8. Kapitel. Das Ende.

8. Kapitel. Das Ende.

Der Polizeigerichtshof hatte den Fall John Douglas einem höheren Gericht überwiesen. Von diesem wurde Douglas mit der Begründung, daß seine Tat in Selbstverteidigung erfolgt sei, freigesprochen.

»Sehen Sie, daß er sofort aus England fortkommt,« schrieb Holmes seiner Frau. »Es sind hier Kräfte am Werk, die vielleicht noch gefährlicher sind, als jene, denen er entronnen ist. Es gibt für Ihren Mann in England keine Sicherheit.«

Zwei Monate waren vergangen, und die Sache war bereits etwas in unserer Erinnerung verblaßt. Da geschah es, daß eines Tages eine rätselhafte Epistel in unseren Briefkasten eingeschmuggelt wurde.

»Du liebe Zeit, Mr. Holmes! Du liebe Zeit!« lautete die sonderbare Mitteilung. Sie trug weder Überschrift noch Unterschrift. Ich lachte über ihren wunderlichen Inhalt, aber Holmes zeigte einen ungewöhnlichen Ernst.

»Das ist wieder eine Teufelei, Watson,« bemerkte er und versank mit umwölkter Stirn in tiefes Nachdenken.

Am späten Abend desselben Tages brachte uns Frau Hudson, unsere Wirtin, die Botschaft, daß ein Herr Mr. Holmes sofort in einer höchst dringenden Sache zu sprechen wünsche. Dicht auf den Fersen folgte ihr Mr. Cecil Barker, unser Freund aus dem Herrenhause in Birlstone. Sein Gesicht trug den Stempel tiefster Trauer.

»Ich habe schlechte Nachrichten, entsetzliche Nachrichten, Mr. Holmes,« sagte er.

»Ich dachte es mir,« antwortete Holmes.

»Haben Sie etwa ein Kabel erhalten?«

»Nein, aber eine kurze Mitteilung von jemandem, der eins erhalten hat.«

»Der arme Douglas! Man sagt, daß er eigentlich Edwards hieß, aber für mich wird er immer Jack Douglas bleiben. Ich habe Ihnen mitgeteilt, daß er vor etwa drei Wochen mit seiner Frau auf der ›Palmyra‹ nach Südafrika abgedampft ist.«

»Sehr richtig.«

»Der Dampfer ist gestern abend in Kapstadt angekommen. Heute morgen erhielt ich von seiner Frau das folgende Kabel: ›Jack im Sturm bei St. Helena anscheinend über Bord gespült, niemand weiß Näheres über Unfall. Ivy Douglas‹«

»Also das! So wurde es bewerkstelligt!« sagte Holmes nachdenklich. »Ich zweifle nicht, daß die Sache gut inszeniert war.«

»Sie glauben also nicht an einen Unfall?«

»Ganz unbedingt nicht.«

»Er wurde ermordet?«

»Zweifellos.«

»Auch ich glaube es. Diese teuflischen Rächer, diese verdammte, rachsüchtige Verbrecherbande.«

»Nein, nein, mein lieber Herr,« sagte Holmes, »in der Sache erkenne ich eine Meisterhand. Es ist kein Fall mit abgesägten Schrotflinten und plumpen Revolvern. Man erkennt einen alten Meister an seinen Pinselstrichen. Ich kenne einen Moriarty, wenn ich ihn sehe. Das Verbrechen rührt von London her und nicht von Amerika.«

»Aber was wäre der Beweggrund?«

»Der Beweggrund ist, daß es von einem Mann geplant wurde, der keinen Fehlschlag dulden kann; einem Menschen, dessen ganze und einzigartige Stellung davon abhängt, daß alles, was er tut, erfolgreich ist. Ein großer Geist und eine Riesenorganisation haben sich zur Vernichtung eines einzigen Mannes vereinigt. Es ist, als ob man eine Nuß mit einem Hammer aufknacken würde: eine lächerliche Vergeudung von Energie, aber die Nuß ist zerschmettert.«

»Und wie ist denn der Mann in die Sache hineingezogen worden?«

»Ich kann Ihnen nur sagen, daß das erste, was wir darüber hörten, von einem seiner Untergebenen kam. Diese Amerikaner waren gut beraten. Da sie sich auf fremdem Boden befanden, hatten sie sich, wie jeder ausländische Verbrecher es tun würde, mit diesem gefährlichen Ratgeber der Verbrecherwelt in Verbindung gesetzt. Von jenem Moment an war das Schicksal unseres Mannes besiegelt. Zuerst wird ›Er‹ sich vielleicht damit begnügt haben, seinen Apparat in Bewegung zu setzen, um das Opfer aufzuspüren. Dann dürfte er seinen Rat gegeben haben, wie die Sache anzulegen sei. Als er schließlich in den Zeitungen von dem erfolglosen Versuch seines Klienten las, beschloß er offenbar, selbst in dessen Fußstapfen zu treten und die Sache mit seiner Meisterhand zu Ende zu führen. Sie haben gehört, wie ich Douglas in Birlstone darauf vorbereitet habe, daß die kommende Gefahr größer sein werde als die vergangene. Ich habe recht behalten.«

Barker schlug sich mit geballten Fäusten in ohnmächtiger Wut an die Stirn.

»Und wollen Sie damit sagen, daß wir dies ruhig hinnehmen sollen? Daß man mit diesem Teufel nicht Abrechnung halten kann?«

»Das möchte ich nicht behaupten,« sagte Holmes mit einem abwesenden Blick. »Ich möchte nicht behaupten, daß man mit ihm nicht abrechnen kann. Aber ich brauche Zeit dazu, noch viel Zeit.«

Wir saßen einige Minuten in tiefem Schweigen, während seine schicksalsschweren Augen den Schleier der Zukunft zu durchdringen suchten.

Ende.

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2. Kapitel. Sherlock Holmes tritt in Tätigkeit.

2. Kapitel. Sherlock Holmes tritt in Tätigkeit.

Es war einer jener dramatischen Momente, die für meinen Freund die Höhepunkte des Lebens darstellten. Zu sagen, daß er von der Mitteilung des Inspektors erschüttert war oder darüber Erregung verriet, wäre unbedingt eine Übertreibung. Er hatte zwar nicht den geringsten Zug von Grausamkeit in seiner eigenartigen Veranlagung, aber ständige Nervenanspannung hatte ihn gegen Sensationen unempfindlich gemacht. Obgleich also seine Gefühle stumpf waren, besaß sein Geist eine überaus große Regsamkeit. Nicht eine Spur des Entsetzens, das ich bei der Mitteilung McDonalds fühlte, zeigte sich bei ihm. Sein Gesicht trug lediglich einen still interessierten Ausdruck, etwa den des Chemikers im Augenblick der eintretenden Niederschlagsbildung.

»Bemerkenswert,« sagte er, »sehr bemerkenswert.«

»Das scheint Sie nicht überrascht zu haben?«

»Überrascht nicht, Mr. Mac, nur interessiert. Warum sollte ich auch überrascht sein. Ich habe eine anonyme Mitteilung von einer Seite, die ich als unbedingt zuverlässig kenne, dahingehend, daß einer bestimmten Person unmittelbar eine große Gefahr drohe. Innerhalb einer Stunde stellt sich dann heraus, daß sich diese Drohung bereits verwirklicht hat und die betreffende Person tot ist. Ich bin interessiert, aber, wie Sie erkannt haben, keineswegs überrascht.«

In einigen kurzen Sätzen erläuterte er dann dem Inspektor den Vorfall mit dem Brief und der Chiffre. McDonald saß da, das Kinn in die Hände gestützt, noch immer mit dem Ausdruck des Staunens in seinen großen, starren Augen. »Ich bin im Begriffe, nach Birlstone zu fahren,« sagte er, »und bin nur zu Ihnen gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mittun wollen – Sie und Ihr Freund. Nach dem, was Sie sagen, möchte ich indessen fast annehmen, daß wir hier in London Wichtigeres zu tun haben als in Birlstone.«

»Dieser Meinung bin ich nicht,« sagte Holmes.

»Das verstehe ich nicht, Mr. Holmes,« sagte der Inspektor. »Die Zeitungen werden morgen oder übermorgen voll sein von dem ›Geheimnis in Birlstone‹. Die Lösung des Rätsels scheint indessen in London zu liegen, da es hier einen Mann gibt, der von dem Verbrechen schon wußte, bevor es begangen wurde. Wir brauchen nur diesen Mann in die Hände zu bekommen, und das Weitere wird sich finden.«

»Unzweifelhaft, Mr. Mac, aber wie wollen Sie es bewerkstelligen, den angeblichen Porlock in die Hände zu bekommen?«

McDonald nahm den Brief, den ihm Holmes überreichte und betrachtete ihn eingehend.

»Aufgegeben in Camberwell; das will wenig besagen. Der Name ist, wie Sie meinen, fingiert? Das ist nicht viel für den Anfang. Sagten Sie nicht, daß Sie ihm Geld geschickt haben?«

»Jawohl, zweimal.«

»Und wie?«

»In Banknoten, postlagernd Camberwell.«

»Haben Sie sich die Mühe genommen, festzustellen, wer die Briefe abgeholt hat?«

»Nein.«

Der Inspektor blickte überrascht und etwas ärgerlich auf.

»Warum denn nicht?«

»Einfach, weil ich gewohnt bin, mein Wort zu halten. Ich hatte ihm, als er das erstemal schrieb, versprochen, ihm nicht nachzuspüren.«

»Sie glauben, daß irgend jemand hinter ihm steht?«

»Ich glaube es nicht, ich weiß es.«

»Dieser Professor, den Sie schon mehrmals erwähnt haben?«

»So ist es.«

McDonald konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, und seine Augen blitzten vielsagend, als er mich anblickte.

»Ich kann Ihnen nicht verschweigen, Mr. Holmes, daß wir in der Kriminalabteilung Ihre Sache mit dem Professor für eine Art fixer Idee halten. Ich bin der Geschichte nachgegangen und habe herausgefunden, daß er ein sehr angesehener und gelehrter Herr ist.«

»Ich freue mich, daß Sie sich wenigstens schon über seine Gelehrsamkeit im klaren sind.«

»Mein lieber Herr, das war nicht schwierig. Nachdem Sie mir Ihre Ansicht über ihn mitgeteilt hatten, hielt ich es für meine Pflicht, ihn mir einmal zu besehen. Ich plauderte mit ihm über die Eklipse. Wie wir auf dieses Thema gekommen sind, weiß ich nicht. Da er mich unwissend fand, holte er eine Projektionslampe und einen Globus hervor und machte mir im Nu die Sache klar. Auch lieh er mir ein Buch, von dem ich allerdings sagen muß, daß es etwas über meinen Horizont geht, obwohl ich doch eine ziemlich gute Schulbildung genossen habe. Der Mann hätte einen prächtigen Pfarrer abgegeben mit seinem hageren Gesicht, seinem grauen, ehrwürdigen Haar und der feierlichen Manier, in der er spricht. Als er beim Abschied die Hand auf meine Schulter legte, kam er mir vor wie ein Vater, der seinen Sohn segnet, der sich in die kalte, grausame Welt hinausbegibt.«

Holmes rieb sich frohlockend die Hände.

»Großartig,« rief er, »großartig. Sagen Sie einmal, mein lieber Freund McDonald, diese niedliche und gemütliche Plauderei hat wohl in der Bibliothek des Professors stattgefunden?«

»Stimmt.«

»Ein schöner Raum, nicht wahr?«

»Prachtvoll – hochelegant, Mr. Holmes.«

»Sie saßen seinem Schreibtisch gegenüber?«

»Jawohl.«

»Das Licht in Ihrem Gesicht und seines im Schatten?«

»Nun ja, das dürfte stimmen. Es war am Abend und ich erinnere mich, daß die Studierlampe mir zugedreht war.«

»Selbstverständlich. Bemerkten Sie auch ein Bild an der Wand hinter dem Professor?«

»Mir entgeht nicht so leicht etwas, Mr. Holmes. Wahrscheinlich habe ich das von Ihnen gelernt. Jawohl, ich sah das Bild – eine junge Frauensperson, das Gesicht in die Hände gestützt, den Blick seitwärts gerichtet.«

»Ein Gemälde von Jean Baptiste Greuze.«

Der Inspektor gab sich alle Mühe, interessiert zu scheinen.

»Jean Baptiste Greuze«, fuhr Holmes fort, die Fingerspitzen der ausgebreiteten Hände aneinandergepreßt und sich dabei weit in seinen Stuhl zurücklehnend, »war ein französischer Maler, der zwischen 1705 und 1800, zu seinen Lebzeiten also in hohem Ansehen stand. Die Nachwelt hat bekanntlich die Geltung, die er schon bei seinen Zeitgenossen hatte, in vollem Maße bestätigt.«

Ein abwesender Blick machte sich in den Augen des Inspektors bemerkbar.

»Wollen wir nicht lieber – –,« sagte er.

»Nein, wir wollen nicht, denn wir sind ohnedies dabei,« unterbrach ihn Holmes. »Was ich Ihnen sage, hat ganz unmittelbar Bezug auf das, was Sie das Geheimnis von Birlstone nennen. Tatsächlich möchte ich sagen, daß es geradezu dessen Ausgangspunkt ist.«

»Ihre Gedanken laufen mir zu schnell, Mr. Holmes. Sie lassen meistens ein Glied oder mehrere sogar aus in der Kette, und ich verliere darüber den Anschluß. Was, um des lieben Himmels willen, hat dieser tote Maler mit der Sache in Birlstone zu tun?«

»Für den Detektiv ist Wissen jeder Art nützlich,« bemerkte Holmes. »Selbst die anscheinend belanglose Tatsache, daß im Jahre 1865 das Bild von Greuze, das unter der Bezeichnung. ›Das junge Mädchen mit dem Lamm‹ bekannt ist, bei der Portalis-Auktion nicht weniger als 4000 Pfund brachte, sollte Ihnen zu denken geben.«

Das tat es anscheinend auch. Der Inspektor war höchlich interessiert.

»Vielleicht vergegenwärtigen Sie sich,« fuhr Holmes fort, »daß das Gehalt des Professors aus verschiedenen Nachschlagewerken unzweifelhaft festgestellt werden kann. Es beträgt genau 700 Pfund pro Jahr.«

»Wie konnte er denn dann –«

»Sehr richtig, wie konnte er?«

»Jawohl, das ist sonderbar,« sagte der Inspektor nachdenklich. »Schießen Sie los, Mr. Holmes. Ich bin auf das höchste gespannt. Sie machen derartige Sachen wunderbar.«

Holmes lächelte. Für ehrliche Bewunderung war er in hohem Maße empfänglich, das Kennzeichen einer wahrhaften Künstlernatur.

»Über was wollen Sie etwas hören? Über Birlstone?« fragte er.

»Das hat noch Zeit,« sagte der Inspektor, indem er einen Blick auf seine Uhr warf. »Ich habe einen Wagen unten, und wir brauchen nur zwanzig Minuten bis zum Viktoriabahnhof. Ich möchte über dieses Bild etwas Näheres wissen. – Ich war der Ansicht, Sie und Professor Moriarty seien sich noch nicht begegnet.«

»So ist es auch.«

»Woher kennen Sie dann seine Wohnung?«

»Ah, lieber McDonald, das ist etwas anderes. Ich war bereits dreimal in seiner Wohnung. Zweimal wartete ich auf ihn unter verschiedenen Vorwänden, und das letztemal – nun, darüber kann ich mit Ihnen als Amtsperson nicht sprechen. Nur das eine kann ich Ihnen sagen, daß ich mir bei dem letzten Besuch gestattete, seine Papiere durchzugehen, mit den überraschendsten Ergebnissen.«

»Sie haben also kompromittierendes Material gefunden?«

»Nicht das geringste, und gerade das war das Überraschende daran. Nun, Sie haben bereits erkannt, daß in der Sache mit dem Bild etwas nicht stimmt. Der Besitz des Bildes läßt ihn als einen wohlhabenden Menschen erscheinen. Woher aber dieser Reichtum? Er ist unverheiratet, sein jüngerer Bruder ist Stationsvorsteher im Westen Englands. Sein Einkommen beträgt 700 Pfund pro Jahr, und trotzdem besitzt er einen Greuze.«

»Nun also?«

»Die Schlußfolgerung ist doch einfach.«

»Nach Ihrer Meinung stammt sein Einkommen aus dunklen Quellen?«

»Sehr richtig. Ich habe natürlich noch andere Gründe für meine Annahme, Dutzende von geheimnisvollen Fäden, die sich in undefinierbarer Weise zu dem Mittelpunkt des Netzes hinspinnen, in dem eine giftgefüllte, regungslose Kreatur lauert. Ich habe den Greuze nur erwähnt, weil er die Angelegenheit in den Bereich Ihrer eigenen Beobachtungen bringt.«

»Ich gebe zu, Mr. Holmes, daß das, was Sie sagen, höchst interessant ist. Mehr als das – es ist geradezu wundervoll. Aber wollen wir uns nicht etwas klarer fassen, wenn dies möglich ist? Denken Sie an Fälschung, Falschmünzerei, Einbruch? Wo kommt das Geld her?«

»Haben Sie je etwas über Jonathan Wild gelesen?«

»Der Name kommt mir bekannt vor, eine Figur in einer Novelle, nicht wahr? Ich halte nicht viel von Detektiven in Novellen. Das sind Leute, die immer Erfolg haben, ohne daß man weiß, wie er zustande kommt. Die Leute arbeiten mit Einbildungskraft anstatt mit nackten Tatsachen.«

»Jonathan Wild war kein Detektiv, auch keine Novellenfigur. Er war ein Meisterverbrecher, der im achtzehnten Jahrhundert, so um 1750 herum, lebte.«

»Dann interessiert er mich nicht. Für mich als Mann der Praxis gibt es nur die Jetztzeit.«

»Nun, Mr. Mac, dann möchte ich Ihnen raten, wenn Sie tatsächlich ein Mann der Praxis sein wollen, sich zunächst einmal auf drei Monate in Ihren vier Wänden einzuschließen und zwölf Stunden täglich die Annalen des Verbrechers nachzulesen. Alles bewegt sich im Kreislauf, selbst der Typ des Professors Moriarty. Jonathan Wild war der geistige Mittelpunkt der Londoner Verbrecherwelt, der er seinen Kopf und seine Organisation gegen eine fünfzehnprozentige Provision zur Verfügung stellte. Das Rad dreht sich ständig weiter, und dieselben Speichen kommen immer wieder empor. Alles ist schon einmal dagewesen und alles wird wieder geschehen. Ich möchte Ihnen ein oder zwei Dinge über Moriarty erzählen, die Sie vielleicht interessieren werden.«

»Davon können Sie überzeugt sein.«

»Ich weiß z. B., wer das erste Glied in seiner Kette ist – einer Kette, an deren einem Ende sich dieser Napoleon der Verbrecher befindet während sie am anderen in eine Unzahl dunkler Existenzen ausmündet, – Rowdies, Taschendiebe, Erpresser, Falschspieler und noch viele andere. Tatsächlich ist jede Form des Verbrechens darin vertreten. Sein Generalstabschef ist Oberst Sebastian Moran, ein Mensch, der über die Verbrecherwelt ebenso hoch erhaben scheint und dem Gesetz gegenüber genau so unangreifbar ist, wie Moriarty selbst. Was glauben Sie, daß er ihm bezahlt?«

»Das möchte ich gerne wissen.«

»Sechstausend Pfund pro Jahr. Ein fürstliches Gehalt. Er hält sich die besten Leute und bezahlt sie entsprechend: das amerikanische Geschäftsprinzip. Ich bin ganz durch Zufall dahinter gekommen. Der Moran erhält ein höheres Gehalt als der Ministerpräsident. Das mag Ihnen einen Begriff davon geben, welche Einkünfte Moriarty bezieht, und in welchem Maßstab er seine Tätigkeit ausübt. Und dann noch etwas. Ich habe es mir kürzlich angelegen sein lassen, einigen von Moriartys Schecks nachzugehen – ganz gewöhnliche, harmlose Schecks, mit denen er seine Haushaltsrechnungen bezahlt. Nach denen zu schließen, die ich fand, unterhält er Konten bei nicht weniger als sechs verschiedenen Banken. Macht das einen Eindruck auf Ihr Gehirn?«

»Höchst merkwürdig, ohne Zweifel. Und was schließen Sie daraus?«

»Er will nicht, daß man über seine Geldmittel spricht. Niemand soll wissen, was er hat. Ich bin ganz sicher, daß er einige zwanzig Bankkonten hat, mit dem Großteil seines Vermögens wahrscheinlich im Ausland, bei der Deutschen Bank oder in Amerika. Wenn Sie einmal etwas Zeit übrig haben, so etwa ein oder zwei Jahre, empfehle ich Ihnen, sich mit Professor Moriarty zu beschäftigen.«

Auf Inspektor McDonald hatten Holmes‘ Ausführungen, je weiter das Gespräch fortschritt, einen immer tieferen Eindruck gemacht. Er ging geradezu darin auf. Aber sein praktisches Tatsachengehirn, eine Eigenart seiner schottischen Heimat, führte ihn bald wieder in die Welt der Wirklichkeit zurück.

»Das muß noch etwas warten,« sagte er. »Wir sind durch Ihre interessanten Erzählungen auf ein Nebengeleise geraten, Mr. Holmes. Was mich betrifft, so interessiert mich zunächst seine angebliche Verbindung mit dem Verbrechen in Birlstone. Diese nehmen Sie an, wegen der Warnung, die Sie von dem Mann Porlock erhalten haben. Ergibt sich daraus etwas für unsere gegenwärtigen praktischen Bedürfnisse?«

»Wir können dadurch vielleicht hinter die Beweggründe des Verbrechens kommen. Aus Ihren ersten Bemerkungen schließe ich, daß der Mord unerklärlich oder bisher wenigstens ungeklärt ist. Wenn wir nun als Ausgangspunkt des Verbrechens den annehmen, von dem ich Ihnen eben sprach, kommen zwei mögliche Motive in Frage. Das erste ist, daß, wie ich Ihnen sagen kann, Moriarty über seine Leute mit einer eisernen Rute regiert. Die Disziplin, die er hält, ist beispiellos. Als Bestrafung kennt er nur eines, nämlich den Tod. Wir können z. B. annehmen, daß der ermordete Mann, dieser Douglas, dessen fürchterliches Schicksal einem Untergeordneten des Erzverbrechers vorher bekannt war, ein Mitglied dieser Organisation war, das in irgendeiner Weise Verrat geübt hat. Die Bestrafung folgte auf dem Fuße und würde natürlich der ganzen Organisation bekanntgemacht werden, um den Leuten Furcht vor einem ähnlichen Schicksal einzuflößen.«

»Nun, das ist die eine Hypothese, Mr. Holmes.«

»Die andere ist, daß die Sache eines seiner dunklen Geschäfte ist und von Moriarty in diesem Sinne geleitet und ausgeführt wurde. Ist irgend etwas geraubt worden?«

»Ich habe nichts davon gehört.«

»Wenn dem so wäre,« fuhr Holmes fort, »würde das natürlich ohne weiteres für die zweite Annahme sprechen. Moriarty wurde vielleicht dazu gewonnen, das Verbrechen auf Teilung des Raubes auszuführen, oder man hat ihm eine bestimmte Summe für die Ausführung des Mordes bezahlt. Beides ist möglich. Aber wie dem auch sei, und selbst wenn es noch eine dritte Möglichkeit gäbe, müssen wir in Birlstone nach der Lösung suchen. Ich kenne unseren Mann zu genau, um nicht überzeugt zu sein, daß er hier keine Spur hinterlassen hat, die auf ihn zurückführen könnte.«

»Also, dann auf nach Birlstone!« rief McDonald von seinem Stuhl auffahrend. »Verdammt! Es ist später geworden, als ich dachte. Ich kann euch beiden Herren höchstens noch fünf Minuten für eure Reisevorbereitungen geben.«

»Für uns ist das reichlich«, sägte Holmes, sprang auf und schlüpfte eiligst aus seinem Schlafrock und in seinen Rock. »Unterwegs, Mr. Mac, werden Sie vielleicht so gut sein und mir alles erzählen, was Sie wissen.«

Dieses alles war, wie sich herausstellte, enttäuschend wenig. Trotzdem ergab sich unzweifelhaft, daß der Fall der sorgfältigsten Bearbeitung eines Meisters wert war. Holmes‘ Gesicht heiterte sich auf, als er, seine dünnen Hände reibend, der mageren, aber ungewöhnlichen Aufzählung der vorliegenden Tatsachen lauschte. Eine lange Reihe stiller Wochen lag hinter uns. Hier endlich fand sich wieder ein Objekt, würdig der erstaunlichen Gaben meines Freundes, die stets nach Handlung drängten und daher ihrem Besitzer unbequem wurden, wenn sich keine Gelegenheit bot, sie auszuüben. Selbst der schärfste Geist stumpft sich durch Untätigkeit ab. Sherlock Holmes‘ Augen funkelten, seine bleichen Wangen übergoß eine wärmere Farbe, sein Gesicht nahm einen durchgeistigten Ausdruck an, wie stets, wenn ihn ein Ruf zur Arbeit erreichte. Den Kopf vorgebeugt, hörte er mit angestrengter Aufmerksamkeit McDonalds kurzer Schilderung der Aufgabe zu, die uns in Birlstone erwartete. Alles, was der Inspektor darüber zur Hand hatte, war, wie er uns erklärte, ein kurzer Bericht, der mit dem frühmorgendlichen Milchzug nach London gesandt worden war. White Mason, das Haupt der Grafschaftspolizei, dem die Untersuchung offiziell unterstand, war einer seiner persönlichen Freunde, weshalb McDonald dessen Benachrichtigung schneller empfing, als sonst geschieht, wenn die Zentrale in Scotland Yard von der Provinzpolizei um Beistand angerufen wird. Der hauptstädtische Detektiv findet meistens schon eine recht kalte Spur vor, wenn er zur Stätte eines Verbrechens gerufen wird.

»Mein lieber Inspektor McDonald«, lautete der Brief, den er uns vorlas. »Die amtliche Anforderung Ihrer Dienste finden Sie unter besonderem Umschlag. Das Folgende ist für Sie privat. Drahten Sie mir, mit welchem Zug Sie morgens in Birlstone eintreffen werden. Ich werde Sie entweder selbst erwarten, oder, wenn meine Zeit dies nicht erlaubt, Sie abholen lassen. Der Fall ist eine Sensation. Zögern Sie nicht einen Moment. Wenn Sie Mr. Holmes mitbringen können, tun Sie es. Er wird die Sache nach seinem Geschmack finden. Man möchte glauben, daß die Geschichte direkt auf einen Bühneneffekt angelegt war, wenn nicht ein Toter in ihrem Mittelpunkt stände. Sie können mir glauben, es ist eine Sensation.«

»Ihr Freund scheint kein Dummkopf zu sein«, bemerkte Holmes.

»Nein, Herr, White Mason hat es in sich, wenn Sie meinem Urteil glauben wollen.«

»Haben Sie sonst noch irgend etwas zu berichten?«

»Nein, er wird uns alles sagen, wenn wir ihn treffen.«

»Es stand aber doch in dem Brief nicht ein Wort von Mr. Douglas und daß er in schrecklicher Weise ermordet wurde. Woher wissen Sie denn das?«

»Das war in dem anliegenden Bericht enthalten. Das Wort ›schrecklich‹ kommt darin allerdings nicht vor; dergleichen kennt die amtliche Ausdrucksweise nicht. Lediglich der Name John Douglas ist angeführt und dazu bemerkt, daß der Tod von einem Kopfschuß herrühre, der aussehe wie von einem Schrotgewehr. Auch ist angeführt, wann das Verbrechen entdeckt wurde, nämlich gestern nahe an Mitternacht. Schließlich steht noch darin, daß es sich zweifellos um Mord handele, daß bisher niemand verhaftet wurde und der Fall einige ungewöhnliche und erstaunliche Eigenarten aufweise. Das ist alles, was uns bisher vorliegt, Mr. Holmes.«

»Wenn Sie gestatten, Mr. Mac, wollen wir es zunächst dabei bewenden lasse». Die Versuchung, sich auf Grund ungenügenden Tatsachenmaterials vorschnelle Ansichten zu bilden, ist eines der größten Übel unseres Berufes. Sicher ist bisher nur das Folgende: das Vorhandensein eines gefährlichen Kopfes in London und eines Toten in Sussex. Alles, was dazwischen liegt, müssen wir noch herausfinden.«

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3. Kapitel. Das Drama von Birlstone.

3. Kapitel. Das Drama von Birlstone.

Nunmehr möchte ich mir erlauben, meine eigene unbedeutende Persönlichkeit im weiteren Verlauf dieser Erzählung auszuschalten und die Ereignisse, die sich vor unserer Ankunft an der Stätte des Mordes abgespielt hatten, so zu schildern, wie sie im Lichte späterer Aufklärung erschienen sind. Dies ist, wie ich glaube, die einzige Art, wie ich den Leser mit den handelnden Personen und der eigenartigen Umgebung, in der sich ihr Schicksal abspielte, vertraut machen kann.

Das Dorf Birlstone liegt am Nordrande der Grafschaft Sussex und besteht aus einer kleinen Gruppe altertümlicher Fachwerkgebäude. Nachdem Jahrhunderte vorübergezogen waren, ohne irgendein Zeichen an dem Dörfchen zu hinterlassen, hatten sich in den letzten Jahren, offenbar von der malerischen Lage angezogen, eine Anzahl wohlhabender Leute, deren Villen aus den umliegenden Wäldern hervorblickten, darin niedergelassen. Diese Wälder sind der äußerste Kranz des großen Weal-Forstes, der sich von dort bis in die nördlichen Kalkdünen erstreckt. Einige kleine Kaufmannsläden traten ins Leben, um den Bedürfnissen der vermehrten Bevölkerung Rechnung zu tragen, und es hat fast den Anschein, als ob sich Birlstone aus einem altehrwürdigen Anscheinend verfügte er über reichliche Geldmittel, die, wie man sagte, aus den kalifornischen Goldfeldern stammten. Aus Gesprächen mit ihm und Andeutungen, die seine Frau fallen ließ, ging klar und deutlich hervor, daß er einen Teil seines Lebens in Amerika verbracht hatte. Der gute Eindruck, den er durch seine Freigebigkeit und seine leutseligen Manieren erweckt hatte, wurde noch erhöht durch den Ruf vollkommenster Furchtlosigkeit. Obgleich ein miserabler Reiter, ließ er es sich nicht entgehen, an jeder Fuchsjagd teilzunehmen, und er hatte bereits eine Anzahl schwerer Stürze erlitten in seinem zähen Bemühen, es den Besten gleichzutun. Als im Pfarrhaus einmal ein Brand ausbrach, zeichnete er sich durch den Mut aus, mit dem er in das brennende Gebäude eindrang, um Einrichtungsgegenstände zu retten, nachdem die Ortsfeuerwehr dies bereits als unmöglich aufgegeben hatte. Auf diese Weise war es gekommen, daß John Douglas, der Besitzer des Herrenhauses, sich in den fünf Jahren seines Aufenthaltes in Birlstone zu einer weithin und bestens bekannten Persönlichkeit gemacht hatte.

Auch seine Frau war bei allen, die sie genauer kannten, sehr beliebt. Sicher gab es allerdings, angesichts der dem Engländer eigenen scheuen Reserve gegenüber Fremden, die sich, ohne über gute Empfehlungen zu verfügen, auf dem Lande niederlassen, nicht sonderlich viele. Daran schien ihr indessen nicht im mindesten zu liegen, denn ihr Wesen neigte nicht zur Geselligkeit, und sie ging ganz in ihren ehelichen und hausfraulichen Pflichten auf. Man wußte von ihr nur, daß sie Engländerin war und Douglas, der damals Witwer war, in London kennengelernt hatte. Sie war eine Schönheit, hoch und schlank gewachsen, dunkel, etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, ein Altersunterschied, der in keiner Nacht des 6. Januar abspielten, in keinerlei Beziehung getreten.

Es war um ¾12 Uhr nachts, als die Nachricht von dem Verbrechen im Polizeibüro des Dorfes, das unter der Leitung des Sergeanten Wilson von der Sussex-Polizei stand, einlief. Mr. Cecil Barker war es, der in höchster Aufregung auf die Tür des Polizeibüros zugestürzt kam und heftig klingelnd Einlaß begehrte. Ein schreckliches Drama habe sich im Herrenhaus abgespielt, Mr. John Douglas sei ermordet worden. Das war der Inhalt der atemlos hervorgestoßenen Nachricht. Er eilte wieder zum Hause zurück, wohin ihm einige Minuten später der Sergeant folgte, nachdem er schnell seine vorgesetzte Behörde in Kenntnis gesetzt hatte, daß etwas Ernstliches vorgefallen sei. Sergeant Wilson traf einige Minuten nach 12 Uhr auf der Stätte des Mordes ein.

Als er das Herrenhaus erreichte, fand er die Zugbrücke heruntergelassen, die Fenster erleuchtet und den ganzen Haushalt in einem Zustand wildester Aufregung und größten Schreckens. Die Dienerschaft bildete mit bleichen Gesichtern eine Gruppe in der Halle; Ames stand händeringend im Torweg. Nur Cecil Barker schien Herr seiner Gefühle und Handlungen zu sein. Er öffnete die dem Eingang zunächst liegende Tür und winkte dem Sergeanten, ihm zu folgen. In diesem Augenblick traf auch Dr. Wood, der energische und tüchtige Arzt des Dorfes ein. Die drei Männer betraten das Schreckensgemach zu gleicher Zeit. Ames, der noch an allen Gliedern bebte, folgte ihnen und schloß die Tür, um dem draußenstehenden weiblichen Dienstpersonal den schauerlichen Anblick, der sich bot, zu entziehen.

Der Tote lag auf dem Rücken, ungefähr in der Mitte des Zimmers, alle Glieder von sich gestreckt. Er war nur mit einem Nachtanzug und einem rosafarbigen Schlafrock bekleidet. Seine bloßen Füße steckten in Pantoffeln. Der Arzt kniete neben ihm nieder und beleuchtete ihn mit der Handlampe, die auf dem Tisch stand. Ein Blick auf das Opfer genügte dem Mann der ärztlichen Wissenschaft, um zu erkennen, daß hier jede weitere Mühe vergeblich war. Der Tote war entsetzlich entstellt. Quer über seiner Brust lag eine sonderbare Waffe, ein Schrotgewehr, dessen Läufe etwa 30 cm, von den Drückern an gemessen, abgesägt waren. Es lag auf der Hand, daß das Gewehr aus nächster Nähe abgefeuert worden war, denn der Tote hatte die ganze Ladung ins Gesicht bekommen, wobei sein Kopf förmlich zertrümmert worden war. Die zwei Drücker waren mit Draht verbunden, um beide Läufe gleichzeitig abfeuern zu können und dadurch die entsetzliche Wirkung noch zu erhöhen. Der Dorfpolizist war völlig entnervt von dem Anblick und in größter Sorge über die Verantwortung, die unvermutet auf seine Schultern gefallen war.

»Wir wollen nichts anrühren, bis meine Vorgesetzten hier sind«, sagte er mit halblauter Stimme, den entsetzlich verstümmelten Kopf des Toten schaudernd anstarrend.

»Nichts ist berührt worden,« sagte Cecil Barker, »dafür stehe ich ein. Sie sehen alles so, wie ich es vorgefunden habe.«

»Wann war das?« Der Sergeant hatte sein Notizbuch hervorgezogen und hielt den Bleistift in Bereitschaft.

»Genau um ½12. Ich war noch vollständig angekleidet und saß am Kaminfeuer in meinem Schlafzimmer, als der Schuß ertönte. Er klang nicht sonderlich laut, eher gedämpft. Darauf stürzte ich hinunter. Ich glaube nicht, daß mehr als dreißig Sekunden verflossen waren, bis ich hier ankam.«

»War die Tür offen?«

»Jawohl, sie war offen. Der arme Douglas lag genau so da, wie Sie ihn jetzt sehen. Seine Schlafzimmerkerze stand brennend auf dem Tisch. Ich war es, der sie auslöschte und die Lampe anzündete.«

»Haben Sie irgend jemanden gesehen?«

»Nein, ich hörte Mrs. Douglas hinter mir die Treppe herabkommen und eilte ihr entgegen, um sie daran zu hindern, sich dem entsetzlichen Anblick auszusetzen. Dann kam Frau Allen, die Haushälterin, und führte sie hinweg. Auch Ames war unterdessen angelangt, und ich ging mit ihm wieder in das Zimmer zurück.«

»Die Zugbrücke wird doch, wie ich höre, jeden Abend aufgezogen?«

»Jawohl, sie war auch aufgezogen. Ich habe sie wieder heruntergelassen.«

»Wie war es dann aber möglich, daß der Mörder entkommen konnte? Es steht ganz außer Frage: Mr. Douglas muß sich selbst erschossen haben.«

»Das war auch unser erster Gedanke, aber hier, sehen Sie einmal!« Barker zog den Vorhang beiseite und enthüllte das lange, mit rhombischen Scheiben versehene Fenster, das in voller Breite offen stand. »Und hier, sehen Sie dies an.« Er nahm die Lampe und beleuchtete, das Fensterbrett auf dem sich Spuren einer Fußsohle mit Blut vermischt abhoben. »Jemand hat hier gestanden, um hinauszugelangen.«

»Sie meinen also, daß der Betreffende den Festungsgraben durchwatet hat?«

»Sehr richtig.«

»Wenn Sie also innerhalb einer halben Minute nach dem Schuß im Zimmer waren, muß sich der Mann gerade zu der Zeit im Wasser befunden haben.«

»Ich zweifle nicht daran. Wollte Gott, daß ich zum Fenster gesprungen wäre. Aber es war hinter dem Vorhang verborgen, so wie Sie es sahen und ist mir daher nicht in den Sinn gekommen. Dann hörte ich den Schritt von Mrs. Douglas, und es mußte natürlich meine Aufgabe sein, zu verhindern, daß sie in das Zimmer kam. Es wäre zu schrecklich gewesen.«

»Schrecklich ist nicht zuviel gesagt«, bemerkte der Doktor, der den zerschmetterten Kopf und den grauenerregenden Zustand der unmittelbaren Umgebung betrachtete. »Ich habe seit dem großen Eisenbahnunglück in Birlstone keine so fürchterlichen Verletzungen gesehen.«

»Sagen Sie mir bitte,« bemerkte der Polizeibeamte, dessen ländliches, langsam denkendes Gehirn sich noch immer mit dem offenen Fenster beschäftigte, »es ist alles recht gut und schön, was Sie da sagen von dem Mann, der den Festungsgraben durchwatet hat und dadurch entkommen ist, aber, und das möchte ich Sie hiermit fragen, wie kann er überhaupt ins Haus gekommen sein, wenn die Brücke aufgezogen war?«

»Das möchte ich auch wissen«, sagte Barker.

»Um wieviel Uhr wurde sie aufgezogen?«

»Es ging gerade auf sechs«, bemerkte Ames.

»Ich habe gehört,« sagte der Sergeant, »daß dies gewöhnlich um Sonnenuntergang herum geschieht. Das wäre um diese Jahreszeit eher etwa um halb fünf als sechs.«

»Frau Douglas hatte Besuch zum Tee«, antwortete Ames. »Ich konnte die Brücke nicht gut aufziehen, bevor die Besucher gegangen waren.«

»Die Sache ist also die,« meinte der Sergeant, »wenn irgend jemand von außen hereingekommen ist, – wenn, sage ich, – so muß dies schon vor sechs geschehen sein, und der Betreffende muß sich dann versteckt gehalten haben, bis Mr. Douglas nach elf das Zimmer betrat.«

»So ist es. Mr. Douglas machte jede Nacht vor dem Schlafengehen eine Runde durch das Haus, um zu sehen, ob alle Lichter ausgemacht seien. Zu diesem Zweck ist er auch hierher gekommen. Der Mann hat hier gewartet und ihn niedergeschossen, dann machte er sich durch das Fenster davon, ließ aber sein Gewehr zurück. Das ist meine Ansicht von der Sache, – die einzige, die mir auf Grund der vorliegenden Tatsachen möglich erscheint.«

Der Sergeant hob eine Karte auf, die neben dem Toten auf dem Fußboden lag. Darauf befanden sich nur zwei Buchstaben V V mit der Zahl 341 darunter, grob mit Tinte geschrieben.

»Was ist das?«, fragte er, indem er die Karte hochhielt.

Barker betrachtete sie neugierig.

»Die Karte ist mir noch gar nicht aufgefallen«, sagte er. »Die muß der Mörder hinterlassen haben.«

»V V 341, was kann das wohl bedeuten?«

Der Sergeant drehte sie mit seinen dicken Fingern von einer zur anderen Seite.

»Was ist V V? Jemandes Anfangsbuchstaben wahrscheinlich. Und was haben Sie da, Dr. Wood?«

Es war ein ziemlich großer Hammer, der auf dem Teppich vor dem Kaminfeuer gelegen hatte, ein kräftiges, solides Handwerkszeug. – Cecil Barker wies auf eine Schachtel mit Messingnägeln, die auf dem Kaminsims stand.

»Mr. Douglas hat gestern einige Bilder umgehängt«, sagte er. »Ich sah ihn auf jenem Stuhl stehen und das darüberhängende Bild befestigen. Daher wohl der Hammer.«

»Wir wollen ihn lieber auf den Teppich zurücklegen, wo wir ihn gefunden haben«, bemerkte der Sergeant und kratzte sich verlegen den Kopf. »Wenn wir der Sache auf den Grund kommen wollen, brauchen wir die klügsten Köpfe, die wir in der Polizei haben. Das wird ein Fall für die Londoner Herren werden, denke ich mir.« Er nahm die Handlampe auf und wandelte damit langsam durch das Zimmer. »Hallo!« rief er aufgeregt, indem er den Vorhang zur Seite zog. »Um wieviel Uhr wurden diese Vorhänge zugezogen?«

»Als wir die Lampen anzündeten«, antwortete Ames. »Das wird ungefähr um vier Uhr gewesen sein.«

»Hier hat sich jemand versteckt gehalten, das ist sicher.« Er hielt das Licht zu Boden, wodurch die Spuren schmutziger Stiefel sichtbar wurden. »Das stimmt mit Ihrer Theorie überein, Mr. Barker. Es sieht so aus, als ob der Mann nach vier Uhr, als die Vorhänge bereits zugezogen waren, und vor sechs Uhr, bevor die Zugbrücke aufgezogen wurde, ins Haus gelangte. Er schlüpfte in dieses Zimmer, weil es das erste war, das er sah. Da kein anderer Platz da war, wo er sich verstecken konnte, hat er sich hier hinter diesen Vorhang gedrückt. Das ist alles ganz klar. Wahrscheinlich war es ihm darum zu tun, zu stehlen, aber Mr. Douglas hat ihn zufällig gesehen, worauf der Mann ihn niederschoß und dadurch entwischen konnte.«

»So stelle auch ich mir die Sache vor«, sagte Barker. »Aber meinen Sie nicht, daß wir kostbare Zeit verlieren. Sollten wir nicht hinaus und die Gegend absuchen, bevor der Mann entweichen kann?«

Der Sergeant dachte eine zeitlang nach.

»Vor sechs Uhr morgens geht kein Zug mehr. Auf diese Weise kann er also nicht entfliehen. Wenn er in seinen nassen Kleidern über die Landstraße marschiert, wird er sicherlich jemandem auffallen, überhaupt kann ich mich von hier nicht wegrühren, bevor ich nicht abgelöst werde. Trotzdem bin ich der Meinung, daß ein paar Leute die Spur aufnehmen sollten, bis wir soweit sind, klarer zu sehen.«

Der Doktor hatte die Lampe ergriffen und untersuchte den Körper des Toten.

»Was ist das für ein Zeichen?« fragte er. »Könnte das eine Beziehung zu dem Verbrechen haben?«

Der rechte Arm des Toten stak, bis zum Ellbogen entblößt, aus dem Schlafrock heraus. Ungefähr in der Mitte des Unterarms befand sich ein sonderbares braunes Mal, ein Dreieck innerhalb eines Kreises, das sich von der milchweißen Haut in scharfem Kontrast abhob.

»Es ist keine Tätowierung«, sagte der Doktor, indem er es durch seine Gläser betrachtete. »Ich sah niemals etwas Dergleichen. Der Mann ist einmal mit einem Brand gezeichnet worden, so wie man Vieh brandet. Was halten Sie davon?«

»Ich habe keine Idee, was es bedeutet, aber ich habe das Brandzeichen an Douglas während der letzten zehn Jahre häufig bemerkt.«

»Auch ich«, sagte Ames, der Diener. »Oftmals, wenn sich der gnädige Herr die Hemdärmel aufgekrempelt hat, habe ich das Zeichen beobachtet und war begierig zu wissen, was es bedeuten könne.«

»Dann hat es also mit dem Verbrechen nichts zu tun«, sagte der Polizeibeamte. »Aber merkwürdig ist es trotzdem. Alles in dieser Geschichte ist merkwürdig. Nun was gibt’s schon wieder?«

Der Diener hatte einen Ausruf der Verwunderung ausgestoßen, indem er auf die ausgestreckte Hand des Toten wies. »Sie haben seinen Ehering genommen«, stieß er hervor.

»Was!«

»Jawohl, tatsächlich. Der gnädige Herr hat immer einen einfachen goldenen Trauring auf dem kleinen Finger der linken Hand getragen. Dieser Ring da, mit dem Goldklümpchen darauf, stak darüber und jener mit der gewundenen Schlange am dritten Finger. Der mit dem Goldklümpchen ist da und auch der Schlangenring, aber der Ehering fehlt.«

»Stimmt«, sagte Barker.

»Wollen Sie damit sagen,« fragte der Sergeant, »daß der Ehering hinter dem anderen saß?«

»Immer!«

»Dann muß also der Mörder, wer immer er war, zuerst den einen Ring abgezogen haben, den Sie den Goldklümpchen-Ring nennen und hinterher den Ehering, und dann den ersteren wieder aufgesteckt haben.«

»So ist es.«

Der ehrenwerte Dorfpolizist schüttelte den Kopf.

»Es scheint mir, je schneller wir London an die Sache bekommen, desto besser. White Mason ist sicherlich ein kluger Mann, kein Provinzfall war ihm jemals zu viel. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er hier ist und uns helfen kann. Aber ich glaube, wir werden auch die Londoner Herren brauchen. Jedenfalls schäme ich mich nicht, zu sagen, daß so etwas für unser einen zu hoch ist.«

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4. Kapitel. In der Dunkelheit.

4. Kapitel. In der Dunkelheit.

Um drei Uhr morgens traf der oberste Beamte der Grafschafts-Polizei auf den dringenden Anruf des Sergeanten Wilson, in einem leichten Dogcart, das von einem dampfenden Traber gezogen wurde, auf der Stätte des Mordes ein. Mit dem Zug um 5.40 Uhr morgens schickte er seine Nachricht an Scotland Yard in London und war um zwölf Uhr am Bahnhof in Birlstone, um uns zu erwarten.

Mr. White Mason war ein ruhiger, gemütlich aussehender Mensch, in losem Tweedanzug, mit glattrasiertem, sonnengebräunten Gesicht, etwas beleibt. Seine mächtigen O-Beine steckten in Gamaschen, die ihm das Aussehen eines kleinen Grundbesitzers oder eines pensionierten Forstbeamten, jedenfalls aber nicht das der weniger beliebten Gattung des Provinzdetektivs verliehen.

»Eine richtiggehende Sensation, sage ich Ihnen, Mr. McDonald«, wiederholte er in einem fort. »Es wird hier von Reportern wimmeln, wenn die Sache ruchbar wird. Ich will nur wünschen, daß wir mit unserer Arbeit zu Ende sind, bevor die Zeitungsmenschen ihre Nasen hineinstecken und uns alle Spuren ruinieren. Etwas Ähnliches habe ich noch nicht erlebt. Verschiedene Punkte sind auch für Sie da, Mr. Holmes, wenn ich mich nicht täusche, und auch für Sie, Mr. Watson, denn die Herren Ärzte werden noch ein gewichtiges Wort mitzusprechen haben, bevor wir durch sind. Ich habe für Sie ein Zimmer im Dorfgasthaus bestellt, dem einzigen, das es gibt. Kommen Sie, meine Herren, wenn ich bitten darf.«

Er war ein sehr geschäftiger und gesprächiger Mann, dieser Provinzdetektiv. In zehn Minuten befanden wir uns alle in unserem Quartier. In weiteren zehn saßen wir im Salon des Gasthofes und empfingen eine kurze Schilderung der Ereignisse, die im vorangegangenen Kapitel beschrieben sind. McDonald machte sich gelegentlich eine Notiz, während Holmes mit dem Ausdruck überraschter und andächtiger Bewunderung dasaß, etwa wie der Botaniker, der eine seltene und kostbare Blume betrachtet.

»Bemerkenswert«, sagte er, als die Schilderung zu Ende war. »Höchst bemerkenswert. Ich kann mich kaum an einen Fall erinnern, der solche Eigenarten aufwies.«

»Ich dachte mir, daß Sie das sagen würden, Mr. Holmes«, meinte White Mason höchst erfreut. »Wir hier in Sussex sind auf der Höhe der Zeit. Ich habe Ihnen nun erzählt, wie ich die Sache vorgefunden habe, als ich sie von Sergeant Wilson zwischen drei und vier des Morgens übernahm. Donnerwetter, habe ich meine alte Mähre in Schwung gebracht. Aber diese Eile war höchst überflüssig, wie sich hinterher herausstellte, denn es gab für mich tatsächlich nichts weiter zu tun. Sergeant Wilson hatte bereits den ganzen Tatbestand aufgenommen. Ich bin ihm durchgegangen, habe mir alles überdacht und habe vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten zugefügt.«

»Welche?«

»Also, in erster Linie ließ ich den Hammer untersuchen. Dr. Wood half mir dabei. Wir fanden nicht das geringste Merkmal eines Schlages gegen einen menschlichen Körper daran. Ich hatte gehofft, daß, wenn sich Mr. Douglas mit dem Hammer verteidigt hatte, Spuren an dem Werkzeug zurückgeblieben sein würden. Aber wir konnten keinen Blutfleck daran entdecken.«

»Das beweist natürlich nicht das geringste«, bemerkte Inspektor McDonald. »Viele Leute sind schon mit einem Hammer ermordet worden, ohne daß diesem etwas anzusehen war.«

»Sehr richtig, es beweist nicht, daß der Hammer nicht gebraucht worden ist, aber es hätte sein können, daß Spuren zu sehen waren, das wäre für uns ein wertvoller Anhaltspunkt gewesen. Wie dem auch sei, die Untersuchung hat zu nichts geführt. Dann untersuchte ich die Flinte. Sie war mit Rehpfosten geladen gewesen und, worauf schon Sergeant Wilson hingewiesen hatte, die Drücker waren in der Weise miteinander verbunden, daß beide Läufe gleichzeitig losgingen, wenn man den hinteren abzog. Wer das bewerkstelligt hat, war fest entschlossen, seinem Opfer keine Chance eines Davonkommens zu geben. Die abgesägte Flinte war nur etwa 60 Zentimeter lang. Man kann sie bequem unter dem Rock tragen. Der Name des Fabrikanten war unvollständig, man konnte nur die Silbe ›Pen‹ auf der Rille zwischen den beiden Läufen lesen; das übrige war offenbar auf dem abgesägten Teil.«

»Ein großes ›P‹ mit einem Schnörkel darüber und dann e und n etwas kleiner?« fragte Holmes.

»Sehr richtig.«

»Pennsylvania Small Arms Co., eine wohlbekannte amerikanische Firma«, erklärte mein Freund.

White Mason blickte ihn mit ebensolcher Ehrfurcht an, wie etwa der Dorfarzt einen Universitätsprofessor, der durch ein Wort Schwierigkeiten löst, die für jenen eine unübersteigbare Mauer bilden.

»Ausgezeichnet, Mr. Holmes! Sie haben Recht, ohne Zweifel. Wundervoll, wundervoll! Sagen Sie, haben Sie die Namen aller Waffenfabriken der ganzen Welt im Kopf?«

Holmes machte eine abwehrende Bewegung.

»Zweifellos ist es eine amerikanische Flinte«, fuhr White Mason fort. »Ich glaube irgendwo gelesen zu haben, daß abgeschnittene Schrotflinten in Amerika sehr gebräuchlich sind. Ich dachte schon daran, unabhängig von dem Namen auf dem Lauf. Wir können dies als einen Beweis auffassen, daß der Mann, der sich in das Haus geschlichen und den Hausherrn getötet hat, ein Amerikaner ist.«

McDonald schüttelte den Kopf.

»Mensch, halten Sie Ihre Gedanken im Zaum«, sagte er. »Wir haben noch gar keinen Beweis, daß sich überhaupt jemand ins Haus geschlichen hat.«

»So! Und das offene Fenster, das Blut am Fensterbrett, die sonderbare Karte, die Fußspuren in der Ecke, die Flinte, ist das gar nichts?«

»Es ist nichts, was nicht auch absichtlich hätte inszeniert werden können. Mr. Douglas war Amerikaner oder hat lange in Amerika gelebt, desgleichen Mr. Barker. Sie brauchen nicht erst einen Amerikaner von außen zu importieren, um eine Erklärung für amerikanische Vorkommnisse im Hause zu haben.«

»Ames, der Diener, –«

»Was ist’s mit ihm? Ist er zuverlässig?«

»Er war zehn Jahre bei Sir Charles Chandos. Er ist unbedingt einwandfrei. Hier bei Douglas war er während der ganzen fünf Jahre, die dieser das Haus bewohnt hat. Er sagte mir, daß er niemals eine Flinte dieser Art im Hause bemerkt hat.«

»Die Flinte ist leicht zu verstecken und offenbar auch dazu bestimmt; darum die abgesägten Läufe. Sie geht in jede größere Schachtel. Wie kann er mit Bestimmtheit sagen, daß keine solche Flinte im Hause war.«

»Jedenfalls hat er keine gesehen.«

McDonald schüttelte seinen störrischen Kopf.

»Ich bin gar nicht überzeugt, daß jemand von außen ins Haus gekommen ist«, sagte er. »Überlegen Sie sich einmal, was es bedeuten würde, wenn tatsächlich jemand die Flinte ins Haus gebracht hätte und alle diese sonderbaren Dinge von einer Außenperson verübt worden wären. Mensch, es ist geradezu undenkbar. Es widerspricht jeder gesunden Logik. Was ist Ihre Meinung, Mr. Holmes, nach dem, was wir bisher gehört haben?«

»Zunächst legen Sie uns einmal den Fall dar, Mr. Mac«, sagte Holmes im Tone des Untersuchungsrichters.

»Der Mann war kein Einbrecher, wenn wir schon annehmen, daß ein solcher Mann überhaupt existiert hat. Die Sache mit dem Ring und die Karte deuten auf persönliche Motive hin. Nun gut. Denken wir uns einen Mann, der sich in das Haus schleicht mit dem bestimmten Vorsatz, jemanden umzubringen. Er weiß und mußte wissen, daß für ihn ein Entrinnen äußerst schwierig ist, weil das Haus ringsum von Wasser umgeben ist. Was für eine Waffe würde er verwenden? Ich würde sagen, die geräuschloseste, die es gibt, denn er mußte doch trachten, nach vollbrachter Tat Zeit zu gewinnen, um aus dem Fenster zu steigen, den Wassergraben zu durchwaten und sich auf der anderen Seite davonmachen zu können. Das wäre verständlich. Aber es ist nicht verständlich, daß er etwas so Ausgefallenes tun würde, eine Waffe zu wählen, die nach menschlichem Ermessen jeden Hausbewohner in kürzester Zeit zur Stelle bringen würde, bevor er den Wassergraben durchqueren konnte. Halten Sie das für logisch, Mr. Holmes?«

»Ich muß sagen,« antwortete mein Freund nachdenklich, »Sie haben starke Gründe für sich. Sicherlich wäre die Erklärung einer solchen Handlungsweise nicht ganz einfach. Darf ich Sie fragen, Mr. White Mason, ob Sie den Boden auf der anderen Seite des Wassergrabens untersucht haben und Spuren eines Menschen, der aus dem Wasser gestiegen war, entdeckten?«

»Nicht das geringste von Spuren, Mr. Holmes. Die Böschung ist gepflastert, und wir konnten natürlich nichts anderes erwarten.«

»Keinerlei Anzeichen irgendwelcher Art?«

»Keine.«

»Haben Sie etwas dagegen, Mr. White Mason, wenn wir jetzt zum Haus hinuntergehen? Vielleicht finden wir noch irgend etwas, das uns einen Anhaltspunkt bieten könnte.«

»Das wollte ich soeben vorschlagen, Mr. Holmes. Ich habe es nur für ratsam gehalten, Ihnen zuerst alles mitzuteilen, was ich weiß. Ich denke mir, daß, wenn Sie irgend etwas finden, –« White Mason betrachtete den Amateurdetektiv zweifelnd.

»Ich habe mit Mr. Holmes schon öfter gearbeitet,« sagte Inspektor McDonald, »man kann sich auf ihn verlassen.«

»Wenigstens soweit, als ich dies für notwendig erachte«, bemerkte Holmes lächelnd. »Wenn ich mich je von der Seite der Polizei getrennt habe, so geschah dies, weil sie sich von mir trennte. Ich arbeite, um der Polizei und der Rechtspflege zu nützen. Es liegt mir nicht das geringste daran, einen Triumph auf deren Kosten einzuheimsen. Dagegen beanspruche ich für mich, Mr. White Mason, auf meine eigene Weise vorgehen und was ich finde, zu der Zeit preisgeben zu dürfen, die ich für die geeignete halte, – vollständig und nicht ratenweise.«

»Ihre Mitwirkung ehrt uns sehr, das kann ich Ihnen versichern, Mr. Holmes, und wir werden Ihnen gern alles zur Verfügung stellen, was wir wissen«, erklärte White Mason herzlich. »Kommen Sie, Dr. Watson, wir hoffen alle noch in Ihr Buch zu kommen.«

Wir schritten die wunderliche, auf beiden Seiten von gestutzten Ulmen eingefaßte Dorfstraße entlang. Jenseits sahen wir zwei altertümliche Steinpfeiler, verwittert und mit Flechten besät, die oben ein unbestimmtes Etwas, das einmal der Wappenlöwe der Capus von Birlstone gewesen sein mochte, trugen. Dann folgte ein kurzer gewundener Weg zwischen Wiesen, flankiert von Eichen, wie man sie nur im ländlichen England findet. Nach einer unvermittelten Wendung lag das langgestreckte, niedrige Haus aus der jakobinischen Periode mit seinem dunkelbraunen Ziegelmauerwerk, umgeben von seinem altmodischen Garten mit zahlreichen beschnittenen Eibenbäumen vor uns. Als wir uns näherten, gewahrten wir die hölzerne Zugbrücke und den schönen breiten Festungsgraben, in dem das stille Wasser wie Quecksilber in dem kalten Wintersonnenschein glitzerte. Drei Jahrhunderte waren an dem alten Herrenhaus vorbeigezogen, Jahrhunderte, die viele Menschen darin geboren werden, ausziehen und wiederkehren sahen, Jahrhunderte, erfüllt von Lustbarkeiten und ländlich-sportlichem Zeitvertreib. Es war ein eigenartiges Verhängnis, daß jetzt, in seinen alten Tagen, der Schatten dieses düsteren Ereignisses auf seine ehrwürdigen Mauern fallen mußte. Und doch bildeten diese sonderbar gegiebelten Dächer, mit ihren altmodischen, wunderlichen Vorsprüngen, die stimmungsvolle Bedachung eines ernsten, schrecklichen Geschehnisses. Als ich die tief eingelassenen Fenster und die lang hingestreckte, dunkle, vom Wasser bespülte Fassade sah, kam mir zum Bewußtsein, daß kaum ein passenderes Milieu für ein solches Drama denkbar war.

»Das ist das Fenster,« sagte White Mason, »jenes, unmittelbar zur Rechten der Zugbrücke. Wir haben es offen gelassen, genau wie wir es gestern abend fanden.«

»Es sieht etwas schmal aus für einen erwachsenen Mann.«

»Nun, er kann eben nicht besonders beleibt gewesen sein. Wir brauchen nicht Ihre Schlußfolgerungen, Mr. Holmes, um das zu wissen. Aber jeder von uns beiden könnte sich leicht durchzwängen.«

Holmes schritt bis an den Rand des Festungsgrabens und blickte nach der anderen Seite hinüber. Dann untersuchte er die steinerne Böschung und deren Graseinfassung.

»Ich habe mich schon genau umgesehen, Mr. Holmes,« sagte White Mason, »es ist nichts da; nicht das geringste deutet darauf hin, daß einer da herausgestiegen ist. Aber wie könnte er auf den Steinen eine Spur hinterlassen?«

»Sehr richtig, wie könnte er. Ist das Wasser immer trübe?«

»Gewöhnlich hat es diese Färbung. Der Zufluß macht es so lehmig.«

»Wie tief ist es?«

»Ungefähr zwei Fuß am Rand und drei in der Mitte.«

»Wir können demnach dem Gedanken, daß der Mann vielleicht darin ertrunken ist, außer acht lassen.«

»Sicherlich, nicht einmal ein Kind könnte darin ertrinken.«

Wir gingen dann über die Zugbrücke und wurden an der Eingangstür von einem wunderlichen, verschrumpften Männchen, dem Diener Ames, in Empfang genommen. Er war noch immer blaß und zitterte am ganzen Leibe in Erinnerung an den ausgestandenen Schrecken. Der Polizeibeamte des Dorfes, ein großer, ernst und gewissenhaft aussehender Mensch, hielt noch Wache in dem Totengemach. Der Arzt war schon fortgegangen.

»Etwas Neues, Sergeant Wilson?« fragte White Mason.

»Nein, Herr.«

»Dann können Sie nach Hause gehen, Sie haben schon genug getan. Wenn wir Sie brauchen, werden wir nach Ihnen schicken. Der Diener soll lieber draußen warten. Sagen Sie ihm, er soll Mr. Cecil Barker, Frau Douglas und die Haushälterin verständigen, sich bereitzuhalten, weil wir einiges mit ihnen zu besprechen haben. Nun, meine Herren, möchte ich mir gestatten, Ihnen die Ansicht, die ich mir gebildet habe, auseinanderzusetzen. Dann wird es an Ihnen sein, sich Ihre Meinungen zu bilden.«

Er gefiel mir, dieser provinzielle Spezialist. Er hatte ein klares Auge für Tatsachen und einen kühlen, praktischen Kopf, der ihn in seinem Berufe ein gutes Stück vorwärts bringen mußte. Holmes hörte ihm aufmerksam zu, ohne ein Zeichen jener Ungeduld, die beamtete Detektive so oft in ihm erregten.

»Ist es Selbstmord oder Mord – das ist unsere erste Frage, meine Herren. Wenn es Selbstmord wäre, müßten wir als erwiesen ansehen, daß der Mann damit begonnen hat, seinen Ehering abzulegen und ihn zu verbergen; daß er, der in einem Schlafrock herunterkam, mit schmutzigen Stiefeln in jener Ecke hinter dem Vorhang herumtrampelte, um vorzutäuschen, daß hier jemand auf ihn gelauert hat; daß er das Fenster öffnete, Blutspuren auf dem –«

»Diesen Gedanken wollen wir als erledigt betrachten«, sagte Holmes.

»Das ist auch meine Meinung. Selbstmord steht außer Frage. Dann war es also Mord. In diesem Falle müssen wir uns darüber klar werden, ob er von jemandem aus dem Hause oder von einem Außenstehenden verübt wurde.«

»Nun gut, lassen Sie uns weiterhören.«

»Es gibt eine Reihe von Umständen, die gegen beide Möglichkeiten sprechen, und trotzdem muß eine davon die richtige sein. Wir wollen zunächst annehmen, daß das Verbrechen von einem Hausbewohner begangen wurde. Es geschah in einer Zeit, als zwar alles schon in tiefster Ruhe lag, aber trotzdem noch niemand schlief. Dann benutzte der Mörder eine der eigenartigsten und geräuschvollsten Waffen, die es gibt, gerade so, als ob er es darauf angelegt hätte, das ganze Haus so rasch als möglich zusammenzutrommeln; und zwar eine Waffe, die noch niemand im Hause vorher gesehen hat. Das klingt nicht wahrscheinlich.«

»So ist es.«

»Wir dürfen es als feststehend annehmen, daß kaum eine Minute verging, nachdem der Schuß gefallen war, bis sich die gesamten Hausbewohner – keineswegs Mr. Cecil Barker allein, obgleich er angibt, der erste gewesen zu sein, sondern auch Ames und alle anderen – an der Mordstelle versammelten. Will irgend jemand behaupten, daß in dieser kurzen Zeit die schuldige Person Fußspuren in der Ecke machen, das Fenster öffnen, das Fensterbrett mit Blut beschmieren, den Ehering von dem Finger des Toten abziehen und alles übrige tun konnte? Das ist ganz unmöglich.«

»Was Sie da sagen, ist ganz klar«, sagte Holmes. »Ich bin geneigt, mich Ihrer Meinung anzuschließen.«

»Nun also, dann müssen wir wieder zu der ersten Annahme zurückkehren, nämlich, daß die Tat von einer Außenperson verübt wurde. Auch hier stehen wir schwerwiegenden Bedenken gegenüber, aber keinen Unmöglichkeiten mehr. Der Mann ist zwischen ½5 und 6 Uhr, also während der Dämmerung und bevor die Zugbrücke aufgezogen wurde, ins Haus gelangt. Es waren Gäste da, die Eingangstür war offen. Es war also nicht schwierig, sich einzuschleichen. Der Mann war entweder ein ganz gewöhnlicher Einbrecher oder jemand, der eine persönliche Angelegenheit mit Mr. Douglas austragen wollte. Da Mr. Douglas einen großen Teil seines Lebens in Amerika zugebracht hat, und diese Flinte amerikanischer Herkunft ist, würde ich die letztere Annahme für die wahrscheinlichere halten. Er schlich sich in dieses Zimmer, weil es das nächstgelegene war, und verbarg sich hinter dem Vorhang. Dort verblieb er bis nach 11 Uhr abends. Zu jener Zeit betrat Mr. Douglas das Zimmer. Die Unterredung kann nur ganz kurz gewesen sein, wenn überhaupt eine stattgefunden hat, denn Mrs. Douglas erklärt, daß ihr Mann sie kaum ein paar Minuten verlassen hatte, als sie den Schuß hörte.«

»Auch die Kerze deutet darauf hin«, sagte Holmes.

»Sehr richtig, die Kerze, die ganz frisch war, ist kaum einen halben Zoll heruntergebrannt. Er muß sie auf den Tisch gestellt haben, bevor er angegriffen wurde, sonst würde sie natürlich zu Boden gefallen sein. Dies würde besagen, daß er nicht sofort nach seinem Eintritt überfallen wurde. Als Mr. Barker kam, zündete er die Lampe an und löschte die Kerze aus.«

»Das ist einleuchtend.«

»Nun also, dann wollen wir uns den Vorgang auf dieser Grundlage rekonstruieren. Mr. Douglas tritt in das Zimmer und stellt die Kerze auf den Tisch. Ein Mann kommt hinter dem Vorhang hervor, mit dieser Flinte bewaffnet. Er verlangt den Ehering, – der Himmel weiß allein, warum, aber er muß es getan haben. Mr. Douglas gibt ihn ab. Dann hat der Mann entweder kaltblütig, oder im Verlauf eines Kampfes – Douglas hat vielleicht den Hammer ergriffen, den wir auf dem Boden liegen sahen, – Douglas auf diese entsetzliche Weise getötet. Er ließ sein Gewehr fallen und anscheinend auch diese wunderliche Karte V V 341, – was das bedeutet, wissen wir nicht. Er sprang aus dem Fenster und durchquerte den Festungsgraben, gerade als Cecil Barker das Verbrechen entdeckte. Wie wäre das, Mr. Holmes?«

»Sehr interessant, aber nicht sonderlich überzeugend.«

»Mann, ich würde es unbedingt für Unsinn halten, wenn nicht alles andere noch unsinniger wäre«, rief McDonald. »Jemand hat diesen Mann getötet und derjenige, der es war, hätte nach allen Regeln der Vernunft ganz anders vorgehen müssen. Was konnte ihn z. B. veranlassen, sich seinen Rückzug zu gefährden, indem er eine Schußwaffe verwendet, wo doch in der Geräuschlosigkeit die einzige Möglichkeit seines Entweichens lag. Lieber Mr. Holmes, es ist nun an Ihnen, uns einen Weg zu zeigen, nachdem Sie behaupten, daß Mr. White Masons Theorie nicht überzeugend ist.«

Holmes hatte während dieser langen Unterredung den angestrengt aufmerksamen Beobachter gespielt. Nicht ein Wort von dem, was gesagt wurde, war ihm offenbar verloren gegangen. Seine scharfen Augen blitzten von links nach rechts, und seine Stirn trug die Falten angestrengtesten Nachdenkens.

»Bevor ich meine Ansicht äußere, Mr. Mac, möchte ich noch einiges Tatsächliche genauer untersuchen«, sagte er, indem er sich neben der Leiche niederkniete. »Großer Gott! Diese Verletzungen sind wirklich entsetzlich. Können wir den Diener ein paar Minuten hier haben? – – – Ames, ich höre, daß Sie verschiedene Male dieses ungewöhnliche Zeichen, ein Dreieck innerhalb eines Kreises, das auf Mr. Douglas‘ Unterarm eingebrannt ist, gesehen haben.«

»Jawohl, sehr oft, Herr.«

»Sie haben niemals eine Vermutung darüber äußern gehört, was es bedeutet?«

»Nein, Herr. Das Einbrennen muß seinerzeit sehr schmerzhaft gewesen sein. Zweifellos ist es ein Brand.«

»Sodann, Ames, bemerke ich, daß Ihr Herr hier am Kinn ein kleines Pflaster kleben hat. Haben Sie dieses schon bemerkt, als er noch am Leben war?«

»Jawohl, Herr, er hat sich gestern Morgen beim Rasieren geschnitten.«

»Hat er dies öfter getan?«

»Schon lange nicht mehr, Herr.«

»Das gibt zu denken«, sagte Holmes. »Vielleicht ist es nur ein zufälliges Zusammentreffen, vielleicht aber deutet es auf eine gewisse Nervosität hin, die besagen würde, daß er sich in Gefahr wußte. Haben Sie in der letzten Zeit etwas Auffälliges in seinem Benehmen bemerkt, Ames?«

»Es ist mir aufgefallen, daß er ein bißchen aufgeregt und unruhig war.«

»Na also, der Überfall war vielleicht nicht ganz unerwartet. Es scheint, wir machen schon einige Fortschritte, nicht wahr? Wollen Sie vielleicht jetzt die Fragestellung übernehmen, Mr. Mac?«

»Nein, Mr. Holmes, sie ist bei Ihnen in besseren Händen.«

»Also, dann wollen wir jetzt zu dieser Karte übergehen. Sie enthält die sonderbare Inschrift V V 341 und ist aus grobem Karton. Haben Sie etwas dergleichen im Hause?«

»Ich glaube nicht.«

Holmes ging hinüber zum Schreibtisch und betupfte das Löschpapier mit Proben aus jeder der beiden Tintenfässer.

»Die Schrift ist nicht in diesem Zimmer ausgeführt worden«, sagte er. »Dies ist schwarze Tinte, während die auf der Karte rötlich ist. Dann wurde sie mit einer breiten Feder geschrieben, während diese spitzig ist. Nein, die Inschrift rührt von wo anders her. Haben Sie eine Ahnung, Ames, was sie bedeuten könnte?«

»Nicht die geringste, Herr.«

»Und Sie, Mr. Mac?«

»Ich halte dafür, daß es das Zeichen irgend eines Geheimbundes ist.«

»Das glaube ich auch,« sagte White Mason.

»Nun also, dann wollen wir dies unseren weiteren Schlußfolgerungen zugrunde legen und sehen, wohin sie uns führen. Ein Abgesandter einer geheimen Verbindung schleicht sich ins Haus, wartet auf Mr. Douglas, trennt ihm fast den Kopf vom Leibe mit dieser Waffe und entweicht durch den Festungsgraben, nachdem er eine Karte neben der Leiche zurückgelassen hat, die, wenn sie in den Zeitungsberichten erwähnt wird, den anderen Mitgliedern des Geheimbundes bekannt gibt, daß der Racheakt vollzogen ist. Das erscheint logisch. Aber warum verwandte er gerade diese Art Waffe?«

»Jawohl, das möchte ich auch wissen.«

»Und wie verhält es sich mit dem fehlenden Ehering?«

»Sehr richtig.«

»Und warum noch keine Verhaftung? Es ist jetzt zwei Uhr vorüber. Ich darf doch annehmen, daß seit heute Morgen jeder Polizist innerhalb vierzig Meilen auf einen Fremdling mit durchnäßten Kleidern aufpaßt?«

»Das können Sie annehmen, Mr. Holmes.«

»Nun denn, wenn er nicht hier in der Nähe einen Unterschlupf hat, oder seine Kleider wechseln konnte, kann er ihnen nach menschlichem Ermessen nicht entgehen. Und doch ist er ihnen offenbar schon entgangen.«

Holmes war zum Fenster gegangen, wo er mit einem Vergrößerungsglas die Blutspuren auf dem Fensterbrett untersuchte.

»Eine Fußspur, unbedingt. Ungewöhnlich breit, anscheinend ein Plattfuß. Sonderbar, denn die Fußspuren in der Ecke drüben rühren von einer weit besser geformten Sohle her. Immerhin, sie sind höchst undeutlich. Und was haben wir hier, unter diesem Tischchen?«

»Die Hanteln von Mr. Douglas«, bemerkte Ames.

»Hanteln, in der Mehrzahl? Ich sehe nur ein Stück, wo ist die andere?«

»Ich weiß nicht, Mr. Holmes, vielleicht war nur eine da. Ich habe schon seit Monaten nicht darauf geachtet.«

»Eine Hantel –«, sagte Holmes nachdenklich, aber was er sagen wollte, blieb ungesprochen, denn von der Tür her ertönte ein kräftiges Pochen. Ein großer, sonngebräunter, energisch aussehender, glattrasierter Mann trat ein. Es war nicht schwierig, in ihm Mr. Cecil Barker, von dem wir schon verschiedentlich gehört hatten, zu erkennen. Seine kalten Augen, die von einem zum anderen wanderten, warfen fragende Blicke auf uns.

»Bitte die Störung zu entschuldigen,« sagte er, »aber Sie müssen das Neueste sofort erfahren.«

»Eine Festnahme?«

»Leider nicht, aber man hat das Zweirad gefunden, das der Mann zurückgelassen hat. Kommen Sie und sehen Sie selbst. Es liegt etwa hundert Schritt vom Eingangstor entfernt.«

Neben dem Zufahrtsweg fanden wir eine kleine Gruppe von Stallbediensteten und anderem Dienstpersonal, die ein Zweirad betrachteten, das man, in einem Gestrüpp von Immergrün verborgen, gefunden hatte. Es war ein ziemlich abgenutztes Fahrzeug, von unten bis oben mit Kot bespritzt. In der Satteltasche befanden sich ein Schraubenschlüssel und eine Schmierkanne. Irgend welche Hinweis auf den Eigentümer fehlten.

»Es wäre für die Polizei eine große Unterstützung, wenn diese Dinger numeriert und eingetragen werden müßten. Aber wir müssen die Dinge nehmen, wie wir sie finden. Wenn wir auch nicht wissen, wohin er sich gewandt hat, so können wir nun doch erfahren, woher er gekommen ist. Aber bei allem, was wunderbar ist, warum hat der Mann das Rad zurückgelassen, und wie ist er ohne das Ding durchgekommen? Ich sehe noch keinen Lichtstrahl, Mr. Holmes.«

»Wirklich?« sagte mein Freund nachdenklich. »Nun, man kann nicht wissen.«

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1. Kapitel. Die Warnung.

I. Teil.
Der Mord in Birstone

1. Kapitel. Die Warnung.

»Ich bilde mir ein, –« sagte ich.

»Ich würde mir nichts einbilden,« unterbrach mich Sherlock Holmes spöttisch.

Ich bin sicherlich einer der fügsamsten und geduldigsten Menschen dieser Welt, aber dieser Ausfall meines Freundes brachte mein Blut doch etwas in Wallung.

»Mein lieber Holmes,« antwortete ich mit aller Schärfe, deren ich fähig bin, »Sie sind manchmal unleidlich.«

Er war so sehr in Gedanken vertieft, daß er meinen Einwand völlig überhörte. Den Kopf in die Hände gestützt, das unberührte Frühstück vor sich, starrte er auf einen Streifen Papier, den er soeben einem Kuvert entnommen hatte. Dann ergriff er das Kuvert, hielt es ans Licht und prüfte es sorgfältig, sowohl die Vorderseite wie die Klappe.

»Es ist Porlocks Handschrift,« murmelte er nachdenklich; »unverkennbar, obwohl ich sie erst zweimal gesehen habe. Er schreibt das e wie das griechische epsilon, mit einem eigenartigen Schnörkel darüber; wenn der Brief von Porlock ist, muß es eine Sache von höchster Wichtigkeit sein.«

Diese halb im Selbstgespräch geäußerten Worte waren eigentlich nicht an mich gerichtet, aber mein Verdruß schwand über dem Interesse, das sie in mir erweckten.

»Und wer, wenn ich fragen darf, ist Porlock?«

»Porlock, mein lieber Watson, ist ein Deckname, nichts weiter als ein einfaches Unterscheidungswort, aber dahinter steckt eine äußerst gewandte und schwer faßbare Persönlichkeit. In einem seiner früheren Briefe hat er mir ganz offen mitgeteilt, daß es nicht sein Name sei und mir zu verstehen gegeben, daß er allen Nachforschungen, ihn in unserer Millionenstadt aufzuspüren, trotzen würde. Porlock ist mir wichtig, nicht wegen seiner selbst, sondern wegen seiner Beziehungen zu einem bedeutenden Manne. Zu diesem steht er in einem Verhältnis, etwa wie der Lotsenfisch zum Hai oder der Schakal zum Löwen. Die beiden stellen eine Vereinigung des Unbedeutenden mit dem Schrecklichen dar. Nicht bloß schrecklich, mein lieber Watson, sondern unheildrohend im höchsten Grade. In diesem Zusammenhang ist Porlock in meinen Gesichtskreis getreten. Habe ich Ihnen nicht schon von Professor Moriarty erzählt?«

»Dem bekannten wissenschaftlichen Verbrecher, der in der Unterwelt dieser Stadt ebenso berühmt ist wie –«

»Sie machen mich erröten, Watson«, murmelte Holmes, bescheiden abwehrend.

»Ich wollte sagen, wie er dem großen Publikum unbekannt ist.«

»Sehr geschickt, äußerst geschickt. Sie entwickeln neuerdings einen überraschend, schelmischen Humor, lieber Watson, gegen den ich noch nicht gewappnet bin. Wenn Sie aber Moriarty einen Verbrecher nennen, so begehen Sie damit im Sinne des Gesetzes eine Beleidigung, und darin gerade liegt der eigenartige Reiz der ganzen Sache. Der größte Bösewicht aller Zeiten, der Organisator teuflischer Verbrechen, das geistige Haupt der Unterwelt – ein Kopf, der ein ganzes Volk zum Guten oder Bösen lenken könnte, das ist das Bild des Mannes. Aber so hoch ist er über jeden Verdacht, selbst über schüchterne Kritik erhaben, so bewunderungswürdig weiß er seine Handlungen zu bemänteln und sich selbst im Dunkeln zu halten, daß er Sie wegen der paar Worte, die Sie eben geäußert haben, vors Gericht schleppen könnte, und daß ihm dieses zweifellos Ihre volle Jahrespension als Entschädigung für die erlittene Ehrenkränkung zusprechen würde. Ist er doch der gefeierte Autor der ›Dynamik eines Asteroiden‹, eines Werkes, das sich zu den höchsten Höhen der Mathematik erhebt, so daß behauptet wird, es gäbe keinen Menschen in der Fachpresse, der fähig wäre, es zu begutachten. Einen solchen Mann darf man nicht ungestraft beleidigen. Der ehrabschneidende Arzt und der gekränkte Professor – das wären die Rollen, die Ihr beide vor Gericht spielen würdet. Darin liegt Genie, Watson. Aber auch mein Tag wird kommen, wenn mich meine Feinde kleineren Formats am Leben lassen.«

»Ich wollte, ich könnte dabei sein,« rief ich andächtig. »Sie wollten mir jedoch etwas von dem Mann Porlock erzählen.«

»Ja so – also der sogenannte Porlock ist ein Glied in der Kette, allerdings eines, das ziemlich weit von dem Kettenschloß entfernt ist. Außerdem ist er, unter uns gesagt, ein etwas schadhaftes Glied, tatsächlich der einzige schwache Punkt darin, den ich bisher feststellen konnte.«

»Nach einem Grundsatz der Mechanik ist aber eine Kette nicht stärker als ihr schwächstes Glied.«

»Sehr richtig, mein lieber Watson. Darin besteht auch die außerordentliche Bedeutung von Porlock. Er leidet offenbar an zarten Anwandlungen zum Guten, die ich gelegentlich durch die Übersendung einer Zehn-Pfund-Note, die ich ihm auf Umwegen zukommen ließ, zu ermutigen getrachtet habe. Daraus entsprangen seine Mitteilungen an mich, von höchstem Wert für den, der Verbrechen lieber verhütet als rächt. Wenn wir jetzt die Chiffre hätten, würde sich, wie ich fest überzeugt bin, herausstellen, daß das, was hier auf dem Papier steht, eine solche Mitteilung ist.«

Abermals glättete Holmes das Papier auf seinem unbenutzten Teller. Ich erhob mich, beugte mich über seine Schulter, und gewahrte auf dem Papier eine sonderbare Inschrift, die wie folgt lautete:

534, K 2, 13, 127, 36 Douglas
10, 9, 293, 5, 37 Birlstone
26 Birlstone, 9, 127

»Was halten Sie davon, Holmes?«

»Es ist offenbar ein Versuch, mir eine geheime Nachricht zu übermitteln.«

»Aber was haben wir von einer Chiffrenachricht ohne den Schlüssel dazu?«

»In diesem Falle nicht das geringste.«

»Warum sagen Sie: in diesem Fall?«

»Sehr einfach, weil ich eine ganze Menge Chiffren so leicht lese, wie die geheimnisvoll abgefaßten Inserate in den Zeitungen. Solche plumpen Versuche, Nachrichten geheim zu halten, sind für mich eher belustigend als ermüdend. Aber dies hier ist etwas anderes. Die Chiffrezeichen beziehen sich offenbar auf eine bestimmte Seite in einem bestimmten Buche, und solange ich nicht weiß, um welche Seite und welches Buch es sich handelt, kann ich natürlich nichts damit anfangen.«

»Aber was soll dann ›Douglas‹ und ›Birlstone‹ bedeuten?«

»Das sind zweifellos Worte, die auf der betreffenden Seite nicht enthalten sind.«

»Warum hat er dann aber nicht angedeutet, auf welches Buch er sich bezieht?«

»Ihre angeborene Schlauheit, mein lieber Watson, jene natürliche Listigkeit in Ihrem Wesen, die das Entzücken Ihrer Freunde ist, würde es sicherlich nicht zulassen, daß Sie eine Chiffrenachricht und den Schlüssel dazu im selben Kuvert versenden. Wenn es in falsche Hände geriete, wären Sie erledigt. Getrennt verschickt, müßten jedoch beide in falsche Hände geraten, damit ein Schaden entstehen könnte. Die zweite Post ist schon überfällig. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie uns entweder einen erklärenden Brief oder, was noch wahrscheinlicher ist, das Buch, auf das sich die Zahlen beziehen, bringt.«

Holmes‘ Voraussage sollte nur zu bald in Erfüllung gehen. Billy, unser kleiner Diener, trat wenige Minuten später mit dem Brief ein, den wir erwartet hatten.

»Dieselbe Handschrift,« bemerkte Holmes, als er das Kuvert öffnete, »und tatsächlich auch mit voller Unterschrift,« fügte er freudig hinzu, als er den Brief entfaltete. »Nun werden wir sehen, Watson.«

Sein Gesicht verdüsterte sich jedoch, als er den Inhalt des Briefes überflog.

»Donnerwetter, das ist enttäuschend. Ich fürchte, Watson, daß aus unseren hochgespannten Erwartungen nichts wird. Ich will nur wünschen, daß unserem Porlock kein Unheil zustößt.«

›Sehr geehrter Herr Holmes,‹ lautete der Brief, ›ich kann in der Sache nichts weiter tun. Es ist zu gefährlich. Er hat Verdacht gegen mich geschöpft, wie ich deutlich erkennen kann. Heute kam er ganz unerwarteterweise zu mir herein, als ich bereits dieses Kuvert, in der Absicht, Ihnen damit den Schlüssel der Chiffre zu senden, mit der Anschrift versehen hatte. Ich konnte es gerade noch zudecken. Wenn er es gesehen hätte, würde es mir schlecht ergangen sein. Er ist höchst argwöhnisch, ich lese es in seinen Augen. Bitte verbrennen Sie die chiffrierte Nachricht, die nun für Sie wertlos ist. Fred Porlock.‹

Holmes versank danach in tiefes Schweigen und starrte finster ins Kaminfeuer, indem er den Brief in seinen Fingern zerknüllte.

»Vielleicht,« sagte er, »ist nichts daran. Möglicherweise war es nur sein schuldbeladenes Gewissen, das ihm, dem bewußten Verräter, Argwohn in den Augen des anderen vortäuschte.«

»Unter dem anderen verstehen Sie wohl Professor Moriarty?«

»Niemanden Geringeren. Wenn irgend einer der Bande von ihm spricht, weiß ich, wen er damit meint.«

»Was ist nun zu tun?«

»Ja, das ist nun die große Frage. Da wir einen der klügsten Köpfe ganz Europas gegen uns haben, mit allen dunklen Gewalten ausgerüstet, ergeben sich für uns geradezu unbeschränkte Möglichkeiten. Jedenfalls ist unser Freund Porlock in tödlicher Angst. Vergleichen Sie einmal die Handschrift in diesem Brief mit der auf dem Kuvert, das, wie er angibt, von ihm beschrieben wurde, bevor er den unheilvollen Besuch empfing. Auf dem Kuvert ist sie fest und klar, in dem Brief kaum leserlich.«

»Warum hat er überhaupt geschrieben und die Sache nicht einfach fallen lassen?«

»Wahrscheinlich, weil er befürchtete, ich würde Nachforschungen nach ihm anstellen, die ihm Ungelegenheiten bereiten könnten.«

»Ohne Zweifel,« sagte ich, indem ich die chiffrierte Nachricht aufhob und gedankenvoll betrachtete. »Es ist wirklich zum Verzweifeln, wenn man denkt, daß dieser Streifen Papier wahrscheinlich ein wichtiges Geheimnis enthält, dem man auf keine Weise beikommen kann.«

Sherlock Holmes schob sein unberührtes Frühstück beiseite und zündete sich seine Pfeife an, die ständige Gefährtin seiner tiefsten Gedanken.

»Vielleicht,« sagte er, sich zurücklehnend, den Blick an die Decke geheftet, »vielleicht finden wir etwas heraus, das Ihrem Machiavelli-Gehirn bisher verborgen geblieben ist. Betrachten wir uns einmal das Problem im Lichte der reinen Logik. Die Andeutungen des Mannes beziehen sich auf ein Buch. Das ist klar und davon wollen wir ausgehen.«

»Eine recht unsichere Spur, nach meiner Meinung.«

»Zugegeben; aber vielleicht können wir den Bereich der Möglichkeiten etwas enger umgrenzen. Je stärker ich mein Gehirn darauf konzentriere, desto weniger undurchdringlich erscheint mir das Geheimnis. Welche Anzeichen haben wir, was dieses Buch betrifft?«

»Keine«.

»Na, na, so schlimm wird die Sache nicht sein. Die Chiffre beginnt mit der Zahl 534, und wir wollen annehmen, daß diese Zahl sich auf die Seite in dem Buch, um das es sich handelt, bezieht. Das würde heißen, daß es ein dickes Buch ist, womit wir schon ein Stück weitergekommen sind. Und was für andere Anzeichen haben wir noch, hinsichtlich dieses dicken Buches? Das nächste Zeichen, K 2, was kann das bedeuten, Watson?«

»Zweites Kapitel, ohne Zweifel.«

»Kaum, Watson. Sie werden mir zugeben, daß, wenn er uns die Seite bezeichnet, die Kapitelzahl gleichgültig ist. Außerdem, wenn Sie annehmen, daß die Seite 534 erst im zweiten Kapitel ist, müßte das erste Kapitel schauderhaft lang sein.«

»Kolumne,« rief ich.

»Fabelhaft, Watson. Sie sprühen heute geradezu von Geist. Kolumne ist es, wenn uns nicht alles täuscht. Sie sehen also, vor unseren Augen zeigt sich bereits ein dickes Buch, doppelspaltig gedruckt, mit Spalten von erheblicher Länge, denn eines der darin vorkommenden Worte ist mit 293 bezeichnet. Nun frage ich Sie, haben wir damit schon die Grenze der logischen Ableitung erreicht?«

»Es scheint leider so.«

»Sie sind ungerecht gegen sich selbst. Ich erwarte von Ihnen einen weiteren Geistesblitz, eine neue Gedankenwelle. Wäre der Band ein seltenes Buch, würde er ihn mir geschickt haben. Er spricht aber lediglich von dem Schlüssel, den er in das Kuvert stecken wollte, bevor seine Pläne vereitelt wurden. Das steht klar in seinem Brief. Dies würde also bedeuten, daß es sich um ein Buch handelt, von dem er annehmen mußte, daß ich es mir leicht selbst beschaffen könne. Er hatte das Buch und vermutete, daß auch ich es habe. Mein lieber Watson, es handelt sich also um ein sehr gebräuchliches Werk.«

»Das klingt allerdings glaubhaft.«

»Wir haben somit das Feld unserer Nachforschungen auf ein dickes Buch, doppelspaltig und weitverbreitet, eingeschränkt.«

»Die Bibel,« rief ich triumphierend.

»Ausgezeichnet, Watson, ganz ausgezeichnet. Aber, wie ich leider sagen muß, noch nicht gut genug. Vielleicht darf ich mir schmeicheln, daß jedermann dieses Buch in meinem Besitz vermutet, aber ich halte es für ausgeschlossen, daß einer von Moriartys Bande es im Bereich seiner Hände stehen hat. Außerdem sind die Ausgaben der Heiligen Schrift so zahlreich, daß nicht ohne weiteres angenommen werden kann, je zwei Leute würden Exemplare mit übereinstimmenden Seitenbezeichnungen haben. Es handelt sich also um ein Normalwerk. Er mußte sicher sein, daß meine Seite 534 mit der seinen, gleicher Zahl, genau übereinstimme.«

»Aber das wird auf die wenigsten Werke zutreffen.«

»Sehr richtig; und gerade darin liegt unsere Rettung. Unsere Suche beschränkt sich daher auf ein Werk, von dem anzunehmen ist, daß jedermann ein Exemplar hat.«

»Das Kursbuch.«

»Nicht so schnell, lieber Watson. Der Wortschatz des Kursbuches ist zwar glatt und sauber, aber beschränkt. Es ist kaum anzunehmen, daß jemand im Kursbuch alle die Wörter finden würde, die er für eine Nachricht braucht. Wir wollen es daher ausschalten. Ein Wörterbuch ist, wie ich glaube, aus denselben Gründen ungeeignet. Was bleibt also noch übrig?«

»Ein Almanach.«

»Großartig, Watson, wenn ich mich nicht irre, haben Sie diesmal den Nagel auf den Kopf getroffen. Ein Almanach! Besehen wir uns z. B. einmal Whitakers Almanach. Er ist weit verbreitet, hat die erforderliche Anzahl Seiten und ist doppelspaltig. Obgleich im ersten Teil kurz gefaßt, wird er gegen den Schluß zu recht wortreich.« Er nahm den Band von seinem Pult. »Hier haben wir Seite 534 Spalte 2. Ein umfangreicher Artikel, der, wie ich sehe, sich mit dem Handel und den Bodenprodukten Indiens beschäftigt. Schreiben Sie die Worte nieder, Watson: 13 ist Mahratta, kein besonders vielversprechender Anfang, fürchte ich. 127 ist Regierung, was immerhin einigen Sinn gibt, obwohl mir unerklärlich ist, was die Regierung von Mahratta mit uns und Professor Moriarty zu tun hat. Und nun zum nächsten. Was tut also die Regierung von Mahratta? O weh, das nächste Wort ist Schweineborsten. Wir sind erledigt, lieber Watson, am Ende unserer Weisheit angelangt.«

Obwohl er sich den Anschein gab, belustigt zu sein, sah ich an dem Zucken seiner buschigen Augenbrauen, wie verärgert und enttäuscht er war. Ich fühlte mich hilflos und unglücklich, als ich so dasaß und ins Feuer starrte. Ein langes Schweigen folgte, das jedoch plötzlich durch einen Ausruf von Holmes unterbrochen wurde, der von seinem Sitz aufsprang, zum Bücherregal eilte, von dem er mit einem zweiten, gelbgebundenen Buche zurückkehrte.

»Das kommt davon, Watson, wenn man allzusehr auf der Höhe ist. Wir sind unserer Zeit voraus und müssen, wie üblich, dafür büßen. Es ist heute der 7. Januar, und wir haben natürlich schon die neue Ausgabe des Almanachs. Wahrscheinlich hat aber Porlock seine Mitteilung nach der alten zusammengestellt. Das hätte er uns sicherlich auch gesagt, wenn er uns den Schlüssel hätte senden können. Nun wollen wir einmal sehen, was die Seite 534 uns für Überraschungen bringt. Wort 13 ist Gefahr, was schon recht bedeutungsvoll klingt. 127 bedeutet droht – Gefahr droht –« Holmes‘ Augen funkelten vor Erregung und seine dünnen, nervösen Finger zuckten, als er das nächste Wort auszählte. »Famos! Schreiben Sie nieder, Watson: Gefahr droht unmittelbar; dann kommt das Wort Douglas, reicher Besitzer, jetzt in Birlstone-Haus, Birlstone – Vertrauen – dringend. Da haben wir’s, Watson. Was sagen Sie nun zu der Bedeutung der logischen Ableitung? Wenn unser Gemüsekrämer so etwas wie einen Lorbeerkranz hätte, würde ich Billy hinschicken und ihn holen lassen.«

Ich starrte auf die sonderbare Mitteilung, deren Dechiffrierung ich auf einem Bogen Papier über meinem Knie niedergekritzelt hatte.

»Eine eigenartige, zusammenhangslose Weise, sich auszudrücken,« sagte ich.

»Im Gegenteil, ich finde, er hat die Sache äußerst geschickt gemacht«, sagte Holmes. »Wenn Sie eine Spalte in einem Buch durchsuchen nach Wörtern, mit denen Sie eine bestimmte Mitteilung zusammenstellen wollen, werden Sie sicherlich auf Schwierigkeiten stoßen. Sie können kaum erwarten, darin alle Worte zu finden, die Sie brauchen. Ein gut Teil werden Sie der Kombinationsgabe des Empfängers überlassen müssen. Der Sinn seiner Nachricht ist völlig klar. Auf einen Menschen namens Douglas soll ein Anschlag verübt werden. Ich weiß nicht, wer er ist. Er wird uns als ein reicher Grundbesitzer bezeichnet. Das Wort Vertrauen bedeutet zweifellos vertraulich, welch letzteres offenbar nicht in der Spalte enthalten war. Dringend will sicherlich ganz besonders betonen, daß der Anschlag unmittelbar bevorsteht. Ich bin der Meinung, daß wir tatsächlich ein wertvolles Stück Arbeit geleistet haben.«

Holmes hatte mit dem wahren Künstler gemein, daß ihm die Lösung einer schwierigen Aufgabe die größte persönliche Genugtuung bereitete, selbst wenn sie hinter seinen Erwartungen zurückblieb. Er frohlockte noch über seinen Erfolg, als Billy die Tür öffnete und den Kriminalinspektor McDonald von Scotland Yard in das Zimmer führte.

Zu jener Zeit hatte Alec McDonald noch nicht die Höhe seines Ruhmes erreicht, die er später erklomm. Er war noch ein junges, aber schon vielversprechendes Mitglied des Detektivpersonals und hatte sich bereits in einigen Fällen, die ihm ausschließlich überantwortet waren, ausgezeichnet. Seine hohe, knochige Gestalt sprach von ungewöhnlicher körperlicher Stärke, während in seiner breiten Stirn und den tiefliegenden, lebhaften Augen, die unter buschigen Brauen hervorblitzten, eine ebenso hohe Intelligenz erkennbar war. Er war ein schweigsamer, ruhiger Mensch, der einen etwas versauerten Eindruck machte und in dem harten Akzent seiner schottischen Heimat sprach. Bei zwei früheren Gelegenheiten hatte ihm Holmes bereits geholfen, einen großen Erfolg einzuheimsen, ohne dabei auf eine andere Belohnung Anspruch zu erheben, als ihm die Mitwirkung an interessanten Aufgaben bot. Mittelmäßigkeit erkennt nichts Höheres an als sich selbst, aber das Talent weiß Genie zu würdigen. Talent besaß McDonald genügend, um keine Herabwürdigung seiner selbst darin zu fühlen, die Hilfe eines Mannes zu erbitten, der einzig in seiner Art in Europa dastand, sowohl was seine geistigen Gaben wie seine Erfahrung anbelangte. Holmes war zwar nicht ein Mann, der leicht Freundschaft schloß, aber zu dem schweigsamen Schotten hatte er eine gewisse Zuneigung gefaßt. Ein freundliches Lächeln erhellte seine Züge, als er ihn begrüßte.

»Sie sind ein Frühaufsteher, Mr. Mac,« sagte er. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Morgenspaziergänge, die wohl bedeuten, daß irgendetwas Besonderes im Winde ist.«

»Hierbei ist wohl die Hoffnung der Vater des Gedankens, scheint mir, Mr. Holmes,« antwortete der Inspektor mit einem vielsagenden Grinsen. »Wie wäre es mit einem kleinen Schluck von irgendetwas, um mir die Morgenkühle aus den Knochen zu treiben? Nein, danke, ich rauche nicht. Ich muß gleich wieder weiter, denn die ersten Stunden sind bei einem Kriminalfall die kostbarsten, wie niemand besser weiß, als Sie selbst. Aber, aber –«

Der Inspektor hielt plötzlich inne. Seine Blicke waren mit dem Ausdruck ungläubigen Staunens auf dem Stück Papier haften geblieben, das noch auf dem Tische lag; jenem Bogen Papier, aus dem ich die Lösung der chiffrierten Nachricht niedergeschrieben hatte.

»Douglas!« stammelte er, »Birlstone! Was soll das bedeuten, Mr. Holmes? Mensch, das ist ja geradezu Hexerei. Bei allem, was wunderbar ist, wo haben Sie denn diese Namen her?«

»Es ist eine Chiffrenachricht, die Mr. Watson und ich Anlaß hatten zu lösen. Aber was wollen Sie damit sagen? – Was ist denn los mit den Namen?«

Der Inspektor ließ seine Blicke verwirrt und staunend von einem zum anderen schweifen.

»Das Folgende ist los,« sagte er, »Mr. Douglas von Birlstone ist heute morgen in schrecklicher Weist ermordet worden.«

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