In der Matinee führte man zwei sehr interessante Novitäten vor. Die eine war eine Phantasie »König Lear in der Steppe«, die andere ein Quartett, dem Andenken Bachs gewidmet. Beide Stücke waren neu und von originellem Geiste und Lewin wünschte sich eine Meinung über sie zu bilden. Nachdem er seine Schwägerin, nach deren Stuhl begleitet hatte, trat er an eine Säule und nahm sich vor, so aufmerksam und gewissenhaft als möglich zuzuhören. Er bemühte sich, nicht abzuschweifen und den Eindruck in sich zu beinträchtigen, indem er auf die Armbewegungen des Kapellmeisters in der weißen Halsbinde blickte, die stets die musikalische Aufmerksamkeit so unangenehm ablenkten, oder auf die Damen in ihren Hüten, welche sich geflissentlich für das Konzert die Ohren mit Bändern zugebunden hatten, oder auf alle jene Personen, die entweder mit nichts beschäftigt, oder von den verschiedensten Interessen, nur nicht dem für Musik, eingenommen waren.

Er bemühte sich, den Begegnungen mit Musikkennern und Schwätzern aus dem Wege zu gehen, und stand nur vor sich niederblickend und lauschte. Doch je mehr er von der Phantasie König Lear hörte, um so ferner fühlte er sich der Möglichkeit gerückt, sich selbst eine bestimmte Meinung zu bilden.

Unaufhörlich begann es, als bereite sich der Ausdruck einer musikalischen Empfindung vor, sogleich aber fiel derselbe in Trümmer von neuen Ansätzen zu musikalischen Phrasen auseinander, bisweilen sogar einfach in durch nichts als die Laune des Komponisten verbundene, aber außerordentlich komplizierte Klänge.

Aber gerade die Unterbrechungen dieser musikalischen Phrasen, die bisweilen gut waren, zeigten sich als unangenehm, Weil sie vollständig unerwartet und durch nichts vorbereitet erschienen. Frohsinn und Trauer, Verzweiflung und Zartheit oder Triumph erschienen ohne jede innere Berechtigung, gleichsam wie die Gefühle eines Wahnsinnigen; und ebenso wie bei einem Wahnsinnigen, vergingen sie auch wieder unerwartet.

Lewin hatte während der ganzen Zeit der Aufführung das Gefühl eines Tauben, welcher auf Tanzende schaut. Er war in vollständiger Ungewißheit, nachdem das Stück geendet hatte, und fühlte große Ermüdung von der gespannten, durch nichts gelohnten Aufmerksamkeit. Von allen Seiten wurde lautes Händeklatschen vernehmbar. Alles erhob sich und begann herumzulaufen um sich zu unterhalten.

Im Wunsche, nach dem Eindruck anderer seinen Zweifel aufzuklären, begann auch Lewin zu gehen, um Kenner zu suchen, und war erfreut, als er einen namhaften Musikkenner im Gespräch mit dem ihm bekannten Peszoff erblickte.

»Wunderbar!« sagte der tiefe Baß Peszoffs.

»Guten Tag, Konstantin Dmitritsch. Ganz besonders formgerecht und monumental, sozusagen; und wie reich an Farben ist jene Stelle, in welcher man die Annäherung Cordelias fühlt, wo die Frau, ›das ewig Weibliche‹ wie der Deutsche sagt, in den Kampf mit dem Schicksal tritt. Nicht wahr?«

»Nun, inwiefern war denn da gerade Cordelia?« frug Lewin schüchtern; er hatte vollständig vergessen, daß die Phantasie König Lear in der Steppe ausdrücken solle.

»Es zeigt sich Cordelia – hier!« sagte Peszoff, mit den Fingern auf den atlasglänzenden Zettel schlagend, den er in der Hand hielt und Lewin nun hinreichte.

Jetzt erst erinnerte sich Lewin des Titels der Phantasie und beeilte sich nun, die Verse Shakespeares in der russischen Übersetzung zu lesen, welche auf der Rückseite des Programms gedruckt standen.

»Ohne dies kann man freilich nicht folgen,« sagte Peszoff, sich zu Lewin wendend, da der Herr mit welchem er sich unterhalten hatte, gegangen war, und er mit niemand mehr zu sprechen hatte.

Im Zwischenakt entspann sich zwischen Lewin und Peszoff ein Streit über die Vorzüge und Mängel der Wagnerschen Musikrichtung. Lewin wies nach, daß der Irrtum Wagners und aller seiner Nachfolger darin bestehe, daß hier die Musik in das Gebiet einer fremdartigen Kunst übergehen wolle, daß auch die Poesie irre, wenn sie die Züge eines Gesichts beschreibe, was die Malerei zu thun hätte, und führte als Beispiel eines solchen Irrtums jenen Bildhauer an, welcher die Schatten der poetischen Gestalten, die rings um die Figur des Dichters auf dem Piedestal aufragten, in Marmor zu bilden gedachte.

»Diese Schatten werden ebensowenig Schatten für den Bildhauer sein, daß sie sich sogar an der Leiter anhalten können,« sagte Lewin. Der Satz gefiel ihm, doch er konnte sich nicht entsinnen, ob er ihn nicht schon früher einmal ausgesprochen hatte, gerade gegen Peszoff, und geriet daher, nachdem er ihn geäußert, in Verlegenheit.

Peszoff hingegen wies nach, daß die Kunst einheitlich sei und ihre höchsten Offenbarungen nur in der Vereinigung aller ihrer Arten erreichen könne.

Die zweite Nummer des Konzerts konnte Lewin nicht mehr hören. Peszoff, der neben ihm stehen geblieben war, hatte fast die ganze Zeit mit ihm gesprochen, indem er dieses Stück wegen seiner übermäßigen geschmackswidrigen, unvermittelten Einfachheit den Praeraphaeliten in der Malerei verglich.

Beim Hinausgehen begegnete Lewin noch vielen Bekannten, mit welchen er über Politik, über Musik und gemeinsame Bekannte sprach, unter anderen traf er auch den Grafen Bolj, dessen Besuch er gänzlich vergessen hatte.

»Nun, so fahrt nur gleich hin,« sagte die Lwowa zu ihm, der er dies mitgeteilt hatte, »vielleicht empfängt man Euch nicht und Ihr kommt dann zu mir in die Sitzung. Ihr werdet mich da schon noch treffen.«