Von zwei Hunden gefolgt, machte sich Hans auf die Suche. Der Waldweg zum Moor war mit angeschwemmtem Astwerk verlegt. Zwischen der Gartenmauer und dem Waldrand niedersteigend, vermißte Hans den Widerschein des Mondlichts auf dem Wasser, das noch bei Sonnenuntergang zwischen den Bäumen gestanden hatte. Tiefer steigend fand er den Waldboden mit Schwemmholz und angetragenem Laub bedeckt. Angeschwemmte Schneckenhäuser knackten unter seinen Füßen. Die Hunde blieben weit hinter ihm zurück, er ließ sie gewähren. Das Dröhnen des Klammbachdurchbruches war verstummt. Kaum hörbar drang aus der Tiefe des Grundes ein Plätschern und Murmeln herauf, wie er es sonst nur am oberen Moorbach zu hören gewohnt war.

Als er aus dem Walde trat, fand er statt der mondbeglänzten Seefläche mattschimmernde Bodenwellen, die sich beim Näherkommen als Sandbänke erwiesen. Keiner der Hunde folgte ihm mehr. Erst kam lockerer, lehmiger Sand, der unter jedem Tritt nachgab, dann Schotter und grobes Geröll, abgerundete, kopfgroße Trümmer von Tropfsteinen, die aus den Quellgrotten stammten. Das Murmeln des Baches wurde deutlicher. Als Hans ihn unterhalb des Sonnsteins erreichte, stand er vor einem tief eingerissenen Bachbett, in dem das Wasser gurgelnd und schäumend über Felsbrocken dahintobte. Es warf das Mondlicht grell zurück. Der See hatte sich durch die Klamm entleert und vieles mit sich fortgetragen. Der Bach hatte durch das alte Schwemmland des Steinfeldes ein tiefes Bett gerissen. Da wurden in den Uferlehnen Schichten von braun verkohlten Baumstämmen sichtbar. Die konnten nur von Wäldern herrühren, die vor undenklichen Zeiten gewachsen und durch wiederholte Überschwemmungen mit Schlamm, Sand und Geröll übermurt worden waren.

Hans, der sich nun vom Hause weit genug entfernt wußte, begann zu rufen: »Vater! Vater!« Die Felswände warfen den Ruf undeutlich zurück. Das Rauschen des Baches war nahe. Mühsam kämpfte sich Hans im Geröll des rechten Ufers weiter und rief immer wieder. Keine Antwort. Angst und Hast trieben ihm den Schweiß aus den Poren. Als er vom entblößten Seeboden zum Moor anstieg, wurde der Bach seichter und breiter. Bis zu den Klammwänden hin lag der Talgrund unter einem Wust von Schilf, entwurzelten Bäumen, Rasenflözen, Torf und aufgeweichtem Lehm, der mit Schotter durchsetzt war. In viele Arme geteilt, sickerte der still gewordene Bach durch die Murung. Es war unmöglich, hier weiterzukommen.

Zur Rechten gewahrte Hans, daß der Lehmwall, der den Moorsee gehalten hatte, durchgebrochen war. Da rieselte über die entblößte Felsstufe glitzerndes Wasser: Auch der Moorsee floß ab! Verwaschen zog sich, nach zwei Seiten flach abgedacht, ein Landrücken hin – die Triftleiten. Hans watete durch den knietiefen Schlamm des Triftbodens, wo er kreuz und quer über versunkene, von schlüpfrigen Algen überzogene Baumstämme klettern mußte, die noch von der ersten Überschwemmung dalagen. Er suchte nach dem Wohnboot des Vaters. Am Landungssteg war es nicht. Nur der Fischhalter hing am Steg, im angetriebenen Holz halb verborgen. Es stank nach verwesenden Fischen. Mühsam kämpfte sich Hans auf den festen Damm der Triftleiten.

Keuchend sah er sich um. In der Tiefe des Moorbachsees floß zwischen niedergegangenen Torfböden eine glänzende Wasserader; zerschobene, rissige Torfbänke säumten sie, vielfach bedeckt von gestürzten Erlen, Birken und Weiden, und mitten darin die Reste der alten Pfahlbauten. Wieder ließ Hans den langgezogenen Ruf ertönen: »Va-ter! – Va-ter!« Keine Antwort. Nur von unten das leise, gleichmäßige Rieseln des Moorbaches …

Am Ufer aufwärts setzte er seine Suche fort. Den Töpferofen fand er von den Schneewässern unterwaschen und auf einer Seite eingestürzt. Als er an den Schmelzofen herantrat, flüchtete aus der gähnenden Höhlung eine Wildkatze. Auf der Moorleiten konnte der Vater nicht sein, sonst hätte er Antwort gegeben.

Die Hoffnung, ihn lebend wiederzufinden, schwand dahin. So aussichtslos es war, ihn der Klamm zu entreißen, wenn er mit den stürzenden Wassern hineingeraten war, Hans wollte es wissen. Er arbeitete sich im zähen Lehm hinunter zum Durchbruch.

Zunächst gelangte er an die alte Eibe, die ihm so oft als Steigbaum gedient hatte, wenn er auf seinem gesicherten Felspfad die Klammhöhe erreichen wollte, wo das Edelweiß wuchs. Jetzt lag der Baumriese mit unterwaschenen Wurzeln quer über dem neuen Schwemmland. Dort, im Schatten der Klammwände, ragte aus dem Gewirr von Wurzeln und Ästen ein dunkles Etwas, plump und flach wie eine Felsplatte, die sich mit einer Seite im Grund festgerammt hatte. Oder war es das Wohnboot des Vaters? Watend, kriechend, kletternd und schliefend drang Hans vor. Da berührten seine Hände die schlüpfrigen Bohlen des Bootes; festgeklemmt und halb umgekippt hatte es seinen Inhalt ins Gewirr des Schwemmholzes entleert. Hansens Puls hämmerte. In seinen Ohren war ein dumpfes Sausen und Schlagen. Mit dem Aufgebot aller Kräfte schrie er in die dunkle Masse der gestauten Wirrnis sein angstvolles: »Vater – Vater!« Keine Antwort kam, kein Stöhnen, nicht einmal der Widerhall seines Rufens von den nahen Wänden. Nur das Gurgeln sickernder Wasseradern im Anschwemmsel und das Rauschen der Ache im Klammtor waren zu hören. Dort unten mochte zerdrückt und erstickt der starke Mann liegen, um den daheim die kranke Frau bangte. Da war es Hans, als käme von der Klammhöhe herab ein klagender Ruf, wie der Aufschrei eines verwundeten Tieres. – Er lauschte angestrengt, er rief, er schrie und lauschte wieder – und vernahm nichts als das Rieseln und Rauschen der Wasser.

Gebrochen an Mut und Kraft schleppte sich der Hoffnungslose heimwärts. Der Mond war hinter den Klammwänden versunken, und vom feuchten Seeboden stieg träge der Nebel auf.

Als Hans in grauer Morgenfrühe daheim nach der Mutter sah, fand er sie schlafend. Wie er ging und stand, warf er sich auf sein Lager und versank in einen traumlosen Erschöpfungsschlaf. Als er erwachte, lag die Stube im grellen Sonnenlicht. Das Bett der Mutter war leer, die Tür offen. Er fand die Mutter, die seit Wochen keinen Schritt getan hatte, auf dem Laubengang kauernd. Wirr hingen ihr die Haare um das blasse Gesicht, ihre Augen suchten die Klammwände ab. Sie schien zu lauschen. Als Hans ihre Schulter berührte, fuhr sie erschrocken herum. Dann fragte sie unvermittelt: »Hast du’s gehört? Er hat gerufen. Da, jetzt wieder!« Sie übersah die unsagbare Trauer in Hansens Zügen. »Ich hör nichts, Mutter!« Wie im Wahn fuhr sie fort: »Doch, von hoch oben her, wie aus den Wolken.«

Hans sah sie mitleidig an, alle Schlaftrunkenheit war von ihm gewichen. Dann straffte er sich, hob die widerstrebende Kranke empor, trug sie auf ihr Lager, hüllte sie in Felle und eilte hinunter, um die kläglich meckernden Ziegen zu melken und zu füttern; die übervollen Euter mochten sie wohl schmerzen. Als er mit der Milch zur Mutter zurückkehrte, fand er sie im Bett sitzend. Sie machte Miene, es wieder zu verlassen. Unrast hatte sie ergriffen. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen waren gerötet. Sie faßte Hans am Handgelenk und rief, ja schrie ihn an: »Was bist du noch da? Geh, geh, und such ihn – oben!« Sie stieß ihn von sich.

Und Hans ging. Er verstaute für alle Fälle im Rucksack ein flaches Milchgefäß zwischen Brot und geräucherten Fischen, wickelte sein starkes Nesselseil, das er beim Klettern im Felsgeklüft zu verwenden pflegte, um die Brust, steckte Beil und Handsäge hinter den Gürtel und trat, den metallbeschlagenen Bergstock in der Linken, vor seine Mutter. Einen Augenblick nur hielt sie seine Rechte mit beiden Händen umklammert, dann strich sie ihm über den Scheitel und schob ihn von sich: »Geh schon, geh mit den Hunden! Ich warte.«

Hans war es, als hätte sie gesagt: »Ich will und kann nicht sterben, ehe ich ihn gesehen habe.« Unten pfiff er den Hunden. Sie waren nicht da. Diesmal nahm er den Weg über die Brunnleiten hart an den Geröllhalden entlang und stieg im Moorbachtal nieder. Auf der Triftleiten angekommen, ließ er wieder seinen schrillen Pfiff ertönen, um die Hunde zu locken. Da, von drüben her, wo die gestürzte Eibe lag, hörte er ein heiseres Bellen, und dann sah er den Lieblingshund Evas, der in langen Sätzen die niedergegangenen Torfflöze des Moores überquerte und kläffend heranstürmte, an ihm hochsprang und ihm die Hände leckte. Dann aber machte der Hund kehrt und strebte, sich immer wieder umschauend, der alten Eibe zu. Hans lief im kiesigen Moorbachbett abwärts, er sprang, daß das seichte Wasser hoch aufspritzte. Er konnte ja nicht wie sein vierbeiniger Führer den kurzen Weg über das Moor nehmen, ihn hätte es nicht getragen. Erst auf dem Umweg über den Glimmerschieferriegel erreichte er die Eibe.

Und hier fand er auch den alten Jagdhund seines Vaters. Er lag als Wächter vor einem Fellstreifen, der als Fußwickel dem Vater gedient haben mochte.

Enttäuscht und gleichzeitig von zager Hoffnung erfüllt, stand Hans vor der gefundenen Spur, die hier Anfang und Ende hatte. Er spornte die Hunde an, ihm in der Umgebung des gekippten Bootes suchen zu helfen, aber sie wollten nicht. Hartnäckig kehrten sie zurück und beschnupperten den Stamm bis zum Gipfel. Das war auffallend, das war deutlich. Hans fiel die Weisung der Mutter ein: »Such ihn oben.« Und plötzlich kam ihm die Erleuchtung. Als die Strömung das Boot bis zur Eibe gerissen hatte, mußte der Steigbaum noch an der Felswand gestanden haben. Da hinauf hatte sich also der Vater gerettet. An den Geländerseilen des Felsensteiges, die Hans einst für sich dort angebracht hatte, mochte er sich emporgehangelt und die Nacht oben im Gewand zugebracht haben. Von ihm also war der Hilferuf gekommen, den er mißdeutet hatte. Ein Frösteln überlief Hans bei dem Gedanken, im Freien auf der kalten Klammhöhe übernachten zu müssen, wo es keinerlei Schutz gab gegen die nächtliche Kälte.

Hans suchte sich im Schwemmholz eine schlanke Lärche aus, hieb sie frei und lehnte sie an die Felswand. Dann stieg er auf. Den Hunden, die ihm ungebärdig nachbellten, warf er von oben zwei geräucherte Fische zu und hangelte sich dann an den Nesselseilen zur Höhe hinauf. Auf der kahlen Hochfläche angelangt, suchte er vergeblich das Gestein nach Spuren ab. Jetzt bedauerte er, keinen der Hunde mit heraufgetragen zu haben. Rufend und suchend drang er vor. Heiß brannte die Sonne auf den kahlen Felsboden, kein Lüftchen regte sich. Der Schweiß drang Hans aus allen Poren, und noch kam auf sein Rufen keine Antwort. Seine Zuversicht schwand, lähmender Zweifel verlangsamte seine Schritte. Was die Mutter gehört hatte, war vielleicht der Schrei eines Geiers gewesen, was sie gesprochen hatte, nur ein Irrereden der Kranken. Und führte die Spur, an der die Hunde hingen, weiter als bis zur gestürzten Eibe? Schwer wie Felsgestein wurden die Füße des Zweifelnden. Sich hinlegen, ruhen, schlafen hätte er mögen und dann erst die Hochfläche nach allen Seiten abgehen, ehe er zur Mutter zurückkehrte, um ihr das Schreckliche zu sagen, das sie nicht glauben wollte. Da sah er unweit eines überhängenden Felsens auf sonniger, kurz bewachsener Halde etwas Dunkles liegen: ein kauerndes Tier? – ein Felsblock? – oder –? Ein freudiger Schreck kam über Hans. Die Müdigkeit fiel von ihm ab, er eilte hin, er lief, er sprang und sank nieder an der Seite seines Vaters.

Aber wie sah der aus! Das Gesicht fahl, die Wangen schlaff, und das noch vor zwei Tagen schwarze Haupt- und Barthaar ergraut. Er rührte sich nicht. Sein Atem ging kurz und rasch, und seine Hände waren vor dem Mund geballt, als habe er versucht, sie durch den Hauch zu erwärmen. Die Knie waren an den Leib gezogen, der trotz der Sonne von Kälteschauern geschüttelt wurde. Hans fuhr über die Wange des Gefundenen. Leise, um ihn ja nicht zu erschrecken, flüsterte er ihm ins Ohr: »Vater, Vater! Ich bin’s, der Hans.« Ein unverständliches Lallen war die Antwort, und enger krümmte sich der Leib des Schlafenden zusammen. Da rief der Sohn in seiner Verzweiflung: »Vater, wach auf, die Mutter wartet auf dich, Eva!« Der Schläfer riß die Augen weit auf. Nun redete Hans laut auf ihn ein, er rüttelte ihn und rieb seine Hände, um ihn wach zu erhalten. Er flößte ihm Milch ein und schob ihm bissenweise Brot und Fisch in den Mund. Der Erschöpfte aß wenig und sank wieder zurück. Seine Knie schlotterten.

In steigender Angst, der Tag könnte vergehen und die schrecklich kalte Höhennacht herreinbrechen, ehe er den Vater heimgebracht hatte, zog der Sohn den Widerstrebenden hoch, legte sich dessen linken Arm um den Nacken, faßte ihn um die Mitte und zwang ihn zum Gehen, den schweren Körper halb tragend, halb schiebend. Schwankend kamen sie voran. Aber die warme Sonne und der zurückkehrende Wille des Verunglückten lösten die Starrheit seiner Glieder. Nach zwei Pausen auf sonndurchglühten Felsblöcken langten die beiden beim Abstieg an. Hans, der seinem Vater nicht die Kraft zutraute, allein hinunterzukommen, band ihm ein Ende seines Kletterseils unter den Schultern um die Brust, schlang das Seil oberhalb der Felskante um einen Föhrenstamm und verlangte von Peter nur, daß er sich mit den Händen am Seil festhalten und mit den Füßen den Abstieg suchen sollte.

Als Peter den Steigbaum berührte, empfingen ihn die heulenden und kläffenden Hunde. An der Eibe sank er nieder und wehrte den Hunden nicht, die ihm wie sinnlos vor Freude Gesicht und Hände leckten.

Hans glitt am hängenden Seil herab.

Auf halbem Wege zum Sonnleitnerhof mußte noch einmal Rast gemacht werden. Noch stand die Sonne über den Klammwänden, aber die Schatten der Bäume lagen lang auf dem Grunde.

Da nestelte Peter die Kette aus Bärenzähnen, Zeugen seiner Siege über die Ungetüme, von seinem Halse, band sie dem Haushund um und jagte ihn mit einer Handvoll Sand heimzu, voraus zu Eva, als Boten seiner Rettung.