Das grimmige Lächeln wurde in der nächsten Zeit fast ein stehender Zug auf des Grafen Gesicht, und je mehr er sich daran gewöhnte, desto weniger grimmig wurde es, und sah schließlich einem richtigen Lächeln zum Verwechseln ähnlich. Der alte Herr war der Gicht, Einsamkeit und seiner siebzig Jahre etwas überdrüssig gewesen; nach einem langen Leben voll rauschender Vergnügungen und Zerstreuungen war die Existenz in einem noch so bequemen Fauteuil, mit dem einen Beine auf dem Gichtstuhle und als einzige Abwechslung Zornesausbrüche gegen die Dienerschaft etwas eintönig. Der Graf wußte sehr genau, daß seine Untergebenen ihn verabscheuten und daß auch die seltenen Besucher nicht gerade aus reiner Neigung sich einfanden – einzelne ausgenommen, die an seinen scharfen, keinen Menschen verschonenden Sarkasmen Geschmack fanden. Lesen konnte er auch nicht immer, und so waren ihm allmählich die langen Nächte und die Tage zuwider geworden und seine Reizbarkeit und üble Laune hatten sich mehr und mehr gesteigert. Da war Fauntleroy erschienen, und zum Glück für den Knaben hatte schon seine äußere Erscheinung den großväterlichen Stolz befriedigt, der in seiner Schönheit und seinem furchtlosen Auftreten das Blut der Dorincourts zu erkennen glaubte. Dann hatte er sein kindliches Geplauder begonnen, das den Grafen erst überrascht und dann belustigt hatte, und das er bald angenehm und unterhaltend fand. Dem armen Higgins durch diese kindliche Hand helfen zu lassen, war nichts als eine Laune gewesen. Mylord nahm nicht den geringsten Anteil an Higgins‘ Schicksalen, aber daß nun die ganze Gegend von seinem Enkel sprach, und daß dieser dadurch jetzt schon eine gewisse Popularität erwarb, befriedigte ihn, wie ihn die Neugierde und das Interesse der Leute am Sonntag befriedigt hatte. Mylord von Dorincourt war ein hochfahrender alter Herr, stolz auf seinen Namen und Rang und deshalb stolz, der Welt zu guter Letzt noch einen Erben vorweisen zu können, der würdig war, dereinst beides zu tragen.

Der Morgen, an dem der Pony vorgeführt wurde, war für den Grafen so erfreulich gewesen, daß er beinahe seine Gicht vergessen hätte. Er saß am offnen Fenster der Bibliothek und sah zu, wie der Reitknecht das hübsche Tier am Zügel herführte und wie Fauntleroy seine ersten Reitstudien machte. Ob der Junge sich fürchten werde, darauf war er sehr gespannt; der Pony gehörte nicht zu den kleinen, und er hatte des öftern Kinder den Mut verlieren sehen, wenn es sich nun wirklich ums Aufsteigen handelte.

Fauntleroy war vor Entzücken ganz außer sich und stieg seelenvergnügt auf – er hatte noch nie auf einem Pferde gesessen und sein Glück war grenzenlos. Wilkins, der Reitknecht, führte den Pony vor dem Bibliothekzimmer auf und ab.

»Der Jungherr hat höllisch Courage,« äußerte sich Wilkins später im Stalle, »den rauf zu kriegen, hat keine Mühe gekostet und sitzen that er kerzengrad‘, trotz seinem Alter. ›Wilkins,‹ sagt‘ er zu mir, ›sitz ich gerad‘? Im Cirkus sitzen sie sehr gerade.‹ ›Als ob Sie einen Ladstock verschluckt hätten, Mylord,‹ sag‘ ich; da lacht‘ er ganz vergnügt und sagt: ›Wilkins, Sie müssen mir’s sogleich sagen, wenn ich nicht gerad‘ sitze, nicht wahr, Wilkins,‹ sagt er.«

Aber gerade sitzen auf einem Pony, der am Zügel geführt wird, war noch nicht der Höhepunkt der erträumten Glückseligkeit. Nach einigen Minuten fragte Fauntleroy zum Fenster herein: »Darf ich nicht allein reiten? Darf ich nicht schneller reiten? Der Junge aus der Fifth Avenue konnte traben und galoppieren.«

»Meinst du, daß du traben und galoppieren könntest?« erwiderte der Graf.

»Versuchen möcht‘ ich’s gern,« rief Fauntleroy bittend.

Mylord machte dem Groom ein Zeichen, worauf dieser auf sein Pferd aufsaß und den Pony am Trensenzügel führte.

»Nun,« befahl der Graf, »lassen Sie ihn Trab gehen.«

Das war nun für den jungen Reitkünstler sehr aufregend und nicht gerade behaglich, denn daß Traben etwas anders wirkt als Schritt, erfuhr er gründlich.

»D–das w–wirft einen tü–tüchtig – gelt?« sagte er zu Wilkins. »Stö–stößt es S–Sie auch so?«

»Nein, Mylord,« erwiderte dieser. »Das verliert sich mit der Zeit. Heben Sie sich nur in den Bügeln.«

»I–ich h–hebe mich d–die ga–ganze–Zeit,« keuchte Fauntleroy.

Er flog auf und ab und hatte manch derben Stoß auszuhalten, sein Gesicht war dunkelrot und er kam kaum mehr zu Atem, aber er hielt stand und saß so gerade als möglich. Ein paar Minuten lang waren die Reiter dem Blicke des Grafen durch die Bäume entzogen, dann kamen sie wieder in Sicht, Cedrik ohne Hut, mit blutroten Wangen und fest aufeinandergepreßten Lippen, aber noch immer mannhaft trabend.

»Halt einen Augenblick!« rief der Graf. »Wo ist dein Hut?«

Wilkins griff an den seinigen. »Fortgeflogen, Mylord,« berichtete er mit sichtlicher Freude. »Der junge Herr ließ mich nicht halten, Mylord.«

»Angst hat er nicht viel?« fragte der Graf trocken.

»Der und Angst, Euer Herrlichkeit?« rief Wilkins begeistert aus. »Glaube, daß er das Ding nicht vom Hörensagen kennt. Hab‘ schon manchen jungen Herrn reiten gelehrt, aber so couragiert ist noch keiner droben gesessen.«

»Müde?« fragte der Graf Cedrik. »Willst du absteigen?«

»Es schüttelt einen mehr, als ich mir gedacht habe,« gab Seine kleine Herrlichkeit ehrlich zu. »Und müde wird man auch ein wenig, aber absteigen will ich nicht. Ich will’s lernen, und wenn ich ein bißchen ausgeschnauft habe, möchte ich meinen Hut holen.«

Der feinste Diplomat hätte Cedrik keine bessere Anleitung geben können, des Großvaters Herz zu erobern. Als der Pony abermals davon trabte, lag ein Ausdruck von Freude in den lebhaften Augen des alten Herrn, den er sich selbst nicht mehr zugetraut hatte, und er saß und wartete mit wahrer Spannung, bis der Hufschlag wieder näher kam. Erst nach längerer Zeit erschienen die Reiter wieder, diesmal in rascherer Gangart. Wilkins hielt Cedriks Hut in der Hand, die Wangen des Knaben glühten noch mehr als zuvor und seine Haare flogen im Winde, aber es war ein richtiger, flotter Galopp, in dem er dahersauste.

»Hier!« stieß er hervor. »Ich – ich hab‘ galoppiert. So gut ging’s noch nicht, wie bei dem Jungen in der Fifth Avenue, aber im Sattel bin ich doch!«

Von da ab war die Freundschaft mit Wilkins und dem Pony geschlossen, kaum ein Tag verging, an dem man die beiden nicht fröhlich auf der Landstraße und den grünen Wiesen dahin traben sah, und aus allen den Bauernhäusern liefen die Kinder herbei, um den stolzen, braunen Pony und seinen ritterlichen kleinen Reiter zu sehen, der so kerzengerade im Sattel saß, und der junge Lord schwang dann seine Mütze und rief: »Hallo! Guten Morgen!« was vielleicht nicht ganz gräflich, aber sehr herzlich klang. Zuweilen hielt er auch an und schwatzte mit den Kindern, und eines Tages kam Wilkins ziemlich aufgeregt nach Hause, weil Lord Fauntleroy darauf bestanden hatte, einen lahmen Knaben, der Schmerzen im Beine gehabt hatte, auf seinem Pony von der Schule nach Hause reiten zu lassen.

»Hol‘ mich der Kuckuck,« lautete der Bericht im Stalle, »wenn’s ein andrer fertig gekriegt hätte, ihn abzubringen. Mich läßt er nicht absteigen, weil er behauptet, der Junge hätte Angst vor dem großen Gaul, und, sagt er: ›ich hab‘ gesunde Beine und der nicht.‹ Muß ich den Bengel hinaufsetzen, und nebenher schlendert Mylord und schwatzt, die Hände in den Taschen, als ob das ganz natürlich wär‘. Und wie die Mutter aus’m Haus rennt und sehen will, was los ist, zieht er die Mütze und sagt: ›Ich habe Ihren Sohn heimgebracht und ich werde Großvater bitten, daß er ihm Krücken machen läßt, der Stock ist zu schwach.‹ Herrgott, dem Weibe fuhr’s in alle Glieder vor Schreck – um ein Haar hätt‘ sie der Schlag gerührt.«

Wilkins war nicht recht wohl bei der Sache, da ihm sehr zweifelhaft war, wie der Graf sie aufnehmen werde. Dieser wurde jedoch merkwürdigerweise nicht böse, ließ sich sogar die Geschichte von Fauntleroy haarklein erzählen und lachte dann ganz laut. Und wahrhaftig geschah’s, daß nach ein paar Tagen die Dorincourter Equipage vor dem armseligen Häuschen hielt, Fauntleroy heraussprang und, ein Paar neuer, starker und doch leichter Krücken wie ein Gewehr schulternd, in die Behausung des lahmen Knaben hineinmarschierte, wo er sein Geschenk mit den Worten: »Mein Großvater läßt Sie freundlich grüßen« überreichte.

»Ich habe Grüße von dir bestellt,« sagte er, als er wieder bei dem Grafen im Wagen saß. »Du hattest mir’s zwar nicht aufgetragen, aber es war doch recht?«

Der Graf lachte wieder, hatte aber nichts gegen dieses Uebermaß an Höflichkeit einzuwenden. Die Freundschaft zwischen Großvater und Enkel befestigte sich jeden Tag mehr, und Fauntleroys unbedingtes Vertrauen in des Grafen Großmut, Herzensgüte und Edelsinn wuchs in gleichem Maße. Freilich wurde ihm jeder Wunsch erfüllt, noch eh‘ er ihn ausgesprochen hatte, und seine kleine Existenz dermaßen mit Freuden und Genüssen überschüttet, daß er manchmal beinahe hilflos davor stand und er möglicherweise, trotz all seiner guten Anlagen, in Gefahr gekommen wäre, sich verziehen zu lassen, wenn er nicht von jedem Besuche in Court Lodge ein gutes, warmes Wort mit heimgebracht und das Mutterherz, »sein bester Freund«, so treu über seine junge Seele Wache gehalten hätte.

Eins war es, was dem Kinde unendlich viel zu denken gab, ohne daß es sich darüber gegen Herzlieb ausgesprochen hätte und ohne daß der Graf eine Ahnung davon hatte. Bei seiner scharfen Beobachtungsgabe konnte dem Knaben nicht entgehen, daß der Großvater und seine Mama nicht miteinander verkehrten. Und doch ging jeden Tag eine Sendung von Blumen und Früchten aus den Gewächshäusern von Schloß Dorincourt nach Court Lodge, und zur Vollendung des Heiligenscheins, den das kleine Herz um den Großvater wob, hatte eine Aufmerksamkeit gedient, welche dieser kurz nach jenem ersten Sonntag Mrs. Errol erwiesen hatte. Etwa acht Tage darauf war es, daß Cedrik, als er sich anschickte, die Mama zu besuchen, an der Thür statt des stattlichen Landauers mit dem stolzen Gespanne einen eleganten leichten Brougham mit einem Schimmel vorfand.

»Das ist ein Geschenk, das du deiner Mutter machst,« erklärte der Graf kurz. »Sie kann nicht zu Fuße gehen und muß einen Wagen haben. Der Kutscher gehört auch dazu. Das Ganze ist dein Geschenk.«

Cedrik war so selig darüber, daß sie es nicht übers Herz brachte, ihm die Freude zu verderben und die Gabe zurückzuweisen. Sie mußte, nachdem er mit »seinem« Geschenk bei ihr angelangt war, wie sie ging und stand, einsteigen und mit ihm spazieren fahren, und unterwegs erzählte er ihr zahllose kleine Geschichten, die alle des Großvaters Güte zur Anschauung brachten. Manchmal mußte sie ein wenig dabei lachen, dann zog sie aber das Kind noch näher an sich und küßte den frischen Mund, der so gut zu plaudern wußte, und freute sich, daß sein Auge an dem alten Manne, der sich so wenig Freunde zu machen verstanden, nur das Gute entdeckte.

Am Tage darauf schrieb Fauntleroy den versprochenen langen Brief an Mr. Hobbs und brachte dem Großvater die Reinschrift zur Durchsicht – vorsichtshalber wegen der »O’thographie.«

Das Schreiben lautete:

»Lieber Mr. Hobbs ich möchte ihnen alles von meinem Großvater erzählen er ist der allerbeste Graf den sie je gesehen haben es ist ein irdum das Grafen tiranen sind er ist gar kein tiran sie und er würden gewis gute Freunde sein er hat die gicht in seinem Bain und ist ein sehr leitender aber er ist so gedulldich ich liebe in jeden tag mer man mus einen Grafen lieb haben der so guth ist gegen alle leutte ich wolte sie könten mit im sich unterhalten er weis alles aber base-ball hat er ni gesbilt er hat mir einen Pony gegeben und einen Korbwahgen und meiner mama einen schönen wahgen und ich habe drei zimer und sbilsachen sie würden sich nur wundern das schloß würde ihnen ser gefalen und der Park ist so schön ein unterihrtisches gehfengnis ist unter dem schloß mein Großvater ist ser reich aber er ist nicht stols und hochmütich wie sie gemeint haben das Grafen seihen ich bin ser gerne bei im die Leute sind so gut und hövlich sie nemen die Hüte ab for uns und die Frauen machen ein komblümend ich kann jets reiten aber im anfang hat es mich ser geschütelt im Trab ich würde sie ser gern sehen und besuchen und ich möchte das Herzlieb auch im schloß wonen könte aber ich bin sehr glücklich wenn ich nicht ser heimwe nach ir habe und ich habe meinen Großvater ser lieb bitte schreiben sie bald ihrem sie herslich liebenden alten Freunde

Cedrik Errol.

p. s. in dem unterihrtischen gehfengnis ist niemand mein Großvater hat nie jemand darin schmagten lassen.

p. s. er ist so ein guter Graf er erinnert mich an sie alle haben in so gern.«

»Hast du denn oft Heimweh nach deiner Mama?« fragte der Graf, nachdem er die nicht ganz leichte Lektüre beendet hatte.

»Ja,« sagte Fauntleroy, »sie fehlt mir immer.«

Er legte die Hand auf des Grafen Knie und sah ihm fragend in die Augen.

»Du hast nie Heimweh nach ihr?« sagte er nachdenklich.

»Ich kenne sie ja nicht,« versetzte Mylord ziemlich bärbeißig,

»Das weiß ich und das wundert mich immer. Sie hat mir gesagt, ich soll keine Fragen darüber an dich richten, und ich will das auch nicht, aber daran denken muß ich doch sehr oft und mich darüber besinnen. Aber ich frage dich gewiß nicht. Wenn ich sehr Heimweh nach ihr habe, dann geh‘ ich in mein Zimmer und sehe hinaus und da kann ich jeden Abend durch eine Lücke in den Bäumen ihr Licht sehen, ’s ist weit weg, aber sie stellt es ans Fenster, sobald es dunkel ist, und ich seh‘ es schimmern und weiß, was es mir sagt.«

»Was sagt es denn?«

»Es sagt: ›Gute Nacht! Schlaf wohl in Gottes Hut!‹ Das hat sie jeden Abend zu mir gesagt und morgens hat sie immer gesagt: ›Gott sei mit dir, mein Kind.‹ Und siehst du, so bin ich ja immer ganz in Sicherheit,«

»Gewiß! Zweifle nicht daran!« bemerkte der Graf trocken, aber er sah den Knaben so lange und unverwandt an, daß dieser gar gern gewußt hätte, was der Großvater dachte.

Die Sache war die, daß der Großvater in letzter Zeit an vieles dachte, was ihm früher nie in den Sinn gekommen war, und all diese Gedanken hatten in der einen oder andern Weise Bezug auf seinen Enkel. Der Stolz war der stärkst ausgeprägte Zug seines Wesens, und diesen befriedigte der Junge in jeder Hinsicht, und dieser Stolz war es, durch den der Graf zuerst wieder Interesse am Leben gewann. Er hatte es tragen müssen, nicht nur, daß seine Söhne ihm Kummer und Schande gemacht, sondern auch, daß die Welt dies erfahren und gewußt hatte. Nun war es ein nachträglicher Triumph, dieser Welt einen Erben zeigen zu können, an dem auch das schärfste Auge keinen Tadel oder Fehl entdecken konnte. Er machte nun gern Zukunftspläne, und zuweilen überkam ihn ein bittrer Schmerz darüber, daß seine Vergangenheit nicht so war, wie das arglose Kindergemüt sie voraussetzte, und ihm bangte oft innerlich vor der Möglichkeit, daß ein Zufall dem Kinde verraten könnte, daß man seinen Großvater mehr als ein Menschenalter lang den wilden Dorincourt genannt hatte, und daß dann die braunen Augen sich mit einem Ausdruck des Schreckens auf ihn heften könnten. Er hatte so viel zu denken, daß er häufig die Gicht vergaß, und nach einiger Zeit fand der Arzt seinen Patienten in einem so erfreulichen Gesundheitszustande, wie er ihn nie mehr für ihn zu hoffen gewagt hatte – vielleicht, daß es dem alten Egoisten auch körperlich wohl that, nicht mehr allein an sich zu denken, es war wenigstens eine bisher nicht an ihm versuchte Kur!

Eines schönen Morgens waren die Leute höchlichst erstaunt, Lord Fauntleroy, in ganz andrer Begleitung, als der seines Grooms ausreiten zu sehen. Der neue Begleiter ritt einen schweren, mächtigen Schimmel und war kein andrer, als der Graf in Person. Fauntleroy hatte diesen großen Gedanken angeregt, indem er eines Morgens beim Aufsteigen bemerkte: »Ich wollte nur, du kämest auch mit. Das Reiten macht mir gar nicht so viel Freude, weil ich dann immer denke, wie ganz allein du in dem großen Schlosse bist,« und dabei sah er den Großvater erwartungsvoll an.

Ein paar Minuten darauf herrschte unerhörte Aufregung im Stalle; es war der Befehl eingetroffen, daß Selim für Seine Herrlichkeit gesattelt werden solle. Von da an ward Selim fast täglich gesattelt, und die Leute gewöhnten sich ganz daran, den großen alten Herrn mit den weißen Haaren und dem scharf geschnittenen, noch immer schönen Gesichte auf dem wuchtigen, breit gebauten Schimmel zu sehen, und daneben den hübschen braunen Pony mit Lord Fauntleroy. Während dieser gemeinsamen Ritte wußte Cedrik immer viel zu plaudern in seiner heiteren, harmlosen Weise, und der Großvater wurde allmählich über »Herzlieb« und ihr Leben aufs genaueste unterrichtet und schien seinem kleinen Freunde nicht ungern zuzuhören. Zuweilen hieß er ihn dann galoppieren und sah ihm mit wahrer Herzensfreude nach, wenn der Bursche stramm und flott dahinsauste, und wenn er dann zum Großvater zurückkehrte, seine Mütze schwenkend und ihm ein lustiges »Hallo« entgegen schmetternd, fühlten beide, daß sie sehr gute Freunde geworden waren.

Der Graf erfuhr auch bald, daß die Mutter seines Erben kein müßiges Leben führte; er erfuhr, daß sie den Armen und Kranken wohl bekannt war und daß der leichte Brougham unfehlbar vor jedem Hause hielt, wo Sorge oder Krankheit eingekehrt war.

»Denke dir,« berichtete Ceddie, »wo sie nur sich zeigt, sagen die Leute: ›Gott segne Sie‹, und die Kinder laufen herbei, um ihr die Hand zu geben. Den größeren gibt sie auch Nähstunde bei sich und sie sagt, sie komme sich nun so reich vor, daß sie den Armen helfen müsse.«

Es war dem Grafen keine unangenehme Entdeckung gewesen, daß seines Enkels Mutter hübsch und in ihrer ganzen Erscheinung eine vollkommene Dame war; auch daß sie bei den Leuten beliebt war, behagte ihm. Und doch kam es oft wie Eifersucht über ihn, wenn der Junge von seiner Mutter sprach, und er hätte die erste Stelle in dem jungen Herzen einnehmen mögen.

An diesem Morgen zeigte der Graf von einer kleinen Anhöhe aus mit seiner Peitsche auf das unermeßlich weite, blühende Land vor ihnen.

»Weißt du eigentlich, daß das alles mir gehört?« fragte er Cedrik.

»Wahrhaftig? Das alles dir – dir ganz allein?« rief der Junge aus.

»Und weißt du auch, daß es eines Tages dein Eigentum sein wird?«

»Meins?« sagte Fauntleroy, mehr erschrocken, als erfreut. »Wann?«

»Nach meinem Tode.«

»Dann will ich’s nicht. Du sollst nie sterben, Großvater!«

»Nett von dir,« bemerkte der Graf trocken. »Trotzdem wird es eines Tages so kommen und du bist dann Graf Dorincourt.«

Der kleine Lord schwieg einen Augenblick und sah in die weite, grüne Ebene hinaus, in der das Dorf zerstreut lag, dann seufzte er tief auf.

»Woran denkst du?« fragte der Graf.

»Ich denke, daß ich doch noch ein recht kleiner Junge bin, und dann auch an das, was Herzlieb mir gesagt hat.«

»Was hat sie dir denn gesagt?«

»Sie sagt, es sei gar nicht leicht, reich zu sein, und daß, wenn man so viel besitze, es einem leicht geschehen könne, zu vergessen, daß andre weniger haben, und daß man daran immer denken müsse, wenn man reich sei. Ich hab‘ ihr erzählt, wie gut du seiest, und da hat sie gesagt, das sei um so mehr ein Glück, als ein Graf so große Macht in Händen habe, und wenn er nur an sich denken würde, könnte das für viele ein Unglück sein. Und nun hab‘ ich eben all die vielen Häuser angesehen und hab‘ mich besonnen, wie ich’s wohl machen werde, um immer zu wissen, was die Leute brauchen, wenn ich Graf bin. Wie hast denn du das gemacht?«

Da Seine Herrlichkeit an seinen Pächtern nur insoweit Anteil nahm, daß er sie fortjagte, wenn sie nicht zahlen konnten, war die Frage etwas schwierig zu beantworten. »Newick besorgt das,« sagte er kurz und strich sich den grauen Schnurrbart. »Wir wollen jetzt nach Hause,« setzte er hinzu, »und wenn du ein Graf bist, so sieh zu, daß du ein besserer wirst, als ich gewesen!«

Etwa eine Woche nach diesem Ritt kam Fauntleroy, mit sehr bekümmertem, traurigem Gesicht von dem Besuche bei seiner Mutter zurück. Er setzte sich auf den hochlehnigen Stuhl, in dem er am Abend seiner Ankunft gesessen hatte, und sah eine ganze Weile in die noch glühende Asche im Kamin. Der Graf beobachtete ihn im stillen und war gespannt, was nun folgen würde, denn daß er etwas auf dem Herzen hatte, war sicher. Endlich blickte Cedrik auf: »Weiß Newick alles von den armen Leuten?« fragte er.

»Er sollte alles wissen,« erwiderte der Graf. »Hat er etwas vernachlässigt – hm?«

So voll Widerspruch ist die menschliche Natur, daß der alte Herr, der sich sein lebenlang nicht um seine Gutsangehörigen bekümmert hatte, an dem Interesse des Kindes für die Leute und an der ersten Gedankenarbeit, die der kleine Lockenkopf in dieser Richtung vollbrachte, seine ganz besondre Freude hatte.

»Es gibt im Dorfe,« sagte Fauntleroy, ihn mit weitgeöffneten, schreckerfüllten Augen anblickend, »eine Gegend, am äußersten Ende, Herzlieb hat es gesehen, dort stehen die Häuser ganz nahe bei einander und sind alle am Einfallen, man kann kaum atmen drin, und die Leute sind so arm, und alles ist so gräßlich! Oft haben sie Fieber, und die Kinder sterben und vor lauter Elend werden die Menschen bösartig! ’s ist viel schlimmer als bei Bridget! Der Regen läuft zum Dache herein! Herzlieb hat eine arme Frau besucht, die dort wohnt, und dann hab‘ ich sie gar nicht küssen dürfen, eh‘ sie sich anders angezogen hatte. Wie sie mir es erzählt hat, sind ihr die Thränen aus den Augen gestürzt.«

Auch in seinen Augen standen Thränen, aber trotzdem lächelte er voll Zuversicht, als er aufsprang und sich an des Großvaters Knie schmiegte.

»Ich hab‘ ihr gesagt, daß du das nur nicht wüßtest, und daß ich dir’s sagen wolle. Du kannst ja alles besser machen, wie du’s bei Higgins gut gemacht hast. Du hilfst ja allen Menschen! Newick muß nur vergessen haben, dir das zu sagen.«

Newick hatte es nicht vergessen, er hatte seinem Herrn sogar mehr als einmal die verzweifelte Lage der Leute in diesem »Grafenhof« genannten Teile des Dorfes geschildert. Er kannte sie wohl, die windschiefen, elenden Spelunken mit den nassen Wänden und zerbrochenen Fensterscheiben und löcherigen Dächern, in denen Fieber und Elend hauste. Mr. Mordaunt hatte ihm das alles oft und viel in den schwärzesten Farben gemalt, und dann hatte der Graf eine sarkastische Antwort gegeben, und wenn die Gicht gerade schlimm war, hatte er erklärt, je früher das Gesindel draufgehe, desto besser. Aber als er jetzt auf die kleine Hand auf seinem Knie heruntersah und von der Hand in die ehrlichen, offnen, vertrauensvollen Augen, da überkam ihn ein Gefühl, das mit dem der Scham starke Ähnlichkeit hatte.

»Was?« sagte er. »Nun willst du auch noch einen Erbauer von Musterwohnhäusern aus mir machen? Was für eine Idee!«

»Die greulichen Häuser müssen abgerissen werden,« erklärte Cedrik eifrig. »Herzlieb sagt es. O bitte – bitte, wir wollen sie morgen schon abbrechen lassen! Und wir wollen selbst hingehen; die Leute freuen sich so, wenn sie dich sehen – sie wissen’s dann schon, daß du kommst, um ihnen wieder zu helfen.«

Der Graf stand auf. »Komm, wir wollen unsern Abendspaziergang auf der Terrasse machen,« sagte er mit einem kurzen Auflachen, »und uns die Geschichte überlegen.«