Im Jahr 1675, vierundzwanzig Jahre vor dem Zeitpunkt, in welchem unsere Geschichte beginnt, wurde in dem Weiler Thoctree die Hochzeit der schönen Lucie Pelnyrh mit dem starken Caroll Stadt gefeiert. Lucie war das schönste Mädchen, Caroll der wackerste Bursche im ganzen Kanton. Eltern und Verwandte hatten ihrer Vereinigung Schwierigkeiten in den Weg gelegt, bis eines Tages Caroll seine Lucie aus einer großen Gefahr rettete. Er hörte Geschrei im Wald und eilte herbei; ein vom ganzen Lande gefürchteter Räuber hatte Lucie ergriffen, um sie wegzutragen. Caroll griff dieses Unthier mit menschlichem Angesicht, dem man den Namen Han beigelegt hatte, weil es brüllte, wie ein wildes Thier, herzhaft an. Niemand hätte dies gewagt, aber die Liebe verdoppelte seine Kräfte. Er befreite seine Geliebte und brachte sie ihrem Vater, der sie ihm nun zum Weibe gab.
Der Tag ihrer Vereinigung war ein Fest für das ganze Dorf. Lucie allein war düster. Am Abend ging das Brautpaar in seine neue Hütte.
Am andern Morgen war Caroll Stadt verschwunden. Nach neun Monaten einsamer Trauer gebar Lucie einen Sohn, und am nämlichen Tage wurde das Dorf Golyn von dem über ihm hängenden Felsen zerschmettert.
Die Geburt dieses Sohnes verminderte in Nichts die düstere Traurigkeit der Mutter. Gill Stadt glich in Nichts dem verschwundenen Caroll. Seine wilde Kindheit schien ein noch wilderes Leben anzukünden. Bisweilen kam ein kleiner wilder Mensch, in welchem die Einwohner Han den Isländer erkannten, in die verlassene Hütte der Wittwe Caroll, und dann hörten die Vorübergehenden darin thierisches Brüllen und klagende Töne eines Weibes. Monate lang führte der Wilde den jungen Gill mit sich fort, und wenn er in das Haus seiner Mutter zurückkehrte, war er jedesmal wilder und unbändiger.
Die Wittwe Stadt fühlte für dieses Kind eine Mischung von Abscheu und Zärtlichkeit. Manchmal schloß sie es in ihre Arme, als das einzige Gut, welches sie noch an das Leben fesselte. Ein andermal stieß sie es mit Abscheu von sich, indem sie schmerzlich den Namen Caroll ausrief. Niemand auf der Welt wußte, was in ihrem Herzen vorging.
Als Gill dreiundzwanzig Jahre alt war, sah er Guth Stersen und liebte sie mit glühender Leidenschaft. Guth Stersen war reich und er arm. Deßhalb ging er in die Bergwerke von Roeraas, um dort als Bergmann etwas zu erwerben. Von da an hatte seine Mutter nichts mehr von ihm gehört.
In einer Nacht saß die Wittwe Stadt bei halb erloschener Lampe an dem Spinnrad, das sie nährte. Man klopfte an die Thüre.
»Wenn es mein Sohn wäre!« rief sie und eilte zu öffnen. Ein kleiner Eremit mit schwarzem Bart trat herein.
»Heiliger Mann Gottes,« sagte die Wittwe, »was verlangt Ihr? Ihr wißt nicht, über welche Schwelle Ihr eingegangen seid.«
»Doch, ich weiß es!« erwiederte der Einsiedler mit einer rauhen mißtönenden Stimme, welche ihr nur allzu wohl bekannt war, riß den schwarzen Bart ab, schlug die Kapuze zurück und ließ sein wildes Gesicht, seinen rothen struppigen Bart und seine mit furchtbaren Nägeln bewaffneten Hände sehen.
»O!« rief die Wittwe aus und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.
»Nun,« sagte der kleine Mann, »hast Du Dich in vierundzwanzig Jahren noch nicht daran gewöhnt, den Gatten zu sehen, der Dir für die ganze Ewigkeit beigesellt ist?«
»Ewigkeit!« murmelte sie mit Entsetzen.
»Höre, Lucie Pelnyrh, ich bringe Dir Nachrichten von Deinem Sohne.«
»Von meinem Sohne! Wo ist er ? Warum kommt er nicht?«
»Er kann nicht.«
»So sprecht doch! Ich will Euch danken, wenn Ihr mir einmal Glück bringt.«
»Es ist das wahre Glück, was ich Dir bringe, denn Du bist ein schwaches Weib, und ich wundere mich, daß Du einen solchen Sohn unter Deinem Herzen tragen konntest. So freue Dich denn! Du hast immer gefürchtet, daß Dein Sohn in meine Fußstapfen treten möchte. Fürchte es nicht mehr.«
»Wie!« rief die Mutter entzückt aus, »mein Sohn hat sich also geändert?«
Der Eremit warf einen höhnisch traurigen Blick auf sie.
»Ganz geändert!« sagte er.
»Und warum eilt er nicht in meine Arme? Wo habt Ihr ihn gesehen? Was machte er?«
»Er schlief.«
»Warum habt Ihr ihn nicht geweckt, daß er zu seiner Mutter komme?«
»Sein Schlaf war allzu tief.«
»Wann wird er endlich kommen? Wann soll ich ihn wiedersehen ?«
Der Eremit zog eine Art Trinkschale unter seiner Kutte hervor.
»Trinke, Wittwe,« sprach er, »trinke auf die nahe Rückkehr Deines Sohnes!«
Die Wittwe stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Es war ein menschlicher Hirnschädel.
»Weib, wende Deine Blicke nicht ab! Du willst Deinen Sohn sehen, das ist Alles, was von ihm übrig ist.«
Er brachte beim röthlichen Lampenschein den Schädel des Sohnes an die bleichen Lippen der Mutter.
Das arme Weib hatte ihre Tage im Unglück verlebt, ein Unglück mehr konnte ihr Herz nicht brechen. Sie warf einen starren, stumpfsinnigen Blick auf das wilde Gesicht des Eremiten und seufzte: »Der Tod! Tödte mich!«
»Stirb, wenn Du willst! Aber denke zurück an den Wald von Thoctree! Erinnere Dich des Tags, an welchem der Dämon, indem er sich mit Deinem Körper vermischte, Deine Seele der Hülle übergab! Ich bin der Dämon, und Du bist mein Weib in Ewigkeit! Jetzt stirb, wenn Du willst!«
In diesem abergläubischen Lande war der allgemeine Glaube, daß bisweilen höllische Geister unter den Menschen erschienen, um in ihrer Mitte ein Leben verbrecherischer und unglückseliger Thaten zu durchleben. Han der Isländer stand in diesem Rufe. Man glaubte auch, daß das Weib, welches durch Verführung oder Gewalt die Beute eines dieser Dämone in menschlicher Gestalt wurde, schon durch dieses Unglück unwiderruflich die Gefährtin seiner ewigen Verdammniß werde.
»Gott, mein Gott!« rief, von diesen abergläubischen Gedanken ergriffen, das Weib in Verzweiflung aus, »so muß ich denn das Leben tragen! Und welches Verbrechen habe ich denn begangen! Kann ein schwaches Weib der Gewalt eines Dämons widerstehen!«
Han warf auf sie einen Blick höhnischen Triumphs.
»Ha!« rief sie plötzlich aus, »es ist nur ein furchtbarer Traum, der mich schreckt, mein Sohn lebt, mein Sohn ist nicht todt!«
»Weib, Dein Sohn ist so gewiß todt, als Du lebst!«
»Gott, großer Gott!« seufzte sie schmerzlich.
»Rufe den Namen Gottes nicht an, Du Tochter der Hölle!«
Die Unglückliche verstummte.
»Zweifle nicht,« fuhr er fort, »an dem Tod Deines Sohnes. Er ist gestraft worden, weil er sein Felsenherz von dem Blick eines Weibes erweichen ließ. Ich, ich habe Dich besessen, aber nie geliebt. Mein Sohn und der Deinige ist von seiner Braut, für die er starb, betrogen worden.«
Das Weib jammerte um ihren Sohn in kläglichen Tönen.
»Schwaches Weib, bezwinge Deinen Schmerz! Ich weihe meinem Sohne mehr als fruchtlose Thränen. Während Du weinst, habe ich schon begonnen, ihn zu rächen. Seine Braut hat ihn um eines Soldaten der Besatzung von Munckholm willen betrogen. Das ganze Regiment soll durch meine Hände umkommen.«
Er schlug die Aermel seiner Kutte zurück. Seine mißgestalteten Arme waren mit Blut bedeckt,
»Ja,« fuhr er mit einem Brüllen des Schmerzes fort, »ja, am Strande von Urchthal, in den Schluchten von Cascadthymore wird Gills Geist gerne verweilen. Weib, siehst Du dieses Blut? Tröste Dich also!«
Plötzlich, wie von einer Erinnerung ergriffen, unterbrach er sich.
»Weib, hat man Dir nicht eine eiserne Büchse von mir überbracht? Ich habe Dir Gold geschickt und bringe Dir Blut, und Du weinst noch! Welchem Geschlecht gehörst Du denn an? Bist Du nicht vom Geschlecht der Menschen, daß Dich Gold nicht glücklich macht?«
Das Weib, in dumpfer Verzweiflung, schwieg.
Er schüttelte sie am Arme: »Lucie Pelnyrh! Hat Dir nicht ein Bote eine versiegelte eiserne Büchse gebracht?«
Das Weib schüttelte den Kopf und versank wieder in ihren Schmerz.
»Ha! Elender! Ungetreuer Spiagudry!« rief der Wilde aus. »Das sollst Du mir schwer büßen! Dieses Gold soll Dich theuer zu stehen kommen!«
Er warf seine Kutte von sich und stürzte aus der Hütte mit dem Brüllen einer Hyäne, die einen Leichnam sucht.