Am Sonntag darauf fand Mr. Mordaunt seine Gemeinde so zahlreich versammelt, wie nie zuvor, und entdeckte manches Gesicht, das er sonst selten in der Kirche sah, darunter sogar Leute aus dem nächsten Dorfe. Die Frau des Arztes war da mit ihren vier Töchtern und Mr. und Mrs. Kimsey, der Apotheker mit Gattin, saßen in ihrem Kirchenstuhle. Mrs. Dibble, die wohlunterrichtete fehlte nicht, und Miß Smiff, die dörfliche Kleiderkünstlerin, samt ihrer Freundin Miß Perkins, der Putzmacherin, hatte sich eingefunden, und jede Familie war allermindestens durch ein Glied vertreten.

Kein Wunder! Mrs. Dibbles Laden war ja die ganze Woche kaum leer geworden, die kleine, schüchterne Ladenglocke hatte sich fast die Schwindsucht an den Hals gebimmelt, und der Absatz an Nähnadeln und Faden war ein ungemein erfreulicher gewesen – alles, weil Mrs. Dibble so unerhörte Dinge vom Schlosse und seinem neuesten Bewohner zu erzählen wußte. Sie konnte haarklein beschreiben, wie die Zimmer Seiner kleinen Herrlichkeit eingerichtet waren; was die wundervollen Spielsachen gekostet hatten, wußte sie auch, und die Lebensgeschichte des braunen Pony und des dazu gehörigen kleinen Groom war ihr ebenfalls geläufig. Natürlich war der weibliche Teil der Dienerschaft vollkommen einig darüber, daß es ein Verbrechen sei, den hübschen kleinen Kerl von seiner Mutter zu trennen, und samt und sonders hatten sie »an allen Gliedern gezittert«, als das Kind so mutterseelenallein in die Löwenhöhle, respektive Bibliothek, hatte geführt werden müssen, da doch kein Mensch wissen konnte, wie er dort behandelt werden würde.

»Aber ich kann Ihnen nur sagen, Mrs. Jennifer,« setzte Mrs. Dibble hinzu, »das Kind weiß nicht, was Angst heißt! Mr. Thomas hat’s selbst erzählt, kommt der Junge hinein und setzt sich hin und spricht mit dem alten Grafen, als ob ihm das gar nichts Besondres wäre und als ob sie gute Freunde wären. Der, sagt Mr. Thomas, habe nur so aufgehorcht und ihn unter seinen Augenbrauen hervor angestarrt. Und Mr. Thomas sagt, denken Sie nur, Mrs. Bates, daß, so bös der Alte auch ist, er doch im stillen vergnügt gewesen sei und ganz stolz, denn einen hübscheren Jungen und mit bessern Manieren, nur hier und da ein wenig altväterisch, habe er seiner Lebtage nicht gesehen, sagt Mr. Thomas.«

Dann war noch die Geschichte mit Higgins dazu gekommen, und Newick selbst hatte zwei oder drei Leuten das mit »Fauntleroy« unterzeichnete Schreiben gezeigt, so daß der Gesprächsstoff gar nicht ausging und am Sonntag alles zusammenströmte, um womöglich den neuen kleinen Lord selbst in Augenschein zu nehmen.

Der Graf war kein sehr eifriger Kirchgänger, aber an diesem ersten Sonntag gefiel es ihm, beim Gottesdienst zu erscheinen: Fauntleroy in dem großen Kirchenstuhle neben sich sitzen zu haben, hatte einen gewissen Reiz für ihn.

Man stand heute lange plaudernd auf dem Kirchhofe umher; an der Kirchenthür und draußen auf dem Wege, überall bildeten sich Gruppen, und die Frage, ob Mylord kommen werde oder nicht, wurde immer wieder aufgeworfen und besprochen. Plötzlich stieß eine der Frauen die andre an – »dort,« flüsterte sie, »das muß die Mutter sein, das arme junge Ding.«

Aller Augen richteten sich auf die schlanke Gestalt in schwarzer Kleidung, die den Fußweg herauf kam. Sie hatte den Schleier zurückgeschlagen, so daß man das süße, liebliche Gesicht und das lockige Haar, das weich und schimmernd unter dem Hute der jungen Witwe hervorquoll, deutlich sehen konnte.

Sie nahm die Leute nicht wahr, die sie anstarrten – sie dachte an Cedrik und seine Besuche, sein Glück über den eignen Pony und an sein liebes strahlendes Gesicht. Nach einiger Zeit aber ward sie sich doch bewußt, daß sie der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit war. Zuerst fiel ihr eine alte Frau in einem roten Mantel auf, die ihr einen Knicks machte, dann kam eine andre, die desgleichen that und dazu »Gott segne, Mylady!« sagte, und alle Männer nahmen die Hüte ab, als sie vorbeiging. Im ersten Augenblicke begriff sie die Sache nicht recht, dann aber ward ihr klar, daß diese Art von Huldigung der Mutter des kleinen Lords gelte, und ziemlich schüchtern und leise errötend erwiderte sie die Grüße und sagte mit sanfter Stimme zu der Frau, die ihr Segen gewünscht hatte: »Ich danke Ihnen.« Für jemand, der sein lebenlang im Hasten und Treiben einer amerikanischen Großstadt gestanden hat, waren diese ländlichen Ehrfurchtsbezeigungen befremdend und fast peinlich, schließlich thaten sie ihr aber doch wohl und die Warmherzigkeit, von der sie zeugten, rührte sie.

Kaum war sie in die kleine Kirche getreten, als das große, mit so viel Spannung erwartete Ereignis vor sich ging: Der Wagen vom Schlosse bog um die Ecke.

»Sie kommen,« flog es von Mund zu Munde.

Thomas stieg ab, riß den Schlag auf, und ein kleiner Junge in schwarzem Samt mit einer schimmernden, blonden Mähne sprang heraus.

»Auf und nieder der Kapitän,« hieß es unter den älteren Zuschauern. »Sein leibhaftiger Vater.«

Da stand er im hellen Sonnenscheine und beobachtete mit der liebevollsten Sorgfalt, wie Thomas dem alten Herrn beim Aussteigen half, und sobald er die Gelegenheit gekommen glaubte, streckte er ihm die Hand hin und bot seine Schulter zur Stütze, als ob er sieben Schuh hoch wäre – Angst hatte der nicht vor seinem Großvater, so viel war gewiß!

»Stütz dich nur auf mich!« hörte man ihn mit seiner hellen Stimme sagen. »Wie sich die Leute freuen, wenn sie dich sehen, und wie sie dich alle kennen!«

»Nimm deine Mütze ab, Fauntleroy,« sagte der Graf. »Das Grüßen gilt dir.«

»Mir?« rief Cedrik, riß die Mütze im Nu herunter und drehte sich mit leuchtenden, verwunderten Augen nach allen Seiten, um doch gewiß jeden Gruß zu erwidern.

»Gott segne Eure Herrlichkeit,« sagte die alte Frau, die vorhin seine Mutter angeredet hatte. »Gott schenke Ihnen langes Leben!«

Als Fauntleroy dann neben dem Großvater in dem großen Kirchenstuhle mit den roten Kissen und Vorhängen saß, entdeckte er sofort mehreres, was ihn freute und »’tressierte«. Erstens, daß seine Mutter ihm gerade gegenübersaß und ihm zulächelte, und dann zwei ganz wunderliche in Stein gehauene knieende Figuren, mit einer Tafel darüber, auf der er die Worte entziffern konnte:

HIR · RVHET · DER · LEYB · VON · GREGORIVS · ARTHVR · ERSTEN · GRAFEN · DORINCOVRT · VND · AVCH · DER · VON · ALISONE · HILDEGARTIS · SEINER · CHRISTLICHEN · EHEFRAVEN.

»Darf ich leis‘ was sagen?« fragte er den Grafen, unfähig, seine Neugierde länger zu beherrschen. »Was denn?« versetzte der Großvater.

»Wer sind denn die dort?«

»Zwei von deinen Vorfahren, die vor mehreren hundert Jahren gelebt haben.«

»Vielleicht,« dachte Cedrik, die ihm so merkwürdigen Vorfahren mit Ehrfurcht betrachtend, »hab‘ ich von denen meine Orthographie geerbt.«

Als die Musik begann, stand er auf und sah mit einem sonnigen Lächeln zu seiner Mutter hinüber. Cedrik hatte große Freude daran, und Herzlieb und er sangen oft und viel miteinander, so stimmte er nun herzhaft mit ein und wie ein Vogelstimmchen drang der klare, liebliche, helle Ton durch den Raum. Er vergaß sich und seine Umgebung darüber und dem Grafen, der, halb hinter seinem Vorhang verborgen, den Jungen beobachtete, ging es schier ebenso. Das große Gesangbuch in den kleinen Händen, das Gesichtchen mit strahlendem Ausdrucke empor gerichtet, stand Cedrik da und sang so andächtig und so laut er konnte, und durch eine der kleinen farbigen Scheiben stahl sich ein Sonnenstrahl herein und spielte auf seinen goldnen Locken. Als seine Mutter zu ihm hinüberblickte, zog es wie ein heiliger Schauer durch ihr Herz, aus dem ein heißes Gebet zum Himmel aufstieg, daß die sonnige Reinheit seines Kinderglückes und Kinderherzens dauern möge, und daß jenes neue, seltsame Schicksal, das ihm zu teil geworden, ihm keinen Schaden thun möge an seiner Seele.

»O, Ceddie,« hatte sie gestern abend bei dem langen, innigen Gutenachtkusse zu ihm gesagt: »O, Ceddie, wie möcht‘ ich um deinetwillen klug und weise sein, um dir viel, viel Wichtiges sagen zu können. Sei nur immer gut, mein Herzenskind, gut und wahr und treu, dann wirst du keinem wehe thun und dein Leben wird vielen zum Segen werden und die ganze, große, weite Welt wird ein wenig besser, weil mein Kind gut ist. Denn weißt du, Ceddie, das ist das Allerbeste und Allerhöchste, daß es allen zu gute kommt, wenn ein einzelner Mensch von Herzen gut ist.«

Fauntleroy hatte daheim dem Großvater diese Worte wiederholt und hinzugesetzt: »Da hab‘ ich natürlich an dich denken müssen und habe Herzlieb gesagt, daß die Welt viel besser geworden sei durch dich und daß ich suchen wolle, einmal gerade so zu werden wie du.«

»Und was hat sie darauf gesagt?« hatte der Graf mit einigem Unbehagen gefragt.

»Das sei recht,« hat sie gesagt, »und wir sollen immer an andern das Gute herausfinden und streben, auch so zu werden.«

Vielleicht dachte der alte Mann an diese Worte, während er zwischen den Falten des Vorhanges nach der gegenüberliegenden Bank sah, und sein Blick flog oft hinüber nach dem lieblichen Gesichte, das seinem Sohne so teuer gewesen, und nach den braunen Augen, die so ganz und gar denen des Kindes glichen – was für Gedanken ihn dabei bewegten, konnte niemand erraten.

Als »die Herrschaft« aus der Kirche trat, standen die Leute umher, um sie vorbeigehen zu sehen, und am Kirchhofthore wartete ein Mann, den Hut in der Hand, auf sie, trat einen Schritt vor und blieb wieder zögernd stehen.

»Nun, Higgins?« sagte der Graf.

»Ist das Mr. Higgins?« fragte Fauntleroy, zu dem Manne mit dem sorgendurchfurchten Gesichte aufblickend.

»Ja,« antwortete Mylord trocken, »vermutlich möchte er seinen neuen Gutsherrn in Augenschein nehmen.«

»Ja, Mylord,« bestätigte der Mann. »Mr. Newick hat mir gesagt, daß der junge Lord ein gutes Wort für mich eingelegt habe, und da hätt‘ ich mich gern bedankt, wenn’s gestattet ist, Mylord.«

Vielleicht war er etwas erstaunt, daß ein so kleiner Bursche in seiner Unschuld so Großes für ihn bewirkt hatte, und daß er nun vor ihm stand, gerade wie eins seiner weniger vom Glück begünstigten Kinder auch hätte dastehen können, sichtlich ohne eine Ahnung von der Bedeutung seiner kleinen Person.

»Ich bin Eurer Herrlichkeit vielen Dank schuldig,« begann er, »vielen Dank.«

»O nein,« sagte Fauntleroy, »ich habe ja nur den Brief geschrieben, gethan hat der Großvater alles, Sie wissen ja, wie gut er gegen alle Menschen ist. Ist Mrs. Higgins jetzt wieder gesund?«

Higgins sah einigermaßen verblüfft aus. Von seinem Gutsherrn als von einem Wohlthäter der Menschheit sprechen zu hören, war ihm allzu neu.

»Ich – ja – wohl, Euer Herrlichkeit,« stotterte er, »der Frau geht’s schon besser, seit sie sich nicht mehr so absorgt; ’s hat ihr schier das Herz abgedrückt.«

»Das freut mich, daß es besser geht,« sagte Fauntleroy. »Meinem Großvater hat’s so leid gethan, daß Ihre Kinder das Scharlachfieber gehabt haben. Er hat ja selber auch Kinder gehabt; ich bin seines Sohnes kleiner Junge.«

Higgins war einigermaßen in Gefahr, vom Schlage gerührt zu werden, und hielt es für alle Fälle für geraten, den Grafen nicht anzusehen, dessen väterliche Zärtlichkeit sich, wie jedermann wußte, damit begnügt hatte, seine Söhne ein- oder zweimal im Jahre zu sehen, und der, sobald eins von der Familie erkrankte, sofort nach London abgereist war, um »dem Volk von Aerzten und Krankenpflegerinnen« aus dem Wege zu gehen. So eisern Mylords Nerven auch waren, ganz leicht war es nicht für ihn, mitanhören zu müssen, wie sein warmer Anteil an dem Scharlachfieber der Higginsschen Kinder gerühmt wurde.

»Ihr seht, Higgins,« fiel er mit seinem grimmigen Lachen plötzlich ein, »wie gründlich ihr Leute euch in mir getäuscht habt. Steig rasch ein, Fauntleroy.«