»Alter Herr,« sagte Ordener zu Spiagudry, »fast hätte ich geglaubt, daß die in diesem Gebäude befindlichen Leichname damit beauftragt seien, die Thüre zu öffnen.«

»Verzeihen Sie, gnädiger Herr, ich … ich lag in tiefem Schlafe.«

»Wenn das der Fall ist, so müssen Eure Todten wach gewesen sein, denn ich hörte eben erst hier laut und deutlich sprechen.«

Spiagudry gerieth in Verwirrung: »Wie, gnädiger Herr,« stotterte er, »Sie hätten reden gehört?«

»Allerdings! Doch was liegt daran? Ich bin nicht hieher gekommen, mich mit Euern Angelegenheiten zu beschäftigen, sondern Euch mit den meinigen. Wir wollen hineingehen.«

Spiagudry öffnete und sie traten in das Leichenzimmer.

»Benignus Spiagudry,« sagte jetzt dieser, »steht Ihnen in Allem, was menschliche Wissenschaften betrifft, zu Diensten. Wenn Sie jedoch, wie man aus Ihrem nächtlichen Besuche schließen möchte, einen Hexenmeister hier zu finden glauben, so irren Sie sich. Ne famam credas, ich bin nur ein Gelehrter. Kommen Sie in mein Arbeitszimmer, gnädiger Herr!«

»Nicht doch, wir müssen hier bei diesen Leichnamen bleiben.«

»Bei diesen Leichnamen!« rief Spiagudry bestürzt aus. »Die können Sie nicht sehen, gnädiger Herr!«

»Wie? ich soll Leichname nicht sehen dürfen, die bloß deßhalb hier sind, um gesehen zu weiden? Ich habe Erkundigungen über einen derselben bei Euch einzuziehen, und Eure Pflicht ist es, sie mir zu geben. Gern oder ungern, Ihr müßt.«

Spiagudry hatte einen großen Respekt vor tödtlichen Gewehren, und er sah einen tüchtigen Säbel an Ordeners Seite. »Nihil non arrogat armis,« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Zeigt mir die Kleider des Hauptmanns,« sagte Ordener.

In diesem Augenblicke fiel ein Strahl des Lichts auf Gill Stadts verstümmeltes Haupt.

»Gerechter Gott!« rief Ordener aus, »welche abscheuliche Entweihung!«

»Erbarmet Euch meiner um Gottes Barmherzigkeit willen!« rief der Alte.

»Alter Mann,« fuhr Ordener mit drohender Stimme fort, »Du stehst am Rande des Grabes, und scheust Dich nicht, einen solchen Frevel zu begehen! Zittere, die Lebenden werben die Entweihung rächen, die Du an Todten begangen hast!«

»Gnade! Gnade! Ich habe es nicht gethan … Wenn Sie wüßten! …«

Hier hielt er inne, denn er dachte an die Worte des kleinen Mannes: »Sei treu und stumm.«

»Haben Sie,« fuhr er zitternd fort, »Jemand durch diese Oeffnung schlüpfen sehen?«

»Ja! War es Dein Mitschuldiger?«

»Nein, es war der Schuldige, der Alleinschuldige. Das schwöre ich bei allen himmlischen und höllischen Mächten, bei diesem so schändlich entweihten Leichname selbst!«

Mit diesen Worten warf er sich stehend auf die Kniee nieder. So häßlich er auch war, so lag doch in seiner Verzweiflung, in seinen Betheuerungen ein solcher Ton der Wahrheit, daß er Ordener überzeugte.

»Alter Mann,« sagte er, »stehe auf. Wenn Du den Todten nicht entweiht hast, so würdige wenigstens Dein Alter nicht herab.«

Spiagudry stand auf.

»Wer ist der Schuldige?« fragte Ordener.

»Stille, edler Herr, stille! Sie wissen nicht, von wem Sie sprechen. Stille!«

»Wer ist der Schuldige? Ich will ihn wissen,« fuhr Ordener kaltblütig fort.

»Im Namen des Himmels, gnädiger Herr! Reden Sie nicht so, schweigen Sie, sonst möchte … Ich kann nicht … aus Furcht …«

»Furcht! die wird mich nicht schweigen machen, Dich aber wird sie zum Reden bringen.«

»Gnade, edler junger Herr!« rief der trostlose Spiagudry, »ich kann nicht … ich darf nicht …«

»Du kannst und sollst. Nenne den Schuldigen!«

Spiagudry suchte eine Ausflucht: »Wohlan denn, edler Herr! Der Entweiher dieses Leichnams ist der Mörder dieses Offiziers.«

»Dieser Offizier ist also ermordet worden?«

»Allerdings, gnädiger Herr!«

»Und von wem? Von wem?«

»Im Namen der Heiligen, die Ihre Mutter anrief, als sie Ihnen das Leben gab, forschen Sie nicht nach diesem Namen, zwingen Sie mich nicht, ihn zu nennen.«

»Ich will den Mörder wissen.«

»Nun denn! Betrachten Sie die tiefen Risse, welche lange und spitzige Nägel in diesen Leichnam gegraben haben – dann werden Sie den Mörder kennen.«

»Wie!« sagte Ordener, »irgend ein wildes Thier?«

»Nein, mein gnädiger Herr.«

»Nun, wenn es nicht der Teufel selbst gethan hat, so wüßte ich nicht …«

»Stille! Nehmen Sie sich in Acht. Haben Sie niemals,« fuhr der Alte mit leiser Stimme fort, »von einem Menschen oder einem Ungeheuer mit menschlichem Angesicht sprechen hören, dessen Nägel so lang sind, wie die Astaroths, der uns ins Verderben gestürzt hat, oder des Antichrists, der uns verderben wird?«

»Rede deutlicher.«

»Wehe! Wehe! heißt es in der Offenbarung …«

»Den Namen des Mörders will ich wissen.«

»Der Mörder … den Namen … Gnädiger Herr, erbarmen Sie sich meiner! Ach, erbarmen Sie sich!«

»Zaudere nicht länger.«

»Nun denn, wenn Sie es durchaus verlangen, der Mörder und Entweiher ist Han der Isländer.«

Dieser furchtbare Name war Ordener nicht unbekannt.

»Wie!« rief er aus, »Han! Dieser abscheuliche Bandit!«

»Er hat keine Bande, sondern ist immer allein.«

»Und wie kommst Du zu seiner Bekanntschaft, Elender? Welche gemeinschaftliche Verbrechen haben Euch einander nahe gebracht?«

»Edler Herr, mißtrauen Sie dem Scheine. Ist der Stamm der Eiche vergiftet, weil die Schlange an ihrer Wurzel kriecht?«

»Keine leeren Worte, ein Bösewicht kann keinen andern Freund haben, als einen Mitschuldigen.«

»Ich bin nicht sein Freund, und noch weniger sein Mitschuldiger, und wenn meine Betheurungen Sie nicht überzeugt haben, so erwägen Sie doch, daß die Entweihung dieses Leichnams mich innerhalb vierundzwanzig Stunden, wenn man den todten Körper abholt, der Strafe der Heiligthumsschänder aussetzen wird, obgleich ich unschuldig bin.«

Dieser Grund war für Ordener der überzeugendste; er sagte ruhig, aber ernst: »Alter, seid aufrichtig. Habt Ihr Papiere bei diesem Offizier gefunden?«

»Nicht eines, auf meine Ehre!«

»Wißt Ihr, ob Han der Isländer Papiere bei ihm gefunden hat?«

»Ich weiß es nicht.«

»Kennt Ihr den Versteck Han des Isländers?«

»Er versteckt sich nicht, sondern wandert immer hin und her.«

»Das mag sein, aber er hat doch gewisse Verstecke.«

»Dieser Heide,« sagte Spiagudry leise, »hat eben so viele Verstecke, als die Insel Hitteren Felsenriffe und der Sirius Strahlen.«

»Gebt mir eine bestimmtere Antwort. Ihr steht in geheimnißvoller Verbindung mit diesem Räuber. Ihr kennt ihn und müßt wissen, wohin er von hier aus gegangen ist. Wenn Ihr nicht sein Mitschuldiger seid, so werdet ihr keinen Anstand nehmen, mich an seinen Aufenthaltsort zu führen …«

Spiagudry schauderte zurück.

»Sie, gnädiger Herr,« rief er aus. »Sie, großer Gott! Sie, voll Jugend und Leben, diesen Satan aufsuchen, herausfordern! Als Ingiald den Riesen Nyctolm bekämpfte, hatte er wenigstens vier Arme.«

»Nun, wir haben ja auch vier Arme, wenn Ihr mir zum Führer dient!«

»Ich! Ihr Wegweiser? Sie scherzen mit einem alten Manne, der bereits fast selbst eines Führers bedarf.«

»Hört! Wenn die Entweihung dieses Leichnams Euch der Strafe der Heiligthumsschänder aussetzt, so könnt Ihr nicht hier bleiben. Ihr müßt also fort. Ich nehme Euch unter meinen Schutz, aber nur unter der Bedingung, daß Ihr mich zum Versteck des Räubers geleitet. Seid mein Führer, ich will Euer Beschützer sein. Finde ich Han den Isländer, so bringe ich ihn lebendig oder todt hieher. Ihr könnt dann Eure Unschuld darthun, und ich verspreche Euch, daß Ihr in Euer Amt wieder eingesetzt werdet. Inzwischen empfanget hier mehr Thaler, als es Euch das ganze Jahr durch einträgt.«

»Edler Herr,« versetzte Spiagudry, indem er das Geld in Empfang nahm, »Sie haben vollkommen Recht. Wenn ich Ihnen folge, so setze ich mich einige Tage der Rache des furchtbaren Han aus. Bleibe ich, so falle ich morgen in die Hände des Henkers Orugix. Welches ist denn die Strafe der Heiligthumsschänder? … Gleichviel. In beiden Fällen ist mein armes Leben in Gefahr; da jedoch, nach der richtigen Bemerkung des gelehrten Saemond-Sigfusson, inter duo pericula aequalia minus imminens eligendum est, so folge ich Ihnen. Ja, gnädiger Herr, ich will Ihr Führer sein. Vergessen Sie jedoch nicht, daß ich Allem aufgeboten habe, Sie von Ihrem gefährlichen Unternehmen abzubringen.«

»Ihr sollt also mein Führer sein, und ich verlasse mich auf Eure Rechtlichkeit.«

»Herr, Spiagudry’s Rechtlichkeit ist eben so unbefleckt, als das Geld, das Sie mir eben so großmüthig gespendet haben.«

»Wo denkt Ihr, daß Han sich jetzt aufhalte?«

»Da der Süden von Drontheimhus jetzt voll Truppen ist, welche man auf Requisition des Großkanzlers dahin geschickt hat, so wird wohl Han seinen Weg nach der Grotte von Walderhog oder dem See von Smiassen genommen haben. Wir müssen also über Skongen gehen.«

»Wann könnt Ihr mir folgen?«

»Wenn heute Abend die Nacht einbricht und der Spladgest geschlossen wird, so wird Ihr demüthiger Diener seinen Dienst als Führer bei Ihnen antreten.«

»Wo werde ich Euch diesen Abend finden?«

»Auf dem großen Platze von Drontheim, wenn es Ihnen so gefällig ist, bei der Bildsäule der Gerechtigkeit, welche ehedem die Göttin Freya war und die mich ohne Zweifel in den Schutz ihres Schattens aufnehmen wird, aus Dankbarkeit, daß ich einen so schönen Teufel unter ihre Füße habe meißeln lassen.«

»Gut, Alter, der Vertrag ist geschlossen.«

»Geschlossen,« wiederholte Spiagudry.

Kaum hatte er dieses Wort gesprochen, so ließ sich über ihnen eine Art von Gebrumme hören. »Was ist das?« sagte der zitternde Spiagudry.

»Ist denn außer uns beiden noch ein lebendes Wesen hier?« fragte Ordener staunend.

»Ah! Ohne Zweifel mein Vicarius Oglypiglap,« sagte Spiagudry, den dieser Gedanke beruhigte. »Ein schlafender Lappe, sagte der Bischof Arngrim, macht eben so viel Lärm, als ein wachendes Weib.«

Ordener entfernte sich. Spiagudry schloß eilig die Thüre, legte Gill Stadts Leichnam so zurecht, daß man die Verstümmelung nicht gewahr werden konnte, und begab sich dann in seine Wohnung.

Viele Gründe mußten zusammentreffen, um den furchtsamen Spiagudry zu bewegen, Ordeners abenteuerlichen Vorschlag anzunehmen. Die Hauptgründe waren: 1) die Furcht vor dem anwesenden Ordener und seinem Säbel; 2) die Furcht vor dem Scharfrichter Orugix; 3) ein alter Haß gegen Han den Isländer, den er kaum sich selbst zu gestehen wagte, so sehr drückte ihn der Schrecken nieder; 4) die Liebe zu den Wissenschaften, welche er auf dieser Reise befriedigen zu können glaubte; 5) das Zutrauen in seine vermeintliche List, durch welche er sich Hans Blicken zu entziehen hoffte; 6) die Liebe zum Geld, indem er die für die Wittwe Stadt bestimmte Büchse für sich behalten zu können hoffte.

Im Uebrigen war es ihm gleichgültig, ob der Räuber den Fremden, oder der Fremde den Räuber tödte. Als er über diesen Punkt nachdachte, brach er in die Worte aus: »Es ist immerhin ein Leichnam, der mir zukommen wird.«

Hier ließ sich abermals ein Brummen hören. Spiagudry fuhr schreckenvoll zusammen.

»Das ist kein Schnarchen meines Oglypiglap,« sagte er, »diese Töne kommen von Außen. Es wird wohl,« fügte er nach einigem Nachdenken hinzu, »der Hund im Hafen sein, der bellt.«