Im Frühlicht des Sonntags traten die beiden Höhlenkinder aus dem Schatten der Salzwände.

Tautropfen glitzerten auf Gräsern und Kräutern, hingen als schimmernde Perlen an den Ranken und Zweigen zu beiden Seiten des Erntepfads.

Die Wegwarten hatten schon ihre himmelblauen Blütensterne geöffnet. Mit dem Rehkrickel grub Peter einige davon aus. Die Wurzeln waren gut gediehen. Für die erste Mahlzeit war gesorgt. Einige Händevoll Brombeeren vom Sonnstein ergänzten das Mahl. Dann ging es quer über das Steinfeld.

Und ehe noch die Habichtskräuter, die an dem schattigen Hang Spätaufsteher waren, ihre gelben Blütenkörbchen öffneten, standen die beiden schon am Grab der Ahnl. Es war unversehrt. Sie erzählten ihr von ihren Erlebnissen, und Peter bat sie, dem Ähnl und der Mutter alles wiederzusagen; sie waren ja alle bei Gott.

Ein Knistern in den Heidelbeerbüschen ließ die beiden aufschauen. Da sahen sie die Ricke mit den zwei größer gewordenen Kitzen, die Peter am Sterbetag der Großmutter mit dem Stein in der Faust verfolgt hatte. Beide hatten schon die weißen Flecken im rotbraunen Fell verloren.

Diesmal griff er zu Pfeil und Bogen. Eva aber flüsterte ihm zu: »Tu’s nicht, hier nicht und heut nicht; heilig ist der Ort, und heilig ist der Tag.« Und Peter ließ den Pfeil in den Köcher zurückgleiten.

Nach kurzer Andacht wanderten die Kinder über das Steinfeld dem Klammbach zu. Sie nahmen sich vor, jeden Sonntag das Grab der Ahnl aufzusuchen. Bald aber wurden sie durch die Umgebung auf andere Gedanken gebracht.

»Schau, Eva, die Königskerzen machen schon ihre Wipfelknospen auf; bald ist’s aus mit der warmen Zeit. Und eh‘ der Winter kommt, muß ich uns warme Kleider schaffen. Ein paar Rehböck‘ oder ein paar Füchs‘ sollt‘ ich erwischen!«

»Alles wird werden zur rechten Zeit, wie die Ahnl selig g’sagt hätt‘. Verlaß dich drauf. Es ist schon viel besser geworden, seit wir da sind im Heimlichen Grund. Jetzt wird’s dann reife Haselnüss‘ geben und Kastanien; korbweis‘ werden wir’s eintragen, gelt?«

Eva war so glücklich und voll Zuversicht, da sie heute Peter begleiten durfte.

Als sie nahe am Klammeingang den Bach durchwateten, fiel ihnen auf, daß er hier bedeutend wasserreicher war als oben bei den Höhlen. Er hatte den Moorbach bereits aufgenommen, aber wo?

Wohl sahen sie drüben ein tief eingerissenes Bachbett, aber sein dunkles Geröll war trocken, nur zwischen und unter den Steinen rieselte es leise.

Der Bachrand hüben und drüben war mit Schilf und Erlen bestanden. Also floß hier das Moorwasser unter dem Schotter des Steinfeldes. Hier war auch das Röhricht, aus dem Peter das Rohr für seine Pfeile geholt hatte.

Im feuchten Bachbett stiegen sie allmählich zum Hochmoor an.

Unwillkürlich musterten sie Sand und Steine. Da gab es rot und weiß gebänderte weichere Rundsteine – Marmor und daneben graues, aus geschichteten Glimmerblättchen zusammengesetztes Schiefergeröll mit roten Körnern – Granat –, auch gelbliche und weiße Hartsteine – Kiesel und Feldspat; die schönsten nahmen sie mit.

Am merkwürdigsten aber war der feuchte Sand, der in der Hauptsache aus weißglitzernden Glimmerplättchen bestand. Darunter gab es gelbe und wasserhelle, fast durchsichtige Kiesel, so groß wie Finkeneier, und dunkelrote, stumpfkantige Körner, die im Sonnenschein herrlich leuchteten. Es waren von Wasser und Sand angeschliffene Granate.

Peter gefielen die Steinchen, deren feierliches Rot ihn reizte. Immer wieder hob er eines auf, betrachtete es von allen Seiten und überlegte, was er damit anfangen könnte. Nichts konnte er damit anfangen; aber Eva nahm sie mit, weil sie gar so schön waren.

Einige hellrote, aber undurchsichtige, rauhe, lehmig abfärbende Steine – Rötel –, die Peter auflas, verrieten gleich, wozu sie taugten. Das war etwas zum Rotfärben der Haut, vielleicht auch zum Zeichnen auf Mergel. Das mußte er versuchen!

Vergnügt kamen die Wanderer unversehens zur Böschung, die zum Moor anstieg. Hier sahen sie das Wasser über einen niederen Steinriegel herabrieseln. Der war so dunkel wie der untere Teil der Felswand drüben; er gehörte zum Urgestein, dem die Kalkfelsen drüben aufgelagert waren. Nach links und rechts hin dehnte sich anschließend der lehmige Wall, der das Sumpfwasser staute.

An der rechten Seite des Bachbetts drangen sie durch Schilf, Buschwerk und Waldreben über feuchten Lehmboden und langten mit einem entzückten Ah! oben an, wo die braungrüne Ebene des Moores, durchsetzt mit Heidelbeerstauden und wehenden Flockensimsen, vor ihnen lag. Und wieder war es ein Brachvogel, der mit seinem Warnruf das Sumpfgeflügel vom Nahen einer Gefahr benachrichtigte. Unter dem aufgescheuchten Vogelwild waren drei kleine, langbeinige, schlankhalsige Nachtreiher mit spitzen Schnäbeln, ein mächtiger Fischreiher, etliche Rohrdommeln, eine Menge Wildenten und zwei schön gebänderte Wiedehopfe.

Wohl griff Peter zu Pfeil und Bogen, aber war es die Nähe Evas, die ihm an diesem Tag schon einmal das Töten verwehrt hatte, war es die Stimmung des heiligen Tages? – er ließ die Vögel unbehelligt.

Die beiden schlenderten am rechten Rand des Moores schweigend bergan, sie gingen Hand in Hand. Peter zeigte Eva die Stelle, wo er das Moor betreten, und den Tümpel, wo er den Enterich erbeutet hatte. Beim Stegbaum angelangt, versuchte Eva vergeblich, über die starrenden Wurzeln auf den Stamm zu gelangen; sie mußte auf ihren Schurz aus Vogelbälgen zu sehr achtgeben. Da hieb Peter mit seinem Faustkeil eine reichverästelte Wurzel ab, um eine Lücke zu schaffen. Eva, die rasch zugegriffen hatte und an der Wurzel zerrte und drehte, konnte sich nicht entschließen, sie wegzuwerfen, als sie endlich los war. Der starke, am Bruchende leicht gebogene Wurzelast erschien ihr handlich; als rundlicher Haken schmiegte er sich förmlich in die Linke, wenn die Rechte vorgreifend die fast gerade Wurzel umfaßte. Das Gewirr am unteren Ende bildete einen regelrechten Besen, und als solchen gedachte sie es zu verwenden, ein willkommenes Gerät für die Ausstattung der Höhlenwohnung.

Die Kinder stiegen am rechten Ufer aufwärts, ein Gebiet zu erforschen, das auch Peter noch unbekannt war.

Anfangs ging es sanft bergan auf dem moosbedeckten Uferrand des ruhigen Baches, dann aber wurde das Gelände steiler; lauter murmelte, rauschte der Bach zwischen dunklen, rundgerollten Glimmerschieferblöcken über Felsstufen herab. Allmählich trat der Rasen am Bachrand zurück. Ein Geröllsaum begleitete das munter zu Tal hüpfende, schäumende und rauschende Wasser. Und jetzt eilte es in einer tief zwischen den Felsblöcken eingeschnittenen Rinne dahin, umwachsen von Waldrebengewirr, hohen Farnen und großblättrigen Pestwurzen, so daß die Kinder nur von Felsblock zu Felsblock springend vorwärts gelangen konnten. Ab und zu sahen sie an den Seiten handbreite Quellbächlein aus dem lichter werdenden Gehölz hervortreten und in den Moorbach münden.

Das Bachbett verengte sich zu einer steil ansteigenden Klamm, deren verwitterte, von dunklem Moos und gelben Flechten bedeckte Glimmerschichten bei jeder Berührung abbröckelten. Dabei fanden sie zwischen den grauen Plättchen wieder jene roten Steinchen. Aber hier waren sie nicht angeschliffen wie unten im Bachbett, sondern von lauter glatten, schiefwinkeligen Vierecken begrenzt, die schöne Kanten bildeten, als ob sie sorgfältig zugeschliffen wären. Es waren Granatkristalle. Eva sammelte mehr als eine Handvoll der feurigen Edelsteine, wickelte sie sorgsam in Blätter und legte sie in ihren Korb.

Üppige Farnkräuter umbauschten die Ränder der noch taufeuchten Felswände. In der schattigen Tiefe aber war die Luft kühl, fast kalt. Plötzlich war die Klamm zu Ende. Aufschauend sahen die Kinder mächtige Felsmassen von rotem, mit weißen Adern durchzogenem Kalkgestein dachförmig über ihren Häuptern. Und hier, wo das Kalkgebirge auf dem Urgestein ruhte, stürzte der Moorbach aus einer Felshöhle hervor, die tief in die Kalkwand zu führen schien. Die beiden kletterten neben dem Wasserfall zur Quellhöhle hinauf. Dort blieben sie stehen und schauten zurück: Zur Rechten unterhalb der bewaldeten Lehne lag der dunkelgrüne, von den runden Wasserspiegeln der Mooraugen durchsetzte Sumpf mit seinen silbrig schimmernden Weidenkronen und weißen Birkenstämmen. Dahinter schoben sich die von der Schlucht zerrissenen Klammwände senkrecht hoch, ihre drei ragenden Wahrzeichen – Spitz, Henne und Horn – erschienen von hier aus fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie waren breiter geworden und eng aneinander gerückt. Von der Henne war der Kopf nicht zu sehen; sie war zur schlafenden Henne geworden. Zu ihren Füßen hatten sie zunächst einen mächtigen Laubwald und dann das vom Klammbach durchquerte Steinfeld. Dahinter stieg die dunkle Grableiten an, mit der darüber ragenden Wand aus grauem Kalkstein, eine mächtige Steinmauer, an deren obersten Zinnen Wolkenfetzen hintrieben. Dort oben mochte ein scharfer Wind wehen, aber im Heimlichen Grund unten rührte sich kein Blatt.

Den Klammbach aufwärts entdeckten ihre suchenden Augen im Talkessel den Sonnstein mit der morschen Wetterfichte. Seine Westseite war noch völlig im Schatten, es war also noch vor dem Mittag. Und links von ihm säumte düsterer Wald den Fuß der Salzleiten. Sein Grün verdeckte fast die untere Wohnhöhle; nur Evas Lichtluke guckte hinter den Baumwipfeln herüber.

Plötzlich schrie Peter auf: »Das Steinwild! Das Steinwild! Schau, dort droben an der Salzwand, wo sie die langen, nassen Streifen hat! – Die Steinböck‘ sind an der Salzlecke!«

Lange mußte Eva ihre Augen anstrengen, bis sie die Tiere gewahrte, deren dunkles Braungrau sich kaum von der Felswand abhob.

Peter, dessen Augen schärfer und geübter waren, bemerkte, daß drei von den Tieren weiß gescheckt waren. Es waren Nachkommen der weißen Ziege, die mit der Ahnl in den Heimlichen Grund gekommen war! Seine Freude war so übermächtig, daß er sich in einem gellenden Juchzer Luft machen mußte.

Das Steinwild stand wie angewurzelt. Ein zweiter Juchzer aber, der mit dem Widerhall zusammenklang, brachte es in Bewegung.

In wohlgeordnetem Zuge stiegen die Tiere schräg auf, den Steinschlagwänden zu; in kühnen Sprüngen setzten sie über Risse und Spalten und entschwanden oberhalb der Südwand den Blicken der Beobachter unten am Fuß.

Peter war wie im Fieber. Er wußte nicht, was er wollte; den Böcken jetzt nachjagen, wäre ja zwecklos gewesen. Heimwärts drängte es ihn, auf dem kürzesten Wege. Und so führte er Eva nicht wieder zum Moor zurück, sondern an der Südwand entlang, so schnell es ging.

Allmählich aber zwang grobes, dem Felsen vorgelagertes Gestein die Wanderer langsam zu gehen. Sie gerieten in ein Steinkar, auf dem Flechten, Bärlapp und Moos gediehen. Wacholderbüsche, steifes, spärliches Gras, Enzian, Brombeerstauden und verblühte Alpenrosen wucherten zwischen verwitterten Steintrümmern; schlanke Bergeidechsen sonnten sich auf durchwärmten, moosigen Blöcken oder huschten erschrocken durch das verblühte Heidekraut.

Vor wie vielen Jahren mochte hier eine Steinlawine zum Stillstand gekommen sein? Nun hatte blühendes Leben die Greuel der Verwüstung überdeckt.

Peter spähte zwischen die Trümmer hinein nach Resten erschlagenen Wildes, mochten es auch nur Knochen sein. Und Knochen fand er. Aber was für Knochen!

Ein flechtenbedecktes Hirschgeweih, dessen armdicke Stangen mit fünf kronenförmig beisammenstehenden Endsprossen aus dem Geröll ragten, entlockte ihm einen langen Pfiff.

Er und Eva machten sich ans Ausgraben. Steine und Bruchsand flogen zur Seite; der wohlerhaltene Schädel mit dem vielendigen Geweih, dessen Rosen die Größe von Peters Handtellern hatten, wurde bloßgelegt, dann die Halswirbel und dann – ein zweiter Schädel, mit breitem, in einen starken Knochenkamm übergehenden Hinterkopf, daumendicken Eckzähnen und stumpfhöckerigen Backenzähnen; ein Bärenschädel!

Steil lag er auf dem eingedrückten Brustkorb des Hirsches; beim Weitergraben fanden sie die mächtigen Schulterblätter und das Rückgrat des Raubtieres. Die gewaltigen Wirbel waren vom Eisenrost des ausgelaugten Gesteins braun gefärbt. Die dicken Röhrenknochen der Bärenpranken und die schlanken der Hirschläufe waren unvollständig.

Offenbar hatte Raubzeug weggeschleppt, was das Geröll nicht zugedeckt hatte. Das gemeinsame Grab von Raubtier und Beute erzählte eine Geschichte aus ferner Zeit.

Hirsche gab’s jetzt im Heimlichen Grund nicht. Sie mochten einst hier gehaust haben. Oder hatte sich ein von Jägern verwundeter Hirsch durch die Klamm herauf hierher geflüchtet? Jedenfalls war er einem starken Bären zum Opfer gefallen. Aber als der Räuber über seine Beute herfiel, war das Verhängnis gekommen. Eine Steinlawine hatte ihn erschlagen, mitten in der Freude des reichlichen Fraßes.

Unwillkürlich schaute Peter zur Wand empor, von der einst der Steinschlag niedergeprasselt war. Aber dort gab es keine sichtbaren Abbruchstellen. Legföhren hatten sich in den Felsritzen eingenistet und hingen, mit den schlangenförmigen Wurzeln das Gestein umspannend, über dem Abgrund; ihr Anblick hatte etwas Beruhigendes. Und jetzt begann Peter den Knochenfund zu mustern. Prüfend drehte er Stück für Stück in den Händen, und seine Augen fragten jedes einzelne, wozu es gut wäre.

Dann wurden die Körbe gefüllt. Langsam schritten die Kinder mit ihren schweren Bürden heimzu. An ein Durchqueren des alten Laubwaldes, in dem vielleicht die Kastanienbäume stehen mochten, war heute nicht zu denken.

Vorsichtig kehrten sie zum Moorbach zurück und wanderten in seinem Bett abwärts. Schon stand die Westseite des Sonnsteins in vollem Licht, und die Salzwände prangten im rosigen Widerschein der sinkenden Sonne.

Von der Lehmleiten des Moorrandes stiegen die glücklichen Sammler mit ihren Lasten nieder ins Heideland des Steinfeldes.

Als sie sich dem Sonnstein näherten, flüchtete ein Rudel Rehe, darunter ein starker Bock mit reichbeperltem Geweih, den Peter zum erstenmal sah.

Langsam zogen die Kinder den Erntepfad dahin; Peter führte Eva durch die Dämmerung heim.