanken verloren am Ofen seines Wohnzimmers saß, öffnete sich die Tür, und McGinty erschien, der mit seiner massiven, riesenhaften Figur den Türrahmen fast ausfüllte. Er grüßte nach Logenart und nahm ohne weiteres Platz, indem er McMurdo mit Blicken zu durchbohren schien, die von diesem furchtlos erwidert wurden.

»Ich bin ein schlechter Besuchmacher, Bruder McMurdo,« sagte er, »wahrscheinlich, weil mir meine eigenen Gäste so viel zu schaffen machen. Höflichkeit erfordert es indessen, daß ich Ihren Besuch erwidere und Sie in Ihrem Heim aufsuche.«

»Ich bin stolz darauf, Sie hier zu sehen, Rat McGinty,« antwortete McMurdo herzlich und holte die Whisky-Flasche aus dem Schrank. »Es ist für mich eine unerwartete Ehre.«

»Wie geht es dem Arm?« fragte der Meister.

McMurdos Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

»Ganz gut, aber er hält sich noch in Erinnerung,« sagte er. »Immerhin, ich weiß, wofür ich leide.«

»So ist es,« antwortete der andere, »so muß jeder denken, der unserer Sache ergeben ist und der Loge nützlich sein will. Was haben Sie heute morgen mit Bruder Morris auf Miller Hill zu sprechen gehabt?«

Die Frage kam so plötzlich, daß McMurdo sich glücklich schätzte, eine Antwort in Bereitschaft zu haben.

»Morris weiß nichts davon, daß ich mir hier im Hause Geld verdienen kann,« sagte er mit einem vielsagenden Lächeln. »Er soll auch nichts davon erfahren, denn er hat für meinen Geschmack ein zu enges Gewissen. Er ist ein gutherziger alter Mann und scheint zu glauben, daß es mir schlecht gehe. Er wollte mir auf die Beine helfen, indem er mir eine Anstellung in seinem Kramladen anbot.«

»So, das war es!

Und Sie haben sie ausgeschlagen?«

»Selbstredend. In vier Stunden täglicher Arbeit kann ich mir hier in meinem Schlafzimmer ein vielfaches von dem verdienen, was er mir bieten könnte.«

»So ist es. Ich würde Ihnen indessen raten, mit Morris nicht allzuviel zu verkehren.«

»Warum nicht?«

»Es mag Ihnen genügen, daß ich es wünsche. Das genügt den meisten Leuten hier in der Gegend.«

»Vielleicht den meisten Leuten, aber mir nicht,« erwiderte McMurdo unerschrocken. »Wenn Sie ein Menschenkenner sind, muß Ihnen das klar sein.«

Der dunkelhäutige Riese glotzte ihn an, und seine haarige Tatze schloß sich einen Augenblick lang fest um das Glas, als ob er es dem anderen an den Kopf werfen wollte. Dann brach er in Lachen aus, in ein lautes, schallendes, aber unecht klingendes Lachen.

»Sie sind ein sonderbarer Heiliger, das muß ich sagen,« erwiderte er. »Nun, wenn Sie Gründe haben wollen, werde ich sie Ihnen sagen. Hat Morris irgend etwas gegen die Loge gesagt?«

»Nein.«

»Oder gegen mich?«

»Nein.«

»Nun gut, er hat Ihnen eben nicht getraut, aber in seinem Herzen ist er ein Abtrünniger. Wir wissen sehr genau, weshalb wir ihn auf das sorgfältigste überwachen. Wir warten nur auf die Zeit, ihn beiseite zu bringen. Ich glaube sogar, daß diese Zeit nicht mehr sehr fern ist. In unserem Stall ist kein Platz für räudige Schafe. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß man Sie selbst für verräterisch halten könnte, wenn Sie mit einem treulosen Menschen Umgang pflegen. Ist Ihnen das klar?«

»Es ist unwahrscheinlich, daß ich mit ihm umgehen werde, denn ich mag den Mann nicht leiden,« antwortete McMurdo. »Und was das Verräterischsein anbelangt, so möchte ich Ihnen sagen, daß jeder andere außer Ihnen es bereuen würde, dieses Wort in meiner Gegenwart auszusprechen.«

»Nun gut, damit ist die Sache für mich erledigt,« sagte McGinty, indem er sein Glas leerte. »Ich wollte Ihnen nur einen gutgemeinten Wink geben.«

»Es würde mich interessieren,« sagte McMurdo, »woher Sie wissen, daß ich mit Morris gesprochen habe.«

»Es ist eine meiner Aufgaben, alles zu wissen, was hier vorgeht,« antwortete McGinty lachend. »Sie werden gut tun, sich dies gegenwärtig zu halten. Nun denn, meine Zeit ist abgelaufen und ich muß jetzt gehen.«

Sein Abschiednehmen wurde jedoch in einer völlig unerwarteten Weise unterbrochen. Mit einem plötzlichen Schlag flog die Tür auf, und drei finstere, aufgeregte Gesichter, beschattet von der Schirmmütze der Polizei, starrten durch die Türöffnung. McMurdo sprang auf und hatte bereits den Revolver halb aus seiner Tasche gezogen, als er gewahr wurde, daß zwei Gewehre auf seinen Kopf gerichtet waren, worauf er den Arm wieder sinken ließ. Ein uniformierter Mann trat ins Zimmer mit einem Revolver in der Hand. Es war Kapitän Marvin, der vormalige Beamte der Chicagoer Polizei, zu jener Zeit aber Leiter der Kohlen- und Eisenpolizei. Mit einem Kopfschütteln und einem halben Lächeln blickte er auf McMurdo.

»Ich habe mir doch gedacht, daß er mir bald ins Gehege kommen würde, der windige Herr McMurdo aus Chicago,« sagte er. »Er kann es eben nicht lassen. Nehmen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit.«

»Das wird Ihnen teuer zu stehen kommen, Kapitän Marvin,« sagte McGinty. »Wer sind Sie denn eigentlich, möchte ich wissen, daß Sie sich herausnehmen, derart in ein Haus einzudringen und ehrliche, gesetzesfürchtige Leute zu belästigen?«

»Wir haben nichts gegen Sie, Rat McGinty,« sagte der Polizeikapitän. »Wir sind nicht Ihretwegen gekommen, sondern wegen dieses McMurdo. Es ist Ihre Aufgabe, uns in der Ausübung unserer Pflicht zu unterstützen und nicht zu behindern.«

»Er ist mein Freund, und ich stehe für ihn ein,« sagte McGinty.

»Ich glaube, daß Sie eines schönen Tages für sich selbst einzustehen haben werden, Mr. McGinty,« antwortete der Polizeikapitän. »McMurdo war schon ein verdächtiger Mensch, bevor er hierher kam, und ist es noch immer. Halten Sie ihn scharf auf dem Korn, Schutzmann, während ich ihn entwaffne.«

»Hier ist meine Pistole,« sagte McMurdo ruhig. »Wenn wir beide allein wären, Kapitän Marvin, so würden Sie mich nicht so leicht einfangen können.«

»Haben Sie denn einen Haftbefehl?« fragte McGinty. »Zum Donnerwetter, man möchte glauben in Rußland und nicht in Vermissa zu sein, wenn man sieht, was sich die Polizei herausnimmt. Es ist eine kapitalistische Schandtat, und Sie werden dafür büßen, das kann ich Ihnen versichern.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Rat McGinty, wir kennen unsere Pflichten.«

»Wessen bin ich beschuldigt?« fragte McMurdo.

»Der Teilnahme an dem Überfall auf den Redakteur Stanger vom Vermissa Herald. Es ist wohl nicht Ihre Schuld, daß es nicht eine Beschuldigung wegen Mordes ist.«

»Nun, wenn das alles ist, was Sie gegen ihn haben,« rief McGinty lachend, »so können Sie sich jede weitere Mühe ersparen. Dieser Mann war in meiner Bar bis Mitternacht beim Pokerspiel. Ich werde Ihnen ein Dutzend Zeugen bringen, die es beschwören.«

»Es bleibt Ihnen freigestellt, dies morgen vor Gericht zu tun. Inzwischen wollen wir gehen. Kommen Sie, McMurdo, und verhalten Sie sich ruhig, wenn Sie nicht wollen, daß Ihr Kopf mit einem Gewehrkolben in Berührung kommt. Weg da mit Ihnen, McGinty! Ich dulde keinen Widerstand in der Ausübung meiner Pflicht. Lassen Sie sich das gesagt sein.«

So entschlossen trat der Kapitän auf, daß sowohl McMurdo wie der Logenmeister sich in die Lage fügen mußten. Dem letzteren gelang es jedoch, dem Häftling vor dem Fortgehen einige Worte zuzuflüstern.

»Was soll damit?« bemerkte er mit einer vielsagenden Bewegung seines Daumens auf das Versteck der Falschmünzerwerkzeuge zu.

»Nichts zu befürchten,« flüsterte McMurdo, der sie in einem Geheimfach unter dem Fußboden wohl verborgen wußte.

»Ich wünsche Ihnen alles Gute,« sagte der Meister mit einem kräftigen Händedruck. »Ich werde sofort zu Reilly, dem Rechtsanwalt, gehen und sehen, daß er die Verteidigung übernimmt. Seien Sie ganz unbesorgt, man wird Ihnen nichts anhaben können.«

»Das ist nicht so ganz sicher, mein Freund. Gebt acht, auf den Gefangenen, ihr beide. Sollte er die Flucht ergreifen, so schießt ihn einfach nieder. Ich werde noch eine Haussuchung vornehmen, bevor ich gehe.«

Dies geschah, aber Marvin fand anscheinend keine Spur der versteckten Werkzeuge. Als er damit zu Ende gekommen war, brachte er mit seinen zwei Leuten McMurdo zum Polizeibüro. Es war inzwischen dunkel geworden, und ein Schneesturm fegte durch die fast menschenleeren Straßen. Die wenigen Leute, die unterwegs waren, liefen zusammen und bewarfen den Gefangenen, ermutigt durch die Dunkelheit, mit Schimpfworten und Flüchen.

»Hängt den verfluchten Rächer auf!« riefen sie. »An die Laterne mit ihm!« Sie lachten und verhöhnten ihn, als er in das Polizeigebäude gestoßen wurde.

Nach einem kurzen, rein formellen Verhör seitens des diensthabenden Beamten wurde er in eine Zelle geführt. In dieser fand er bereits Baldwin und drei andere seiner Genossen von gestern abend vor, die alle am Nachmittag in Haft genommen worden waren und nun der Verhandlung am nächsten Morgen entgegensahen.

Der lange und mächtige Arm der Freimänner reichte indessen sogar in diese inneren Ringmauern des Gesetzes hinein. Spät abends kam der Gefängniswärter und brachte für jeden ein Bündel Bettzeug, aus dem er einige Flaschen Whisky, Gläser und ein Spiel Karten entnahm. Zechend und ohne der am folgenden Tag bevorstehenden Verhandlung auch nur einen Gedanken zu widmen, verbrachten sie die Nacht.

Ihre Sorglosigkeit war, wie sich alsbald herausstellte, nur zu berechtigt. Der Untersuchungsrichter konnte auf Grund des Tatbestandes allein zu keinem Schuldspruch kommen. Es stellte sich heraus, daß die Setzer und Drucker infolge des trüben Lichtes und ihrer Bestürzung die Identität der Verbrecher nicht feststellen konnten. Sie erklärten sich außerstande zu beschwören, daß sich die Beschuldigten unter den Angreifern befunden hatten, obwohl sie dies glaubten. Als sie der gewandte Rechtsanwalt, den McGinty für die Verteidigung bestellt hatte, einem Kreuzverhör unterzog, wurden ihre Aussagen noch unbestimmter. Das Opfer der Tat hatte bei seiner kommissarischen Vernehmung bereits zu Protokoll gegeben, daß er durch die Plötzlichkeit des Überfalles so überrascht worden war, daß er nichts anderes aussagen könne, als daß der erste Mann, der ihn schlug, einen Schnurrbart trug. Er fügte hinzu, daß die Angreifer unzweifelhaft zu der Gesellschaft der Rächer gehören müßten, da niemand anderer in der ganzen Stadt einen Groll gegen ihn haben könne, und weil er von deren Seite wegen seiner freimütigen Leitartikel schon verschiedene Drohbriefe empfangen habe. Außerdem ergab sich aus der übereinstimmenden und im bestimmtesten Ton vorgebrachten Aussage von sechs Bürgern, einschließlich jenes hohen städtischen Würdenträgers, des Rates McGinty, ganz einwandfrei, daß die Beschuldigten zur Zeit der Tat und weit darüber hinaus im Unionhaus Karten gespielt hatten. Es erübrigt sich, zu sagen, daß sie alle vom Gericht mit einer Begründung freigelassen wurden, die fast einer Entschuldigung für die ihnen auferlegten Unannehmlichkeiten gleichkam. Daran schloß sich eine ziemlich unverblümte Verwarnung Kapitän Marvins wegen Übereifer in der Ausübung seiner Pflicht.

Die Entscheidung des Gerichtes wurde von den Zuhörern der Verhandlung, unter denen McMurdo viele bekannte Gesichter wahrzunehmen glaubte, mit lautem Beifall aufgenommen. Die Logenbrüder lachten und schwenkten die Hüte, andere dagegen saßen mit zusammengekniffenen Lippen und düsterblickenden Augen da, als die Beschuldigten die Anklagebank verließen. Einer von den letzteren, ein kleiner, dunkelbärtiger, entschlossener Mensch, faßte seine Gedanken und die seiner gleichgesinnten Freunde in Worte, als die freigelassenen Häftlinge an ihnen vorüberzogen:

»Ihr verfluchten Mörder!« rief er. »Wir werden doch noch mit euch abrechnen!«

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5. Kapitel. Die trübste Stunde.

5. Kapitel. Die trübste Stunde.

Wenn es noch eines Geschehnisses bedurft hätte, um McMurdos Ruhm bei seinen Genossen zu vervollständigen, so hätte seine Verhaftung und Freisprechung dies bewirkt. Daß ein Mensch schon am Abend seiner Aufnahme in die Loge in Ausübung seiner Logenpflichten vor die Richter kam, stellte einen Rekord in der Geschichte des Bundes dar. Man kannte ihn bereits als guten Gesellschafter, als fröhlichen Zecher, aber auch als einen Mann von hitzigem Wesen, der sich nicht einmal etwas von dem allmächtigen Meister gefallen ließ. Er verstand es jedoch auch, bei seinen Kameraden den Eindruck zu erwecken, daß niemand fähiger war als er, blutdürstige Pläne zu schmieden und sie auch auszuführen.

»Wenn er drankommt, wird er seine Sache gut machen,« sagten sich die älteren und sahen ungeduldig diesem Zeitpunkt entgegen. McGinty hatte zwar schon genug Werkzeuge seines Willens, aber in McMurdo glaubte er ein solches höherer Ordnung zu erkennen. Er kam ihm vor wie ein im Zaum gehaltener Wachhund. An Kreaturen für minder wichtige Arbeit war kein Mangel, aber eines Tages würde er diese Vollblutkreatur auf eine ihrer würdige Beute loslassen. Einige Mitglieder der Loge, Ted Baldwin unter ihnen, grollten zwar über den raschen Aufstieg des Fremden und bedachten diesen deswegen mit ihrem Haß, aber sie wichen ihm aus. Sie waren sich bewußt, daß er ebenso rasch bereit war zu kämpfen wie zu lachen.

Während er so in der Gunst seiner Genossen stieg, gab es andere Menschen, die ihm unendlich mehr galten, bei denen er sie verlor. Ettie Shafters Vater wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben und verwehrte ihm, sein Haus zu betreten. Ettie selbst liebte ihn zu sehr, um ihn ganz aufzugeben, aber eine innere Stimme warnte sie vor dem, was kommen würde, wenn sie sich an einen erklärten Verbrecher ketten ließe. Nach einer schlaflosen Nacht entschloß sie sich eines Morgens, mit ihm zu sprechen – voraussichtlich zum letztenmal – und noch einen Versuch zu machen, ihn von dem schlechten Einfluß, unter dem er stand, zu befreien. Sie suchte ihn in seinem Heim auf, was er so oft erfleht hatte. Er saß am Tisch im Wohnzimmer mit dem Rücken gegen die Tür und hatte einen Brief vor sich. Die Schalkhaftigkeit ihrer jungen Jahre – sie war erst neunzehn – regte sich in ihr bei diesem Anblick. Er hatte ihr Eintreten nicht gehört. Auf den Zehenspitzen schlich sie näher und legte ihre Hand auf seine leichtgebeugte Schulter.

Wenn es ihre Absicht gewesen war, ihn zu überraschen, so gelang ihr dies in einem Grade, der sie selbst überraschte. Wie ein Tiger sprang er auf sie zu, indem er mit seiner rechten Hand ihre Gurgel erfaßte. Mit der anderen zerknüllte er im selben Augenblick das vor ihm liegende Papier. Eine volle Sekunde lang stierte er sie wie von Sinnen an, dann wich seine Überraschung, und die Wildheit, die sein Gesicht verzerrte, – ein Anblick, der sie entsetzt zusammenfahren ließ, wie vor etwas, das ihr friedliches Leben noch nicht kannte – machte stürmischer Freude Platz.

»Du bist’s!« rief er, indem er sich den Schweiß von der Stirne wischte. »Du kommst zu mir, Liebste? Und ich empfange dich damit, daß ich dir an die Gurgel fahre!«

Er breitete die Arme aus.

»Komm in meine Arme, Liebling, und laß es mich wieder gutmachen.«

Sie hatte sich indessen von dem Schreck, den ihr der Einblick in die schuldige Seele des Mannes eingeflößt hatte, und von dem Ausdruck des wilden Entsetzens in seinen Zügen noch nicht völlig erholt. Ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß es nicht bloß Überraschung sein konnte, die solche Wirkungen hervorbrachte, es war das Bewußtsein der Schuld.

»Was ist denn los mit dir, Jack?« rief sie. »Warum warst du so erschrocken? O Jack, wenn du ein ruhiges Gewissen hättest, würdest du mich nicht so angesehen haben.«

»Ach nein, ich dachte nur an andere Dinge, und wie da auf deinen Elfenfüßen so hereingeschwebt kamst, –«

»Nein, nein, Jack, es war mehr als das.« Ein Verdacht erfaßte sie plötzlich. »Laß mich den Brief sehen, den du eben geschrieben hast.«

»Ich kann nicht, Ettie.«

Ihr Verdacht verdichtete sich zur Gewißheit.

»Es ist eine andere,« rief sie. »Jetzt weiß ich es. Warum solltest du sonst den Brief vor mir verbergen wollen? Ist es deine Frau, an die du schriebst? Wie kann ich wissen, ob du nicht verheiratet bist? Du, ein Fremder, von dem niemand etwas weiß.«

»Ich bin nicht verheiratet, Ettie, das kann ich beschwören. Du bist die einzige, die für mich existiert. Ich schwöre es auf das heilige Kreuz.«

So deutlich war der tiefe Ernst auf dem von innerer Erregung zitternden Gesicht zu lesen, daß sie nicht anders konnte, als ihm zu glauben.

»Nun denn,« sagte sie, »warum willst du mir dann den Brief nicht zeigen?«

»Ich werde es dir sagen, Geliebte,« rief er. »Ich habe geschworen, ihn niemand zu zeigen, und so wie ich dir gegenüber stets mein Wort halten werde, muß ich es auch anderen gegenüber tun. Es ist eine Sache der Loge, die selbst dir ein Geheimnis bleiben muß. Da kannst dir wohl denken, als ich deine Hand auf meiner Schulter fühlte, konnte es ebensogut die eines Detektives sein.«

Sie fühlte, daß er die Wahrheit sprach. Er schlang seinen Arm um sie und verscheuchte mit seinen Küssen ihre Furcht und Zweifel.

»Setz‘ dich zu mir her. Es ist ein sonderbarer Thron für meine Königin, aber es ist das Beste, was ein armer Liebhaber finden kann. Später werden wir vielleicht etwas Besseres finden. Bist du jetzt wieder beruhigt, Kind?«

»Ich kann niemals beruhigt sein, Jack, solange ich weiß, daß du ein Verbrecher unter Verbrechern bist; solange es möglich ist, daß du einmal auf die Anklagebank wegen Mordes kommen kannst. McMurdo, die neue Leuchte der Mörderbande, so hat dich einer unserer Pensionäre gestern genannt. Es schnitt mir in die Seele wie ein Messer.«

»Das sind Worte, nichts als Worte.«

»Aber sie sind wahr.«

»Nun, Liebste, es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Wir sind arme Leute, die sich auf ihre Weise ihr Recht zu verschaffen suchen.«

Ettie schlang ihre Arme um den Hals des Geliebten.

»Laß es sein, Jack! Um meinetwillen, laß es sein! Ich bin hierher gekommen, nur um dich darum zu bitten. Sieh mich an, Jack, ich flehe dich an auf meinen Knien, kniefällig bitte ich dich, laß es sein!«

Er richtete sie wieder auf und legte beruhigend ihren Kopf an seine Brust. »Liebste, du weißt nicht, um was du mich bittest. Wie könnte ich unsere Sache aufgeben, meinen Schwur brechen und meine Kameraden verraten. Wenn du wüßtest, wie es um mich steht, würdest du mich nicht darum bitten. Und selbst wenn ich wollte, ich könnte nicht. Glaubst du vielleicht, daß mich die Loge ziehen lassen würde mit all den Geheimnissen, die man mir anvertraut hat?«

»Ich habe schon daran gedacht, Jack, und ich habe mir einen Plan zurechtgelegt. Vater hat sich einiges erspart. Er möchte ohnedies gerne weg von diesem Ort, wo die Furcht unser ganzes Leben vergiftet. Er ist jederzeit bereit, wegzuziehen. Wir könnten nach Philadelphia oder New York fliehen, wo wir vor den Leuten hier sicher wären.«

McMurdo lachte.

»Die Macht der Loge reicht sehr weit. Bildest du dir etwa ein, daß sie schon in Philadelphia oder New York endet?«

»Nun, dann woandershin, nach dem Westen oder nach England oder nach Schweden, wo Vater herstammt. Irgendwohin, nur weg aus diesem Tal des Grauens.«

McMurdo dachte an den alten Bruder Morris.

»Das ist schon das zweite Mal, daß ich das Tal so nennen höre,« sagte er. »Die Schatten scheinen wirklich auf einigen von euch schwer zu lasten.«

»Sie verdunkeln jede Stunde unseres Lebens. Glaubst du vielleicht, daß uns Ted Baldwin schon verziehen hat? Wenn er nicht Furcht hätte vor dir, was denkst du, würde aus uns werden? Du solltest nur einmal diese düsteren, hungrigen Blicke sehen, mit denen er mich verfolgt.«

»Beim Himmel! Ich werde ihm bessere Manieren beibringen, wenn ich ihn dabei erwische. Nun also, Liebste, ich kann von hier nicht weg. Ich kann einfach nicht. Damit mußt du dich abfinden. Aber wenn du es mir überlassen willst, einen anderen Ausweg zu suchen, wodurch ich mich mit Anstand aus der Affäre ziehen kann, so verspreche ich dir, mein Bestes zu tun.«

»Für Anstand ist in dieser Sache kein Platz.«

»So denkst du. Ich habe andere Ansichten. Gib mir noch sechs Monate Zeit, und ich werde die Dinge so drehen, daß ich von hier fort kann, ohne mich schämen zu müssen, den Leuten ins Gesicht zu sehen.«

Das Mädchen schrie vor Freude auf.

»Sechs Monate?« rief sie. »Ist das ein Versprechen?«

»Vielleicht werden es sieben oder acht werden, aber längstens innerhalb eines Jahres, das verspreche ich dir, werden wir von hier fort sein.«

Dies war das äußerste Zugeständnis, das Ettie erlangen konnte. Es war enttäuschend, aber immerhin etwas Positives; ein Lichtpunkt in weiter Ferne, dem man zustreben konnte und der die Dunkelheit der unmittelbaren Zukunft erhellen würde. Als sie in das Haus ihres Vaters zurückkehrte, war ihr Herz leichter als zu irgendeiner Zeit, seit Jack McMurdo in ihr Leben trat.

McMurdo hatte angenommen, daß ihm als Mitglied von den Taten und inneren Verhältnissen der Loge nichts verborgen bleiben würde, aber er sollte bald entdecken, daß ihre Organisation umfangreicher und komplizierter war, als es den Anschein hatte. Selbst Meister McGinty blieben viele Dinge unbekannt, denn über ihm stand noch ein höherer Funktionär, der Grafschaftsdelegierte, der weiter unten in Hobsons Patch wohnte und seine Macht über eine Anzahl von Logen ausübte, und zwar in der willkürlichsten Weise von der Welt. Diesen sah McMurdo nur einmal. Es war ein schlaues, grauhaariges Männchen mit einem schlürfenden Gang und scheuen Blicken, aus denen Tücke und Bosheit sprach. Sein Name war Evan Scott. Selbst der große Meister von Vermissa fühlte anscheinend Widerwillen vor ihm und jene Furcht, die der riesenhafte Danton vor dem schwächlichen, aber gefährlichen Robespierre gefühlt haben mag. Eines Tages erhielt Scanlan, der mit McMurdo zusammen wohnte, von McGinty einen Brief, der eine Mitteilung von Evan Scott enthielt, gemäß der zwei zuverlässige Leute, Lawler und Andrews, abgesandt werden würden, um in der Gegend von Vermissa eine Arbeit zu verrichten. Die Mitteilung besagte weiter, daß es im Interesse der Sache besser sei, den Gegenstand dieser Arbeit geheimzuhalten. Würde der Logenmeister so freundlich sein, für das Unterkommen und die Bequemlichkeit der Leute Vorkehrungen zu treffen, bis die Zeit zum Handeln gekommen sei? McGinty fügte dem hinzu, daß es im Unionhaus unmöglich sei, die Anwesenheit von Fremden geheimzuhalten, und daß er sich deshalb McMurdo and Scanlan verpflichtet fühlen würde, wenn sie die beiden Abgesandten in ihr Haus aufnähmen.

Diese kamen noch am selben Abend an, jeder mit seiner Handtasche. Lawler war ein ältlicher Mann, schlau, schweigsam und selbstbewußt, gekleidet in einen alten schwarzen Gehrock, der ihm, in Verbindung mit einem weichen Filzhut und seinem schäbigen, graumelierten Bart, das Aussehen eines Wanderpredigers verlieh. Sein Gefährte, Andrews, dagegen war kaum mehr als ein Knabe, hatte ein offenes, fröhliches Gesicht und das Benehmen eines, der sich auf einer Ferienreise befindet, von der er jede Stunde auskosten will. Beide waren Vollabstinenzler und benahmen sich in jeder Hinsicht mustergültig. Nur einen dunklen Fleck gab es in ihrer Lebensführung, nämlich den, daß sie beide Mörder waren, die sich oftmals als fähige Werkzeuge ihrer verbrecherischen Genossenschaft erwiesen hatten. Lawler hatte bereits vierzehn derartige Aufträge ausgeführt und Andrews drei.

McMurdo fand sie jederzeit bereit, über ihre früheren Taten zu sprechen; sie taten es mit dem scheuen Stolz von Männern, die sich bewußt waren, einer großen Sache gute und selbstlose Dienste erwiesen zu haben. Über ihre bevorstehende Arbeit zeigten sie sich indessen völlig zugeknöpft.

»Man hat uns dazu bestimmt, weil weder ich noch der Junge hier trinken,« erklärte Lawler. »Man kann sich bei uns verlassen, daß wir unsere Zungen im Zaum halten. Nehmen Sie es uns nicht übel, aber wir haben dem Befehl des Grafschaftsdelegierten zu gehorchen.«

»Wir sind doch Brüder gleicher Kappen,« sagte Scanlan, als die vier sich zum Abendessen vereinigten.

»Das ist richtig, und Sie können von uns stundenlang über die Ermordung von Charlie Williams oder Simon Bird oder irgendeine andere unserer früheren Arbeiten hören. Bis wir jedoch unsere nächste Arbeit verrichtet haben, können wir darüber nichts sagen.«

»Es gibt hier ein halbes Dutzend, mit denen wir noch ein Wort zu reden haben werden,« sagte McMurdo mit einem Fluch. »Ist’s vielleicht Jack Knox von Iron Hill, hinter dem Sie her sind? Sollte er es sein, so würde ich stundenlang wandern, um dabei zu sein, wenn er seinen Lohn erhält.«

»Nein, er ist es nicht.«

»Oder Hermann Straus?«

»Auch dieser nicht.«

»Nun gut, Sie wollen es uns nicht sagen, und wir können Sie nicht dazu zwingen, aber ich hätte es gern gewußt.«

Lawler lächelte kopfschüttelnd. Aus ihm war nichts herauszubringen.

Trotz der Verschwiegenheit ihrer Gäste waren Scanlan und McMurdo entschlossen, bei dem, was die ersteren »Spaß« nannten, dabei zu sein. Als daher zu einer frühen Morgenstunde McMurdo die beiden Fremden die Treppen hinunterschleichen hörte, weckte er Scanlan, und sie schlüpften eiligst in ihre Kleider. Als sie angekleidet waren, fanden sie, daß ihre Gäste das Haus bereits verlassen hatten, ohne die Tür hinter sich zu schließen. Die Dämmerung war noch nicht angebrochen, aber im Lichte der Straßenlampen konnten sie in einiger Entfernung noch die beiden Männer sehen. Vorsichtig und behutsam folgten sie ihnen durch den tiefen Schnee.

Ihr Haus lag am Rande der Stadt, und bald war daher die Wegkreuzung jenseits der Stadtgrenze erreicht. Dort warteten drei Männer, mit denen Lawler und Andrews eine kurze und eifrige Unterredung hatten, bevor sie gemeinsam ihren Weg fortsetzten. Aus der Anzahl der Beteiligten schloß McMurdo, daß es sich um eine größere Arbeit handle. Von der Wegkreuzung zweigten verschiedene Wege nach einer Anzahl von Bergwerken ab. Die Fremden schlugen den in der Richtung auf Crow Hill ein, einem großen Werk, in dem der tüchtige, energische und furchtlose Betriebsleiter Josia H. Dunn, der aus Neuengland gekommen war, während der ganzen, langen Jahre der Herrschaft des Schreckens Ordnung und Disziplin aufrechterhalten hatte. Die Nacht wich allmählich der Dämmerung, und man sah bereits eine Kette von Arbeitern, die einzeln oder in Gruppen, das rußgeschwärzte Tal entlang, langsam ihren Arbeitsstätten zustrebten. McMurdo und Scanlan schlenderten mit diesen dahin, indem sie die vor ihnen gehenden Fremden sorgsam im Auge behielten. Die Landschaft war in dichten Nebel gehüllt. Plötzlich ertönte das Gekreische einer Dampfpfeife. Es war das Zehnminutensignal vor dem Beginn der Einfahrt.

Als sie den offenen Raum um den Schacht erreichten, fanden sie dort etwa hundert Bergleute wartend, die sich durch Herumstapfen und das Anhauchen ihrer Hände vor der bitteren Kälte zu schützen suchten. Die Fremden standen, zu einer kleinen Gruppe vereint, unter dem Dach des Maschinenhauses. Scanlan und McMurdo erklommen einen Schlackenhaufen, von dem aus sie das ganze Bild vor sich überblicken konnten. Sie sahen den Bergingenieur, einen großen, bärtigen Schotten, namens Menzies, aus dem Maschinenhaus treten und das Zeichen zum Herablassen der Förderkörbe geben. In diesem Moment näherte sich ein hochgewachsener, gelenkiger junger Mann mit glattrasiertem, ernstem Gesicht dem Schachtturm. Die Fremden hatten ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen und ihre Rockkragen aufgeklappt. Einen Augenblick lang schien das Vorgefühl des Todes das Herz des Betriebsleiters mit eisiger Hand zu berühren. Im nächsten Moment hatte er es abgeschüttelt und sah nur noch seine Pflicht gegenüber den unbefugten Fremden.

»Wer seid ihr?« rief er, als er auf sie zuging. »Was lungert ihr hier herum?«

Es erfolgte keine Antwort, aber der junge Andrews schritt auf ihn zu und schoß ihm in den Leib. Die hundert wartenden Berglaute verharrten regungslos und hilflos, wie vor Schreck gelähmt. Der Betriebsleiter bedeckte seine Wunde mit den Händen und knickte in sich zusammen. Als er davonwankte, ertönte ein zweiter Schuß, und er sank mit zuckenden Gliedern seitwärts in einen Haufen Schlacke. Der Schotte Menzies brüllte bei diesem Anblick vor Wut auf und stürmte mit einem schweren Schraubenschlüssel in der Hand auf die Mörder zu, bekam jedoch zwei Schüsse in den Kopf, die ihn zu Füßen der Angreifer tot niederstreckten. Die Menge der Bergleute drängte sich nach vorn, und man hörte laute Ausrufe des Zornes und Mitgefühls. Die Fremden schossen ihre Revolver über die Köpfe der Menge hinweg ab, so daß diese sich zerstreute und in wilder Flucht den Weg nach Vermissa zurück suchte. Als einige der tapfersten sich nach einer Weile wieder sammelten und zum Bergwerk zurückkehrten, war die Mörderbande im Morgennebel verschwunden; und es gab auch nicht einen einzigen Zeugen, der sich mit Bestimmtheit über das Aussehen der Teilnehmer an dem vor hundert Zuschauern verübten Doppelmord hätte äußern können.

Scanlan und McMurdo gingen langsam nach Hause zurück, der erstere in stark gedrückter Stimmung. Es war die erste Mordtat, die er mit eigenen Augen gesehen hatte, und die Sache war ihm nicht so spaßig erschienen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Das entsetzliche Jammergeschrei der Frau des toten Betriebsleiters verfolgte sie auf ihrem Weg zur Stadt. McMurdo war in sich gekehrt und schweigsam, zeigte aber kein Mitgefühl mit der Schwäche seines Gefährten.

»Es ist eben Krieg,« sagte er, sich mehrmals wiederholend, »Krieg zwischen uns und den anderen. Wir müssen uns wehren, so gut wir können.«

Am selben Abend gab es im Versammlungsraum der Loge im Unionhaus eine fröhliche Feier, nicht allein aus Anlaß der Tötung des Betriebsleiters und Ingenieurs der Crow-Hill-Zeche, wodurch diese in die gleiche Lage mit den anderen eingeschüchterten, der Erpressung zugänglichen Gesellschaften der Gegend gebracht worden war, sondern auch wegen eines weiteren Triumphes, der auf das Konto der Vermissaloge selbst kam. Es stellte sich heraus, daß der Grafschaftsdelegierte, als er fünf zuverlässige Leute nach Vermissa sandte, um dort einen Schlag auszuführen, verlangt hatte, daß in Erwiderung des Dienstes drei Leute aus Vermissa dazu bestimmt werden sollten, die Ermordung von William Hales vorzunehmen, eines der bestbekannten und beliebtesten Bergwerksbesitzer im Gilmertonbecken, eines Mannes, von dem man annahm, daß er in der ganzen Welt keinen Feind besaß, weil er in jeder Beziehung das Muster eines Arbeitgebers war. Er hatte indessen stets auf Leistung gesehen und darum einige trunkene und lässige Angestellte, Mitglieder der allmächtigen Loge, entlassen. Todesdrohungen, die man an seine Tür heftete, hatten diesen Entschluß nicht rückgängig machen können, und so fand er sich in einem freien, zivilisierten Land zum Tode verurteilt.

Das Todesurteil war den Anweisungen entsprechend vollstreckt worden. Ted Baldwin, der sich auf dem Ehrensitz neben dem Logenmeister breitmachte, war der Leiter der Expedition gewesen. Sein gerötetes Gesicht und seine glasigen, blutunterlaufenen Augen sprachen von schlaflosen Nächten und reichlichem Alkoholgenuß. Er und seine beiden Gefährten hatten die vorangegangene Nacht in den Bergen zugebracht. Sie waren ungewaschen und von dem langen Aufenthalt im Freien arg mitgenommen. Aber selbst wahren Helden, die von einer großen Tat zurückkehren, wäre kein wärmerer Willkomm geboten worden, als Ted Baldwin und seinen Helfershelfern von ihren Kameraden. Immer wieder mußten sie den Hergang der Tat erzählen, begleitet von vergnügten Zurufen und schallendem Gelächter. Sie hatten ihrem Mann, als er abends nach Hause fuhr, am Gipfel eines steilen Hügels, wo sein Pferd im Schritt gehen mußte, aufgelauert. Er war so in Pelze eingehüllt gewesen, daß er an seine Pistole nicht heran konnte. Sie hatten ihn aus dem Wagen gezogen und mit einem wahren Schnellfeuer ihrer Revolver niedergestreckt. Keiner von ihnen hatte den Mann gekannt, aber sie gehörten zu den Menschen, für die das Morden an sich Reiz hat. Man hatte den Rächern in Gilmerton gezeigt, daß man sich auf die Leute aus Vermissa verlassen könne. Nur einen dunklen Punkt gab es bei der Ausführung ihrer Tat. Während die Männer noch dabei waren, den regungslosen Körper mit ihren Kugeln zu durchsieben, hatte sich ein Wagen, besetzt mit einem Mann und einer Frau genähert. Einer oder der andere der Bande hatte vorgeschlagen, die beiden niederzuschießen, aber da sie harmlose Leute waren, die in keiner Verbindung mit den Bergwerken standen, hatte man sich damit begnügt, ihnen barsch zu befehlen, weiterzufahren und Schweigen zu bewahren, sofern sie nicht wünschten, in gleicher Weise behandelt zu werden. Die blutbefleckte Leiche ließ man als Warnung für alle anderen hartherzigen Arbeitgeber auf dem Wege liegen. Die drei edlen Rächer begaben sich eiligst in die Wälder, die fast bis an den Rand der Ofenanlagen und Schlackenhaufen heranreichten.

Es war ein großer Tag für die Rächer. Die Todesschatten hatten sich noch tiefer auf das Tal gesenkt, aber wie der kluge Heerführer im Augenblick des Sieges seinen Angriff verschärft, um den Feinden keine Zeit zum Sammeln zu geben, so hatte Meister McGinty, als er das Feld seiner Tätigkeit überblickte, einen neuen Angriff auf seinen Gegner geplant. Noch in derselben Nacht, während die halbtrunkene Gesellschaft aufbrach, berührte er McMurdos Arm und führte ihn in den Innenraum, wo sie ihre erste Unterredung gehabt hatten.

»Mein lieber Junge,« sagte er, »endlich habe ich für Sie eine Aufgabe, die Ihrer würdig ist. Ich lege sie ganz in Ihre Hände.«

»Sie machen mich stolz,« antwortete McMurdo.

»Sie nehmen zwei Leute mit, Manders und Reilly; die beiden sind bereits für die nächste Aufgabe vorgemerkt. Sie wissen, daß Chester Wilcox bereits seit längerem auf unserer schwarzen Liste steht, und daß die erste Vollstreckung gegen ihn fehlschlug. Wir können es natürlich nicht dabei bewenden lassen, und Sie werden den Dank jeder Loge im Kohlengebiet ernten, wenn Sie ihn niedermachen.«

»Ich will jedenfalls mein Bestes tun. Wo ist er, wo soll ich ihn aufsuchen?«

McGinty nahm seine ständige, halbgekaute und halbgerauchte Zigarre aus dem Mundwinkel und warf eine rohe Skizze auf ein Blatt Papier, das er aus seinem Notizbuch riß.

»Er ist der Obermeister der Iron-Dyke-Gesellschaft, ein schwieriger Kunde. Im Krieg ist er Feldwebel gewesen. Ein narbiger Brummbär. Wir haben es schon zweimal mit ihm versucht, hatten aber kein Glück, und Jimy Carnaway hat beim letztenmal sein Leben eingebüßt. Ich übergebe Ihnen nun die Sache. Das Haus steht ganz für sich an der Iron-Dyke-Wegkreuzung, wie diese Skizze zeigt. Es ist vollständig außer Hörweite der nächsten Ansiedlungen. Bei Tag ist die Sache nicht zu machen, denn er ist stets bewaffnet. Er ist ein guter Schütze und knallt los, ohne erst viel zu fragen. Aber des Nachts kann man ihm beikommen. Er wohnt mit seiner Frau, seinen drei Kindern und einer Dienstperson dort. Die Sache ist aber die, daß Sie ihn nicht allein kriegen können. In dem Fall heißt es alle oder keinen. Wenn es Ihnen gelingt, einen Sack Sprengpulver an die Tür zu legen, mit einer Sprengschnur daran –«

»Was hat der Mann getan?«

»Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß er Jim Carnaway niedergeschossen hat?«

»Und warum hat er das getan?«

»Was zum Teufel, geht das Sie an? Carnaway kam eines Nachts an sein Haus heran, und er hat ihn niedergeschossen. Das genügt mir und muß auch Ihnen genügen. Sie müssen die Sache ins reine bringen.«

»Aber diese zwei Frauen und die Kinder, müssen die auch in die Luft fliegen?«

»Es bleibt uns nichts anderes übrig, denn wir können ihm allein nicht beikommen.«

»Ist das nicht etwas hart gegen die Weibsleute und die Kinder? Sie haben doch eigentlich nichts getan?«

»Was sind das für Redereien? Wollen Sie sich vielleicht von der Sache drücken?«

»Ruhig Blut, Meister,« sagte er. »Was habe ich jemals gesagt oder getan, das Ihnen ein Recht gibt, zu glauben, daß ich mich den Befehlen des Logenmeisters und der Loge entziehen will? Ob es recht ist oder nicht, haben allein Sie zu beurteilen.«

»Sie wollen es also tun?«

»Selbstverständlich.«

»Und wann?«

»Nun, Sie müssen mir ein oder zwei Nächte Zeit lassen, um das Gelände auszukundschaften und meine Pläne zu schmieden, dann –«

»Schön,« sagte McGinty, indem er ihm die Hand schüttelte. »Ich überlasse das Ihnen. Es wird ein großer Tag sein, wenn Sie uns Ihren Bericht erstatten. Eine Tat wie diese wird Ihre Kameraden vor Ihnen auf die Knie bringen.«

McMurdo versank in ein langes und tiefes Nachdenken über den Auftrag, der so plötzlich in seine Hand gelegt worden war. Das einsame Haus, in dem Chester Wilcox wohnte, lag etwa fünf Meilen entfernt in einem angrenzenden Tal. Er machte sich noch in derselben Nacht auf, um den Anschlag vorzubereiten. Der Tag war schon angebrochen, als er von seiner Erkundungsreise zurückkehrte. Am folgenden Tag hatte er eine Besprechung mit seinen beiden Untergebenen, Manders und Reilly, zwei verwegenen jungen Leuten, die sich über die Sache freuten, als ob es sich um ein Jagdvergnügen handelte. In der zweitfolgenden Nacht trafen sich die drei außerhalb der Stadt. Alle waren bewaffnet, und einer von ihnen trug einen Sack mit Sprengpulver von der Art des in den Steinbrüchen verwendeten. Es war zwei Uhr morgens geworden, als sie bei dem einsamen Haus anlangten. Die Nacht war windig, und dünne Wolken stoben in schneller Fahrt über die Scheibe des Dreiviertelmondes. Man hatte sie ermahnt, vor Bluthunden auf der Hut zu sein, und sie bewegten sich daher vorsichtig vorwärts, die gespannten Revolver in den Händen. Aber kein Laut war hörbar, außer dem Heulen des Windes, und keine Bewegung zu sehen, außer dem Schwanken der Zweige über ihnen. McMurdo horchte an der Tür des einsamen Hauses, in dessen Innern tiefe Stille herrschte. Dann lehnte er den Pulversack an die Tür, und schnitt mit seinem Messer ein Loch hinein, in das er die Zündschnur einführte. Nachdem diese zum Glimmen gebracht war, machten sich alle drei eiligst davon und waren bereits eine geraume Strecke von dem Haus entfernt, sicher und bequem in einem schützenden Graben verborgen, als das donnernde Getöse der Explosion erfolgte. Das dumpfe Krachen des einstürzenden Gebäudes sagte ihnen, daß ihr Werk vollbracht sei. Keine glattere Arbeit war jemals vorher in den blutgetränkten Annalen des Rächerbundes verzeichnet worden. Aber das so gut angelegte und kühn ausgeführte Werk sollte vergebens gewesen sein. Gewarnt durch das Schicksal der letzten Opfer und wohl wissend, daß sein Untergang beschlossene Sache war, hatte Chester Wilcox am Vortage seine Familie und seine Habseligkeiten an einen sicheren und weniger gut bekannten Ort gebracht, wo sie sich unter Polizeischutz stellten. Es war ein leeres Gebäude, das durch die Explosion niedergerissen wurde, und der grimmige alte Kriegsveteran konnte auch weiterhin den Bergleuten in Iron Dyke Disziplin beibringen.

»Überlaßt ihn mir,« sagte McMurdo, »der Mann gehört mir, und ich werde ihn kriegen, und wenn ich ein ganzes Jahr darauf warten müßte.«

Die Logenversammlung votierte ihm ihren Dank und den Ausdruck ihres Vertrauens, womit die Sache vorläufig erledigt war. Als man einige Wochen später in den Zeitungen las, daß man auf Wilcox aus einem Hinterhalt geschossen hatte, war es ein offenes Geheimnis, daß es McMurdo war, der sich bemühte, seine unfertige Aufgabe zum Abschluß zu bringen.

Derartig waren die Methoden der Gesellschaft der freien Männer und derartig die Taten der Rächer, mit denen sie ihre Herrschaft des Schreckens über einen großen und reichen Distrikt aufrechterhielten. Warum sollen diese Zeilen noch durch weitere Verbrechen befleckt werden? Habe ich nicht schon genug über diese Leute und ihr Vorgehen gesagt? Ihre Taten sind bereits Geschichte geworden, und es gibt Aufzeichnungen, die sie ausführlich wiedergeben. Aus diesen erfährt man von der Ermordung der beiden Polizeileute Hunt und Evans, die es gewagt hatten, zwei Mitglieder des Bundes zu verhaften; eine doppelte Schandtat, die von der Vermissaloge geplant und kaltblütig an zwei hilflosen und unbewaffneten Männern ausgeführt wurde. Darin kann man auch die Tötung der Frau Larby nachlesen, die niedergeschossen wurde, während sie ihren Mann pflegte, den man auf Befehl Meister McGintys fast zu Tode geprügelt hatte; ferner die Ermordung des älteren Jenkins, der bald darauf die seines Bruders folgte; die Verstümmelung von James Murdoch; die Vernichtung der Familie Staphouse durch Sprengmittel; die Ermordung der Familie Stendal und andere Untaten, die in jenem schrecklichen Winter in kurzer Folge verübt wurden. Der Frühling war wiedergekommen, die Bäche plätscherten, und die Bäume grünten. Die Natur, solange vom Winter in eisiger Umklammerung gehalten, war wieder erwacht. Aber in den Herzen der Männer und Frauen, die im Vermissatal unter dem Joch des Schreckens leben mußten, war keine Hoffnung eingezogen. Niemals zuvor hingen die Wolken über ihnen so düster, und noch niemals war ihre Lage so hoffnungslos wie im Frühsommer des Jahres 18…

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6. Kapitel. Gefahr.

6. Kapitel. Gefahr.

Die Herrschaft des Schreckens war auf ihrem Höhepunkt angelangt. McMurdo, der bereits zum Dekan der Loge ernannt worden war und alle Aussicht hatte, eines Tages McGinty als Logenmeister abzulösen, hatte sich im Rate seiner Kameraden so unentbehrlich gemacht, daß nichts mehr ohne seine Hilfe und seinen Rat geschah. Je beliebter er indessen bei den Freimännern wurde, desto finsterer wurden die Blicke, die ihn in den Straßen von Vermissa trafen. Im Angesicht der Schreckensherrschaft, die immer drückender geworden war, faßten sich die Bürger der Stadt ein Herz und schlossen sich gegen ihre Bedrücker eng zusammen. Berichte über geheime Versammlungen in den Geschäftsräumen des »Herald« und über die Verteilung von Feuerwaffen an die gesetzesfürchtigen Bürger waren in die Loge gedrungen. Aber McGinty und seine Leute ließen sich dadurch nicht beirren. Sie waren zahlreich, entschlossen und gut bewaffnet. Ihre Gegner waren unorganisiert und daher machtlos. Es würde alles in zwecklosen Redereien endigen, wie schon einige Male früher. Vielleicht auch würden einige wirkungslose Verhaftungen erfolgen. So sagten McGinty, McMurdo und all die anderen führenden Köpfe des Bundes.

Es war eines Sonnabendabends im Mai – an welchem Tage sich die Loge regelmäßig versammelte – McMurdo kam eben aus seinem Haus heraus, um sich zur Loge zu begeben, als Morris, der zaghafteste unter den Mitgliedern, auf ihn zutrat. Auf seiner Stirne lagen Sorgenfalten, und sein gutmütiges Gesicht war abgehärmt und verstört.

»Kann ich mit Ihnen offen sprechen, McMurdo?«

»Selbstverständlich.«

»Ich kann es nicht vergessen, daß ich Ihnen schon einmal mein Herz ausschütten durfte und daß Sie, was ich Ihnen sagte, für sich behielten, obwohl der Meister selbst zu Ihnen gekommen ist, um Sie auszufragen.«

»Was hätte ich sonst tun können? Was Sie mir sagten, geschah im strengsten Vertrauen; allerdings habe ich Ihre Meinung nicht geteilt.«

»Das weiß ich sehr wohl, aber Sie sind der einzige, zu dem ich mit Sicherheit offen sprechen kann. Ich habe hier ein Geheimnis,« – er legte die Hand auf seine Brust – »das mir auf der Seele brennt. Ich wünschte, es wäre irgend jemand anderem zugetragen worden. Wenn ich es preisgebe, so geschieht ein Mord, das ist mir klar. Wenn nicht, kann es unser aller Ende bedeuten; Gott sei mir gnädig, aber ich bin am Ende meiner Kräfte.«

McMurdos scharfe Augen unterzogen den Mann einer eingehenden Musterung. Morris zitterte an allen Gliedern. Die Beiden traten in das Haus zurück, wo McMurdo seinem Gefährten ein Glas Whisky einschenkte.

»Das ist die richtige Medizin für Leute wie Sie,« sagte er. »Nun, lassen Sie mich hören, was Sie auf dem Herzen haben.«

Morris leerte das Glas, worauf etwas Farbe in seine Wangen zurückkehrte.

»Was ich zu sagen habe, kann ich in einen Satz fassen,« sagte er. »Ein Detektiv ist auf unserer Fährte.«

McMurdo starrte den Mann verblüfft an.

»Mensch,« sagte er, »Sie sind verrückt. Ist nicht die Stadt hier voll von Polizeidetektiven, und ist uns jemals etwas geschehen?«

»Nein, nein, McMurdo, es ist kein hiesiger. Die kennen wir, und von denen haben wir nichts zu fürchten. Aber haben Sie jemals von den Pinkertons gehört?«

»Ich habe von Leuten dieses Namens gelesen.«

»Nun, Sie können mir glauben, wenn die Pinkerton-Agentur auf unserer Spur ist, wird es uns schlecht ergehen. Das ist keine Regierungseinrichtung wie die Staatspolizei, der es gleichgültig ist, ob sie einen erwischt oder nicht. Es ist ein todernstes Geschäft, das nach Erfolgen bezahlt wird, und das sich in eine Sache verbeißt, bis die Erfolge da sind, koste es, was es wolle. Wenn ein Pinkertonmann hinter uns her ist, sind wir alle erledigt.«

»Wir müssen ihn um die Ecke bringen.«

»Das war auch mein erster Gedanke, und die Loge wird genau dasselbe denken. Habe ich Ihnen nicht schon gesagt, daß es auf einen Mord hinausläuft?«

»Und wenn schon! Ein Mord weniger oder mehr in dieser Gegend will nichts bedeuten.«

»So ist es, nur ich kann es nicht über mich bringen, unsere Leute auf den Mann zu hetzen, der ermordet werden soll. Ich könnte niemals wieder ruhig schlafen. Wird uns jedoch allen an den Kragen gehen. Um Himmels willen, was soll ich tun?«

Er krümmte sich förmlich in der Qual seiner Unentschlossenheit.

Seine Worte hatten auf McMurdo einen tiefen Eindruck gemacht. Es war leicht zu erkennen, daß er die Meinung des anderen über das Bestehen einer ernsten Gefahr teilte und die Notwendigkeit einsah, ihr beizeiten entgegenzuwirken. Er ergriff Morris bei der Schulter und schüttelte ihn.

»Mann,« rief er mit einer vor Aufregung fast kreischenden Stimme »damit ist uns nicht geholfen, daß Sie hier sitzen und jammern, wie ein altes Weib beim Leichenbegängnis. Heraus mit dem, was Sie wissen. Wer ist der Kerl und wo ist er? Wie haben Sie davon gehört, und warum kommen Sie gerade zu mir?«

»Ich kam zu Ihnen als dem einzigen Menschen, der mir einen Rat geben kann. Ich sagte Ihnen schon, daß ich in den Oststaaten einen Laden hatte, bevor ich hierherkam. Ich habe dort noch gute Freunde und einer davon ist im Telegraphendienst. Gestern erhielt ich von ihm einen Brief. Lesen Sie ihn selbst, hier dieser Teil ist es, auf der oberen Seitenhälfte.«

McMurdo las das Folgende:

» … Wie geht’s den Rächern? Wir lesen viel darüber in den Zeitungen. Ich erwarte, von Ihnen baldigst darüber zu hören. Fünf große Bergwerksgesellschaften und zwei Eisenbahnen haben die Sache in allem Ernst in die Hand genommen. Sie sind entschlossen, den Rächern den Garaus zu machen, und Sie können sich darauf verlassen, daß es ihnen gelingen wird. Die Sache ist schon weit gediehen. Pinkertons sind mit den Nachforschungen betraut, und der Beste ihrer Leute, Birdy Edwards, arbeitet in der dortigen Gegend. Sie wollen ein für allemal Schluß machen mit der Mörderbande.«

»Und jetzt lesen Sie die Nachschrift.«

»… Was ich Ihnen mitgeteilt habe, ist Amtsgeheimnis und bleibt daher selbstverständlich unter uns. Tagtäglich gehen meterlange Streifen in Chiffreschrift aus Ihrer Gegend durch meine Hände, aber ich weiß nicht, was ich daraus machen soll.«

McMurdo saß eine Zeitlang schweigend da, mit dem Brief in seinen ruhelosen Händen. Der Dunstkreis um ihn hatte sich verzogen, und der Abgrund lag klar erkennbar vor ihm.

»Weiß sonst noch jemand etwas davon?« fragte er.

»Ich habe noch kein Sterbenswörtchen verlauten lassen.«

»Und hat dieser Mensch, Ihr Freund, hier noch andere Bekannte, denen er möglicherweise dasselbe schreiben würde?«

»Ich glaube noch ein paar.«

»Auch solche aus der Loge?«

»Sehr leicht möglich.«

»Ich frage Sie danach, weil er vielleicht irgend jemandem eine Beschreibung dieses Menschen Birdy Edwards gegeben haben könnte. Dann wären wir in der Lage, dem Mann auf die Spur zu kommen.«

»Kann sein, aber wahrscheinlich kennt er ihn gar nicht. Er hat mir nur mitgeteilt, was ihm im Amt bekanntgeworden ist. Woher sollte er den Pinkertonmann kennen?«

McMurdo fuhr plötzlich auf.

»Bei Gott!« rief er. »Ich weiß, wer es ist. Wie töricht von mir, nicht sogleich daran zu denken. Gott sei’s gedankt! Das ist unser Glück. Wir können ihn unter die Finger kriegen, bevor er Unheil stiften kann. Sagen Sie, Morris, wollen Sie mir die Sache überlassen?«

»Selbstverständlich. Ich bin nur zu froh, wenn ich damit nichts zu tun habe.«

»Nun gut, Sie können zusehen, während ich handle. Nicht einmal Ihr Name braucht genannt zu werden. Ich werde so tun, als ob ich selbst den Brief bekommen hätte. Sind Sie damit einverstanden?«

»Ich könnte mir nichts Besseres wünschen.«

»Gut, dann bleiben wir dabei, und Sie halten Ihren Mund fest verschlossen. Ich gehe jetzt zur Loge hinunter und wir werden bald den alten Pinkertonmann so weit haben, daß es ihm leid tun wird, hierhergekommen zu sein.«

»Sie wollen ihn doch nicht umbringen?«

»Je weniger Sie wissen, Freund Morris, desto leichter wird Ihr Gewissen sein, und desto besser werden Sie schlafen. Fragen Sie nicht, und lassen Sie mich die Sache machen. Sie liegt jetzt in meinen Händen.«

Morris schüttelte wehmütig des Kopf, als er sich empfahl.

»Ich werde mir immer einbilden, daß sein Blut an meinen Händen klebt,« stöhnte er.

»Selbstschutz ist kein Mord,« sagte McMurdo mit einem grimmigen Lächeln. »Hier heißt es: entweder er oder wir. Der Mann würde uns alle vernichten, wenn wir ihn noch länger hier dulden. Ich glaube, wir müssen Sie noch zum Logenmeister machen, Bruder Morris, denn Sie haben die Loge gerettet.«

Aus dem, was er nun tat, ging klar hervor, daß er die Sache für ernster hielt, als seine Worte es wahrhaben wollten. Vielleicht war es sein schuldbeladenes Gewissen, vielleicht auch der Ruf des Pinkerton-Institutes oder das Bewußtsein, daß große, mächtige Gesellschaften sich die Aufgabe gestellt hatten, mit den Rächern aufzuräumen; wie dem auch war, seine Handlungen waren die eines Mannes, der sich auf das Schlimmste vorbereitet. Bevor er das Haus verließ, vernichtete er jeden Fetzen Papier, der ihm gefährlich werden konnte. Danach seufzte er erleichtert auf, denn er bildete sich ein, nunmehr sicher zu sein. Und doch mußte das Bewußtsein der Gefahr noch auf ihm lasten, denn auf dem Wege zur Loge blieb er bei dem Shafterschen Hause stehen. Der Eintritt war ihm zwar verwehrt, aber als er an das Fenster klopfte, kam Ettie heraus. Der Glanz verwegener Kühnheit war aus seinen Augen gewichen. Sie las die Zeichen drohender Gefahr in seinem ernsten Gesicht.

»Was ist geschehen?« rief sie. »Jack, es droht dir Gefahr?«

»So schlimm ist es nicht, Liebste, und doch ist es vielleicht klüger, wenn wir uns davonmachen, bevor es schlimmer wird.«

»Uns davonmachen?«

»Ich versprach dir einst, daß dies eines Tages geschehen würde. Dieser Tag ist nahe. Ich erhielt heute Nachrichten, schlechte Nachrichten, und sehe Unheil herannahen.«

»Die Polizei?«

»Nicht ganz. Ein Pinkerton-Detektiv. Aber du weißt selbstverständlich nicht, was das ist, noch was es für meinesgleichen bedeutet. Ich habe mich in diese Geschichte zu tief eingelassen, und es mag sein, daß ich in höchster Eile das Weite suchen muß. Du versprichst mitzukommen, wenn ich gehe?«

»Gewiß, Jack, es wäre deine Rettung.«

»In manchen Dingen bin ich ein ehrlicher Mensch, Ettie; ich könnte zum Beispiel nicht um die Welt ein Haar deines süßen Kopfes krümmen, oder dich auch nur um Zollbreite von dem goldenen Thron über den Wolken, auf dem ich dich immer sehe, herabziehen. Kannst du mir vertrauen?«

Sie legte, ohne ein Wort zu sprechen, ihre Hand in die seine.

»Nun gut, höre mir aufmerksam zu und tue genau das, was ich dir sage, denn es ist für uns die einzige Rettung. Es bereitet sich hier etwas vor, das fühle ich in allen Gliedern. Gar mancher von uns wird sehen müssen, wo er bleibt. Ich bin einer von ihnen. Wenn ich gehen muß, ob bei Tag oder bei Nacht, mußt du mitkommen.«

»Ich kann dir nachkommen, Jack.«

»Nein, nein, du mußt gleich mitkommen. Dieses Tal wird mir wahrscheinlich bald auf immer verschlossen sein; ich werde nicht mehr zurückkommen können. Wie könnte ich dich hierlassen, während ich mich vielleicht vor der Polizei verbergen muß und keine Möglichkeit habe, dir eine Nachricht zukommen zu lassen? Du mußt mitkommen. Dort wo ich zu Hause bin, ist eine gute Frau, bei der du bleiben kannst, bis wir heiraten können. Willst du?

»Ja, Jack, ich will.«

»Gott segne dich dafür. Liebste. Ich müßte ein Teufel aus der schwärzesten Hölle sein, wenn ich dein Vertrauen je mißbrauchte. Nun paß auf, Ettie, ich kann dir vielleicht nur ein Wort zukommen lassen. Aber wenn es dich erreicht, mußt du alles stehen und liegen lassen, sofort in den Wartesaal des Bahnhofes gehen und dort bleiben, bis ich komme.«

»Ich werde kommen, Jack, bei Tag oder Nacht.«

Mit leichterem Herzen setzte McMurdo seinen Weg zur Loge fort. Die Vorbereitungen zu seiner Flucht waren nahezu getroffen. Nachdem er die verschiedenen Wachtposten durch Abgabe der vereinbarten Erkennungszeichen befriedigt hatte, trat er in den Versammlungsraum ein. Die Loge war bereits versammelt. Freundliche Willkommrufe begrüßten seinen Eintritt. Der lange Raum war überfüllt. Durch den blauen Tabakdunst gewahrte er die schwarze Mähne des Logenmeisters, das grausame, mißmutige Gesicht Baldwins, das Geiergesicht Harraways, des Sekretärs, und ein Dutzend andere Führer der Loge. Es freute ihn, daß sie alle da waren, um seine Nachrichten zu hören.

»Es freut uns, Sie zu sehen, Bruder,« rief der Vorsitzende. »Wir haben eine Sache hier, für die wir ein salomonisches Urteil brauchen.«

»Es ist die Geschichte mit Lander und Egan,« erklärte ihm sein Nachbar, als er Platz nahm. »Beide beanspruchen das Kopfgeld, das die Loge für das Erschießen des alten Crabbe drüben in Stylestown ausgesetzt hat, aber wer soll entscheiden, wessen Kugel traf?«

McMurdo stand auf und hob die Hand. Der Ausdruck seines Gesichtes zog die Aufmerksamkeit der ganzen Versammlung auf sich. Ein erwartungsvolles Schweigen folgte.

»Verehrungswürdiger Meister, Freunde und Brüder,« sagte er. »Ich bin heute der Überbringer schlimmer Nachrichten, aber es ist besser, daß sie bekannt und besprochen werden, als daß ein Schlag, der uns alle vernichten kann, uns unvorbereitet trifft. Ich habe die böse Nachricht erhalten, daß sich die mächtigsten und reichsten Unternehmungen dieses Staates zu unserer Vernichtung vereinigt haben und daß in diesem Augenblick ein Pinkerton-Detektiv, und zwar ein gewisser Birdy Edwards, sich in unserer Gegend aufhält, damit beschäftigt, Beweismaterial zu sammeln, um vielen von uns eine Schlinge um den Hals zu legen und jeden Mann in diesem Raum in die Verbrecherzelle zu bringen. Das ist die Lage, die ich zur Besprechung bringen will und für die ich Dringlichkeit verlange.«

Totenstille herrschte im ganzen Raum, bis sie von dem Vorsitzenden gebrochen wurde.

»Welche Beweise haben Sie dafür, Bruder McMurdo?« fragte er.

»Der Beweis ist in diesem Brief enthalten, der in meine Hände gelangte,« sagte McMurdo. Er las die Stelle laut vor. »Es ist für mich eine Ehrensache, daß ich über den Brief nichts weiter sage und ihn euren Händen vorenthalte, aber ich versichere euch, daß sonst nichts darin steht, was die Interessen der Loge betrifft. Ich lege euch die Sache genau so vor, wie sie mir zugekommen ist.«

»Ich möchte bemerken, Herr Vorsitzender,« sagte einer der älteren Brüder, »daß ich von Birdy Edwards schon gehört habe, und daß er als der fähigste Mann im Dienste der Pinkertons gilt.«

»Kennt ihn einer von euch vom Sehen?« fragte McGinty.

»Jawohl,« sagte McMurdo, »ich kenne ihn.«

Ein Murmeln der Verblüffung ging durch den Raum.

»Ich glaube, wir haben ihn in unserer Gewalt,« fuhr er mit einem frohlockenden Lächeln in seinem Gesicht fort. »Sofern wir schnell und klug vorgehen, können wir die Gefahr beseitigen. Wenn Ihr mir Vertrauen schenken und volle Unterstützung zuteil werden laßt, haben wir kaum etwas zu fürchten.«

»Haben wir denn überhaupt etwas zu fürchten? Was kann er denn von unseren Angelegenheiten wissen?«

»So könnten Sie vielleicht reden, Rat McGinty, wenn alle so verschwiegen und treu wären wie Sie. Aber dieser Mann hat Millionen von Kapitalistengeld hinter sich. Glauben Sie etwa, daß sich in allen Logen nicht ein Bruder finden wird, der für dieses Geld den Verräter spielt? Er kommt hinter unsere Geheimnisse – vielleicht hat er sie schon – und es gibt nur eine mögliche Lösung –«

»Er darf niemals unser Tal verlassen,« sagte Baldwin.

»Ganz meine Meinung, Bruder Baldwin,« sagte er. »Sie und ich waren manchmal uneinig, aber heute befinden wir uns in voller Übereinstimmung.«

»Wo ist er, und wie sollen wir ihn erkennen?«

»Verehrungswürdiger Meister,« sagte McMurdo in ernstem Ton. »Ich möchte Ihnen zu bedenken geben, daß die Sache für uns zu wichtig ist, um in offener Sitzung besprochen zu werden. Ich möchte um alles in der Welt auf niemanden hier nur den Schatten eines Zweifels werfen, aber wenn selbst nur ein Wort dem Mann zu Ohren kommt, wäre jede Aussicht, seiner habhaft zu werden, für uns verloren. Ich beantrage, daß die Loge einen vertrauenswürdigen Ausschuß wählt, den Vorsitzenden und, wenn ich mir einen Vorschlag gestatten darf, Bruder Baldwin und fünf andere. Dann kann ich frei und offen über das, was ich weiß, sprechen und vorbringen, was nach meiner Ansicht zu tun ist.«

Der Antrag wurde angenommen und der Ausschuß gewählt. Außer dem Vorsitzenden und Baldwin gehörten ihm an: Harraway, der Sekretär mit dem Geiergesicht, der rohe junge Meuchelmörder Tiger Cormac, der Schatzmeister Carter und die beiden Brüder Willaby, zwei furcht- und rücksichtslose junge Leute, die keinerlei Bedenken kannten.

Die gewöhnliche Zecherei in der Loge war an jenem Abend kurz und gedämpft, denn eine Wolke hing über der Versammlung, und viele sahen zum erstenmal den Schatten des rächenden Gesetzes die Sorglosigkeit, in der sie solange gelebt hatten, verdunkeln. Die Schrecken, die sie selbst anderen bereitet hatten, waren so sehr eine Angelegenheit des Alltags geworden, daß der Gedanke einer Vergeltung in weite Ferne gerückt schien. Um so heftiger war die Reaktion, als sie die Gefahr so dicht vor sich sahen. Sie brachen frühzeitig auf und ließen ihre Führer in Beratung zurück.

»Und jetzt, McMurdo, haben Sie das Wort,« sagte McGinty, als sie allein waren. Die sieben Leute saßen steif und regungslos auf ihren Plätzen.

»Ich habe bereits gesägt, daß ich Birdy Edwards kenne,« erklärte McMurdo. »Ich brauche wohl nicht erst hinzuzufügen, daß er sich hier nicht unter diesem Namen aufhält. Er ist zwar ein tapferer Mann, dessen bin ich sicher, aber sicherlich nicht verrückt. Er wohnt unter dem Namen Steve Wilson in Hobsons Patch.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe ihn zufällig getroffen und bin mit ihm in’s Gespräch gekommen. Ich habe dem damals keine Bedeutung beigelegt und würde wahrscheinlich nicht mehr daran gedacht haben, wenn nicht dieser Brief gekommen wäre. Aber ich bin meiner Sache sicher. Ich traf ihn in der Bahn, als ich letzten Mittwoch hinunterfuhr. Er ist eine harte Nuß, das kann ich euch sagen. Er teilte mir mit, daß er ein Zeitungsmann sei, was ich damals auch glaubte. Er wollte alles über die Rächer und ihre Schandtaten, wie er sie nannte, für die New Yorker Presse erfahren. Er versuchte, mich nach jeder Richtung auszufragen, um Stoff für seine Zeitungen zu gewinnen. Aus mir hat er natürlich nichts herausbekommen. ›Ich bin bereit, dafür zu zahlen,‹ sagte er, ›und gut zu zahlen, wenn Sie mir das Material verschaffen, das mein Redakteur haben will.‹ Ich erzählte ihm einiges, von dem ich annahm, daß es ihn interessieren würde, und er gab mir dafür eine Zwanzig-Dollarnote. ›Sie können noch zehnmal mehr haben,‹ sagte er,›wenn Sie mir alles, was ich wissen will, besorgen.‹«

»Was haben Sie ihm denn erzählt?«

»Verschiedene Dinge, die ich mir in der Eile zusammengebraut habe.«

»Woher wissen Sie, daß er kein Reporter ist?«

»Aus folgendem: Ich stieg, wie er, in Hobsons Patch aus. Zufällig ging ich in das Telegraphenamt, als er eben herauskam. ›Eigentlich,‹ sagte der Telegraphist zu mir, nachdem er gegangen war, ›sollten wir die doppelten Gebühren für so etwas verlangen.‹

Recht haben Sie, sagte ich. Er hatte ein Formular vor sich, das in einer Sprache geschrieben war, die ebensogut chinesisch hätte sein können. ›Er schickt jeden Tag so einen Bogen ab,‹ sagte der Telegraphist. ›Jawohl,‹ sagte ich, ›es sind Sondernachrichten für seine Zeitung, und er fürchtet sich, daß ihm die anderen etwas davon wegstehlen könnten.‹ Das dachte auch der Telegraphist, und ich war selbst damals ganz davon überzeugt. Aber jetzt denke ich anders darüber.«

»Bei Gott! Ich glaube, Sie haben recht,« sagte McGinty. »Aber was schlagen Sie vor, das wir mit ihm anfangen sollen?«

»Warum sollen wir nicht gleich jetzt hinuntergehen und ihn uns vornehmen?«

»Jawohl, je früher, desto besser.«

»Auch ich würde dies vorschlagen, wenn ich wüßte, wo er zu finden ist,« sagte McMurdo. »Ich weiß zwar, daß er in Hobsons Patch wohnt, aber nicht wo. Ich habe aber einen weit besseren Plan, den ich euch jetzt vorlegen will.«

»Nun, und der ist?«

»Ich möchte morgen früh nach Hobsons Patch fahren. Durch den Telegraphenbeamten werde ich versuchen, herauszufinden, wo er sich aufhält. Ich werde ihm dann sagen, daß ich selbst ein Logenbruder sei und ihm alle Geheimnisse der Loge gegen eine bestimmte Summe anbieten. Er wird darauf hineinfallen, darauf könnt ihr euch verlassen. Ich werde ihm sagen, daß die Papiere in meinem Hause sind. Aber wenn ihm sein Leben lieb sei, dürfe er nicht dahin kommen, solange noch Leute auf den Straßen sind. Das wird ihm streng logisch erscheinen. Ich werde ihm vorschlagen, um zehn Uhr abends zu kommen, wo er dann alles, was er will, einsehen kann. Ich bin überzeugt, er wird kommen.«

»Nun, und dann?«

»Den Rest könnt ihr euch selbst ausdenken. Das Haus, in dem ich wohne, steht ganz abgeschieden. Meine Wirtin ist eine treue Seele und stocktaub. Nur Scalan und ich wohnen im Haus. Wenn der Mann auf meinen Plan eingeht – und das werde ich euch alsbald wissen lassen – schlage ich vor, daß wir sieben uns morgen um neun Uhr abends bei mir treffen. Ich lasse ihn herein, und wenn er das Haus lebend wieder verläßt, muß Birdy Edwards ein außergewöhnlicher Glückspilz sein.«

»Bei Pinkertons wird wohl eine Stelle frei werden, wenn ich mich nicht irre,« sagte McGinty. »Gut, McMurdo, wir sind einverstanden. Also morgen um neun Uhr abends bei Ihnen. Sie brauchen nur die Tür hinter ihm zu verschließen, das übrige können Sie uns überlassen.«

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1. Kapitel. Die Warnung.

I. Teil.
Der Mord in Birstone

1. Kapitel. Die Warnung.

»Ich bilde mir ein, –« sagte ich.

»Ich würde mir nichts einbilden,« unterbrach mich Sherlock Holmes spöttisch.

Ich bin sicherlich einer der fügsamsten und geduldigsten Menschen dieser Welt, aber dieser Ausfall meines Freundes brachte mein Blut doch etwas in Wallung.

»Mein lieber Holmes,« antwortete ich mit aller Schärfe, deren ich fähig bin, »Sie sind manchmal unleidlich.«

Er war so sehr in Gedanken vertieft, daß er meinen Einwand völlig überhörte. Den Kopf in die Hände gestützt, das unberührte Frühstück vor sich, starrte er auf einen Streifen Papier, den er soeben einem Kuvert entnommen hatte. Dann ergriff er das Kuvert, hielt es ans Licht und prüfte es sorgfältig, sowohl die Vorderseite wie die Klappe.

»Es ist Porlocks Handschrift,« murmelte er nachdenklich; »unverkennbar, obwohl ich sie erst zweimal gesehen habe. Er schreibt das e wie das griechische epsilon, mit einem eigenartigen Schnörkel darüber; wenn der Brief von Porlock ist, muß es eine Sache von höchster Wichtigkeit sein.«

Diese halb im Selbstgespräch geäußerten Worte waren eigentlich nicht an mich gerichtet, aber mein Verdruß schwand über dem Interesse, das sie in mir erweckten.

»Und wer, wenn ich fragen darf, ist Porlock?«

»Porlock, mein lieber Watson, ist ein Deckname, nichts weiter als ein einfaches Unterscheidungswort, aber dahinter steckt eine äußerst gewandte und schwer faßbare Persönlichkeit. In einem seiner früheren Briefe hat er mir ganz offen mitgeteilt, daß es nicht sein Name sei und mir zu verstehen gegeben, daß er allen Nachforschungen, ihn in unserer Millionenstadt aufzuspüren, trotzen würde. Porlock ist mir wichtig, nicht wegen seiner selbst, sondern wegen seiner Beziehungen zu einem bedeutenden Manne. Zu diesem steht er in einem Verhältnis, etwa wie der Lotsenfisch zum Hai oder der Schakal zum Löwen. Die beiden stellen eine Vereinigung des Unbedeutenden mit dem Schrecklichen dar. Nicht bloß schrecklich, mein lieber Watson, sondern unheildrohend im höchsten Grade. In diesem Zusammenhang ist Porlock in meinen Gesichtskreis getreten. Habe ich Ihnen nicht schon von Professor Moriarty erzählt?«

»Dem bekannten wissenschaftlichen Verbrecher, der in der Unterwelt dieser Stadt ebenso berühmt ist wie –«

»Sie machen mich erröten, Watson«, murmelte Holmes, bescheiden abwehrend.

»Ich wollte sagen, wie er dem großen Publikum unbekannt ist.«

»Sehr geschickt, äußerst geschickt. Sie entwickeln neuerdings einen überraschend, schelmischen Humor, lieber Watson, gegen den ich noch nicht gewappnet bin. Wenn Sie aber Moriarty einen Verbrecher nennen, so begehen Sie damit im Sinne des Gesetzes eine Beleidigung, und darin gerade liegt der eigenartige Reiz der ganzen Sache. Der größte Bösewicht aller Zeiten, der Organisator teuflischer Verbrechen, das geistige Haupt der Unterwelt – ein Kopf, der ein ganzes Volk zum Guten oder Bösen lenken könnte, das ist das Bild des Mannes. Aber so hoch ist er über jeden Verdacht, selbst über schüchterne Kritik erhaben, so bewunderungswürdig weiß er seine Handlungen zu bemänteln und sich selbst im Dunkeln zu halten, daß er Sie wegen der paar Worte, die Sie eben geäußert haben, vors Gericht schleppen könnte, und daß ihm dieses zweifellos Ihre volle Jahrespension als Entschädigung für die erlittene Ehrenkränkung zusprechen würde. Ist er doch der gefeierte Autor der ›Dynamik eines Asteroiden‹, eines Werkes, das sich zu den höchsten Höhen der Mathematik erhebt, so daß behauptet wird, es gäbe keinen Menschen in der Fachpresse, der fähig wäre, es zu begutachten. Einen solchen Mann darf man nicht ungestraft beleidigen. Der ehrabschneidende Arzt und der gekränkte Professor – das wären die Rollen, die Ihr beide vor Gericht spielen würdet. Darin liegt Genie, Watson. Aber auch mein Tag wird kommen, wenn mich meine Feinde kleineren Formats am Leben lassen.«

»Ich wollte, ich könnte dabei sein,« rief ich andächtig. »Sie wollten mir jedoch etwas von dem Mann Porlock erzählen.«

»Ja so – also der sogenannte Porlock ist ein Glied in der Kette, allerdings eines, das ziemlich weit von dem Kettenschloß entfernt ist. Außerdem ist er, unter uns gesagt, ein etwas schadhaftes Glied, tatsächlich der einzige schwache Punkt darin, den ich bisher feststellen konnte.«

»Nach einem Grundsatz der Mechanik ist aber eine Kette nicht stärker als ihr schwächstes Glied.«

»Sehr richtig, mein lieber Watson. Darin besteht auch die außerordentliche Bedeutung von Porlock. Er leidet offenbar an zarten Anwandlungen zum Guten, die ich gelegentlich durch die Übersendung einer Zehn-Pfund-Note, die ich ihm auf Umwegen zukommen ließ, zu ermutigen getrachtet habe. Daraus entsprangen seine Mitteilungen an mich, von höchstem Wert für den, der Verbrechen lieber verhütet als rächt. Wenn wir jetzt die Chiffre hätten, würde sich, wie ich fest überzeugt bin, herausstellen, daß das, was hier auf dem Papier steht, eine solche Mitteilung ist.«

Abermals glättete Holmes das Papier auf seinem unbenutzten Teller. Ich erhob mich, beugte mich über seine Schulter, und gewahrte auf dem Papier eine sonderbare Inschrift, die wie folgt lautete:

534, K 2, 13, 127, 36 Douglas
10, 9, 293, 5, 37 Birlstone
26 Birlstone, 9, 127

»Was halten Sie davon, Holmes?«

»Es ist offenbar ein Versuch, mir eine geheime Nachricht zu übermitteln.«

»Aber was haben wir von einer Chiffrenachricht ohne den Schlüssel dazu?«

»In diesem Falle nicht das geringste.«

»Warum sagen Sie: in diesem Fall?«

»Sehr einfach, weil ich eine ganze Menge Chiffren so leicht lese, wie die geheimnisvoll abgefaßten Inserate in den Zeitungen. Solche plumpen Versuche, Nachrichten geheim zu halten, sind für mich eher belustigend als ermüdend. Aber dies hier ist etwas anderes. Die Chiffrezeichen beziehen sich offenbar auf eine bestimmte Seite in einem bestimmten Buche, und solange ich nicht weiß, um welche Seite und welches Buch es sich handelt, kann ich natürlich nichts damit anfangen.«

»Aber was soll dann ›Douglas‹ und ›Birlstone‹ bedeuten?«

»Das sind zweifellos Worte, die auf der betreffenden Seite nicht enthalten sind.«

»Warum hat er dann aber nicht angedeutet, auf welches Buch er sich bezieht?«

»Ihre angeborene Schlauheit, mein lieber Watson, jene natürliche Listigkeit in Ihrem Wesen, die das Entzücken Ihrer Freunde ist, würde es sicherlich nicht zulassen, daß Sie eine Chiffrenachricht und den Schlüssel dazu im selben Kuvert versenden. Wenn es in falsche Hände geriete, wären Sie erledigt. Getrennt verschickt, müßten jedoch beide in falsche Hände geraten, damit ein Schaden entstehen könnte. Die zweite Post ist schon überfällig. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie uns entweder einen erklärenden Brief oder, was noch wahrscheinlicher ist, das Buch, auf das sich die Zahlen beziehen, bringt.«

Holmes‘ Voraussage sollte nur zu bald in Erfüllung gehen. Billy, unser kleiner Diener, trat wenige Minuten später mit dem Brief ein, den wir erwartet hatten.

»Dieselbe Handschrift,« bemerkte Holmes, als er das Kuvert öffnete, »und tatsächlich auch mit voller Unterschrift,« fügte er freudig hinzu, als er den Brief entfaltete. »Nun werden wir sehen, Watson.«

Sein Gesicht verdüsterte sich jedoch, als er den Inhalt des Briefes überflog.

»Donnerwetter, das ist enttäuschend. Ich fürchte, Watson, daß aus unseren hochgespannten Erwartungen nichts wird. Ich will nur wünschen, daß unserem Porlock kein Unheil zustößt.«

›Sehr geehrter Herr Holmes,‹ lautete der Brief, ›ich kann in der Sache nichts weiter tun. Es ist zu gefährlich. Er hat Verdacht gegen mich geschöpft, wie ich deutlich erkennen kann. Heute kam er ganz unerwarteterweise zu mir herein, als ich bereits dieses Kuvert, in der Absicht, Ihnen damit den Schlüssel der Chiffre zu senden, mit der Anschrift versehen hatte. Ich konnte es gerade noch zudecken. Wenn er es gesehen hätte, würde es mir schlecht ergangen sein. Er ist höchst argwöhnisch, ich lese es in seinen Augen. Bitte verbrennen Sie die chiffrierte Nachricht, die nun für Sie wertlos ist. Fred Porlock.‹

Holmes versank danach in tiefes Schweigen und starrte finster ins Kaminfeuer, indem er den Brief in seinen Fingern zerknüllte.

»Vielleicht,« sagte er, »ist nichts daran. Möglicherweise war es nur sein schuldbeladenes Gewissen, das ihm, dem bewußten Verräter, Argwohn in den Augen des anderen vortäuschte.«

»Unter dem anderen verstehen Sie wohl Professor Moriarty?«

»Niemanden Geringeren. Wenn irgend einer der Bande von ihm spricht, weiß ich, wen er damit meint.«

»Was ist nun zu tun?«

»Ja, das ist nun die große Frage. Da wir einen der klügsten Köpfe ganz Europas gegen uns haben, mit allen dunklen Gewalten ausgerüstet, ergeben sich für uns geradezu unbeschränkte Möglichkeiten. Jedenfalls ist unser Freund Porlock in tödlicher Angst. Vergleichen Sie einmal die Handschrift in diesem Brief mit der auf dem Kuvert, das, wie er angibt, von ihm beschrieben wurde, bevor er den unheilvollen Besuch empfing. Auf dem Kuvert ist sie fest und klar, in dem Brief kaum leserlich.«

»Warum hat er überhaupt geschrieben und die Sache nicht einfach fallen lassen?«

»Wahrscheinlich, weil er befürchtete, ich würde Nachforschungen nach ihm anstellen, die ihm Ungelegenheiten bereiten könnten.«

»Ohne Zweifel,« sagte ich, indem ich die chiffrierte Nachricht aufhob und gedankenvoll betrachtete. »Es ist wirklich zum Verzweifeln, wenn man denkt, daß dieser Streifen Papier wahrscheinlich ein wichtiges Geheimnis enthält, dem man auf keine Weise beikommen kann.«

Sherlock Holmes schob sein unberührtes Frühstück beiseite und zündete sich seine Pfeife an, die ständige Gefährtin seiner tiefsten Gedanken.

»Vielleicht,« sagte er, sich zurücklehnend, den Blick an die Decke geheftet, »vielleicht finden wir etwas heraus, das Ihrem Machiavelli-Gehirn bisher verborgen geblieben ist. Betrachten wir uns einmal das Problem im Lichte der reinen Logik. Die Andeutungen des Mannes beziehen sich auf ein Buch. Das ist klar und davon wollen wir ausgehen.«

»Eine recht unsichere Spur, nach meiner Meinung.«

»Zugegeben; aber vielleicht können wir den Bereich der Möglichkeiten etwas enger umgrenzen. Je stärker ich mein Gehirn darauf konzentriere, desto weniger undurchdringlich erscheint mir das Geheimnis. Welche Anzeichen haben wir, was dieses Buch betrifft?«

»Keine«.

»Na, na, so schlimm wird die Sache nicht sein. Die Chiffre beginnt mit der Zahl 534, und wir wollen annehmen, daß diese Zahl sich auf die Seite in dem Buch, um das es sich handelt, bezieht. Das würde heißen, daß es ein dickes Buch ist, womit wir schon ein Stück weitergekommen sind. Und was für andere Anzeichen haben wir noch, hinsichtlich dieses dicken Buches? Das nächste Zeichen, K 2, was kann das bedeuten, Watson?«

»Zweites Kapitel, ohne Zweifel.«

»Kaum, Watson. Sie werden mir zugeben, daß, wenn er uns die Seite bezeichnet, die Kapitelzahl gleichgültig ist. Außerdem, wenn Sie annehmen, daß die Seite 534 erst im zweiten Kapitel ist, müßte das erste Kapitel schauderhaft lang sein.«

»Kolumne,« rief ich.

»Fabelhaft, Watson. Sie sprühen heute geradezu von Geist. Kolumne ist es, wenn uns nicht alles täuscht. Sie sehen also, vor unseren Augen zeigt sich bereits ein dickes Buch, doppelspaltig gedruckt, mit Spalten von erheblicher Länge, denn eines der darin vorkommenden Worte ist mit 293 bezeichnet. Nun frage ich Sie, haben wir damit schon die Grenze der logischen Ableitung erreicht?«

»Es scheint leider so.«

»Sie sind ungerecht gegen sich selbst. Ich erwarte von Ihnen einen weiteren Geistesblitz, eine neue Gedankenwelle. Wäre der Band ein seltenes Buch, würde er ihn mir geschickt haben. Er spricht aber lediglich von dem Schlüssel, den er in das Kuvert stecken wollte, bevor seine Pläne vereitelt wurden. Das steht klar in seinem Brief. Dies würde also bedeuten, daß es sich um ein Buch handelt, von dem er annehmen mußte, daß ich es mir leicht selbst beschaffen könne. Er hatte das Buch und vermutete, daß auch ich es habe. Mein lieber Watson, es handelt sich also um ein sehr gebräuchliches Werk.«

»Das klingt allerdings glaubhaft.«

»Wir haben somit das Feld unserer Nachforschungen auf ein dickes Buch, doppelspaltig und weitverbreitet, eingeschränkt.«

»Die Bibel,« rief ich triumphierend.

»Ausgezeichnet, Watson, ganz ausgezeichnet. Aber, wie ich leider sagen muß, noch nicht gut genug. Vielleicht darf ich mir schmeicheln, daß jedermann dieses Buch in meinem Besitz vermutet, aber ich halte es für ausgeschlossen, daß einer von Moriartys Bande es im Bereich seiner Hände stehen hat. Außerdem sind die Ausgaben der Heiligen Schrift so zahlreich, daß nicht ohne weiteres angenommen werden kann, je zwei Leute würden Exemplare mit übereinstimmenden Seitenbezeichnungen haben. Es handelt sich also um ein Normalwerk. Er mußte sicher sein, daß meine Seite 534 mit der seinen, gleicher Zahl, genau übereinstimme.«

»Aber das wird auf die wenigsten Werke zutreffen.«

»Sehr richtig; und gerade darin liegt unsere Rettung. Unsere Suche beschränkt sich daher auf ein Werk, von dem anzunehmen ist, daß jedermann ein Exemplar hat.«

»Das Kursbuch.«

»Nicht so schnell, lieber Watson. Der Wortschatz des Kursbuches ist zwar glatt und sauber, aber beschränkt. Es ist kaum anzunehmen, daß jemand im Kursbuch alle die Wörter finden würde, die er für eine Nachricht braucht. Wir wollen es daher ausschalten. Ein Wörterbuch ist, wie ich glaube, aus denselben Gründen ungeeignet. Was bleibt also noch übrig?«

»Ein Almanach.«

»Großartig, Watson, wenn ich mich nicht irre, haben Sie diesmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Almanach! Besehen wir uns z. B. einmal Whitakers Almanach. Er ist weit verbreitet, hat die erforderliche Anzahl Seiten und ist doppelspaltig. Obgleich im ersten Teil kurz gefaßt, wird er gegen den Schluß zu recht wortreich.« Er nahm den Band von seinem Pult. »Hier haben wir Seite 534 Spalte 2. Ein umfangreicher Artikel, der, wie ich sehe, sich mit dem Handel und den Bodenprodukten Indiens beschäftigt. Schreiben Sie die Worte nieder, Watson: 13 ist Mahratta, kein besonders vielversprechender Anfang, fürchte ich. 127 ist Regierung, was immerhin einigen Sinn gibt, obwohl mir unerklärlich ist, was die Regierung von Mahratta mit uns und Professor Moriarty zu tun hat. Und nun zum nächsten. Was tut also die Regierung von Mahratta? O weh, das nächste Wort ist Schweineborsten. Wir sind erledigt, lieber Watson, am Ende unserer Weisheit angelangt.«

Obwohl er sich den Anschein gab, belustigt zu sein, sah ich an dem Zucken seiner buschigen Augenbrauen, wie verärgert und enttäuscht er war. Ich fühlte mich hilflos und unglücklich, als ich so dasaß und ins Feuer starrte. Ein langes Schweigen folgte, das jedoch plötzlich durch einen Ausruf von Holmes unterbrochen wurde, der von seinem Sitz aufsprang, zum Bücherregal eilte, von dem er mit einem zweiten, gelbgebundenen Buche zurückkehrte.

»Das kommt davon, Watson, wenn man allzusehr auf der Höhe ist. Wir sind unserer Zeit voraus und müssen, wie üblich, dafür büßen. Es ist heute der 7. Januar, und wir haben natürlich schon die neue Ausgabe des Almanachs. Wahrscheinlich hat aber Porlock seine Mitteilung nach der alten zusammengestellt. Das hätte er uns sicherlich auch gesagt, wenn er uns den Schlüssel hätte senden können. Nun wollen wir einmal sehen, was die Seite 534 uns für Überraschungen bringt. Wort 13 ist Gefahr, was schon recht bedeutungsvoll klingt. 127 bedeutet droht – Gefahr droht –« Holmes‘ Augen funkelten vor Erregung und seine dünnen, nervösen Finger zuckten, als er das nächste Wort auszählte. »Famos! Schreiben Sie nieder, Watson: Gefahr droht unmittelbar; dann kommt das Wort Douglas, reicher Besitzer, jetzt in Birlstone-Haus, Birlstone – Vertrauen – dringend. Da haben wir’s, Watson. Was sagen Sie nun zu der Bedeutung der logischen Ableitung? Wenn unser Gemüsekrämer so etwas wie einen Lorbeerkranz hätte, würde ich Billy hinschicken und ihn holen lassen.«

Ich starrte auf die sonderbare Mitteilung, deren Dechiffrierung ich auf einem Bogen Papier über meinem Knie niedergekritzelt hatte.

»Eine eigenartige, zusammenhangslose Weise, sich auszudrücken,« sagte ich.

»Im Gegenteil, ich finde, er hat die Sache äußerst geschickt gemacht«, sagte Holmes. »Wenn Sie eine Spalte in einem Buch durchsuchen nach Wörtern, mit denen Sie eine bestimmte Mitteilung zusammenstellen wollen, werden Sie sicherlich auf Schwierigkeiten stoßen. Sie können kaum erwarten, darin alle Worte zu finden, die Sie brauchen. Ein gut Teil werden Sie der Kombinationsgabe des Empfängers überlassen müssen. Der Sinn seiner Nachricht ist völlig klar. Auf einen Menschen namens Douglas soll ein Anschlag verübt werden. Ich weiß nicht, wer er ist. Er wird uns als ein reicher Grundbesitzer bezeichnet. Das Wort Vertrauen bedeutet zweifellos vertraulich, welch letzteres offenbar nicht in der Spalte enthalten war. Dringend will sicherlich ganz besonders betonen, daß der Anschlag unmittelbar bevorsteht. Ich bin der Meinung, daß wir tatsächlich ein wertvolles Stück Arbeit geleistet haben.«

Holmes hatte mit dem wahren Künstler gemein, daß ihm die Lösung einer schwierigen Aufgabe die größte persönliche Genugtuung bereitete, selbst wenn sie hinter seinen Erwartungen zurückblieb. Er frohlockte noch über seinen Erfolg, als Billy die Tür öffnete und den Kriminalinspektor McDonald von Scotland Yard in das Zimmer führte.

Zu jener Zeit hatte Alec McDonald noch nicht die Höhe seines Ruhmes erreicht, die er später erklomm. Er war noch ein junges, aber schon vielversprechendes Mitglied des Detektivpersonals und hatte sich bereits in einigen Fällen, die ihm ausschließlich überantwortet waren, ausgezeichnet. Seine hohe, knochige Gestalt sprach von ungewöhnlicher körperlicher Stärke, während in seiner breiten Stirn und den tiefliegenden, lebhaften Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, eine ebenso hohe Intelligenz erkennbar war. Er war ein schweigsamer, ruhiger Mensch, der einen etwas versauerten Eindruck machte und in dem harten Akzent seiner schottischen Heimat sprach. Bei zwei früheren Gelegenheiten hatte ihm Holmes bereits geholfen, einen großen Erfolg einzuheimsen, ohne dabei auf eine andere Belohnung Anspruch zu erheben, als ihm die Mitwirkung an interessanten Aufgaben bot. Mittelmäßigkeit erkennt nichts Höheres an als sich selbst, aber das Talent weiß Genie zu würdigen. Talent besaß McDonald genügend, um keine Herabwürdigung seiner selbst darin zu fühlen, die Hilfe eines Mannes zu erbitten, der einzig in seiner Art in Europa dastand, sowohl was seine geistigen Gaben wie seine Erfahrung anbelangte. Holmes war zwar nicht ein Mann, der leicht Freundschaft schloß, aber zu dem schweigsamen Schotten hatte er eine gewisse Zuneigung gefaßt. Ein freundliches Lächeln erhellte seine Züge, als er ihn begrüßte.

»Sie sind ein Frühaufsteher, Mr. Mac,« sagte er. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Morgenspaziergänge, die wohl bedeuten, daß irgendetwas Besonderes im Winde ist.«

»Hierbei ist wohl die Hoffnung der Vater des Gedankens, scheint mir, Mr. Holmes,« antwortete der Inspektor mit einem vielsagenden Grinsen. »Wie wäre es mit einem kleinen Schluck von irgendetwas, um mir die Morgenkühle aus den Knochen zu treiben? Nein, danke, ich rauche nicht. Ich muß gleich wieder weiter, denn die ersten Stunden sind bei einem Kriminalfall die kostbarsten, wie niemand besser weiß, als Sie selbst. Aber, aber –«

Der Inspektor hielt plötzlich inne. Seine Blicke waren mit dem Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Stück Papier haften geblieben, das noch auf dem Tische lag; jenem Bogen Papier, aus dem ich die Lösung der chiffrierten Nachricht niedergeschrieben hatte.

»Douglas!« stammelte er, »Birlstone! Was soll das bedeuten, Mr. Holmes? Mensch, das ist ja geradezu Hexerei. Bei allem, was wunderbar ist, wo haben Sie denn diese Namen her?«

»Es ist eine Chiffrenachricht, die Mr. Watson und ich Anlaß hatten zu lösen. Aber was wollen Sie damit sagen? – Was ist denn los mit den Namen?«

Der Inspektor ließ seine Blicke verwirrt und staunend von einem zum anderen schweifen.

»Das Folgende ist los,« sagte er, »Mr. Douglas von Birlstone ist heute morgen in schrecklicher Weist ermordet worden.«

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