Nach zehn Jahren. Jack unterliegt im Kampf mit einem Eber; Löwen werden erlegt. Fritz löst das Rätsel der rauchenden Klippe. Miß Jenny wird gerettet.

Der schweizerische Robinson

Nach einem langen, langen Gedankenstrich, nach tiefem, etwa achtjährigem Verstummen schlage ich unser Erinnerungsbuch wieder auf. Ich durchblättere die schon geschriebenen Kapitel, ich durchdenke die ungeschriebenen, die gefolgt wären. Sie gleichen den ersten, wie ein Jahr dem andern geglichen hat. Jagd- und Streifzüge reihten sich an Stunden schwerer Arbeit; Entdeckungen und Erfolge wechselten ab mit Enttäuschungen. Scharfer Blick und sichere Hand, ruhiger Herzschlag in Augenblicken der Gefahr, fröhliche Zuversicht im Ungemach und immer wache Dankbarkeit für alle Geschenke der freigebigen Mutter Natur – das sind die Früchte, die uns unser seltsames Schicksal gezeitigt hat. Wahrlich, eine gesegnete Ernte. Zehn Jahre sind an uns vorübergerauscht, zehn Jahre der Einsamkeit, zehn Jahre harten, mühevollen Schaffens, zehn Jahre des Friedens, des Glückes. Auch ihre Spuren haben sie zurückgelassen. Silberfäden durchziehen mein Haar, rauh, hart und schwielig sind die arbeitgewohnten Hände. Mutterchen ist fast schneeweiß; an ihrem zarteren Bau haben die Unbilden der Witterung, die manchmal recht drückenden Mühseligkeiten unsres tatenreichen Einsiedlerlebens am stärksten gerüttelt. Auch einige Anfälle hitzigen Fiebers haben uns zeitweilig um ihr Leben bangen gemacht. Aber heute schaut sie doch mit dem gewohnten Blick friedlicher Heiterkeit aus ihren guten Augen zu mir herüber. »Mutterchen!« sage ich, »du siehst prächtig aus. Wie schön dein braungebranntes Gesicht mit den gesunden Farben zu dem weißen Haar paßt. Wirklich ein erquicklicher Anblick, zumal wenn ich bedenke, wie kümmerlich du voriges Jahr nach deiner letzten Krankheit warst.« – »Ja«, sagt sie, behaglich lächelnd, »damals war ich nicht sehr munter, aber heute nehm ich’s noch mit euch allen auf.«

Aus meinen vier Knaben sind vier junge Männer geworden. Der Kampf um den Lebensunterhalt, der bei uns kaum je bildlich, sondern ganz wörtlich als solcher zu verstehen war, hat ihre Kräfte früh entwickelt und gestählt, hat alle körperlichen Fähigkeiten zu seltener Vollkommenheit ausgebildet. Der stetige Verkehr mit der herrlichen Natur ringsum, die in lebhaftem Wechsel sich ihre Gaben entweder abringen ließ oder sie freiwillig gnadenreich spendete, hat ihre Seelen frisch und fröhlich, ihre Augen wachsam erhalten. Was in ihnen an überschäumender Lebenskraft unter diesen ungewöhnlichen Verhältnissen leicht hätte zur Roheit ausarten können, das bändigte und sänftigte die Gegenwart der Mutter, dieser besten Freundin des heranwachsenden Jünglings. Die liebevolle Ehrfurcht, mit der sich meine vier Wildlinge stets, auch in ihren widerspruchvollsten Launen unter dem sanften, ernsten Blick der Mutter beugten, gibt mir die Gewähr, daß in ihren jungen Herzen die tiefe Achtung vor der edlen und echten Weiblichkeit als wohlbehütetes Samenkorn Wurzel geschlagen hat und sie auch im späteren Leben als schützende Erinnerung begleiten wird. – Ein wirksames Gegengewicht zur Betätigung der rein mechanischen Körperkraft bot uns zudem von jeher die Beschäftigung mit den Wissenschaften. Unser herrlicher Bücherschatz ist uns im Laufe der Jahre immer mehr eine wahre Fundgrube an Genuß und Erbauung geworden. Das Gemeinschaftliche der Arbeit, das Verschmelzen oder Abmessen der sehr verschiedenen Fähigkeiten in unsrer kleinen Genossenschaft war besonders geeignet, unsre Studien zu kräftigen und das Interesse stets wach zu erhalten. Unser kleines naturgeschichtliches Museum weist heute eine Reihe von Sammlungen und Merkwürdigkeiten auf, um die uns mancher europäische Professor beneiden könnte. – So in der Stille aufgewachsen am großmütigen Herzen der Natur, fern vom Getriebe der lärmenden Welt, deren gute oder schlimme Einflüsse hier völlig schweigen mußten, hat sich auch die religiöse Entwicklung meiner Kinder zu einer besonders innigen gestaltet. Sie sind ihrem »lieben Gott« gewissermaßen stets näher gewesen als die Hunderte ihrer Genossen, die im Staub und Häusergewimmel, im ruhelosen Hasten und Treiben der großen Städte aufwachsen. Nirgends spricht Gott lebendiger, liebreicher, ernster und erschütternder zu seinen Kindern als durch die tönende, flüsternde oder brausende Stimme der Natur. Ihrem Liebreiz, ihrer majestätischen Schönheit erschließt sich das Herz; ihrem Drohen, ihren Schrecknissen beugt sich zitternd der Geist. Überall ist es der Allmächtige, Allgütige, Allgerechte, dessen Gegenwart wir empfinden, dessen Weisheit wir uns fügen. – Noch in einem andern Sinn hat das Heranwachsen in unsrer tiefen Einsamkeit auf die Entwicklung meiner Söhne von Einfluß sein müssen. Was man unter »jungen Herren« versteht, sind sie nicht geworden. Sie können nicht Walzer tanzen, sie können keinen Kratzfuß und keine höflichen Redensarten machen. Sie verstehen auch nicht, was ja in Gesellschaften manchmal vonnöten sein soll, über ein kleines Garnichts eine lange Unterhaltung aufzubauen. Wenn sie nichts zu sagen haben, so schweigen sie. Ihr ganzes Wesen hat neben der erquicklichen Frische blühender Männlichkeit den unverkennbaren Hauch des Knabenhaften behalten. Sie sind rüstiger und kraftvoller, aber begreiflicherweise auch wilder und unlenksamer, als sie es in Europa geworden wären. Die Zeiten, in denen sie mich für jeden Ausflug um Erlaubnis fragten, sind längst vorbei. Oftmals weiß ich halbe oder ganze Tage nicht, wo besonders die zwei Ältesten herumschwärmen. Denn auch Ernst kann sich gewaltig ermuntern, wenn seine Wißbegier angeregt wird.

Er hat die Trägheit und Genußsucht seiner Kinderjahre kräftig bekämpft und stellt jetzt an Kaltblütigkeit so gut seinen Mann wie Fritz, der mit seinen sechsundzwanzig Jahren, seinem schwarzen Schnauzbart, seiner dunkellockigen Mähne, unter der die braunen Haselnußaugen hervorblitzen, ein Bild männlicher Kraft geworden ist. Der blonde Ernst, obwohl zwei Jahre jünger, hat ihn an Länge überholt. Sein Gliederbau ist schlanker, gestreckter und schmächtiger; seine körperliche Ausdauer erreicht nicht entfernt die des Bruders. In Jack, dem dreiundzwanzigjährigen, zeigt sich wieder Fritzens kleiner Wuchs bei noch feineren Gliedern, die mehr auf Anstelligkeit und Beweglichkeit als auf eigentliche Kraftanstrengungen eingerichtet sind. Bei Franz endlich, der nun zwanzig Jahre alt ist, findet sich eine gewisse Mischung verschiedener körperlicher und geistiger Eigenschaften seiner Brüder. Er hat viel Empfindlichkeit wie Fritz und Ernst, die Pfiffigkeit Jacks aber ist bei ihm zur Klugheit geworden, da er als der Jüngste sich öfters gegen die Bevorteilung von Seiten der Brüder hat verteidigen müssen. Als der Jüngste ist er, wie sich das nach Jacks Ausspruch »von selbst versteht«, der einzige, dem der Schmuck des Bartes einstweilen noch versagt ist. Jack streicht mit nicht geringem Stolz seine »männliche Zier«, die bislang noch aus einem bescheidenen, aber deutlichen schwarzen Fläumchen besteht; wenigstens braucht er nicht mehr tatenlos zuzusehen, wie Ernst seinen schönen, weichen, blonden Schnurrbart durch die Finger zieht.

Der schweizerische Robinson

Was nun unsere land- und wirtschaftliche Umgebung betrifft, so hat diese ihren eigentlichen Charakter völlig gewahrt, nur haben sich im Laufe der Jahre Verbesserungen und Verschönerungen mannigfacher Art herausgebildet. Felsenheim ist nach wie vor unsre Winterresidenz oder, wenn man will, unser Regierungspalast, während Falkenhorst uns als Sommerwohnung, als Lustschloß dient. Ausgedehnte Stallungen für allerlei Vieh, die sehr vergrößerte Bienenzucht, die Anlage einer Reihe von Taubenschlägen zur Aufzucht europäischer Ansiedler sind die Dinge, auf denen dort unser Hauptaugenmerk ruht. In Felsenheim gibt es manche neue Bequemlichkeiten.

An der ganzen Vorderseite der Wohnung läuft jetzt eine offene Galerie entlang mit einem Dach, das schräg von der Felswand auf vierzehn stattliche Baumsäulen herabreicht. An diesen winden sich Vanille und Pfefferranken empor und schlängeln sich über das ganze Dach hinauf. Ein Versuch mit Weinreben ist der anprallenden Sonnenhitze wegen nicht gelungen. Unter der offenen Galerie oder Veranda, zunächst bei einem laufenden Brunnen, der sein Wasser in die bekannte große Schildkrötenschale ergießt, sitzen wir gewöhnlich, um von der Arbeit auszuruhen, besonders am Abend zum Nachtessen. Auf dem anderen Flügel der Veranda – man könnte sie auch Laubengang nennen – ist ebenfalls ein fließender Brunnen angebracht, der jedoch einstweilen seinen Strahl in einen Trog von Bambus sprudelt. Vermittels Rinnen von Bambusrohr können wir je nach Bedürfnis den Ablauf beider Brunnen zur Bewässerung unserer zunächstgelegenen Pflanzungen benutzen. Die beiden äußersten Enden des Laubenganges, da wo er die Brunnen bedeckt, haben ein höheres Dach von einigermaßen chinesischem Zuschnitt bekommen, so daß sie als Abschluß besonders hübsch wirken. Zwei stattliche, breite Stufen führen längs der Veranda von außen hinein. In der Mitte vor dem Haupttor unserer Wohnung werden sie natürlich von einer sanft ansteigenden Einfahrt unterbrochen. – Von der reizlosen Schroffheit, mit der uns zu Anfang unseres Aufenthaltes die Küste der Rettungsbucht schreckte, ist heute nichts mehr zu sehen. Unermüdliche Arbeit, begünstigt durch das herrliche Klima und den guten Boden, hat im Laufe der Jahre aus diesem ehemals so wilden und kahlen Fleck ein kleines Paradies geschaffen, das, zur Rechten durch den brausenden Schakalbach, zur Linken durch die unersteiglichen Flühe und den weithinlaufenden Gänsesumpf begrenzt, in ungestörter Glückseligkeit für Menschen und Tiere den köstlichsten Zufluchtsort bietet. Auch die Haifischinsel jenseits der Bucht ist schon längst nicht mehr die öde Klippe, die einst durch ihren traurigen Anblick den Aufenthalt zu Felsenheim unerfreulich machte. Kokospalmen und Pinien schaukeln ihre grünen Häupter im Seewinde; dichte Manglebäume am Strande entlang schützen den Sandboden gegen die anspülenden Meereswellen, und lustig schaut das Wachthäuschen neben seinem drohend aufgepflanzten Vierpfünder und dem hochragenden Flaggenstock in die unabsehbare Weite hinaus. – Zwischen unsrer Höhle und dem Schakalbache bis hinauf an dessen Quelle liegen unsre mittlerweile recht ansehnlich gewordenen Pflanzungen und Gärten samt dem kleinen Acker. Der größere jenseits des Baches befindet sich ebenfalls noch in unserm Gesichtskreis. Ein Palisadenzaun von Bambus nebst einer Reihe stachliger Feigen zieht sich in gerader Linie mit den Säulen unsrer Galerie am Schakalbache hin; er schützt die Anlagen auf derjenigen Seite, wo die Felswand und der Bach nicht genug Sicherheit gewähren. Den innern Raum dieses Dreiecks füllen dann außer dem kleinen Getreidefeld und der noch kleinern Baumwollpflanzung eine Anzahl von Küchengewächsen, ein Feldchen von Zuckerrohren, ein Beet mit Cochenillepflanzen und der bekannte Baumgarten von europäischen Fruchtbäumen. Mit dem Gedeihen dieser letzteren hat sich’s in der Hauptsache recht gut gemacht. Besonders schön geraten Pistazien, Mandeln, Walnüsse, Pfirsiche, Pomeranzen und Zitronen, während die Trauben nur in ganz geringer Anzahl und nur von mittelmäßigem Wert erzielt werden. Vorzüglich schön ist der Baumgang von Felsenheim nach Falkenhorst gediehen, weil die Bäume hier mehr auseinanderstehen und von der Seeluft die höchstnötige Kühlung empfangen. Ich muß aber eingestehen, daß wir einen Teil der europäischen Früchte hauptsächlich aus Anhänglichkeit ans liebe Vaterland pflegen und in Ehren halten; denn den Äpfeln, Birnen, Kirschen und Pflaumen ist der heiße Himmelsstrich so ungünstig, daß sie nur einen sehr geringwertigen und kleinen Ertrag liefern. Pomeranzen, Zitronen, Ananas und Zimmetäpfel ersetzen jedoch diesen Abgang reichlich. – Eine Anzahl neuer Geräte und Anstalten zur Ausnützung der verschiedenartigen Ernten ist natürlich auch im Lauf der Jahre dazugekommen. Sie lassen alle manches zu wünschen übrig, müssen aber genügen und erfüllen auch vollständig ihren Zweck.

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Da ist zunächst die Zuckerrohrpresse, deren Teile wir mühselig aus den vom Wrack gefristeten Sachen zusammengestellt haben und die mittels eines angespannten Zugviehs getrieben wird. Vier kupferne Kessel, zum Zuckersieden bestimmt, die anfangs zur Aufbewahrung des Schießpulvers gedient hatten, mit der Zeit aber leer geworden waren, sind nebeneinander in eine Art Kunstofen eingemauert worden. Eine Reibe und Presse zur Gewinnung des Öles aus Nüssen, Mandeln und Oliven ersetzt uns jetzt die alte, langweilige Apothekerpresse, mit der wir uns nicht länger plagen mochten. Eine andere Reibe dient verschiedenen Zwecken; einmal, um mit einem runden Rollstein unsern Flachs zu reiben, anstatt ihn durch Schlagen wie früher weich zu machen; dann, um mit einem sich wälzenden hölzernen Läufer bei der jedesmal sehnlich erhofften Traubenernte die Beeren auszudrücken; endlich, um mit einem flachen, langsam gehenden Reibstein den Kakao zu zerreiben. Die Unterlage oder der Kessel zu dieser Reibe ist ein großer, etwas ausgehöhlter Speckstein, der, frisch aus seiner Lagerung genommen, sehr leicht zu bearbeiten war, bald aber, an Luft und Feuer getrocknet, eine außerordentliche Härte angenommen hat. Dieser Unterlagestein hat einen etwa neun Zoll hohen Rand und ruht auf einem in die Erde gebauten Ofen, wodurch er je nach Bedürfnis erwärmt werden kann. Durch die Erfahrung belehrt, haben wir diese im Freien festliegenden Anstalten nach und nach mit Schutzdach und Einwandung versehen, so daß wir uns auch während der Regenzeit ganz ungestört dort beschäftigen können. Alle unsauberen, übelriechenden Zubereitungen, wie Gerberei und Lichterziehen aus Unschlitt, werden nach wie vor auf der Walfischinsel erledigt. Die Werkstätte zu diesen Arbeiten ist mit der Zeit unter einer Hervorragung des Felsens eingesprengt worden und liegt so ziemlich gegen alle Unbilden der Witterung geschützt. In Waldegg ist eine regelmäßige Baumwollpflanzung errichtet und der dortige Reissumpf in ein ordentliches Reisfeld verwandelt worden, welch letzteres unsre Bemühungen mit ganz prachtvollen Ernten lohnt. Auch Hohentwiel wird nicht außer acht gelassen. Von dort holen wir uns regelmäßig beträchtliche Vorräte von Knospen des Kapernstrauches, die in Essig, mit Pfeffer verschärft, zu künftigem Gebrauch aufbewahrt werden. Jedesmal kurz nach der Regenzeit schlagen dann auch die Blätter des Teestrauches im Überfluß aus, die mit nicht minderem Eifer gesammelt, getrocknet und luftdicht verwahrt werden. Unmittelbar vor der Regenzeit hinwieder geht es allemal den reifen Zuckerrohren und der Moorhirse zu Leibe. Von Hohentwiel aus wird zuweilen wohl auch nach der Klus ein Abstecher gemacht, um zu untersuchen, ob Elefanten oder andere gefährliche Tiere durchgebrochen seien und ob keines sich in unsern Schlingen und Wolfsgruben gefangen habe. – Unsere Haustiere, geflügelte wie vierbeinige, sind in vortrefflichem Zustande und haben sich ansehnlich vermehrt. Besonders gilt dies von Tauben und Hühnern, welch letztere durch Veredlung mit Hilfe des prächtigen einheimischen Geflügels sich zu einem wahren Staatsvolk ausgewachsen haben. Unser Mittagstisch ist nie um die köstlichsten gebratenen Hähnchen und Tauben verlegen, und um den immer erneuten Eiervorrat möchte uns mancher Gutsbesitzer beneiden. Von den alljährlich bescherten Kälbern haben wir nur zwei aufgezogen, einen Bullen von großem Mut und ungeheuren Kräften und eine hübsche, brave Melkkuh. Sie heißt Blaß, ihrer hellen Farbe wegen, während der Stier nach seiner dröhnenden Stimme den Namen Brüll erhalten hat. Beide sind natürlich zum Reiten wie zum Ziehen und Lasttragen abgerichtet, ebenso wie Pfeil und Flink, zwei junge Esel, mit denen der muntre Rasch uns erfreut hat. Die Schweine haben sich natürlich riesig vermehrt, und wir sind schon längst genötigt gewesen, die älteren Stücke aus dem Küstenrevier landeinwärts in die Steppe zu versetzen. Auch das übrige kleine Vieh hat sich entsprechend vervielfältigt, und wir können nicht nur unbesorgt davon schlachten, so daß unsere Tafel mit zahmem und wildem Fleisch in angenehmer Abwechslung bestellt ist, sondern wir haben einen Teil von ihnen schon in die Wildnis ziehen lassen, wo wir sie nun, vermischt mit den Gazellen, auf unsern Jagdzügen wieder antreffen. Mit großer Vorliebe schonen und pflegen wir zarte, reizende Antilopen auf der Haifischinsel, die sich nur langsam vermehren. Kürzlich haben wir uns ein Pärchen in den reichbebuschten Hof von Felsenheim herübergeholt, um uns an den niedlichen Gestalten und possierlichen Sprüngen zu ergötzen. Unter den Hunden haben wir einstweilen nur einen Sprößling des gewandten Jager am Leben gelassen. Er verspricht ein vorzüglicher Spürhund zu werden. Jack hat ihn Koko genannt. Das sei ein kurzer und doch fernhintönender Name und wecke ein prachtvolles Echo in den Wäldern und an Felsklüften.

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Nach diesem Rück- und Rundblick nehme ich endlich den Faden meiner Erzählung wieder auf.

Ich habe schon erwähnt, daß meine Söhne sich mit Beziehung auf die Freiheit ihrer Bewegungen so ziemlich von meiner väterlichen Gewalt losgelöst hatten. Im großen und ganzen war mir das schon recht. Sie waren keine Kinder mehr, und ich mußte darauf bedacht sein, ihnen beizeiten Selbständigkeit zu sichern. Wer mochte wissen, wie unser Leben sich noch gestalten würde und wie lange sie noch Vater und Mutter um Rat fragen könnten.

So hatte sich denn auch Fritz einmal schon vom frühen Morgen an von Felsenheim verloren. Erst gegen Abend bemerkten wir an der Abwesenheit seines Kajaks, daß er wohl einen Ausflug in See gemacht habe. Gleich begaben wir uns auf die Hochwache der Haifischinsel, um uns so weit als tunlich nach dem Flüchtling umzusehen, wobei wir auch die Flagge lustig in dem Wind flattern ließen und unsere Alarmkanone zum Salutieren luden. Eine Weile zwar entdeckten wir nichts; endlich unterschieden wir jedoch einen kleinen, schwarzen Punkt auf der besonnten Wasserfläche, und nicht lange, so konnten wir schon durch ein Fernglas unsern Herrn Grönländer in seinem Kahn unterscheiden. Er schlug taktmäßig mit dem Ruder auf den Meeresspiegel und näherte sich, wiewohl etwas langsamer und schwerfälliger, als ich erwartet hatte, der Küste von Felsenheim.

»Numero eins, Feuer!« kommandierte jetzt Ernst als wachthabender Offizier, und Jack brannte alsbald los. Dann erhoben wir alle noch ein frohes Hurra und eilten flugs von der Höhe nach dem Strand, um womöglich in unserem Boote Fritz zuvorzukommen und ihn bei unserer Wohnung am Lande zu empfangen.

Kaum hatte er die Rettungsbucht erreicht, so erkannte ich gleich, was seinen Lauf verzögert haben mochte; denn eine gewichtige Beute schwamm angebunden an der Seite des Kajaks. Hinter dem Fahrzeug im Wasser ward überdies noch ein beträchtlicher Sack bugsiert, der ebenfalls hinderlich sein mußte.

»Willkommen, Fritz, willkommen!« rief ich ihm schon aus der Ferne zu; »woher des Landes, oder woher des Meeres? Du hast, scheint es, gute Beute gemacht, denn du bist beladen wie ein Frachtwagen. Wo hast du dich herumgetrieben, du Schlingel? Na, die Hauptsache ist, daß man dich wohlbehalten wieder hat!«

»Ja«, erwiderte Fritz, »es geht mir ausgezeichnet. Ich habe allerlei Beute gemacht und Entdeckungen – das sag‘ ich euch, die werden uns bald genug wieder anlocken.«

Kaum saß das Kajak auf dem Strand, als das Schifflein samt dem Ruderer darin von den drei übrigen Brüdern unter Jubelgeschrei gezogen und bis zu unserer Wohnung hin fortgeschoben wurde, worauf alsbald noch ein unförmliches, gleich einer Kröte aufgeblasenes Seetier und ein Sack voll großer, flacher und dicker Muscheln auf einer Tragbahre nachgeholt wurden. Dann aber setzten wir uns alle um den zur Ruhe gelagerten Fritz her, begierig, den Reisebericht zu vernehmen, der ihm schon gleichsam über die Lippen hervorguckte.

»Du bist hoffentlich nicht ärgerlich gewesen, lieber Vater«, so fing er an, »daß ich ausgezogen bin, ohne mich zu verabschieden. Es reizte mich nämlich ganz riesig, einmal einen Streifzug jenseits jener Klippen, an denen ich mein Walroß erlegt habe, zu unternehmen. Ich war deiner Zustimmung durchaus nicht sicher, da der Ausflug so völlig ins Ungewisse ging. Daher beschloß ich, lieber heimlich auf und davon zu gehen und dich dann nachträglich durch meinen Erfolg zu versöhnen. Ich richtete demnach mein Kajak in aller Stille mit Mundvorrat, Trinkwasser, Schießbedarf, Fangvorrichtungen verschiedener Art ein und lauerte so auf die nächste passende Gelegenheit.

Der heutige schöne Morgen und die stille See lockten mich unwiderstehlich, meinen Plan auszuführen. Ich schlich mich davon, während ihr noch in der Felsenhöhle beschäftigt wart, ergriff zuletzt noch ein gutes Handbeil, rief meinen Adler, schiffte mich ein und überließ mich der Strömung des Schakalbaches, die mich auch in kurzem aus eurem Gesichte trug. Ich beobachtete jedoch genau den Strich meines Kompasses, um den Rückweg wieder auffinden zu können.

Als ich über die Stelle unseres weiland gesprengten Wrackes fuhr, sah ich in nicht sehr großer Tiefe, weil das Wasser besonders hell und ruhig war, viele unserer größeren Kanonen, Eisenstangen, Kugeln und dergleichen auf dem Grund liegen. Schade, daß es uns an allen Vorrichtungen fehlt, um sie heraufzuholen.

Von da wandte ich mich wieder schräg und westlich nach der Küste, mitten durch die Riffe eines gleichsam zertrümmerten Vorgebirges, wo sich bald Tafeln und Blöcke von Felsgestein aufeinandertürmten, bald einzelne Klippen und Felsbrocken zerstreut aus dem Meere hervorragten oder zunächst unter der Wasserfläche verborgen staken. Auf den unzugänglichsten hatten sich eine Menge Seevögel angesiedelt, die dort ihre Brutplätze haben mochten und mit rasendem Geschrei herumschwärmten. Wo dagegen eine Klippe flacher und zugänglicher lag, da zeigten sich große Seetiere, die teils in der Sonne liegend schnarchten, teils ordentlich betäubend quiekten, schrien, schnaubten und brüllten. Gewöhnlich lagen sie, Art bei Art, rudelweise aneinander; namentlich Seelöwen, Seebären und See-Elefanten, besonders aber Walrosse.

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Ich muß bekennen, daß es mir unter all diesen Riesentieren nicht eben wohl zu Mute war, und somit suchte ich mich durch die Klippen ihres Aufenthalts mehr unbemerkt durchzustehlen, als ritterlich und offen durchzuschlagen. Erst nach anderthalb Stunden etwa war ich jedoch gänzlich geborgen und befand mich jetzt gerade vor einem prächtigen Felsentor, das die Natur in stolzem gotischem oder altdeutschem Geschmacke erbaut zu haben schien. Es öffnete sich wie der Schwibbogen einer ungeheuren Brücke; der Fels aber lief noch jenseits als ein Vorgebirg von beträchtlicher Höhe in die See hinaus.

Ich fuhr bedachtsam und vorsichtig hindurch, fand aber nichts Bedeutendes, und als ich mich durch das hohe Felsengewölbe hindurchgearbeitet hatte, befand ich mich sofort in einer prächtigen Bai, am niedrigen und lieblichen Strand einer fast unabsehbaren Steppe, die mit verschiedenen anmutigen Holzungen unterbrochen, links von ungeheuren Felsenmassen begrenzt, rechts von einem sanften Strome durchzogen und bewässert war. Jenseits des letztern schien sich vieles Sumpfland auszubreiten, und ein mächtiger Zedernwald verhinderte endlich alle fernere Aussicht.

Während meiner Fahrt an einem schönen Ufer hin, bei spiegelglatter See, bemerkte ich in verschiedener Tiefe, zumal auf steinigem Grund, bald mehr, bald minder ausgedehnte Lager beträchtlich großer Muscheln von der Art der Bivalven oder zweiklappigen wie die Austern. Das muß doch ein fetteres und ergiebigeres Essen sein, dachte ich, als die kleinen Austern in der Rettungsbucht. Hiermit riß ich einige der Muscheln mit meinem Bootshaken von dem felsigen Grunde los, faßte sie in mein Sackgärnchen auf und fuhr gleich damit an das Land, wo ich sie bloß hinwarf, ohne aus meinem Kajak zu steigen; denn ich fuhr alsbald zurück, um eine zweite Ladung zu holen, die ich nach Felsenheim zu führen beschloß und deswegen zu besserer Erhaltung, eingepackt in meinen gewöhnlichen Reisesack, hinten an meinem Kajak im Wasser nachschleppte.

Als ich dann wieder an die vorige Stelle zurückkam und mich nach den vorhin ans Land geworfenen Muscheln umsah, fand ich alle an der brennenden Sonne auf dem Strande schon verschmachtet und vollkommen offen, wodurch mir natürlich jede Eßlust auf der Stelle verging. Hingegen war ich doch neugierig, die Dinger etwas näher zu untersuchen. Ich schnitt also in den Körper der Tiere an verschiedenen Stellen ein und fand ihn allerorten so zäh, daß ich an der Eßbarkeit des Fleisches, auch wenn es gekocht würde, durchaus zweifelte. Hin und wieder aber war mein Schnitt auf etwas Hartes geraten, dem ich weiter nachgrübelte; und siehe da, bald hob ich mit der Messerspitze ein paar größere und kleinere Erbsen hervor, die völlig aus Perlmutter gedrechselt zu sein schienen. Jetzt untersuchte ich der Reihe nach alle Muscheln. Die niedlichen Erbschen lagen meist zwischen dem Fleisch und der äußern Schale, ein solches Kügelchen war sogar von der Größe einer halbreifen Haselnuß. – Hier habe ich alle die Dingerchen in meiner Bambusbüchse beisammen, soviel ich nur in den Austern vorfand. Sieh sie dir an, Vater, und wenn das nicht die schönsten orientalischen Perlen sind, will ich Matz heißen.«

»Laß sehen Fritz«, riefen die Brüder, »laß sehen! Alle Wetter, wie schön, wie glänzend! Das war aber mal ein herrlicher Fund!«

»Ja«, sagte ich, »du hast hier einen wahren Schatz entdeckt, mein lieber Sohn, um den uns ganze Völker beneiden würden, wenn sie es erführen. Ohne Handelsverkehr freilich nützen uns diese Herrlichkeiten wenig; dennoch wollen wir baldigst den Fundort dieser Muscheln besuchen, die Entdeckung könnte doch noch folgenreich für uns werden. – Aber nur weiter!«

»Nachdem ich mich«, fuhr Fritz fort, »mit Speise und Trank etwas gelabt hatte, setzte ich meine Fahrt aufs Geratewohl an dem ebenen Strande fort, der immer mehr mit mannigfaltigen kleinen Buchten eingeschnitten war. Wegen des im Wasser nachschleppenden Austernbündels rückte ich jedoch nicht sonderlich vor. Ich kam an dem beobachteten Strome vorüber, der nur sehr wenig Fall hatte und mit den schönsten Wasserpflanzen bedeckt war, so daß er mir beinahe wie eine schön begraste Wiese vorkam, zumal verschiedene Wasservögel, besonders eine Art von langzehigen, wie auf trockenem Boden darüber wegliefen. Nachdem ich meinen Vorrat von Trinkwasser daselbst erneuert hatte, eilte ich, meine Grenzbesichtigung der großen Bai zu beendigen, und beschloß, diese mit dem Namen der großen Perlbai zu beehren. Bald erreichte ich dann das jenseitige Vorgebirge, das dem mit dem Schwibbogen fast symmetrisch gegenüberstand; beide mochten anderthalb bis zwei Stunden weit voneinander stehen, wenn man die gerade Linie ihres Abstandes betrachtete, und beide ragten weit in die See hinaus; innerhalb ihrer Spitze aber lief ein Felsenriff von dem einen zu dem andern hin und trennte die Bai von der offenen See mit Ausnahme einer einzigen Stelle, die zu einer bequemen Durchfahrt offen blieb. Das übrige schien mir durch die Klippen und durch Sandbänke vollkommen wohl gesichert und bildete somit einen prächtigen natürlichen Seehafen, dem nur eine Stadt fehlte.

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Ich versuchte, die neuentdeckte Einfahrt sogleich zum Hinausfahren zu benutzen. Die Strömung der gerade stark angewachsenen Flut war mir aber so gewaltig entgegen, daß ich, um nicht umzuwerfen, mein Vorhaben schlechterdings aufgeben mußte. Demnach zog ich mich an dem Riffe fort gegen das äußere Vorgebirge, bis ich dieses erreichte und an der gewaltigen Felswand mich wieder landwärts hielt, ohne jedoch auf ein Tor zu stoßen wie auf der entgegengesetzten Seite. Dagegen spürte ich dort bald eine Menge vierfüßiger Tiere auf, die mir von der Größe eines gewöhnlichen Seehundes zu sein schienen. Ich sah sie bald auf den Klippen herum, bald im Wasser miteinander scherzen, sich necken, verfolgen, untertauchen und wieder hervorkommen. Ich war riesig begierig, sie näher kennenzulernen; das beste wäre gewesen, eines zu erlegen und mitzunehmen. Aber noch war ich zu weit außer dem Schuß und fürchtete auch, nicht unbemerkt genug hinschleichen zu können oder auch meine Beute nur zu verwunden, die dann doch durch Untertauchen mir wieder entgehen dürfte. Deswegen legte ich meinen Kahn hinter einem Felsenvorsprunge fest, nahm Blitz und warf ihn nach dem Trupp jener Tiere hinaus in die Luft; er flog auch hin wie ein Pfeil, schoß nieder auf ein schönes erwachsenes Geschöpf, und hatte es fast im Hui geblendet. Schnell lief ich in Sprüngen über einzelne Steinblöcke nach dem Kampfplatze hin und schlug das Tier mit dem Bootshaken tot, während ich mit Erstaunen von allen übrigen keine Spur mehr bemerken konnte, denn sie waren sämtlich wie durch einen Zauber verschwunden.«

»Aber wie hast du es angefangen«, fragte ich ihn jetzt, »deine Beute so geschickt heimzubringen; denn für dein schwaches Fahrzeug war sie doch viel zu schwer.«

»Ja, das kostete mich Mühe und Nachdenken genug«, antwortete er, »denn zurücklassen wollte ich sie unter keiner Bedingung, und obschon mir freilich das Kunststück der Grönländer, das Tier aufzublasen, in den Sinn kam, so mochte ich doch den Mund nicht zwischen Balg und Fleisch des getöteten Tieres stecken, da ich ohnehin keinen sonderlichen Erfolg voraussah; etwas Röhrenartiges hatte ich aber nicht bei mir, und es war weder Schaft noch Haken auf der öden Klippe des Riffes aufzutreiben.

Indem ich so etwas stumpfsinnig in die Welt hinausschaute, fielen mir die Menge Seevögel auf, die mich näher und immer näher mit Gekreisch umschwirrten. Möwen, Seeschwalben, Albatrosse, Fregatten und dergleichen flatterten mir unverschämt zu Leibe, daß ich zuletzt ungeduldig ward und mit meinem Bootshaken blindlings unter sie schlug. Zum Glück traf ich einen großen Vogel so gut, daß er mit ausgebreiteten Flügeln betäubt hinstürzte. Es war ein stattlicher Albatros, den, glaube ich, die Seeleute auch das Schaf oder das Kriegsschiff nennen. Während er nun so vor mir lag, sprang mir’s plötzlich in die Augen, daß die Kiele seiner Schwungfedern meinem Bedürfnis ganz vortrefflich abhelfen könnten. Schnell raufte ich mir einige der größten aus, bediente mich ihrer zum Aufblasen der Seeotter und hatte sie bald in schwimmfertigem Stande. Dann war es aber auch Zeit, mich auf den Heimweg zu begeben; ich zog das Kajak hinüber an die Außenseite des Riffs, band meine gewonnenen Schätze sorgfältig auf und an, fuhr in Gottes Namen durch die Brandung glücklich hinaus in die hohe See und befand mich in kurzem wieder auf wohlbekannten Gewässern, wo ich denn bald aus weiter Ferne schon unsere Flagge spielen sah und nicht lange darauf auch den Knall unserer Alarmkanone zum Zeichen eurer willkommenen Nähe vernahm.«

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Dies war Fritzens Erzählung, und gleich am Schlusse fiel mein Hausvolk über seine mitgebrachten Eroberungen eifrig her. Da winkte mir Fritz, der alle, auch die Mutter nicht ausgenommen, so emsig beschäftigt sah, heimlich auf die Seite. Neugierig folgte ich ihm zu einer fernstehenden Bank. »Denke doch, Vater, denke!« sprach er aufgeregt, »was mir mit dem Albatros noch Sonderbares widerfahren ist! Indem ich ihn auf dem Schoße hielt, sah ich plötzlich zu meinem Erstaunen, daß sein eines Bein mit einem leinenen Lappen umwunden war. Sofort löste ich ihn ab und betrachtete ihn näher. Da fand ich ihn denn mit einer Art Purpurfarbe beschrieben und las in englischer Sprache ganz deutlich die Worte: »Rettet eine unglückliche Engländerin von der rauchenden Klippe!«

»Was sagst du da?« fuhr ich auf. Fritz faßte mich am Arme. »Nicht wahr?« sagte er mit unterdrückter, fast heiserer Stimme, indem er sich nach den andern umsah. »Wie mir zu Mute war, Vater! Als ob mich ein elektrischer Schlag getroffen hätte. Ich las und las immer von neuem die paar Worte!

Mein Gott! dachte ich, ist das Wahrheit oder Täuschung? Haust noch eine lebendige Seele in diesen weiten Einsamkeiten? Wie kann sie denn hergekommen sein? – Doch ja, dachte ich wieder, so gut als wir selbst, durch Sturm und Schiffbruch! Könnte ich nur die Unglückliche finden und retten oder ihr doch wenigstens Trost oder Hoffnung bringen! Das arme Geschöpf!

In diesen Gedanken suchte ich den armen Vogel nur wieder zu sich zu bringen, tunkte schnell eine Feder, so stumpf sie war, in die blutende Wunde der Seeotter, und malte erst auf den schon beschriebenen Lappen, dann aber auch auf ein abgerissenes Stück von meinem Schnupftuch die englischen Worte: »Nur Gott vertraut! Hilfe ist hoffentlich nahe.«

Hierauf band ich beide Lappen an die zwei Beine des Albatrosses, damit die arme Engländerin, wenn sie den Vogel je wieder zu Gesicht bekäme, sogleich an der Doppelzahl der Bändchen sehen könne, daß er in fremden Händen gewesen sei. Denn ich dachte mir, die Schiffbrüchige habe wohl das Tier wenigstens zum Teil gezähmt, und es werde über, kurz oder lang zu ihr auf die rauchende Klippe zurückkehren, die wohl nicht in großer Entfernung liegen möchte.

Es war mir gelungen, den betäubten Vogel mit etwas kräftigem Met wieder gänzlich zu ermuntern. – Er fing an herumzutappen, hob seine Flügel, machte ein paar Versuche damit, und plötzlich sauste er unaufhaltsam davon, nach Westen zu. Ich blieb ganz verblüfft und enttäuscht dastehen, denn ich hatte gehofft, ich würde ihm nachrudern können. Aber er war mir im Nu aus den Augen.

Nun aber, Vater, quält mich der Gedanke fortwährend: Wird mein Zettelchen wohl zu der Unglücklichen hingelangen? Wo mag sie hausen? Werde ich sie finden und erretten können?«

»Mein lieber Sohn!« sagte ich, »diese Begebenheit ist sicher die merkwürdigste, die wir hier noch erlebt haben, und ich freue mich über die Klugheit, mit der du dich benommen hast. Recht, daß du sie vorläufig bloß mir vertrautest. Die Nachricht, so wie sie ist, würde nur allgemeine Unruhe bewirken, ohne Nutzen zu bringen. Zumal wir ja nicht einmal wissen können, ob nicht entweder das Läppchen sehr alt und die Schreiberin seither gänzlich verunglückt oder gar so weit von uns entfernt verschlagen ist, daß wir sie unmöglich auffinden können. Denn bekanntlich ist ja der Albatros ein gewaltiger Luftsegler und kann in wenigen Tagen aus einer ungeheuren Weite dorthin gekommen sein, wo du ihn erwischt hast. Jetzt aber laß uns zu den andern zurückgehen, ich habe dir eine Erklärung zu machen.«

Hiermit traten wir Hand in Hand zu dem Kreise der Unsrigen, die, gleich etwas Besonderes ahnend, sich stillschweigend hinstellten wie zu einem feierlichen Empfang, und ich erhob meine Stimme mit großem Ernst: »Hier, Mutter, führe ich dir deinen Sohn und euch Kindern euren ältesten Bruder mit der ausdrücklichen Anerkennung vor, daß er seit geraumer Zeit, und namentlich bei seinem eben uns erzählten letzten Ausflug, sich so tätig, mutvoll und verständig benommen hat, daß ich ihn von nun an wie einen durchaus selbständigen jungen Mann behandeln werde und auch so von euch allen geehrt zu sehen wünsche. Forthin soll er mir als Freund zur Seite stehen. Er darf nach freiem Willen und eigener Einsicht handeln; ich spreche ihn hiermit in aller Form los von meiner väterlichen Gewalt!

Fritz war von diesem feierlichen Auftritt ganz betroffen. Die Mutter, Freudentränen in den Augen, zog ihn an sich, gab ihm einen herzlichen Kuß und entfernte sich dann eilig, um, wie sie sagte, zur Feier des Tages ein besonders herrliches Mahl zu bereiten.

Die Brüder beglückwünschten Fritz von Herzen zu dieser Mannbarkeitserklärung; wir alle feierten den Anlaß bei fröhlichen Liedern und ernsthaften Gesprächen bis tief in die Nacht hinein.

Am andern Morgen, kaum daß wir unsere Morgenarbeit einigermaßen getan hatten, stürmten die vier Burschen gewaltig auf mich ein, doch unverzüglich auf die Perlenfischerei zu ziehen. – »Sachte, sachte«, war mein Bescheid, »soll unser Werk vonstatten gehen, so muß auch für gehöriges Werkzeug Rat geschafft werden. Laßt uns die Sache recht vorbereiten, und schaffe jeder etwas Nützliches zu dem Ausfluge herbei, so will ich gern mit dabei sein.«

Sofort gingen wir sämtlich an die Arbeit, wobei ich selbst zwei große und zwei kleinere Rechen oder Haken aus Eisen zurechtschmiedete, sie mit starken hölzernen Stielen versah und an die zwei größern eiserne Ringe befestigte, um sie vermittels Stricken an unser Boot zu binden und sie dergestalt durch Rudern im Schiff über den Grund zu ziehen, wo Perlaustern sich vorfinden möchten.

Franz half der Mutter lange Netzbeutel verfertigen, die, an meine großen Rechen festgemacht, dazu dienen sollten, die abgekratzten Muscheln sogleich aufzunehmen.

Fritz war sehr eifrig, aber sehr schweigsam, immer abseits, mit einer Arbeit auf eigene Faust beschäftigt, die darin bestand, daß er in dem Verdeck seines Kajaks eine zweite Sitzöffnung anbrachte, was mir ziemlich deutlich seine stillen Hoffnungen verriet; die Brüder aber fanden es freilich natürlich, daß er darauf bedacht sei, etwa dem einen oder dem andern ein Plätzchen neben sich zu bereiten, was Fritz unwidersprochen so hingehen ließ.

Mit Proviant und Werkzeug vollkommen ausgerüstet, stießen wir eines Tages, da Wind und Wasser uns vorzüglich zu begünstigen schienen, unter den Segenswünschen der zurückbleibenden Mutter und Franzens voll gespannter Hoffnungen vom Land. Wir legten in kurzem den Weg zurück, den Fritz uns früher beschrieben hatte, und kamen noch vor Abend in der Austernbai an. Wir richteten uns auch bald zum Schlafen ein. Die Hunde blieben am Strand beim Feuer, das wir angezündet hatten, wo es ihnen vortrefflich behagte; wir aber schliefen im Boot, mit dem wir uns in einigem Abstand vom Ufer vor Anker legten, doch so, daß wir bei entstehendem Lärm unsere Landtruppen ohne weiteres in den Schutz unserer Feuergewehre nehmen konnten. Wir schliefen auch warm und sanft, obwohl uns im Anfang das Geheul einiger Schakale von der Küste her beunruhigte.

Der schweizerische Robinson

Bei Anbruch des Tages waren wir bald alle munter, hatten gelandet, ein nahrhaftes Gabelfrühstück eingenommen und ruderten ungesäumt nach der Austernbank hin, wo wir mit unserm Garnrechen und den übrigen Werkzeugen eine Menge Muscheln in kurzer Zeit emporholten. Der gute Erfolg machte uns auch Lust, sowohl an diesem als an den nächstfolgenden zwei Tagen bei dem einförmigen Geschäfte auszuhalten, und wir bekamen einen stattlichen Haufen zusammen, den wir am Strande zu einem länglichen Würfel dicht ineinanderschichteten.

Gegen Abend, ungefähr eine Stunde vor der Zurüstung des Nachtessens, pflegten wir jeden Tag eine Streiferei durch die Ufergegend zu machen, wobei gewöhnlich ein paar Stücke kostbaren Geflügels, bald eine Art Feldhühner, bald kleine Strandläufer, bald anderes erbeutet wurden.

Am letzten Abend unserer Perlfischerei hatten wir große Lust, ein wenig tiefer als sonst in das benachbarte Wäldchen einzudringen, da wir Truthähne oder Pfauen gehört zu haben glaubten, nach denen wir gleich ein zärtliches Verlangen trugen. Zugleich aber hofften wir auch etwa irgendein vierfüßiges Tier aufzuspüren.

Ernst war diesmal mit dem wackeren Falb etwas vorausgezogen, und Jack mit seinem Jager plänkelte in einiger Entfernung hinter ihm durch das hochaufgeschossene Gras, während Fritz und ich noch am Ufer erst etwas an unserm Werkzeug in Ordnung bringen wollten. Da geschah plötzlich ein Schuß, auf den ein Aufschrei und dann ein zweiter Schuß erfolgte. Alsbald rissen Bill und Braun von uns aus, nach der Richtung dieser Schüsse hin.

»Hier ist Not am Mann!« rief Fritz und rannte ebenfalls schleunigst nach der Gegend des Lärms, indem er zugleich seinen Adler während des Laufes enthaubte. Bald darauf warf er ihn vor sich hin durch die Luft und feuerte dann einen Pistolenschuß los, nach dem ich unmittelbar statt des vorigen Notschreis den Jubelruf: »Viktoria, Viktoria!« vernahm.

Es versteht sich, daß ich auch schon unterwegs war nach dem mutmaßlichen Kampfplatze, doch glaubte ich jetzt meinen Sturmschritt etwas mäßigen zu können. Gleichwohl ging es keine zwei Minuten, so gewahrte ich schon zwischen den Baumstämmen Jack, der, auf beiden Seiten von Ernst und Fritz unterstützt, wie ein Gelähmter gegen mich herwankte. – Nun also, dachte ich, der ist gottlob doch noch aufrecht, und es ist ihm nicht so schlimm ergangen, als ich gefürchtet hatte! – Somit hielt ich still, rief die Jäger herbei und dachte auf eine Erquickung an unserm Standplatz am Ufer, wo wir zur Notdurft einen zwar etwas armseligen Tisch und ein paar Bänke errichtet hatten.

Als die drei vollends bei mir anrückten, ächzte, stöhnte und winselte Jack ganz jämmerlich, tastete‘ betrübt an sich selber herum und sagte bei mehr als zwanzig Stellen: »Hier tut’s mir weh, und hier, und hier, und hier; ich bin zerstoßen wie ein zermörseltes Pfefferkorn.«

Ich fand jedoch bei näherer Untersuchung nichts weiter als ein paar Flecke, wie man sie von heftigem Stoßen oder Schlagen zu kriegen pflegt; kurz, es lief alles auf einen ziemlich unbestimmten Schmerz in den Muskeln heraus. »Na, na«, rief ich, »gar so unmenschlich kann das Leiden dem Aussehen nach nicht sein. Einige Quetschungen, weiter seh‘ ich nichts. Das kann doch einen so tüchtigen Jägerburschen nicht gleich aus der Fassung bringen. Was gab’s denn?«

»Ja, was gequetscht!« versetzte Jack. »Gewalkt, zerstampft und beinahe zermalmt bin ich; es fehlte nur ein Haar, so hätte die Bestie mir den Bauch aufgeschlitzt, und dann adieu mit dem Jägerburschen; aber die wackeren Hunde und Fritzens Blitz haben dem Greuel gezeigt, wo Barthel den Most holt.«

»So rücke doch endlich mal heraus! Was für ein Greuel hat dich also geknetet?«

»Ach!« rief Ernst, »es war ein gräßliches afrikanisches Wildschwein, mit häßlichen Fleischlappen unter den Augen und an den Schläfen, mit halbfußlangen Hauern und einem handbreiten Rüssel, der das Erdreich durchwühlte, wie eine Pflugschar und ordentliche Furchen riß.«

»Nun, da war die Gefahr allerdings schlimm genug! – Da wollen wir nur den armen Kerl ein bißchen pflegen und erquicken. Schon auf den Schrecken hin.«

Ich gab dem Patienten einen Becher Kanariensekt von unserer eigenen Machenschaft, wusch ihm auch die zerstoßenen Glieder damit und brachte ihn dann auf unser Nachtlager im Boote, wo er so sanft und schnell einschlief, daß ich für sein weiteres Befinden bald außer Sorge war.

»Nun aber«, sprach ich zu Ernst, sobald ich wieder am Ufer war, »erzähle die Geschichte vom afrikanischen Eber! Denn noch immer ist es mir unklar, wie es mit dem Abenteuer zugegangen sein mag.«

»Ich war als der erste mit Falb in das Wäldchen getreten«, fing er an, »da riß der Hund sich unversehens von mir los und stürzte in ein Gebüsch hinein. Da mußte die Bestie gelagert haben, denn nun brach sie mit entsetzlichem Schnauben, Rasseln und Schnaufen aus dem Dickicht. Ich erschrak denn doch nicht wenig. Sehr einladend sah das Scheusal auch nicht aus, als es da in geringer Entfernung anhielt und an einem Baum seine Hauer wetzte. Indessen war auch Jack zu dem Wäldchen herangekommen, und sobald sein Jager das Wild in der Nähe witterte, ging er heulend darauf los und umkreiste es gemeinschaftlich mit Falb, um irgendeine Blöße zu erspähen. Ich näherte mich dem Untier behutsam von Baum zu Baum, um von ihm ungesehen in sichere Schußnähe kommen zu können. Inzwischen hatte sich Jager etwas unbedachtsam herangemacht und kriegte von der rückwärts ausscharrenden Bestie einen Tritt, daß er winselnd übertorkelte. Jack wurde darüber erbost, sprang eilfertig vor, feuerte und fehlte oder streifte den Eber wenigstens nur obenhin. Natürlich geriet das Scheusal nun in rasende Wut und stürzte auf ihn los. Jack brannte sofort durch. Ich schoß, um ihm beizustehen, traf aber auch schlecht und machte die Bestie nur noch wütender. Nun läuft ja unser Junge wie ein Hottentotte und wäre gewiß entkommen, wenn er nicht über eine Baumwurzel gefallen wäre. Im Augenblick, als das Ungetüm sich auf ihn stürzte, kriegten Falb und Jager es aber von hinten zu packen, so daß es in der Verteidigung gegen die neuen Angreifer Jack keinen ernstlichen Schaden zufügen konnte. Jetzt kamen auch Bill und Braun an, erwischten es bei den Ohren, der Adler schoß, wie sein Name besagte, als Blitz aus der Luft auf ihn nieder, und Fritz konnte sich nun ungefährdet so weit nähern, um dem Unhold mit der Pistole den Garaus zu machen. Wir halfen nun dem stöhnenden Jack auf die Beine, und da sind wir nun, wie wundenbedeckte Helden, die aus der Schlacht heimkehren!«

Der schweizerische Robinson

Ich mußte nun doch lachen, um so mehr, als die schwerverwundeten Helden während der Erzählung sich tapfer hinter das Nachtessen gemacht hatten. Das Einbrechen der Nacht mahnte auch sofort an förmliches Abendessen und Ruhe. Zwar hätten wir gern noch unsere Hunde am Ufer gehabt; sie waren aber, ohne daß wir es wahrgenommen hatten, bei dem erlegten Hauer zurückgeblieben, und jetzt war es uns zu spät, sie noch abzuholen. Wir steckten demnach kurz und gut das gewöhnliche Wachtfeuer an, genossen etwas kalte Küche und zogen uns dann auf unser Boot zurück, wo wir ohne bedeutende Störung die Nacht ebenso ruhig verschliefen, als wäre es auf Felsenheim.

Frühzeitig machten wir uns am folgenden Morgen wohlgerüstet auf den Weg nach der Walstatt, um den gefällten Eber in Augenschein zu nehmen und über seine Benutzung Rat zu halten; doch ließen wir den armen Jack, der nach seinem schrecklichen Abenteuer wohl noch einer längern Ruhe bedürftig war, auf seinem Lager zurück.

Sobald wir dem Gehölze nahten, sprang uns Jager samt den drei Hunden mit Freudensätzen entgegen. Sie hatten also ungefährdet die Totenwache bei dem Eber durchgemacht. Wir waren auch bald selbst an Ort und Stelle, wo mich allerdings die Größe des erlegten Ungeheuers, zugleich aber auch seine Häßlichkeit in Erstaunen setzte. Mir schien, das furchtbare Tier hätte dem wilden Büffel und sogar dem gewaltigen Löwen Trotz zu bieten vermocht.

Während ich so stillschweigend hinstarrte, rief Fritz sehr fröhlich: »Ah, der Tausend, welch eine gute Gelegenheit, unsere westfälischen Schinken zu ersetzen, die wir so lange schon verdaut haben! Ja wahrlich, es lassen sich hier noch größere Keulen herausschneiden, als jene gewesen sind!«

»Und dann dürfen wir auch den Kopf nicht vergessen«, bemerkte Ernst, »den Jack für das Museum in Anspruch genommen hat. Es wäre aber nötig, daß wir den mächtigen Leichnam erst drunten am Strande hätten, um ihn bequem zu zerlegen, wie es uns gut dünken würde.«

»Ei, freilich«, stimmte Fritz bei, »das läßt sich auch leicht bewerkstelligen.«

»Nur zu«, sagte ich, »aber ich fürchte, ein alter afrikanischer Eber möchte so wenig ein schmackhafter Braten sein als ein alter europäischer.«

Fritz hatte indessen an einem vielästigen und dichtbelaubten Baum eine große Anzahl Zweige heruntergehackt; diese wurden zusammengebunden, auf den Boden nebeneinandergebreitet und dann mit den nötigen Stricken versehen, deren wir mehrere zur Vorsorge mitgenommen hatten. Es wurde auch ausgemacht, daß wir uns mit dem Kopf und den vier Keulen des Ebers begnügen wollten. Das Tier wurde also an Ort und Stelle zerlegt. Dann bereiteten wir fünf Schleifen aus den Zweigbündeln und spannten vor drei davon unsere drei Hunde; ich nahm die vierte, Ernst mit Fritz die fünfte. Jeder Hund zog einen der Schinken, ich desgleichen, und die Brüder den großmächtigen Eberkopf, mit dem sie Jack zu erfreuen gedachten. Es machte zwar Mühe, das neumodische Zugvieh in ordentlichem Gang zu erhalten; dennoch gelangten wir ohne längern Aufenthalt an das Ufer, wo die knurrenden Hunde wieder ausgespannt wurden, die im Hui ausrissen und nach dem Wäldchen zurückrannten, da sie zu merken schienen, daß wir ihnen den Rest des Ebers als Beute überlassen wollten, woran sie sich denn auch nicht wenig erlabten.

Schnell nahm Fritz einen Spaten zur Hand und fing an, eine Grube zu graben, wobei ihm Ernst Hilfe leistete. »Wir wollen«, sagten sie, »Jack überraschen und seinen Schweinskopf als einen otaheitischen Braten zurichten, was auch uns andern zugute kommen soll.« Bald loderte ein schönes, hochflammendes Feuer aus der vollendeten Grube hervor, und wir hängten, um es ganz zu benutzen, die gewaltigen Schinken des Ebers daran, in der Absicht, vorläufig die Borsten wegzusengen, was vermittels eines glühenden Eisenstabes auch an dem Schweinskopfe geschah.

Jack hatte sich inzwischen wieder ziemlich erholt und stand seinen Brüdern aus allen Kräften bei, um vorerst den Schweinskopf recht ordentlich zu säubern; ich aber war mittlerweile beschäftigt, die vier Keulen von den versengten Borsten zu reinigen, was mich eben nicht sehr belustigte.

Die Dämmerung war unter diesen Arbeiten schon eingebrochen. Plötzlich zerriß ein entsetzliches, dröhnendes Gebrüll die Luft. Wir standen erstarrt, mit stockendem Herzschlag. Was war das? Und wieder! Rollend, drohend, in kurzen Absätzen, jetzt schwächer, dumpfer, jetzt erneut, in grauenhaftem Drohen. Wir bohrten unsre Augen in die sinkende Dunkelheit. Dort drüben vom Walde her kam es. Einige Herzschläge lang herrschte Totenstille, dann brach es aufs neue aus, tief, donnernd wie aus gigantischer Brust. Fritz neben mir stand steil aufrecht, mit flammendem Blick.

Der schweizerische Robinson

»Das muß – das muß – das ist der Löwe!« stieß er hervor. Dann griff er nach seiner Büchse und sprang mit einem Satz in sein Kajak.

»Feuer anfachen«, rief er kurz, heftig, »zurück ins Boot – Gewehre bereit – ich rudere dort herum, komme von der Seite.« – Da jagte er auch schon pfeilschnell am Ufer gegen die Mündung des Baches hin und verschwand uns im Nu aus den Augen. Unwillkürlich folgten wir hastig seinem rasch hingeworfenen Befehl. Soviel in der Eile zu erraffen war, wurde dem Feuer Holz zugeworfen. Wir griffen nach unsern Flinten, warfen die Hirschfänger um, sprangen ins Boot und hielten uns in atemloser Spannung bereit, entweder landwärts zu schießen oder seewärts mit allen Rudern zu fliehen. Da kamen auch schon in rasendem Lauf die Hunde Jager und Knips vom Walde her auf unser Feuer los. Der Affe sprang zähnefletschend am Ufer hin und wieder, da er das Boot nicht ohne Wasserbad erreichen konnte. Die Hunde und der Schakal blieben mit gesträubten Haaren und scharf gespitzten Ohren hinter dem Feuer stehen und starrten darüber weg nach dem Waldsaum, abwechselnd heftig bellend und jammervoll stöhnend. Indessen hatte sich das entsetzliche Grollen in kurzen Absätzen wiederholt. Es kam näher und näher, offenbar aus der Gegend, wo der Eber erlegt worden war. Die Witterung des Aases mußte unsern noch unsichtbaren königlichen Feind gelockt haben. War es wirklich der Löwe? Ich wagte nicht mehr zu zweifeln. Wir waren ihm freilich all die Jahre bisher noch nie begegnet; aber diese Stimme konnte keinem Geringeren gehören. Da – was war das dort am äußersten Saum des Lichtkreises? Etwas stand da, was vorher nicht dagewesen war – und jetzt – ein neues mark- und beinerschütterndes wütendes Aufbrüllen, und in zwei, drei mächtigen Sätzen kam es gegen uns angesprungen, ein gewaltiges Tier – er war es! Ein Schauder lief uns über die Haut. Was würde nun kommen! Jenseits des Feuers, noch in ziemlicher Entfernung, war er einige Sekunden lang regungslos stehengeblieben. Nun ließ er sich nieder, nach Katzenart geduckt, indes sein funkelnder Blick unaufhörlich zwischen unsern Hunden und den aufgehängten Schweinskeulen hin und her wanderte. Dann erhob er sich wieder langsam, begann gemessenen Schrittes auf und ab zu gehen, blieb stehen, brüllte kurz und heftig auf und setzte seine Halbkreiswanderung fort. Einigemal wandte er sich in raschen, eiligen Sätzen seitwärts zum Bach, aus dem er trank, und kehrte dann hastig zurück. Bei jeder Wendung kam er dem Feuer näher, wurde sein Schritt sprunghafter, jedes neue Aufbrüllen klang drohender. Die Hunde standen winselnd, mit zusammengezogenen Gliedern, hinter dem Feuer. Unsre Spannung schärfte sich ins Unerträgliche. Ich wagte nicht zu schießen; der unruhige Flackerschein des Feuers, die unberechenbaren Bewegungen des Löwen gestatteten kein ruhiges Zielen. Jetzt – er blieb stehen, duckte sich, kauerte, senkte den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpranken, die Augen sprühten Funken, der Schweif peitschte rechts und links die Erde tief atmend hob ich die Büchse – da knallte aus dem Dunkel her in nächster Nähe ein Schuß – ich fuhr in die Höhe – »das war Fritz!« – Der Löwe sprang mit einem entsetzlichen, kreischenden, alles durchdringenden Brüllen hoch auf, stand einige Sekunden lang starr, wankte, sank, brach zusammen und blieb regungslos auf dem Fleck liegen.

»Gerettet!« rief ich, noch halb erstickt von Aufregung, »er scheint ins Herz getroffen! Ein Meisterschuß! Bleibt einstweilen im Boot, schußfertig – man kann nicht wissen – ich will hin!«

Nach einigen Ruderschlägen sprang ich ins seichte Wasser und erklomm hastig das Ufer. Freudig winselnd empfingen mich die Hunde, spähten aber gleich wieder, von mir abgewandt, ins Dunkel hinaus, woher der Löwe gekommen war. Also war die Luft noch nicht rein, die Gefahr noch nicht vorüber? Ich blieb hinter dem Feuer stehen, die Büchse schußfertig im Arm. Und wahrhaftig! – Wieder kam es aus der Finsternis gegen uns her, in langen mächtigen Sätzen, ein kraftvolles Tier, etwas kleiner als der Gefallene – sie, die Löwin! Einen Augenblick nur stutzte sie vor dem Lagerfeuer, kümmerte sich dann aber weder um dieses noch um die Hunde, sondern kreuzte unstet, unter kurzen, gleichsam rufend klingenden Brülltönen am Außenkreis der erhellten Uferstelle herum. Offenbar suchte sie ihren Gefährten. Welch ein Glück, daß nicht beide zugleich gekommen waren! Jetzt hatte sie ihn schon entdeckt; mit zwei Sprüngen war sie an seiner Seite, beroch ihn, befühlte ihn mit den Vordertatzen, leckte seine blutende Wunde – dann richtete sie sich hoch auf und stieß ein langgezogenes, entsetzliches Jammergeheul aus, das uns einen Schauer durch alle Glieder jagte. Paff! knallte wieder ein Schuß, und die rechte Vorderpfote des Tieres sank gelähmt herab. Ich riß die Büchse an den Kopf – es war die höchste Zeit – und gab Feuer. Ein erneutes, gräßliches Aufkreischen – die untere Kinnlade war zerschmettert. In diesem Augenblick stürzten sämtliche Hunde wie rasend vor, fielen über die Verwundete her und bissen sich an verschiedenen Stellen ein. Jetzt begann ein schrecklicher Kampf. Ein wirrer Knäuel springender, rollender, sich windender Gliedmaßen, unsicher beleuchtet vom schwachen Flackerschein des Lagerfeuers weiter unten am Ufer, ein Gemisch von Kreischen, Wutbrüllen der Löwin, von Stöhnen und Keuchen der Hunde. Ich wagte nicht, zum zweitenmal zu feuern, aus Furcht, einen der Unseren zu töten. Da tat das Ungetüm einen mächtigen Tatzenschlag nach Bill, der tollkühn genug dessen Gurgel gepackt hatte, und riß ihm den Bauch auf. Außer mir, sprang ich nun herzu und stieß der Löwin meinen Hirschfänger in die Brust – es war zu spät. Zu spät auch trat jetzt Fritz mit vorgehaltener, schußfertiger Flinte aus dem Dunkel der Büsche heraus – der Feind war tot, aber mit einem teuren Opfer erkauft.

Der schweizerische Robinson

Auf unsre lauten Zurufe kamen jetzt auch Ernst und Jack aus dem Boote zu uns hergestürzt. Schweigend und erschüttert umarmten wir uns. Das war eine fürchterliche halbe Stunde gewesen.

»Kommt«, sagte ich endlich, »holt Feuerbrände. Wir wollen das Schlachtfeld nun doch genau untersuchen.«

Es geschah, und wie nicht anders zu erwarten war, fanden wir den armen Bill tot, mit noch immer krampfhaft zusammengeklemmten Kinnladen an der Kehle der Löwin hängen, gräßlich zerfleischt, als Opfer seiner Treue und seines Mutes gefallen.

»Ach Ernst«, sagte Fritz nach tiefem Schweigen, »du solltest ihm nun eine schöne Grabschrift machen. Er hat sie redlich verdient, sollt ich meinen.«

»Ja«, erwiderte Ernst, »das will ich wohl, aber wahrhaftig, meiner schwachen Muse stockt noch das Blut in den Adern von der Angst, die ich gefühlt habe. Seht nur, was für ungeheure Kerle das sind, was für Pranken, was für Rachen – fürwahr, es hätte ganz anders kommen können.«

»Ja«, rief ich, »ohne Fritzens meisterlichen Schuß sähe die Sache wohl viel schlimmer aus. Alle Achtung, mein Sohn! Du hast dich vortrefflich gehalten.«

Fritz errötete vor Freude. »Morgen, denke ich, ziehen wir den erlegten Feinden das Fell über die Ohren«, sagte er, »aber Bill sollte doch wohl gleich bei Fackelschein zur wohlverdienten Ruhe bestattet werden.«

Sofort bereiteten Fritz und Jack eine Grube, die in dem leichten Erdreich in kurzem zustande kam. Ich selbst löste indessen das Gebiß unsres treuen Freundes von der Kehle der Löwin, worauf ich auch gleich die übrigen Hunde, Falb und Braun, sowie den Jager in Untersuchung nahm und einige, jedoch ungefährliche Verletzungen an ihnen zu besorgen fand.

Jetzt legten wir den gefallenen Helden in das vollendete Grab, bedeckten ihn mit Erde und versprachen, ihm einst einen stattlichen Totenhügel aufzuwerfen.

»Und wann bekommt er seine Grabschrift?« fragte Fritz.

»Ich habe sie schon«, antwortete Ernst und begann leise:

»Allhier, nach langem, raschem Umtrieb, still
         Ruht Bill,
Hund oder Amazone, wie man will.
Er wachte, jagte, kämpfte viel hienieden,
Im Streite tapfer, sanft im Frieden.
         Um seine Herrn litt er den Tod,
         Kühn schützend sie in großer Not.
Ruhmvoll ist einer Löwin er erlegen,
Kein Held ging treuer seinem Los entgegen.«

»Recht so, Alter«, sagte Jack nach einem kurzen Schweigen und schüttelte dem Bruder die Hand.

Es wurde auch sogleich festgesetzt, die Grabschrift nächstens so dauerhaft als möglich bei der Ruhestätte für alle Folgezeit aufzupflanzen.

»Aber, haben wir nicht bald«, fragte Jack, »die ganze liebe Nacht durchwacht? Die Löwengeschichte hat uns wahrlich lange hingehalten, und es ist mir, als ob schon die Morgenluft mich durchblase, denn ich bin hohl wie eine Orgelpfeife und merke, daß sehr lange nichts in meinen Magen gekommen ist. Wenn nur die Glut den prächtigen Schweinskopf in der Bratgrube nicht zur Mumie zusammengeschmort hat!«

Augenblicklich meldete sich bei uns allen das gleiche Gefühl. Wir froren plötzlich vor Hunger, und ohne viel Worte zu verlieren, trabten wir mit einiger Hast hinter ihm drein nach der Kochstelle, wo die Grube sofort gelüftet und gereinigt ward. Der gierig ersehnte Wildbraten sah aber in der Tat nicht viel anders aus als wie ein verkohlter Eichenklotz, so daß die Brüder verdrießlich drum herumsaßen und gar nicht den Mut hatten, anzustechen oder anzuschneiden; ich drang aber mutig durch den verdächtigen Außenschein, und bald zeigte sich unter der Kohlenschicht der Schweinsrüssel so delikat, daß er uns die angenehmste und stärkendste Mahlzeit gewährte.

Nach aufgehobener Tafel legten wir uns noch für die drei oder vier übrigen Nachtstunden in unser Boot und fanden uns genötigt, gegen eine empfindliche Kälte Vorkehrung zu treffen. Der heiße Himmelsstrich wird durch die Kühle der Nächte den Menschen oft sehr gefährlich, und diese Kühle mag es erklären, warum nicht wenige Tiere der heißen Zone, wie die Hyäne und selbst der Löwe, mit dichtstehenden Haaren ausgestattet sind.

Leichten und fröhlichen Mutes schritten wir mit Sonnenaufgang an das in der Nacht uns zugewachsene Tagewerk, die zwei Löwen abzuhäuten; in ein paar Stunden war das Werk auch schon glücklich vollendet. Die Kadaver blieben natürlich liegen, und bald flogen aus unabsehbaren Fernen, gleich als wenn sie plötzlich aus dem Nichts entsprungen wären, die mannigfaltigsten Aasvögel in unzählbarer Menge daher. Ich erkannte die wenigsten und fühlte auch keine Lust, nach ihnen auszugehen.

Der schweizerische Robinson

Je empfindlicher die höher steigende Sonne unsere Atmosphäre durchglühte, desto mehr stiegen auch die fauligen Ausdünstungen von den zusammengeschichteten Austern in die Luft und verbreiteten bald einen unausstehlichen Gestank, so daß wir froh waren, gleich nach Aushäutung des Löwenpaares die schleunigsten Anstalten zur Heimkehr treffen zu können. Jack fand, daß die prächtige Haut des Löwen einen stattlichen Mantel abgeben würde, und legte sie sich auf Kopf und Schulter, so daß ihn die Brüder spottend einen zweiten Herkules nannten.

Diesmal wollte Jack mit der Fahrt im Kajak nichts zu tun haben, weil er von dem Führen des Doppelruders noch immer wunde Hände zu haben behauptete und von den Quetschungen des Wildschweins noch nicht völlig hergestellt sei. Er trat daher zu mir und Ernst ins Boot, wo das Segel ihm die meiste Mühe zu ersparen verhieß.

Fritz hingegen nahm einigen Mundvorrat in das grönländische Fahrzeug und ließ es sich nicht nehmen, darin, wenn auch allein, seinen Platz zu behaupten.

Bald darauf lichteten wir den Bootsanker, nachdem wir auch unsere Jagdtiere an Bord genommen hatten, und machten uns auf den Weg, die Perlbai zu verlassen. Wir durchschifften sie in gerader Richtung nach der Stelle hin, wo sie durch die obenerwähnte Öffnung des wenig bedeckten Felsenriffs mit der weiten See in Verbindung stand, und brachten wohl anderthalb Stunden zu, bis wir in diese Öffnung hineinfahren konnten, wohin uns übrigens Fritz als treuer Lotse in seinem Kajak den Weg gezeigt hatte; hier aber legte er einen Augenblick bei, kam an das Boot und überreichte mir einen Brief, den vorgeblich heute die Morgenpost, noch während ich schlief, abgegeben haben sollte.

Einmal nun gewohnt, daß mit Posten und Briefen von den Burschen Scherz getrieben wurde, ging ich auch diesmal ein auf das beglaubigte Komödienspiel, nahm den Brief gravitätisch ab und schritt in unser Kajütenzelt, um ihn bedächtig für mich allein durchzulesen.

Da fand ich denn zu meinem Erstaunen, daß der ritterliche Junge noch immer den Kopf voll abenteuerlicher Gelüste hatte, um der verunglückten Engländerin, von der er durch jenen Aufruf an dem Fuße des Seevogels sich um Hilfe angefleht deuchte, womöglich beizuspringen. Natürlich ward ich über das nach meinem Dafürhalten phantastische Unternehmen stutzig, dachte während einer Pause nach, wie der gutmütige Mensch davon abzubringen sein möchte, und ging dann wieder aus dem Kajütchen hinaus in das offene Boot. Fritz hatte jedoch bereits das Weite gesucht und ruderte sehr emsig, schon entfernt, in entgegengesetzter Richtung von der unsrigen auf und davon. Es war also nicht viel mehr zu tun, als ihm durch das Sprachrohr nachzurufen: »Fahre wohl, Fritz, sei vorsichtig und kehre bald zurück!« – Er schien aber meinen Zuruf nicht einmal gehört zu haben; denn er gab keine Art von Zeichen und verschwand bald hinter demjenigen Vorgebirge, das gegenüber dem Kap der Kirchfluh die schöne Perlbai begrenzte und dem ich von nun an den Namen des Kaps Lebewohl beizugeben gebot.

Wir hielten etwas trübselig und verstimmt unsern Lauf gegen Morgen, weil ich es für ratsam hielt, in Erwartung der Rückkunft Fritzens die Mutter nicht durch längeres Fortbleiben in Angst zu setzen, und so trafen wir denn gegen Abend glücklich in der Rettungsbucht ein, wo jedoch die Freude des Wiedersehens bei der Mutter durch das Ausbleiben Fritzens und bei Franz durch den Tod des rühmlich gefallenen Bill sehr geschwächt wurde. Hingegen waren wir mit den stattlichen Schweinskeulen und den zwei Löwenhäuten sehr willkommen.

Die Löwenhäute nahm ich selbst vor und schaffte sie gleich am folgenden Morgen nach der Gerberei auf der Haifischinsel, wo ich sie in den Sauerbottich zum Beizen einlegte und mit Beibehaltung der Haare zu schönem Weichleder auszurüsten gesonnen war.

Fünf Tage verliefen unter solchen und ähnlichen Verrichtungen, ohne daß von dem ausgezogenen Fritz auch nur eine Spur bemerkt worden wäre, und schon waren unsere Gedanken stündlich mit ihm beschäftigt, so daß ich den lautesten Beifall erhielt, als ich den Vorschlag machte, ihm entgegenzuziehen und mindestens wieder bis nach der Perlbai zu fahren, wo er uns höchstwahrscheinlich früher und sicherer wiederfinden dürfte. Selbst die Mutter trieb augenblicklich zur Ausführung dieses Vorschlags, und ihr liebendes Herz war gleich entschlossen, mitzuziehen, als ich ihr anbot, das größere Schiff, die sonst wenig mehr gebrauchte Pinasse, zu dieser Fahrt in Bereitschaft zu setzen.

Unverzüglich ward zum Werk geschritten. Durch Verlegung des Schwerpunktes senkten wir das Fahrzeug auf die Seite, schabten es unterhalb glatt, kalfaterten seinen Bauch und besserten Verschiedenes an dem Kiel aus, wobei mir zwei von den Brüdern an die Hand gingen. Der dritte half der vielbeschäftigten Mutter, die teils mit Ausbesserung des Segelwerks, teils mit Verfertigung großer Säcke für die neue Baumwolle und kleinerer zum Aufheben von Pottasche, die ich bereiten wollte, sowie endlich mit Zurüstungen für den nötigen mannigfaltigen Mundvorrat, besonders des Zwiebacks, beschäftigt war. Nachdem endlich alles in etlichen Tagen wenigstens leidlich zustande gekommen war, schifften wir uns an einem frühen Morgen bei schöner Witterung und günstigem Ostwind ein, verließen unter jubelndem Hurra, worin das Freudengebell der Hunde sich mischte, die friedliche Bucht von Felsenheim, gewannen den frischen Luftzug, der uns gleichsam auf seine Schwingen nahm, und wurden rasch durch die offene See bis auf die Höhe des Vorgebirges der Kirchfluh getragen, das uns mit seinen hochragenden Zacken schon von weitem zu Gesichte gekommen war. Allmählich zogen wir die Segel ein und liefen rechts dem Lande zu, wo das größere Fahrzeug nur mit außerordentlicher Behutsamkeit durch die Öffnung des Riffes hindurchzulenken war. Wir erreichten die Bai und segelten bald unter ruhigem Winde auf spiegelglattem Wasser dahin. Wir standen alle an der Brüstung und schauten dem lebhaften Spiel einiger Delphine zu, die unser Schiff umschwammen, als plötzlich ein seltsamer Gegenstand unsere Aufmerksamkeit auf ungewohnte Weise in Anspruch nahm. In sehr weiter Entfernung glaubte ich nämlich einen Wilden in einem Kanoe wahrzunehmen, der erst hinter einigen Klippen hervorschiffte, dann ein gutes Weilchen innehielt, uns genau zu beobachten schien und schnell wieder bei einem kleinen Vorgebirge des Ufers verschwand.

Ich befahl erschrocken, unsere Kanonen aufs neue zu laden, alles Feuergewehr in Bereitschaft zu setzen und besonders eiligst aus zahlreichen Bündeln mitgenommener Maisstengel, die als Beitrag zur Bereitung der Pottasche bestimmt waren, auf unserm Verdeck eine Art Brustwehr aufzuwerfen, hinter der wir gegen Pfeile, Wurfspieße und Schleudersteine besser gesichert wären.

Bald zeigte sich abermals ein Kanoe, das gleich dem vorigen einen einzigen Ruderer trug, der aufs neue, und zwar noch länger, uns belauerte. Ich hielt jetzt für ratsam, die weiße Schiffsflagge aufzuziehen, um einer etwa versteckten Schar von Wilden unsere friedliche Absicht daraus zu erkennen zu geben. Der Wilde verschwand jedoch aufs neue. Es zeigte sich zwar in kurzem wieder einer an einer Landspitze, und es hatte das Ansehen, als ob hintereinander abwechselnde Späher uns beobachteten und jeder seinen Bericht vereinzelt zurücktragen müßte. Wir näherten uns etwas der Stelle, wo der letzte Kundschafter uns zu Gesicht gekommen war. Ich ergriff das Sprachrohr und rief ein paar malayische Grüße hindurch, die ich mir für solche Zwecke aus Reisebeschreibungen sorglich gemerkt hatte. Aber auch diese hatten keinen Erfolg, und Jack schlug vor, lieber ein derbes englisches Leibwort fliegen zu lassen. Zugleich war er auch schon flink an das abgestellte Sprachrohr geraten und schmetterte ein paar saftige Matrosenflüche in die Luft. Das schien zu wirken; denn der Wilde kam sofort mit einem grünen Zweig in der Hand wieder zum Vorschein und ruderte gerade auf uns zu. Nach wenigen Augenblicken aber schrie Jack laut lachend auf: »Alle Wetter, das ist ja Fritz! Was Tausend macht der Kerl für Faxen!«

Der schweizerische Robinson

Und wahrhaftig! Jetzt erkannten wir ihn deutlich, wie er auf seinem walroßköpfigen Kajak daherkam, mit schwarz gefärbtem Gesicht und Händen, verwunderlich aufgeputzt. Er nickte, winkte, warf Kußhände und gebärdete sich nach Jacks Versicherung »gänzlich verrückt«.

Bald war er erreicht, und wir holten ihn samt seinem Kajak an Deck. Infolge der überaus herzlichen Begrüßung waren wir binnen kurzem ähnlich zugerichtet wie unser nachgemachter Negerjüngling, nur etwas unregelmäßiger, was zu neuem Vergnügen Anlaß gab.

»Junge, wie siehst du aus und was machst du für Geschichten?« rief ich endlich. Er konnte vor lauter Liebkosungen und Freudenbezeugungen noch kaum zu Atem kommen. »Ihr sollt alles hören«, versprach er, »laßt mir nur Zeit.«

Ich nahm ihn beiseite. »Hast du den Zweck deiner Fahrt erreicht?« fragte ich schnell. »Das ist vorläufig das Wichtigste.«

»Ja«, erwiderte er, »ich bin vollkommen glücklich gewesen.« »Nun, und was hat denn die seltsame Mummerei zu bedeuten?«

Er lachte. »Da muß ich gestehen, daß ich euch ganz einfach für malayische Seeräuber hielt und euch durch allerlei Spiegelfechtereien von dem Inselchen, wo ihr mich zuerst erblickt haben mußtet, fernzuhalten suchte. Nachts aber wollte ich meine glücklich Gefundene abholen und gedachte, durch das Tor der Kirchfluh heimlich nach Felsenheim zu entwischen.«

Gern hätte ich gleich nach allen Einzelheiten gefragt; die Mutter aber, die ich von Fritzens Reisezweck heimlich unterrichtet hatte, unterdrückte dem Reinlichkeitsbedürfnis zulieb alle eigene Neugier und erklärte, sie wolle das Mohrengesicht nun keinen Augenblick länger vor sich sehen. Es wurde also mit Zuhilfenahme verschiedener Mittel so eifrig gerieben und geschabt, daß in kurzer Zeit der Europäer wieder zum Vorschein kam und sich zu ferneren Nachfragen einstellen konnte.

Wir hatten aber keine Zeit zu verlieren; denn ehe uns die Flut heftig nach dem Ufer trieb, mußten wir einen passenden Ankerplatz ausfindig gemacht haben. Fritz empfahl jetzt mit großer Dringlichkeit eben das kleine Inselchen, wo er seine Gefährtin ausgesetzt hatte. Mit Freuden willfahrte ich diesem Vorschlag; denn mir schlug das Herz bei dem Gedanken, ein fremdes, hilfloses Menschenwesen in unserer tiefen Einsamkeit als Gefährtin zu begrüßen. Ich tauschte mit Fritz einen Blick des Einverständnisses, und nun geriet der brave Karl in geradezu unbeschreibliche Bewegung und Tätigkeit; er sprang an den Mastbaum, wandte die Segel, zog die Taue hier an, ließ sie dort wieder los, rief mir zu, wie ich steuern sollte, und warf sich endlich auch im Hui von dem Verdecke der Jacht hinab in sein Kanoe, das wir wieder auf den Wasserspiegel ausgesetzt hatten. – Sofort gab er uns, als Lotse voranrudernd, die nötige Richtung und leitete uns hinter ein kleines, romantisches Inselchen der großen Perlbai, wo eine schmale Erdzunge eine sichere, bequeme Bucht auf zwei Seiten so umschloß, daß wir mit stillem, hinlänglich tiefem Fahrwasser bis hart an das Ufer gelangen und das Schiff vermittels eines Taues an einem nahestehenden Baum festlegen konnten.

Unverzüglich sprang Fritz aus seinem Kajak, und ohne sich nur umzuwenden und ein Wort oder ein Zeichen gegen uns zu verlieren, rannte er spornstreichs einem naheliegenden hübschen Gehölze zu, wo wir zwischen Baumstämmen im Schatten hoher Palmen und anderer dichtbelaubter Bäume eine fast nach Hottentottenart errichtete Hütte aus einigem Buschwerk hervorblicken sahen. Es versteht sich, daß wir dem eiligen Vorläufer alsbald nachtrabten und bald auch einen Feuerherd vor der Hütte erkannten, der aus großen Kieselsteinen aufgeführt war, aus deren Mittelpunkt, statt einer Pfanne oder eines Topfes, die schönste Riesenmuschel in unsere Augen glänzte.

Noch hatte Fritz nicht bemerkt, daß wir ihm nachgekommen waren. Er spähte in das Gehölz hinein und rief aus voller Kehle ein Hohoho und Huaho übers andere. Jetzt trafen wir bei ihm ein, er blickte sich nach uns um und errötete heftig. Fast im nämlichen Augenblick hörten wir ein Rascheln in einem nahen Baumwipfel – eine schlanke Jünglingsgestalt in Matrosenkleidern glitt behend am Stamm hinunter und blieb scheu, unschlüssig am Fuße desselben stehen.

Und wir? Wir standen da wie angewurzelt, schier atemlos, und verschlangen das Wunder mit unsern Blicken. Ein Mensch! Nach zehn langen Jahren totenstiller Einsamkeit ein Mensch! Nach zehn langen Jahren des Schweigens ein Bote aus der fernen weiten Welt! Die Beklemmung einer ganz ungewohnten Glückseligkeit verschloß uns die Lippen, indes das fremde junge Geschöpf in gleichfalls tiefster Erschütterung noch wie gebannt auf seinem Platz verharrte. Fritz, der mit leuchtenden Augen von uns auf seinen Findling und wieder auf uns geblickt hatte, brachte plötzlich Bewegung in die Stille, indem er seinen Hut vom Kopf riß, ihn hoch in die Lüfte warf und jubelnd ausrief:

»Es lebe der junge Lord Montrose von der rauchenden Klippe; er sei uns willkommen als Freund und Bruder in unserm Familienkreise!«

Jetzt löste sich die Spannung mit einem Schlage, und unter stürmischem Jubel wurde der Ankömmling umringt. Ich wehrte meine ungestümen Wildlinge ab; denn ich hatte aus Fritzens Hochrufen sofort verstanden, daß er fürs erste den neuen Gefährten den Brüdern nicht als Mädchen verraten wolle. Ich wechselte einen kurzen Blick des Einverständnisses mit der Mutter, dann ergriff ich den zarten Fremdling an beiden Händen und führte ihn zu ihr, die ihm mit ausgebreiteten Armen, lächelnd und schluchzend entgegentrat.

»Willkommen bei uns, mein liebes Kind«, sagte ich in tiefster Rührung. »Komm her«, rief die Mutter, zog ihn an sich und küßte ihn auf den Mund. In Tränen ausbrechend, barg das holdselige Geschöpf sein Gesicht an ihrem Halse. Fritz, der offenbar zwischen Ergriffenheit und strahlendem Jubel schwankte, blickte, die Unterlippe kauend, zur Seite. Ich wandte mich an die etwas verblüfften drei andern und bedeutete ihnen, jetzt noch nichts zu fragen, sondern vor allen Dingen für einen tüchtigen Imbiß zu sorgen. Man müsse dem jungen Fremdling Zeit lassen, sich in seine neue Lage zu finden. Ruhe sei jetzt die erste Bürgerpflicht.

»Das wird schwerhalten«, meinte Jack, »ich bin so entsetzlich glücklich, daß ich gar nicht weiß, was ich vor Vergnügen anfangen soll. Sich dabei ruhig und gesittet zu betragen, ist wirklich eine starke Zumutung.«

Der schweizerische Robinson

»Komm«, sagte Ernst, »wir wollen nur schnell zum Boot zurück und was zu essen und zu trinken holen. Sind Hunger und Durst gestillt, so wird Fritz wohl auch zum Erzählen Lust bekommen.«

»Ja«, rief Franz, »kommt rasch. Ich verbrenne vor Neugierde.«

Damit rannte die Jungmannschaft nach unserm Fahrzeug und holte dort vor allen Dingen einen Feldtisch nebst Stühlen, Geschirr und Tischzeug; denn die bevorstehende Mahlzeit sollte zu einem Schmause der höchsten Feierlichkeit erhoben werden. Kaum war die Mutter dieser Anstalten gewahr geworden, so begab sie sich mit Feuereifer an die Bereitung eines ganz auserlesenen Mahles. An Pistazien, Rosinen, Mandeln, Zucker und Kassavekuchen wurde nicht gespart. Es gab nach Jacks bewährtem Urteil »ein wahres Götteressen«.

Aber fast hätte sich schon hier unser angeblicher junger Lord Eduard durch die Anstelligkeit und Bereitwilligkeit, mit der er der Mutter in den Kochgeschäften beisprang, den drei noch uneingeweihten Jungen verraten; denn diese hatten trotz der langen nötig gewesenen Übung in immer abnehmendem Maße Lust und Geschicklichkeit zu der edlen Kochkunst an den Tag gelegt.

Bei der köstlichen Mahlzeit fehlten auch Krüge von unserem besseren Met und ein paar Flaschen alten Kanariensektes nicht, so daß meine vier Jünglinge unmäßig lustig wurden; es begegnete hier auch, was jüngeren Leuten so leicht widerfährt, wenn sie zum erstenmal mit Personen, denen sie zu gefallen wünschen, zusammen sitzen. Ihr Mutwille steigert sich, brach in allerlei Scherzreden aus und neckte zuletzt den schweigsamen und bescheidenen Fremdling dergestalt, daß ich für gut fand, zum Aufbruch zu mahnen, besonders da Fritz mit einer wunderlichen Mischung von hingebender Lustigkeit und doch wieder sorgsamer Eifersucht mir viel zu reizbar vorkam, als daß ich ihn noch länger auf diese Weise hätte ausgesetzt lassen mögen. Ich kommandierte demnach: »Zu Bette!« wozu denn auch unverzügliche Anstalt getroffen wurde. Sir Eduard wollte sich stracks wieder auf den Baum verfügen, aus dessen Wipfel er gleichsam wie vom Himmel herab zu uns gekommen war; die Mutter aber ließ es schlechterdings nicht geschehen, sondern drang auf ein bequemes und angenehmes Nachtlager im Schiff, das wir schon der Höflichkeit wegen unserem neuen, hochwillkommenen Gaste gewähren müßten.

Der schweizerische Robinson

»Ach«, sagte Fritz bei diesem Anlaß, »unser neuer Freund ist keineswegs verwöhnt, denn hier hat er stets zwischen den rauhen Baumzweigen geschlafen, während ich in dem hottentottischen Hüttchen meine Ruhe hielt; auf unserer Reise hierher aber ging es vollends hart und unbequem zu. Denn stets übernachteten wir auf Klippen im Meer, um vor plötzlichen Überfällen reißender Tiere sicher zu sein. Da zogen wir denn unser Kajak hoch ins Trockene, schlüpften so weit in die Sitzlöcher, als sich tun ließ, deckten uns mit Schilfmänteln und auf dem Kopfe mit breiten Schilfhüten und legten unsere scharfgeladenen Waffen in den nächsten Bereich. Auf diesem Inselchen aber haben wir uns ein paar Tage aufgehalten, weil mein Kajak einer starken Ausbesserung bedürftig geworden war.«

Die Mutter drang jetzt darauf, daß wenigstens unser neuer Hausgenosse sich zur Ruhe verfüge; sie sähe ihm an, wie müde er sei. Er verabschiedete sich demnach von uns und ließ sich von der Mutter seine Lagerstatt auf dem Schiff anweisen. Die Brüder hingegen, durch die Mahlzeit überaus munter geworden und durch die ersten Bruchstücke von Fritzens Erzählung neugierig gemacht, blieben noch geraume Zeit beim Feuer, ließen einige Pinienzapfen aufspringen und knallen, naschten die Kerne davon und plauderten, wobei die drei Jüngeren pfiffig genug den Fritz über seine Reise und deren Veranlassung ausholten.

Fritz antwortete gutlaunig auf alle ihre neckenden Fragen, fing dann an, sein Abenteuer mit dem Albatros zu erzählen, gefiel sich nicht wenig in dem romantischen Stoffe und plauderte am Ende so treuherzig fort, daß er bald dem Sir Eduard eine Miß Jenny unterschob und endlich jeden Augenblick der armen Engländerin erwähnte, samt allem, was sie getan und gelitten habe.

Die Brüder kamen auch bald genug hinter sein Geheimnis, winkten einander, ohne daß er’s merkte, bedeutsam zu, verstellten sich aber und nannten in ihren Fragen immer nur den Engländer und den jungen Sir oder Eduard. Als aber Jack ihn zuletzt fragte, ob er den malayischen Zuruf nicht verstanden hätte, gab Fritz zur Antwort: »Freilich doch! Aber um so eiliger floh ich, weil ich gerade den Kopf voll malabarischer Seeräuber hatte, von denen Sir Eduard erzählt, daß sie häufig in diesen Gewässern kreuzen, wo er Schiffbruch gelitten hat. Als ich aber«, fuhr er fort, »englische Klänge, wenn auch derbe Matrosenausdrücke, vernahm, dachte ich, ein Schiff könnte gekommen sein, um die gute Miß Jenny aufzusuchen, und da…«

»Ha, ha, ha!« brach es jetzt aus allen Kehlen, »verraten, verraten, vergaloppiert, Herr Friedrich! Sir Eduard ist wahrhaftig in eine Miß Jenny und der künftige Bruder in eine anmutige künftige Schwester verwandelt worden. Sie lebe hoch und abermal hoch!«

Fritz war ein Weilchen verblüfft, daß er sich so arg verfangen hatte, machte dann aber doch gute Miene zu dem Ungeschick, stimmte selbst in den Jubel der Brüder ein und half ihnen mehrmals Vivat rufen, bis sie alle sich niedergelegt hatten und ein wohltätiger Schlaf sie nach kurzer Frist einwiegte.

Am folgenden Morgen jedoch konnten sich die drei Jüngeren nicht enthalten, mit ihrer Entdeckung alsbald hervorzurücken, und sie grüßten unter halb gutmütigen, halb schalkhaften Gebärden das kleine Fräulein mit scharf betontem Namen als Miß Jenny und als hoffentlich zukünftige Schwester, so daß das errötende Kind eine Zeitlang kaum aufzusehen wagte, bis es endlich kurz entschlossen jedem der Neckholde lächelnd die Hand bot und sich scherzend zu vorläufiger brüderlicher Liebe bestens empfahl.

Das Frühstück wurde hierauf in fortwährender munterer Stimmung aller Teilnehmer verzehrt und bestand vorzüglich in einer Schokolade von Fritzens Machenschaft, die besonders der jungen Miß zu behagen und sie an die vergangene Zeit ihres heimischen Wohlseins zu erinnern schien.

Der schweizerische Robinson

Während des Mittagsmahles besprachen wir unsere weiteren Pläne. Es wurde beschlossen, nach Felsenheim zurückzukehren, um vor allen Dingen unsre neue Gefährtin bei uns heimisch zu machen. Der Nachmittag wurde zu Anstalten zur Heimreise verwandt. Alle Habseligkeiten Jennys befanden sich wohl verpackt in einer Art Trog, den Fritz eigens zum Zwecke der Fortschaffung noch auf der rauchenden Klippe verfertigt hatte. Nur weniges hatte sie aus dem Schiffbruch gerettet; der größte Teil ihrer Besitztümer bestand aus den Gegenständen, die sie mit außerordentlichem Kunstsinn und vieler Geschicklichkeit aus den Stoffen bereitet hatte, die ihr in ihrer Abgeschiedenheit zu Gebote standen. Mit Hilfe eines starken Messers allein, das sie glücklicherweise bei sich führte, hatte sie sich in den dritthalb Jahren ihrer Einsamkeit eine erstaunliche Menge von Geräten und sonstigen Nützlichkeiten hergestellt. Zu Hausrat und Kleidung hatten Knochen, Federn, Schnäbel, Füße, Gedärme und Häute verschiedener Tiere den Stoff gegeben, deren sie bald mit List, bald mit Gewalt habhaft geworden war. An einigen zierlich geflochteten Schnüren aus ihren eigenen Haaren befanden sich Angeln aus Perlmutter zum Fischfang; aus starken Fischgeräten mit durchgebranntem Öhr hatte sie Nadeln verschiedener Stärke gemacht. Eine große Herzmuschel mit einem Docht aus einem baumwollenen Halstuch diente zur Lampe, eine größere Muschel derselben Art als Kochkessel. Auch ein paar niedliche Pinsel aus Seehundshaaren, in Federkiele eingepaßt, fanden sich; dazu ein Müschelchen voll der schönsten Purpurfarbe zum Schreiben, aus einer Art Flechten bereitet. Aus Seehundsfellen und auch aus Vogelhäuten mit den Federn daran hatte sie sich Wämser, Gürtel und Strümpfe gefertigt; endlich auch zwei Paar Sandalen aus doppelt genommener Seehundshaut.

Alles wurde nach vorläufig nur flüchtiger Besichtigung in unser großes Fahrzeug gebracht und sorglich verstaut.

Am frühen Morgen war Jenny wieder als erste wach, und siehe da, die kleine Meisterin der Überraschung hatte etwas Unerwartetes im Hinterhalt gehabt. Seitwärts nämlich von unserm Landungsplatz hatte sie hinter Gebüsch einen zahmen Kormoran verborgen gehalten, so zwar, daß er mit einer tüchtigen Schnur angebunden, doch ziemlich frei im nahen Wasser herumschwimmen konnte. Nun brachte sie ihn herbei mit dem Bedeuten, daß sie ihn nur wegen seiner häßlichen Ausdünstung zur Seite gelassen habe. Er sei aber ein nützlicher Geselle; sie habe ihn auf chinesische Weise zum Fischfang abgerichtet.

Endlich bestiegen wir die Pinasse und steuerten nach der Perlbai, der wir vor unsrer Rückkehr nach Felsenheim einen kurzen Besuch zugedacht hatten.