Vor Gorbeau’s altem Hause blieb Johann Valjean stehen. Wie scheue Vögel hatte er diesen verlassenen Ort gewählt, um hier sein Nest aufzuschlagen.

Er suchte in seiner Westentasche, holte eine Art Hauptschlüssel heraus, öffnete die Thür, trat ein, schloß sorgfältig wieder zu und stieg die Treppe hinauf. Dabei trug er fortwährend Cosetten.

Oben auf der Treppe nahm er einen anderen Schlüssel aus seiner Tasche, mit dem er eine andere Thür öffnete. Das Zimmer, in das er eintrat und das er sogleich wieder schloß, war eine Art Dachkammer, ziemlich geräumig, mit einem am Boden liegenden Strohsack, einem Tisch und einigen Stühlen möblirt. In einer Ecke stand ein Ofen, dessen Gluth man brennen sehen konnte. Die Straßenlaterne erleuchtete undeutlich dieses armselige Gemach. Im Hintergrunde befand sich ein Cabinet mit einem Gurtbett. Johann Valjean trug das Kind auf dieses Bett und legte es nieder, ohne daß es erwachte.

Er schlug Feuer und zündete ein Licht an. Alles das war bereits auf dem Tische vorbereitet. Wie er es schon den Tag vorher gethan hatte, fing er an Cosette mit entzücktem Blicke zu betrachten, in welchem der Ausdruck der Güte und Zärtlichkeit beinahe bis zur Verzückung stieg. Das kleine Mädchen war in dem ruhigen Vertrauen, das der größten Kraft und der äußersten Schwäche eigen ist, eingeschlafen, ohne zu wissen, bei wem sie war und schlief ruhig weiter, ohne zu wissen, wo sie sich befand. Johann Valjean beugte sich und küßte die Hand des Kindes.

Neun Monate vorher küßte er die Hand der Mutter, welche, auch sie, eben eingeschlafen war.

Dasselbe schmerzliche, stechende, anbetende Gefühl erfüllte sein Herz.

Er kniete an dem Bett Cosetten’s nieder.

Es war heller Tag und das Kind schlief noch immer. Ein bleicher Strahl der Dezembersonne fiel durch das Fenster der Dachkammer und zog an der Decke lange Schatten und Lichtfüllen. Plötzlich erschütterte ein schwer beladener Kärrner-Wagen, der auf dem Boulevard hinfuhr, die Barake wie das Rollen des Donners, so daß es von unten bis oben zitterte.

»Ja Madame!« rief Cosette, die aus dem Schlafe auffuhr. »Hier bin ich! Hier bin ich!«

Sie sprang aus dem Bette, die Augen noch halb geschlossen durch die Schwere des Schlafes und streckte den Arm nach der Mauerecke aus.

»Ach Gott, mein Besen!« sagte sie.

Dann öffnete sie ganz die Augen und sah das lächelnde Gesicht Johann Valjeans.

»Ach ja, es ist wahr!« sagte sie. »Guten Morgen, mein Herr!«

Die Kinder nehmen die Freude und das Glück sofort und ganz vertraulich an. Sie selbst sind naturgemäß Glück und Freude.

Cosette gewahrte ihre Katharine am Fuße ihres Bettes, bemächtigte sich derselben und richtete, während sie mit ihr spielte, hunderterlei Fragen an Johann Valjean: wo sie wäre? Ob Paris groß sei? Ob Madame Thenardier weit fort sei? Ob sie nicht wiederkäme? u. s. w. Plötzlich rief sie: »Wie hübsch es hier ist!«

Es war ein schreckliches Nest. Sie empfand jedoch das Gefühl der Freiheit.

»Muß ich auskehren?« fragte sie endlich.

»Spiele nur,« sagte Johann Valjean.

So verging der Tag. Cosette, die sich nicht bemühte etwas zu begreifen, war unaussprechlich glücklich zwischen ihrer Puppe und diesem guten Manne.