Erstes Capitel. Geplauder und Rauch.

Vielleicht ist der menschliche Körper nur ein Schein. Er verbirgt unser wahres Wesen; er legt sich wie eine dichte Masse um unser Licht oder unsern Schatten. Unser wahres Wesen ist die Seele. Wenn wir es genau nehmen, so ist unser Angesicht eine Maske, welche das wahre, eigentliche Gesicht, das der Seele, verbirgt. Wenn man einmal den wahren Menschen, das wahre Menschenantlitz hinter dieser Fleisch-Maske sehen könnte, welche Ueberraschungen würde diese Enthüllung bieten! Der allgemeine Irrthum besteht darin, daß man den äußeren Menschen für das wahre Wesen hält. Manches junge Mädchen z. B. würde, in ihrer wirklichen Gestalt gesehen, als ein Vogel erscheinen.

Ein Vogel in Gestalt eines Mädchens – kann es etwas Reizenderes geben? Wollt Ihr ein solches Wesen kennen lernen, so seht Euch Deruchette an: Sie ist ein Vögelchen in einem Mädchenleib, ein herzig Vögelchen! Wenn man sie sieht, möchte man ihr zurufen: Guten Morgen, kleine Bachstelze! Man steht nicht die Flügel, aber man hört das Zwitschern, bisweilen sogar einen Gesang. Das Zwitschern steht unter, der Gesang über der Menschenstimme; er ist voll geheimnißvoller Offenbarungen. Ein Mädchen ist eine fleischgewordene Engelsseele. Wenn die Jungfrau Weib wird, entflieht der Engel und kommt erst wieder, wenn er der Mutter eine kleine Seele bringt. Die künftige Mutter bleibt lange Zeit ein Kind; das »kleine Mädchen« lebt noch fort im »jungen Mädchen«, und dieses kleine, junge Mädchen ist eine Grasmücke. Beim Anblick einer solchen Grasmücke denkt man unwillkürlich: Wie lieb ist doch von ihr, daß sie nicht fortfliegt! Dies herzige kleine Wesen wird heimisch, es fliegt von Zweig zu Zweig, oder vielmehr von Zimmer zu Zimmer; man sieht es überall, es kommt und geht, es nähert und entfernt sich und kommt wieder; es putzt die Federn oder kämmt die Haare; man hört das leise Geräusch seines Flügelschlages; es singt uns etwas, wir antworten; dann fragen wir etwas: statt der Antwort zwitschert die kleine Grasmücke. Man spricht nicht mit ihr, man plaudert. Das Plaudern ist eine Erholung, ein Ausruhen vom Sprechen. Ach, es plaudert sich so angenehm mit solch‘ einem kleinen Wesen! Es hat etwas vom Himmel an sich; es ist ein blauer Gedanke, der sich mit unseren schwarzen Gedanken vermählt. Wir wissen ihm Dank, daß es bei seiner leichten, ungreifbaren Flüchtigkeit es doch so gut mit uns meint, uns seinen Anblick zu gönnen; denn ein so luftiges Wesen hat sicher auch die Gabe, sich unsichtbar zu machen. Das Schöne hienieden ist das Nothwendige. Es giebt auf Erden wenig so bedeutende Pflichten, als die, reizend zu sein. Der Wald müßte verzweifeln ohne Singvögelchen. Freude ausströmen, Glück ausstrahlen, Helles, farbenreiches Licht über das Dunkel dieser Erde breiten, die Vergoldung des Schicksals, die Harmonie, die Grazie, die Anmuth sein, heißt uns einen Dienst erweisen. Die Schönheit wirkt wie eine Wohlthat des Himmels; wir fühlen uns ihr zu Dank verpflichtet, obgleich sie weiter nichts thut, um sich diesen unseren Dank zu verdienen, als daß sie eben schön ist. Es giebt Wesen, welche einen feenhaften Zauber über ihre Umgebung verbreiten; zuweilen wissen sie dies selber nicht, doch gerade hierdurch wird ihre Gewalt über uns eine unumschränkte; denn nichts ist reizender, nichts verführerischer, als die ihrer selbst unbewußte, ahnungslose Schönheit. Ihre Gegenwart verklärt, ihre Nähe erwärmt wie das Sonnenlicht; wir freuen uns ihres nur flüchtigen Grußes und sind beglückt, wenn sie bei uns verweilt; sie ist Leben. Durch ihre bloße Gegenwart macht sie das Haus, das sie umfängt, zum Eden; aus ihren Poren strömen Paradieses-Wonnen; und alle diese Wunder bewirkt sie ohne ihr Hinzuthun, nur durch ihr bloßes Dasein.

Das Lächeln eines solchen Wesens birgt eine geheime Kraft in sich, welche, das Gewicht der Ketten mindert, an welcher die ganze Creatur gemeinsam schleppt. So ein Lächeln ist göttlich. Dieses Lächeln hatte Deruchette; oder vielmehr: Deruchette war dieses Lächeln. Es giebt Etwas, was unserm innern Wesen mehr gleicht, als unser Angesicht: das ist unsere Physiognomie. Und wieder giebt es Etwas, was uns noch ähnlicher sieht, als unsere Physiognomie: das ist unser Lächeln. Die lächelnde Deruchette, das war Deruchette.

Es steckt den Bewohnern von Jersey und Guernesey eine ganz eigenthümliche Anziehungskraft im Blute. Die Frauen und Mädchen besonders sind frische, blühende Rosen. Das zarte Weiß ihrer Hautfarbe ist englischen, die blühende Frische normännischen Ursprungs. Sie haben rosige Wangen und blaue Augen; doch fehlt es diesen schönen blauen Augensternen an Glanz; die englische Erziehung hat ihn gedämpft. Das klare feuchte Blau dieser englischen Augen wird unwiderstehlich sein, wenn ihm einst das französische Feuer Glanz verleihen wird. Bis jetzt aber sind die Engländerinnen noch unbeeinflußt vom französischen Wesen geblieben. Deruchette war keine Französin, sie war auch keine Engländerin. Nicht Guernesey, St. Pierre-Port war ihr Geburtsort; aber Mess Lethierry hatte sie erzogen. Sie sollte zu einem Herzblättchen erzogen werden. Sie war eins geworden. Vielleicht wußte sie kaum den Sinn des Wortes Liebe zu fassen; dennoch machte es ihr Vergnügen, Liebe einzuflößen; doch ohne Arg, müssen wir hinzufügen. Sie dachte nicht an’s Heirathen.

Deruchette hatte ganz allerliebste kleine Händchen und eben solche Füßchen. » Vier Fliegenfüßchen,« sagte Mess Lethierry. Sie war von der Natur und vom Glück nicht eben stiefmütterlich behandelt. Sanftmuth und Güte waren ihr in ihrer eigenen Person verliehen, mit Familie und Reichthum war sie in der Person ihres Oheims, Mess Lethierry ausgestattet; ihre Arbeit bestand in der Kunst zu leben; ihr Talent war der Gesang einiger Volkslieder, ihre Wissenschaft war die Schönheit, ihr Geist die Unschuld, ihr Herz die Unwissenheit. Sie hatte jene anmuthige Trägheit der Creolin, welche mit Unbesonnenheit und Lebhaftigkeit gepaart ist. Zu der neckischen Fröhlichkeit des Kindes gesellte sich ein Hang zur Schwermuth. Die Art ihrer Kleidung verrieth die Insulanerin, sie war elegant, ohne den Anforderungen des Geschmacks im strengsten Sinn des Wortes Rechnung zu tragen. Ihr Nacken war verführerisch, ihre Stirne frei und offen; sie hatte kastanienbraunes Haar, eine weiße Haut mit einigen kleinen Sommersprossen, volle, kräftige Lippen, welche die Sonne jenes unbeschreiblich verführerischen Lächelns verklärte. Das war Deruchette.

Wenn die Dämmerung ihre grauen Nebelschleier über das Meer ausbreitete, wenn die Wogen mit einer Art Erschrecken den kühlen Hauch der Nacht auf ihrem Nacken fühlten, sah man zuweilen eine kolossale Masse ihre unförmigen Umrisse in den düstern Wasserspiegel tauchend, in die Bucht von St. Sampfon einlaufen. Dieses Ungeheuer schnaufte und röchelte wie ein wildes Thier; es dampfte wie ein Vulkan und wie eine ungeheure Wasserschlange wälzte es sich durch den Wogenschaum, einen langen Streif hinter sich lassend und näherte sich der Stadt. Es gab dem Meer mit seinen starken Flossen grimmige Fußtritte und spie Flammen und Rauch aus seinem schwarzen Rachen. Das war Durande.

————

Zweites Capitel. Die ewige Geschichte von Utopien.

Ein Dampfschiff war im Jahre 182* in den Gewässern des Canals noch eine Seltenheit, ein angestauntes Meerwunder. Es war für die normännischen Seeleute eine lange Zeit ein Gegenstand des Schreckens, der Bestürzung. Heute können die Dampfer dort zu Dutzenden auf dem Meere kreuzen, ohne auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen. Höchstens richten Sachkundige ihr Augenmerk auf den Schornstein, um an der Farbe des Rumpfes zu erkennen, ob die Schiffe ihre Kohlen aus Wales oder aus Newcastle bezogen. Alles Andere ist ihnen gleichgültig. Man beschränkt die Aeußerungen seiner Teilnahme auf ein: »Willkommen!« wenn die Schiffe anlangen, und wünscht ihnen eine »glückliche Reise!« wenn sie sich entfernen.

Im ersten Viertel des gegenwärtigen Jahrhunderts jedoch erregte die Erfindung dieser merkwürdigen Maschine die allgemeinste Verwunderung. Die Bewohner der Inseln des Canals betrachteten den Rauch der Dampfschiffe mit scheelen Blicken. Die Puritaner dieses Archipelagus, welche es der Königin von England übel genommen, daß sie gegen die Vorschrift der Bibel 1 sich bei der Entbindung chloroformiren ließ, tauften das erste Dampfschiff, welches, die Erfindung mit Ruhm krönend, die Wogen des Canals mit scharfem kräftigem Fluge durchschnitt: »das Teufelsboot« ( Devil-Boat). Diese guten Fischer, welche ehemals Katholiken waren, jetzt Calvinisten sind und immer bigott sein werden, sahen ein Dampfschiff für eine schwimmende Hölle an. Einer ihrer Geistlichen ließ sich über diese Frage folgendermaßen vernehmen: Gott hat Feuer und Wasser von einander geschieden. Was Gott geschieden hat, darf der Mensch das vereinigen? 2 Gleicht dieses eiserne feuerspeiende Ungethüm nicht dem Leviathan? Heißt das nicht, das Chaos in die menschliche Ordnung wieder einführen? Es war wohl nicht das erste Mal, daß man den Fortschritt als eine Rückkehr zum Chaos darstellte.

» Phantasterei, grober Irrthum, tolle Ideen, lächerliche Abgeschmacktheit!« Das war der Wahrspruch, den die Akademie der Wissenschaften zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Napoleon I. gab, als er die Dampfschifffahrts-Frage ihrer Begutachtung vorlegte. Man kann es den Fischern von St. Sampson nicht verargen und sie sind gewiß zu entschuldigen, wenn sie sich in der Wissenschaft nur bis zu der Höhe der Pariser Mathematiker erhoben; was aber die Religion betrifft, so darf man von den Bewohnern einer so kleinen Insel wie Guernesey nicht mehr gesunde Vernunft als von denen eines Continents wie Amerika erwarten.

Als im Jahr 1807 in Amerika das erste Dampfschiff »Foulton«, von Levingstone kommandirt, in die See stach – seine Maschine war von Watt aus England hingesandt, und außer der Schiffsmannschaft befanden sich nur ein Franzose Namens André Michaud und noch ein anderer Passagier an Bord – wollte ein Zufall, daß der Tag der Abfahrt der 17. August war. Da nahmen die Methodisten das Wort; und ihre Prediger predigten von allen Kanzeln und verfluchten diese Erfindung, welche sie ein Blendwerk des Teufels nannten. Sie erklärten, daß nicht umsonst der Sieben-zehnte des Monats zu dieser Schifffahrt des Teufels festgesetzt sei; denn sieben sei die Zahl der Köpfe und zehn die der Hörner des Thieres der Apokalypse. In Amerika wurde das Thier der Apokalypse, und in Europa das der Genesis gegen das Dampfschiff aufgeboten. Das war der ganze Unterschied. Die Gelehrten erklärten diese Erfindung für unausführbar, die Geistlichen verwarfen sie als gottlos. Die Wissenschaft verurtheilte, die Religion verdammte sie. Fulton war eine Abart von Lucifer. Die einfachen Küsten- und Landbewohner stießen mit in das allgemeine Horn, weil sie den Kopf über eine Erfindung schüttelten, die einen dicken Querstrich durch das Register ihrer langjährigen Erfahrung machte.

Es gehörte ein Mann wie Lethierry dazu, um in dieser Zeit das Unternehmen zu wagen, einen Dampfer von Guernesey nach St. Malo zu führen. Er allein war im Stande, den Gedanken mit der Freiheit des Denkers aufzufassen und mit der Kühnheit des Seemanns auszuführen. Mit seinem französischen Geiste faßte er die Idee, mit seinem englischen führte er sie aus.

Bei welcher Gelegenheit? Das werden wir sogleich erfahren.

————

Drittes Capitel. Rantaine.

Ungefähr vierzig Jahre vor dem Zeitabschnitt, in welchen unsere Erzählung fällt, stand in dem Weichbilde von Paris, nahe bei der Rundmauer, zwischen dem Wolfsgraben und dem Grabmal von Issoire, ein verdächtiges Haus. Es war eine einsam gelegene Spelunke, vielleicht Mördergrube. Hier wohnte mit Weib und Kind ein Biedermann von Bandit, welcher früher Advokatenschreiber gewesen war und jetzt ganz einfach das Handwerk eines Diebes ausübte. Später stand er vor dem Assisenhofe. Diese Familie hieß Rantaine. In der alten Spelunke war nur eine Kommode, worauf zwei gemalte Porzellantassen standen. Jede derselben hatte eine Inschrift. »Aus Freundschaft« lautete die eine, »Aus Achtung« die andere. Das Kind wuchs in einer Kammer mit dem Verbrechen auf. Es erhielt, da beide Eltern aus dem kleineren Bürgerstand waren, eine gewisse Erziehung. Seine bleiche, in Lumpen gehüllte Mutter lehrte es lesen, wenn ihre Mitwirkung bei dem Handwerk ihres Mannes und ihr eigenes Geschäft, die Prostitution, ihr dazu Zeit ließen. Wurden die Eltern durch ihre beiderseitigen Beschäftigungen abgerufen, so blieb das Crucifix in dem aufgeschlagenen Buche an der Stelle, wo man aufgehört hatte, liegen, und das Kind saß träumerisch davor.

Eines Tages waren Vater und Mutter, welche die Polizei bei einem Verbrechen auf frischer That ertappt hatte, unsichtbar geworden.

Das Kind verschwand ebenfalls.

Lethierry begegnete auf einer seiner Reisen einem Abenteurer; er zog ihn aus irgend einer schlimmen Sache, fühlte sich ihm dann durch einen Gegendienst verpflichtet, fand Gefallen an ihm, nahm ihn mit nach Guernesey und machte ihn, nachdem er in ihm einen tüchtigen Küstenfahrer entdeckt, zum Theilnehmer seines Geschäftes. Dieser Abenteurer war der kleine Rantaine, der inzwischen herangewachsen war.

Rantaine hatte, wie Lethierry, einen sehr starken Nacken, einen breiten, sogenannten Lastträger-Rücken und die Lenden des Farnesischen Herkules. Lethierry und Rantaine waren fast von gleicher Gestalt; sie hatten auch denselben Gang. Beide neben einander von hinten gesehen, hätte man für Brüder halten können. Von vorne war es anders. Lethierry hatte ein offenes Gesicht und ein aufrichtiges Gemüth. Rantaine hatte ein verschlossenes Gesicht und ein verstecktes, mißtrauisches Wesen. Er war in der Waffenführung sehr geübt, spielte die Harmonika, putzte ein Licht auf zwanzig Schritt durch einen Pistolenschuß, konnte prächtig boxen, recitirte Verse aus der Henriade und legte Träume aus. Er wußte »die Gräber von St. Denis« von Treneuil auswendig. Nach seiner Aussage war er mit dem Sultan von Calcutta, »welchen die Portugiesen Zamorin nennen« sehr befreundet. Wäre uns ein Blick in sein Gedenkbuch gestattet gewesen, so hätten wir unter anderen auch folgende Notiz gefunden: » In Lyon ist in der Mauerritze einer gewissen Gefängnißzelle in St. Joseph eine Feile verborgen.« Er sprach mit einer bedächtigen Langsamkeit und nannte sich den Sohn eines Ritters vom heiligen Ludwig. Seine Wäsche war ungleich und verschieden gezeichnet. Niemand war im Punkte der Ehre so empfindlich als er; er schlug sich leicht, und wenn er es that, tödtete er den Gegner.

Er hatte im Blick Etwas von einer Theater-Mutter.

Die Kraft, der List als Hülle dienend, das war Rantaine.

Einer seiner famosen Faustschläge, welchen er auf einem Jahrmarkt auf einen »Mohrenkopf« geführt, gewann ihm das Herz Lethierry’s. Man war in Guernesey in völliger Unkenntniß über die Vergangenheit dieses Mannes. Seine Abenteuer waren sehr bunt. Wenn die Schicksale in Charaktermasken auf dem Markt des Lebens erschienen, so hätte das Rantaine’s die Hanswurstjacke tragen müssen.

Er hatte die Welt gesehen und das Leben kennen gelernt. Er war ein Weltumsegler. Seine verschiedenen Berufsarten glichen einer Tonleiter. In Madagascar war er Koch gewesen; in Sumatra Vogelabrichter, in Honolulu General. Auf den Inseln Gallapagos war er religiöser Tagesschriftsteller, in Oomrawuttee Dichter und in Haiti Freimaurer gewesen. In dieser letzteren Eigenschaft hielt er in Grand-Goave eine Leichenrede, von welcher die dortigen Lokalblätter folgendes Fragment aufbewahrt haben: … »So leb‘ denn wohl, schöne Seele! In dem azurfarbigen Himmelsgewölbe, wohin Du jetzt Deinen Flug nehmen wirst, begegnest Du wahrscheinlich dem guten Abbé Leander Crameau von Klein-Goave. Sage ihm, daß es Dir nach einer zehnjährigen ehrenvollen Wirksamkeit gelungen sei, den Bau der Kirche Anse-à-Veau zu vollenden. Lebe wohl jetzt, dahingeschiedener Geist, Muster eines Freimaurers!« Seine Freimaurermaske hinderte ihn, wie man sieht, nicht, die falsche Nase des Katholicismus zu tragen. Die Erstere machte ihm die Männer des Fortschritts, die Letztere die Männer der stabilen Ordnung geneigt. Er gab sich für einen Weißen von reinem unvermischten Blute aus und haßte die Schwarzen. Dennoch hätte er sicherlich Soulouque bewundert. In Bordeaux war er im Jahre 1815 ganz kupfergrün gewesen. Um diese Zeit entstieg der Rauch des Royalismus seiner Stirn in Form einer ungeheuren weißen Feder. Er brachte sein Leben damit hin, plötzlich zu verschwinden, wieder aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Er kannte die türkische Sprache; anstatt »guillotinirt« sagte er »neboisirt.« In Tripolis war er bei einem Thaleb Sklave gewesen; hier wurde ihm die türkische Sprache eingeprügelt. Man stellte ihm die Aufgabe, jeden Abend an den Thüren der Moscheen den Gläubigen den Koran vorzulesen. Allem Anschein nach war er ein Renegat.

Er war zu Allem, ja sogar noch zu Schlimmerem fähig. Er konnte zu gleicher Zeit lachen und die Stirn runzeln. » In der Politik schätze ich nur diejenigen, welche fremden Einflüssen unzugänglich sind,« sagte er. Er sagte ferner: »Ich bin für die Aufrechthaltung der Sittlichkeit,« und: »Man muß die Pyramide von Grund auf neu bauen.« Er war eher lustig, als alles Andere, aber die Form seines Mundes strafte seine Worte Lügen. In den Augenwinkeln hatte er ein Faltennetz, in welchem sich alle möglichen dunkeln Gedanken bergen konnten. Das Geheimniß seiner Physiognomie war nur hier zu entziffern. Die »Krähenfüßchen« neben seinen Augenwinkeln glichen eher zwei Geierkrallen. Sein Schädel war oben niedrig und an den Schläfen breit, und sein unförmiges, mit Haarbüscheln bedecktes Ohr schien zu sagen: Sprecht nicht mit dem wilden Thier, das diese Höhle verbirgt.

Eines schönen Morgens war Rantaine aus Guernesey verschwunden.

Der Geschäftstheilnehmer Lethierry’s war »verduftet« und hatte dem »Geschäft« nichts als die leere Kasse zurückgelassen.

In jener Kasse befanden sich außer dem muthmaßlichen Gelde Rantaine’s fünfzigtausend Francs, welche Lethierry gehörten.

Lethierry hatte sich als Küstenfahrer und Schiffszimmermann durch vierzigjährige redliche Arbeit ein Vermögen von hunderttausend Francs zusammengespart. Rantaine stahl ihm die Hälfte davon.

Obgleich halb ruinirt, verlor Lethierry doch nicht den Muth, sondern dachte nur daran, wie er durch neue Anstrengungen das verlorene Gut wieder gewinnen könne. Ein Mann von Herz kann wohl sein Vermögen, aber nie den Muth verlieren. Man sprach damals viel von dem neu erfundenen Dampfboot. Lethierry kam auf den Gedanken, mit der so angefeindeten und verrufenen Maschine Fulton’s einen Versuch zu wagen. Durch die Dampfschifffahrt wollte er den normännischen Archipelagus mit Frankreich verbinden. Er setzte den ganzen Rest seines Vermögens an die Ausführung dieses Planes. Sechs Monate nach der Flucht Rantaine’s sah man aus dem Hafen von St. Sampson ein dampfendes Schiff in See gehen. Die verdutzten Inselbewohner glaubten, es brenne. Es war der erste Dampfer, welcher den Canal befuhr. Dieses Schiff, welches der Haß und die Verachtung der Guerneseyer gleich nach seiner Abfahrt mit dem Spitznamen »Lethierry’s Galiotte« beehrten, kündigte an, daß er regelmäßige Fahrten von Guernesey nach St. Malo unternehmen würde.

————

Viertes Capitel. Das Teufelsschiff.

Dies Unternehmen stieß im Anfang, wie man sich denken kann, auf große Schwierigkeiten. Die Besitzer von Segelschiffen, welche, wie der Dampfer Lethierry’s die Reise von der Insel Guernesey nach den französischen Küsten machten, waren sämmtlich außer sich. Sie bezeichneten dies Unternehmen als ein Angriff auf die heilige Schrift, einen Eingriff in ihre Monopol-Rechte und suchten bei der Geistlichkeit Schutz gegen die ihnen angethane, schwere Unbill. Einige Seelenhirten ließen es sich denn auch angelegen sein, dagegen zu donnern und Bannstrahlen zu schleudern. Einer von ihnen, der ehrwürdige Herr Elihu, erklärte das Dampfschiff für eine Freigeisterei und nur die Segelschiffe für orthodox. Man bemerkte ganz deutlich Teufelshörner auf den von Lethierry’s Dampfer eingeführten Ochsen. Die Unternehmung wurde lange Zeit durch solche gehässige Reden und Verfolgungen aller Art erschwert. Nach und nach aber fanden doch einige vernünftige Leute, daß das Hornvieh durch die bedeutend abgekürzte Zeit der Ueberfahrt weniger zu leiden habe und daher frischer und wohlerhaltener an Ort und Stelle eintreffe, weshalb das Fleisch gesunder, kräftiger und wohlschmeckender sei. Auch selbst die Widerspänstigsten und Böswilligsten mußten zuletzt anerkennen, daß die Reise auf einem Dampfschiff weit gefahrloser, sicherer, schneller und wohlfeiler als die auf den Segelbooten, und die Abfahrt- und Heimkehrzeit zuverlässig sei, daß dieser bedeutend schnellere Transport der Frische der Waaren, ganz besonders aber der so beliebten und vortrefflichen Guerneseyer Butter und den Fischen, sehr zu Statten komme. Man mußte sich endlich entschließen, der so geschmähten, so verwünschten und verspotteten Galiotte Lethierry’s folgende Vorzüge nachzurühmen: Größere Sicherheit der Reise, Regelmäßigkeit des Verkehrs, bequemere Art des Transportes, wodurch eine größere Ausdehnung des Handels und eine Vermehrung des Waarenabsatzes erzielt wurde. Es lag also auf der Hand, daß wenn wirklich das Teufelsboot sich den Gesetzen der Bibel gegenüber als Freigeist erweise, dennoch den Inseln des Canals und besonders Guernesey einen wesentlichen Dienst leiste. Einige starke Geister der Insel gingen sogar so weit, dem verrufenen Teufelsboot in allem Ernste das Wort zu reden. Einer dieser starken Geister war der Sieur Landoys. Die Achtung, welche Sieur Landoys, der Gerichtsschreiber, dem Teufelsschiff zollte, war um so anerkennenswerther, weil derselben eine sehr schätzbare Unparteilichkeit zu Grunde lag. Sieur Landoys war nämlich ein persönlicher Gegner Mess Lethierry’s, dem er es nicht vergeben konnte, daß er ein Mess, dagegen er, Landoys, nur ein Sieur war. Obgleich Schreiber im Hafen von St. Pierre, gehörte Letzterer doch zu der Pfarrei von St. Sampson. In jener Pfarrei waren aber nur zwei Männer ohne Vorurtheil, er selber und Mess Lethierry. Aus diesem einfachen Grunde haßten sich Beide. »Was sich gleicht, stößt sich ab,« sagt das Sprüchwort.

Nichtsdestoweniger bewahrte Sieur Landoys so viel Freiheit der Gesinnung, daß er, ungeachtet seines persönlichen Widerwillens gegen den Besitzer desselben, für das Teufelsschiff Partei ergriff. Kaum hatten die Bewohner von Guernesey von dieser erklärten Anhängerschaft Sieur Landoys‘ Notiz genommen, als sich nach und nach und in nicht gar langer Zeit eine förmliche »Partei Teufelsschiff« bildete. Und der sich immer steigernde Erfolg dieser Unternehmung, die immer heller in das Licht tretenden Vorzüge derselben, der dadurch wachsende Wohlstand der Bevölkerung von Guernesey errangen zuletzt, einige wenige Ausnahmen abgerechnet, die allgemeinste Anerkennung. Das Teufelsschiff war für sämmtliche Bewohner der Inseln des Canals ein Gegenstand der Bewunderung geworden.

Heut, nach vierzig Jahren, würde man diese Bewunderung belächeln; denn das Teufelsschiff war im Vergleich zu unseren heutigen eleganten, bequemen Dampfschiffen ein Barbar, ein Urwäldler.

Zwischen unsern heutigen großen transatlantischen Dampfern und dem Feuer- und Räderschiff, mit welchem Denis Papin im Jahre 1707 auf der Fulda einen Versuch machte, ist kaum ein geringerer Unterschied als zwischen dem Dreidecker » Montebello«, der 200 Fuß lang, 50 Fuß breit ist, einen großen Mast von 115 Fuß Höhe und 3000 Tonnen Gehalt hat, 1100 Mann, 10,000 Kugeln und 160 Kartätschladungen trägt, im Gefecht von jedem Bord 3300 Pfund Eisen speit – und dem dänischen Kriegsschiff des zweiten Jahrhunderts, das angefüllt mit Steinen, Bogen und Keulen, in den Sümpfen von Wester-Saruy gefunden wurde und im Rathhaus von Flensburg noch aufbewahrt wird.

Es liegt ein Zeitraum von hundert Jahren – 1707 bis 1807 – zwischen dem Papin’schen und Fulton’schen Schiffe. Lethierry’s Galiotte war ohne Zweifel gegen diese beiden »Versuche« ein Fortschritt zu nennen ohne mehr als ein, den übrigen sich anreihender Versuch zu sein. Doch fiel er meisterhaft aus. Jeder Embryo der Wissenschaft zeigt sich unter diesem zwiefachen Gesichtspunkt: als Fötus ein Ungeheuer, als Keim ein Wunder.

————

Fünftes Capitel. Mess Lethierry macht Carriere.

Das Teufelsschiff machte vortreffliche Geschäfte. Mess Lethierry sah schon im Geist den Augenblick herankommen, wo sich sein Titel Mess in Monsieur verwandeln würde. In Guernesey wird man nicht so schnell Monsieur; dort geht alles langsam, stufenweise, der Mensch hat eine ganze Leiter zu erklettern, ehe er Monsieur wird. Die erste Stufe dieser Leiter ist der Vorname, man sagt schlechtweg: Peter, oder Hans u. s. w. Die zweite Stufe macht den Peter zum »Nachbar Peter;« die dritte nennt ihn »Vater Peter;« die vierte »Sieur Peter,« die fünfte »Mess Peter,« die sechste und letzte Stufe giebt ihm den Titel »Monsieur Peter.«

Diese Leiter, welche sich aus dem Fußboden erhebt, reicht bis in die Wolken. Die ganze Hierarchie Englands klettert auf ihr empor. Ihre Sprossen sind folgende: die erste über dem Monsieur ( gentleman) stehende ist: Esquire (Schild-Knappe); die zweite: Sir (Rentier); die dritte: Baronet; die vierte: Lord, Laird in Schottland; die fünfte: Baron; die sechste: Vicomte; die siebente: Graf, ( Earl in England, Jarl in Norwegen); dann folgen der Marquis, der Herzog, der Pair von England, dann der Prinz von Geblüt und endlich der König. Die Staffeln dieser Leiter führen von der untersten Volksschicht bis zum Bürgerstand, vom Bürgerstand bis zur Freiherrnschaft, von der Freiherrnschaft bis zur Pairschaft, von dieser zum Königthum.

Mess Lethierry hatte es ganz allein dem Teufelsboot zu verdanken, daß er »Etwas« geworden war. Aber der Bau seines Schiffes erforderte große Summen; er hatte sowohl in Bremen als in St. Malo Geld aufnehmen müssen. Nach Ablauf jedes Jahres trug er an beiden Orten einen Theil seiner Schulden ab.

Er hatte außerdem, gleichfalls auf Kredit, am Eingang des Hafens von St. Sampson ein schönes steinernes, noch ganz neues Haus gekauft, das zwischen Meer und Garten liegend, eine Ecke bildete. Er hatte diese Ecke mit einer Inschrift versehen: Die Muthigen ( Les Bravées). Dieses Haus, dessen Nordseite einen Theil der Hafenmauer bildete, hatte eine Doppelreihe von Fenstern. Es besaß so zu sagen zwei Fassaden, eine nördliche und eine südliche, eine Meer- und eine Garten-Façade, denn seine Landseite war von einem prachtvollen Blumengarten umgeben. Demnach hatte es eine Sturm- und eine Rosenseite.

Diese verschiedenen Façaden waren für seine beiden Bewohner wie geschaffen, die Meerseite war Mess Lethierry’s Reich, die Rosenseite bewohnte Miß Deruchette.

Das Haus der Muthigen erfreute sich bald eines großen Rufes, denn Mess Lethierry war im Laufe der Zeit ein Mann des Volks geworden. Diese Beliebtheit verdankte er theilweise seiner persönlichen Güte, seiner Aufopferungsfähigkeit und seinem Muth – denn er hatte gar Vielen das Leben gerettet – zum Theil aber auch dem Erfolg seiner Unternehmung und den Vortheilen, welche er dem Orte zuwandte, indem er Abfahrt und Ankunft des Dampfers nach St. Sampson verlegte. Dieser Vorzug wurde dem Hafen von St. Sampson sehr beneidet, weil er mit großem Nutzen verbunden war; es wurden mehrere Versuche gemacht, dem Ort das ihm von Lethierry eingeräumte Vorrecht zu entziehen, besonders wollte St. Pierre, als Hauptort, dasselbe für sich in Anspruch nehmen, allein Mess Lethierry wies alle Anträge zurück. Er hatte einmal für St. Sampson eine Vorliebe: es war sein Geburtsort. »Diese Stadt hat mich in’s Meer geworfen,« sagte er.

Daher schrieb sich seine große Popularität am Orte. Sein Stand als steuernzahlender Eigenthümer machte ihn zum angesehenen Mann. Der arme Matrose Lethierry hatte schon fünf Stufen der Guerneseyer socialen Leiter erklommen und sich allmälig zum Mess emporgearbeitet; nun setzte er den Fuß auf die letzte Stufe: er war nahe daran, Monsieur zu werden. Das Ende dieser Leiter aber war der Anfang einer andren, welche Lethierry’s Blick eine unbegrenzte Aussicht eröffnete. Was konnte nicht noch alles aus ihm werden, wenn er Monsieur war? Vom Monsieur bis zum Esquire war nur ein Schritt. Wer weiß, ob nicht eines Tages sein Name im Guerneseyer Almanach in der Rubrik: » Gentry and Nobility « glänzen, und man neben seinem Namen die drei stolzen Buchstaben: » Esq.« lesen würde? Lethierry, Esq., das klingt!

Lethierry aber hatte keinen Ehrgeiz, oder höchstens nur den, sich nützlich zu machen; darin suchte er sein Glück, seine Freude. Den Menschen nützlich und nothwendig zu sein, schmeichelte ihm mehr als alle Beliebtheit. Es gab, wie wir schon gesagt, nur zwei Gegenstände seiner Neigung, also auch seines Ehrgeizes: Durande und Deruchette.

Wie dem auch sei, er hatte in die See-Lotterie gesetzt und eine Quinterne gewonnen. Die Quinterne hieß: das Fahrzeug Durande.

————

Sechstes Capitel. Die heilige Durande.

Lethierry, welcher der Vater seines Schiffes war, ließ es auch taufen. Er nannte es Durande. Wir werden es also von jetzt an nicht mehr Teufels-Schiff, sondern Durande nennen; und bitten, allem Buchdruckerbrauch zum Trotz, diesen Namen nicht mehr gesperrt zu drucken, denn wir müssen darin der Auffassung Lethierry’s Rechnung tragen, für welchen die Durande kein Ding, sondern fast eine Person war.

Durande und Deruchette ist ein und derselbe Name. Deruchette ist das Diminutiv von Durande. Dieses Diminutiv ist in dem Westen von Frankreich sehr gebräuchlich.

Man giebt den Namen der Heiligen dort alle ihre Diminutive und Augmentative. Wenn man die ganze Litanei dieser Diminutive und Augmentative hört, ist man versucht zu glauben, daß dieselbe eine Reihenfolge von verschiedenen Namen sei. Diese Identität der Schutzpatrone und Schutzpatroninnen bei der Verschiedenheit der Namen ist dort nichts Seltenes. Die heilige Elisabeth heißt zum Beispiel: Lise, Lisette, Lisa, Elisa, Isabelle, Lisbeth, Bethsy. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Mahout, Malcon, Malo und Magloire verschiedene Namen eines und desselben Heiligen sind. Die Sache kommt übrigens hier gar nicht in Betracht.

Die heilige Durande wurde in Angoumois und in der Charente verehrt. Ob sie eine richtige Heilige ist, ist eine andere Frage. Die Bollandisten mögen darüber entscheiden. Gewiß ist, daß sie in oben genannten Oertlichkeiten als Heilige verehrt wurde und ihre besonderen Kapellen hatte.

Als Lethierry noch ein junger Matrose in Rochefort war, machte er die Bekanntschaft dieser Heiligen wahrscheinlich in der Gestalt irgend einer liebenswürdigen Tochter der Charente, vielleicht jener Grisette mit den hübschen wohlgepflegten Nägeln. Zur Erinnerung an diese Jugendschwärmerei gab er den Beiden, die ihm das Liebste waren, diesen Namen: dem Fahrzeug Durande, dem Mädchen Deruchette.

Er war der Vater der Einen und der Oheim der Anderen.

Deruchette war nicht allein seine Nichte, sondern auch sein Pathchen: er hatte sie über die Taufe gehalten. Sie war eine Waise, die Tochter seines verstorbenen Bruders; er hatte sie an Kindesstatt angenommen und vertrat Vater- und Mutterstelle bei ihr. Er hatte ihr die heilige Durande zur Patronin gegeben und nannte sie, zum Unterschied von Durande, Deruchette.

Deruchette erblickte, wie schon mitgetheilt wurde, in St. Pierre-Port das Licht der Welt. So lange der Oheim in Dürftigkeit lebte und die Nichte noch in der Kindheit stand, kümmerte sich Niemand um diesen Namen; als der Matrose ein Gentleman und das Mädchen eine Miß geworden war, erregte der Name Deruchette Anstoß. Warum gerade Deruchette? Es ist ein Name wie jeder andere, meinte der Gentleman Lethierry. Es wurden mehrere Versuche gemacht, die Nichte umzutaufen. Eine schöne Dame aus der guten Gesellschaft von St. Sampson, die Frau eines ehemaligen Schmiedes und jetzigen Rentiers, bestand darauf, Deruchette Nancy zu nennen. Mess Lethierry fragte: warum nicht lieber » Lons, der Salzsieder?« Die schöne Frau gab ihr Spiel nicht so leicht verloren. Schon am nächsten Tage schlug sie Mess Lethierry einen andern Namen vor. »Nein, Mess Lethierry, Deruchette ist doch ein zu verwünschter Name,« sagte sie, »wir wollen Eure Nichte lieber Marianne nennen. Verteufelter Name, das! erwiederte der Onkel; er ist aus den Namen zweier häßlicher Thiere: Mari (Ehemann) und âne (Esel) zusammengesetzt. Sie behielt ihren Namen Deruchette.

Man darf aus diesem Ausspruch jedoch nicht auf Lethierry’s Antipathie gegen die Ehe schließen. Nein, er war durchaus dafür, daß Deruchette sich verheirathen solle. Nur ging er in der Wahl eines Eidams äußerst vorsichtig zu Werke. Lethierry wollte seine Nichte mit einem Manne nach seinem Zuschnitt verbinden; es mußte ein Mann sein, der die Arbeit nicht scheute und Deruchette’s hübsche weiße Händchen schonte. Beim Manne liebte er die rauhe, gebräunte Hand, das Frauenhändchen aber konnte nach seiner Meinung nicht zart, nicht weiß genug sein. Um Deruchette’s zierliche Hände zu schonen, hatte er sie zu einer Dame erzogen. Sie hatte eine feine Ausbildung genossen. Er hielt ihr einen Musiklehrer, schenkte ihr ein Fortepiano, eine kleine Bibliothek und ein kleines Arbeitskörbchen. Sie las jedoch mehr als sie nähte, und musicirte mehr als sie las. Mess Lethierry war ganz damit einverstanden, er wollte sie so. Er verlangte von ihr nichts, als daß sie reizend sein sollte. Sie war eher zu einer Blume als zu einer Hausfrau erzogen. Wer das Wesen und den Character des Seemannes studirt hat, wird das begreifen. Das Rauhe liebt das Zarte. Um das Ideal ihres Oheims zu erfüllen, mußte Deruchette reich sein. Dieses Ziel verfolgte Mess Lethierry, und das Mittel zur Erreichung desselben war ihm sein Dampfboot. Er hatte Durande mit der Sorge betraut, den Brautschatz Deruchette’s zu beschaffen.

————

Siebentes Capitel. Das Lied Bonny Dundee.

Deruchette bewohnte das schönste Zimmer seines schönen Hauses am Hafen. Es hatte zwei Fenster und war mit den zierlichsten Möbeln von geflammtem Mahagoniholz ausgestattet. Ihr allerliebstes kleines Bett (das Nestchen der Grasmücke) war in das Dunkel grün und weiß karirter Vorhänge gehüllt; es hatte die Aussicht nach dem Garten und dem Hügel, welchen das Schloß du Vallekrönte. Jenseits dieses Hügels lag das Gespensterhaus.

Deruchette hatte in diesem Zimmer ihr Fortepiano und ihre Noten. Sie begleitete sich selbst ihr Lieblingslied »Bonny Dundee,« ein schottisches Volkslied mit einer melancholischen Weise. Aller Zauber der Abenddämmerung lag in diesem Liede, alle Frische des Morgenroths in ihrer Stimme; das gab einen seltsam reizenden Contrast. Man sagte: Miß Deruchette ist am Clavier – und die Vorübergehenden standen still, der frischen Stimme und der wehmüthigen Weise zu lauschen.

Deruchette hatte die Gabe, den Frühling fest zu halten; wo sie war, da war Freude, Sonnenlicht und Blumenduft, da war der Lenz in seiner ganzen Pracht. Sie war schön, doch eigentlich mehr hübsch als schön, mehr niedlich als hübsch zu nennen. »Sie ist so schön und so fein wie eine Prinzessin aus dem Feenreich,« sagten die alten Freunde Lethierry’s. Sie hatte prachtvolles Haar: »Einen Zopf wie ein Ankerthau,« sagte Lethierry.

Seit ihrer frühesten Kindheit war Deruchette bezaubernd gewesen. Man fürchtete etwas für ihre Nase; aber die Kleine hatte es sich in den Kopf gesetzt, hübsch zu werden; die Nase schien sich das gemerkt zu haben, denn sie mäßigte ihren Ehrgeiz, welcher in dem Streben nach Größe bestand, und wurde, wie alle übrigen Formen ihres reizenden Gesichtchens, allerliebst.

Deruchette nannte ihren Oheim niemals anders als »Vater.«

Er erlaubte ihr, sich mit der Blumenzucht zu beschäftigen, ja er gestattete sogar, daß sie sich ein wenig in der Wirtschaft umsah; sie begoß ihre Zitterrosen, ihre purpurfarbenen Königskerzen, ihre Flammenblumen und ihr Benedictenkraut mit eigener Hand und zog rosenfarbiges Habichtskraut und Sauerklee von derselben Farbe. Das Klima, welches in dortiger Gegend der Blumenzucht besonders günstig ist, kam ihr vortrefflich zu Statten; ihre Blumen gediehen wunderbar. Sogar der Versuch, die Aloe in Beete zu verpflanzen, gelang ihr, und was noch schwieriger ist: das silberblättrige Fünffingerkraut wuchs zum Erstaunen. Sie hatte eine glückliche Hand. Auch ihren kleinen Gemüsegarten hielt sie vortrefflich im Stande. Nach den Radieschen kam der Spinat, nach dem Spinat kamen die Erbsen. Sie verstand sich auf die Zucht des holländischen Blumenkohls, und pflanzte das Brüßler Kraut im Juli um; im August gab es Rüben, im September krausen Endiviensalat, schöne runde Pastinakwurzeln im Herbst, und im Winter Rabunzen. Mess Lethierry ließ die kleine Gärtnerin gewähren, so lange sie nicht einen allzu eifrigen Gebrauch von dem Spaten und dem Rechen machte. Für die gröbere Gartenarbeit hatte er ihr zwei Mägde, Grace und Douce beigegeben – zwei Namen, welche in Guernesey eingebürgert sind. Grace und Douce besorgten Haus und Garten; ihnen bewilligte Mess Lethierry das Recht, rothe Hände zu haben.

Mess Lethierry’s Zimmer, ein kleines Kabinet, war dem Besitzer der Durande wegen des freien Blickes, den es über den ganzen Hafen gestattete, besonders werth; es stand mit einem Saal im Erdgeschosse in Verbindung, dessen Thür in der Hausflur neben der Eingangsthür lag, von welcher aus die verschiedenen Treppen in die oberen Räume des Hauses führten. Das Kabinet Mess Lethierry’s war mit seiner Hängematte, seinem Chronometer und seiner Pfeife möblirt; es befanden sich außerdem noch ein Tisch und ein Stuhl darin. Die Balken der Decke waren mit Kalk beworfen, die Wände der Stube ebenfalls; rechts neben der Thür hing die Karte des normännischen Archipelagus. Unten am Rande derselben standen die Worte: W. Faden, 5, Charing Cross. Geographer to His Majesty ; an der linken Seite der Thür hing eines jener großen baumwollenen Taschentücher, worauf die Signale aller Marinen der ganzen Erde sich in bunten Farben befinden. In den vier Ecken prangten die Flaggen von Frankreich, Deutschland, Spanien und die der vereinigten Staaten Amerika’s; in der Mitte die Flagge von England.

Douce und Grace machten ihren Namen keine Unehre. Douce war nicht übel und Grace nicht häßlich. Ihr Charakter und ihr Aeußeres umschifften, um mich bildlich auszudrücken, mit ziemlichem Geschick die gefährlichen Klippen ihrer Namen. Douce, welche nicht verheirathet war, hatte einen »Galant.« Auf den Inseln des Canals ist dieses Wort ebenso gebräuchlich, wie die Sache selbst, die es bezeichnet. Die Dienstleistungen dieser beiden weiblichen Wesen zeichneten sich durch jene creolenartige Langsamkeit aus, welche den Dienstboten des normannischen Archipels eigen ist. Grace war kokett und hübsch; sie schaute unaufhörlich nach dem Horizont, und zwar mit der Unruhe einer Katze. Dies kam daher, weil auch sie, wie Douce, einen Galant, und wie man sagte, außer diesem noch einen Ehemann hatte, welcher Matrose war, und dessen Rückkehr von der Reise sie ein Wenig fürchtete. Indeß das geht uns nichts an. Der Unterschied zwischen Grace und Douce bestand darin, daß in einem weniger strengen und sittenreinen Hause Douce eine Magd geblieben, Grace aber zur Kammerjungfer avancirt wäre. Die Talente, welche gewöhnlich eine solche zieren, und deren Vorhandensein wir bei Grace vermuthen, fanden bei einem so unschuldigen jungen Mädchen wie Deruchette nicht den geeigneten Boden. Im Uebrigen wußten weder Mess Lethierry noch seine Nichte etwas von den Liebschaften ihrer beiden Mägde.

Der an Mess Lethierry’s Kabinet stoßende niedrige Saal im Erdgeschoß, eine Art Halle, mit Kamin, Bänken und Tischen versehen, hatte im vorigen Jahrhundert einem Conventikel von protestantischen französischen Flüchtlingen als geheimer Versammlungsort gedient. Die steinerne Wand war mit einem einzigen Bild, nämlich mit einem Pergament in schwarzem Rahmen geziert, worauf alle Heldenthaten von Bénigens Boussuet, Bischof von Meaux, verzeichnet waren. Einige arme Pfarrkinder dieses Adlers, welche sich von den durch den Widerruf des Edictes von Nantes hervorgerufenen Verfolgungen durch die Flucht nach Guernesey zu schützen suchten, hatten dieses Pergament als Zeugniß ihrer Verehrung an dieser Wand aufgehängt. Wem es gelang, die schwerfällige Handschrift auf dem vergilbten Pergamente zu entziffern, konnte folgende, nur sehr wenig bekannte Notizen lesen: »Am 29. October des Jahres 1685, Demolirung der Kirchen in Morcef und Nanteuil, Resultat eines an den König gerichteten Gesuches des Bischofs von Meaux.« – »Am 2. April des Jahres 1686, Gefangennahme der Herren Cochard, Vater und Sohn, wegen Ausübung ihrer Religionsgebräuche, auf Bitten des Herrn Bischofs von Meaux; wurden nach Abschwörung ihres Glaubens frei gegeben.« – »Am 28. October des Jahres 1699 sandte der Bischof von Meaux dem Herrn von Pontchartrain eine Denkschrift, welche die Notwendigkeit darlegte, die Fräulein von Chalandes und von Neuville, welche protestantisch sind, dem Hause der Neuen-Katholikinnen in Paris zu überweisen.« – »Am 7. Juli des Jahres 1703 wurden auf den, durch den Bischof von Meaux nachgesuchten Befehl des Königs, der Bürger Baudouin und dessen Frau, schlechte Katholiken aus Fublaines, im Hospital eingesperrt.«

Am Ende des Saales, in der Nähe der Thür von Lethierry’s Kabinet, war ein kleiner, mit einem Gitter versehener Bretterverschlag, welcher den Hugenotten bei ihren Zusammenkünften als Kanzel gedient hatte. Jetzt wurde er, mit einem Gitter nebst einer kleinen Thür versehen, als Bureau des Dampfbootes Durande benutzt, dem Mess Lethierry in eigener Person vorstand. Ein großes Contobuch, welches aufgeschlagen auf einem Pult von Eichenholz ruhte, vertrat die Stelle der Bibel.

————

Achtes Capitel. Der Mann, welcher Rantaine durchschaut hatte.

So lange er mit der Schifffahrt vertraut war, hatte Lethierry die Durande geführt, ohne je unter einem andern Capitain zu stehen noch irgend eines Lootsen zu bedürfen; allein wie gesagt, es kam eine Stunde, wo er einen Stellvertreter suchen mußte. Seine Wahl fiel auf Sieur Clubin aus Torteval, einen schweigsamen Mann, der in der ganzen Küstengegend im Ruf der strengsten Rechtlichkeit stand. Dieser Mann wurde Lethierry’s alter ego und Stellvertreter.

Sieur Clubin war, obgleich er äußerlich eher einem Advocaten als einem Matrosen glich, doch ein Seemann von seltenen Fähigkeiten. Er besaß alle Talente, welche sein Beruf mit seinen stets wechselnden Gefahren erheischt. Er war ein ebenso geschickter Schiffslader, Mastwächter und Hochbootsmann, als ein kraftvoller Ruderer, erfahrener Lootse und beherzter Capitain. Es fehlte ihm auch keinesweges an Klugheit, die er bisweilen bis zur Waghalsigkeit trieb, was auf der See nicht hoch genug zu veranschlagen ist. Er sah wahrscheinlichen Gefahren mit Vorsorge entgegen, ohne die Möglichkeit des Entrinnens aus dem Auge zu verlieren. Man konnte ihn zu den Seemännern zählen, welche einer bekannten, bedrohlichen Lage trotzen und nie des ruhmvollen Erfolges halber Abenteuer suchen. Er besaß so viel Sicherheit, als das Meer nur irgend einem Menschen lassen kann. Sieur Clubin war überdies ein berühmter Schwimmer. Er gehörte zu den Menschen, die wohlvertraut mit der Wellengymnastik, im Wasser bleiben, so lange man es verlangt, und beim Havre-des-Pas zu Jersey beginnend, La Colette umschwimmen, die Fahrt bis zur Eremitage und dem Elisabeth-Schloß ausdehnen und nach zwei Stunden wieder bei dem Ausgangspunkt anlangen. Seine Heimath war Torteval, und das Gerücht sagte, er habe öfter die gefürchtete Strecke zwischen Hanois und dem Vorgebirge von Painmont durchschwommen.

Was Mess Lethierry am meisten für Clubin einnahm, war die Thatsache, daß dieser Rantaine durchschaut und Lethierry von der Unredlichkeit dieses Menschen in Kenntniß gesetzt hatte. »Rantaine wird Sie bestehlen,« – hatte er ihm gesagt.

Diese Prophezeiung hatte sich bestätigt. Mess Lethierry hatte, freilich in Sachen von geringer Wichtigkeit, mehr als einmal Clubin’s bis zur Peinlichkeit getriebene Rechtlichkeit auf die Probe gestellt und überließ ihm die Führung seiner Angelegenheiten ohne jeden Rückhalt. »Vollkommene Gewissenhaftigkeit verdient volles Vertrauen« – sagte er.

————

Neuntes Capitel. Ein Bericht über weite Reisen.

Da Mess Lethierry sich in einem anderen Anzug unbehaglich fühlte, trug er beständig Schifferkleider und zog sogar die Matrosenjacke seiner Lootsentracht vor. Deruchette rümpfte darüber ihr kleines Näschen. Nichts ist so allerliebst, als anmuthige Züge, von Zorn belebt. – »Pfui, lieber Vater, Du riechst nach Theer!« rief sie und gab ihm einen leichten Schlag auf seine plumpe Schulter.

Der brave alte Seeheld lieferte die überraschendsten Erzählungen von seinen Reisen. Er hatte auf Madagaskar Vogelfedern gesehen, die so groß waren, daß man mit dreien derselben das Dach eines ganzen Hauses decken konnte, und in Indien fand er Sauerampferblätter von neun Fuß Länge. In Neuholland sah er einmal Heerden von Truthähnen und Gänsen, denen ein Vogel, Namens Agami, anstatt des sonst üblichen Hirtenhundes diente. Er war auf Elephantenkirchhöfen gewesen. In Afrika hatte er die Gorilla’s, eine Art Tigermenschen von sieben Fuß Größe, gesehen. Er kannte die Sitten und Gebräuche sämmtlicher Affen vom wilden Macaco, welchen er den Bravo nannte, bis auf den Brüllaffen, dem er den Beinamen des bärtigen Macaco gab. In Chili hatte er beobachtet, wie ein Affenweibchen die Jäger durch Entgegenhalten ihres Jungen rührte. In Californien fand er einen umgestürzten Baum, in dessen hohlem Stamm ein Reiter sammt dem Pferde hundertfünfzig Schritte weit vordringen konnte. In Marokko sah er, wie die Baskiren und Mozabiten einander mit Eisenstangen bekämpften; letztere, weil sie sich nicht als »Kelb,« das heißt Hunde, behandelt wissen wollten, und die Baskiren, weil sie empört waren, den Khamsis, d. h. der fünften Kaste gleichgestellt zu werden. Auf einer Reise in China war er Augenzeuge, wie der Seeräuber Chan-thong-quan-larh-Quoi in kleine Stücke geschnitten wurde, weil er den »Ap« einer Dorfschaft umgebracht hatte, und in Thu-dan-mot erlebte er, daß ein Löwe eine alte Frau entführte und im vollen Trabe mit derselben aus der Stadt rannte. Bei seiner Anwesenheit in Saïgun wohnte er dem Einzug der »großen Schlange« bei, die aus Canton anlangte, um im Tempel Cho-len’s das Fest Quannam’s, der Schutzgöttin der Schiffer zu feiern. In Rio Janeiro hatte er gesehen, wie die brasilianischen Damen Abends kleine blasenartige Kugeln aus Gaze in’s Haar steckten. Diese enthielten jede eine Phosphorfliege und glichen einem Haarschmuck von Sternen. In Uruguay bekämpfte er Ameisenlöwen und in Paraguay Vogelspinnen, die zottiges Fell und die Größe eines Kinderkopfes hatten. Sie bedecken mit ihren Tatzen einen Raum, der eine Drittel-Elle im Durchmesser beträgt, und ihre Haare dringen dem Menschen, der sie angreift, wie Pfeile in die Haut und erzeugen darin Geschwüre. Am Flusse Arinos, einem Arm des Tocantins, in den nördlichen Urwäldern von Diamantina, hatte er mit eigenen Augen das furchtbare Fledermausvolk, die Mureilagos gesehen, Menschen, die mit weißen Haaren und rothen Augen zur Welt kommen, in düstern Wäldern hausen, am Tage schlafen und im Stockfinstern jagen und fischen, weil sie bei Mondschein fast nichts erkennen können. Als er einst eine Expedition in der Gegend von Beiruth mitmachte, wurde aus einem Zelt des Feldlagers ein Regenmesser gestohlen, worauf ein Hexenmeister, dessen Anzug aus zwei oder drei bandartigen Lederstreifen bestand – worin er einem Manne glich, der nur In Hosenträger gekleidet ist – ein so rasendes Geklapper mit Schellen hervorbrachte, die an der Spitze eines Horns befestigt waren, daß eine Hyäne den Regenmesser wieder an Ort und Stelle brachte. Sie war die Diebin gewesen. Diese glaubwürdigen Geschichten klangen so sehr wie Märchen, daß sie Deruchette ein ausnehmendes Vergnügen machten.

Die Figur am Bugspriet der Durande war das Band zwischen dem Fahrzeug und dem Mädchen. Man nennt auf den normannischen Inseln diese als Zierrath des Schiffsvordertheils außerhalb desselben angebrachte grobgeschnitzte hölzerne Figur »Puppe.« Daher schreibt sich die in jener Gegend gebräuchliche Redensart: » être entre poupe et poupée« 3

Die Puppe der Durande war Mess Lethierry besonders theuer. Er hatte dem Zimmermann befohlen, sie Deruchette möglichst ähnlich zu formen. Sie schien mit der Axt ausgehauen zu sein; es war ein Klotz, der sich bemühte, einem hübschen Mädchen zu gleichen.

Mess Lethierry hatte hinsichtlich dieses ziemlich unförmlichen Blocks seine Illusionen. Er betrachtete ihn mit der Andacht eines Gläubigen, und sah in dieser Figur wirklich Deruchette. Sie glich ihr wie das Dogma der Wahrheit, wie das Götzenbild der Gottheit.

Lethierry hatte zweimal wöchentlich – am Dienstag und Freitag – eine große Freude: am ersten Tag sah er die Durande abfahren und am zweiten sah er sie heimkehren. Er stützte dann den Arm auf sein Fenstersims, betrachtete sein Werk und war glücklich. Er empfand etwas von der göttlichen Genugthuung des Schöpfers. Die Bibel sagt: »Und er sahe, daß es gut war.«

Am Freitag war sein Erscheinen am Fenster so gut wie ein Signal. Wenn er seine Pfeife anzündete, sagte man: »Ah, das Dampfschiff zeigt sich am Horizont!« Ein Rauch verkündigte den andern.

Wenn die Durande in den Hafen gelaufen war, befestigte man ihr Ankertau an einem eisernen Ring, der in das Fundament des Hauses eingemauert war. Während der Nächte bis zum nächsten Dienstag schlief Lethierry wunderbar fest in seiner Hängematte: er wußte, daß neben ihm im Hause Deruchette im Schlummer ruhte, während auf der andern Seite Durande angekettet lag. Ihr Ankerplatz befand sich in der Nähe der Hafenglocke. Vor der Thür des Hauses war nämlich ein kleiner Ausladeplatz.

Dieser Hafendamm, das Haus, der Garten, die von Hecken eingefaßten Gäßchen und selbst die meisten der benachbarten Gebäude sind jetzt nicht mehr vorhanden. Das ganze Terrain wurde angekauft, um den Granit von Guernesey auszubeuten. Gegenwärtig sieht man dort nichts als die Arbeitshöfe der Steinhauer.

————

Zehntes Capitel. Ein Blick auf die in Aussicht stehenden Freier.

Deruchette wuchs heran, allein sie verheirathete sich nicht.

Mess Lethierry hatte sie zur feinen Dame erzogen; die feine Dame machte Ansprüche an den künftigen Gatten. Eine solche Erziehung kann ihre bedenklichen Folgen haben. Allein nahm die Nichte es in diesem Punkte schon genau, so war der Oheim noch viel wählerischer. Er wollte nicht allein für seine Nichte, sondern auch für seine Tochter einen Gatten haben. Nicht allein Deruchette, auch Durande sollte sich vermählen; er wollte für seine beiden Lieblinge einen und denselben Mann; der Führer der Einen sollte zugleich der Leiter der Anderen sein. Ein tüchtiger Schiffscapitain war für ihn das Ideal eines Ehemannes. Wer im Stande ist, ein Schiff zu lenken – so meinte Mess Lethierry – wird ohne allen Zweifel auch eine Frau gut zu leiten wissen. Sieur Clubin, welcher nur fünfzehn Jahre jünger war als Mess Lethierry, konnte nur der vorläufige Führer der Durande sein. Der Erbe seiner Schöpfung mußte ein junger kräftiger Lootse, ein eben so kluger als tüchtiger und derber Seemann sein. Der Gatte seiner lieblichen Deruchette sollte also auch der Herr und Leiter seiner theuren Durande werden. Warum sollten diese beiden Schwiegersöhne nicht in einen einzigen verschmolzen werden? Dies war seine Lieblings-Idee geworden. Er hatte sich, so gut wie seine Nichte, ein Bild von dem Zukünftigen entworfen. Ein sonnenverbrannter, brauner Mastkorbwächter, ein Seeathlet, das war sein Ideal.

Nicht ganz so dachte Deruchette; sie hatte rosigere Träume.

Wie dem auch sei, es schien, als hätten Oheim und Nichte einander das Wort gegeben, sich in dem Zukünftigen nicht zu übereilen. Als Deruchette eine reiche Erbin geworden war, hatte sie Anträge in großer Menge. Freilich sind dergleichen Vorschläge nicht immer die annehmbarsten. Das wußte auch Mess Lethierry sehr wohl; er ließ deshalb einen Freier nach dem andern ziehen, indem er zwischen den Zähnen murmelte: »Goldene Braut, kupferne Freier.« Mess Lethierry wartete. Deruchette desgleichen.

Mess Lethierry war – für einen Engländer eine kaum glaubliche Eigenschaft – kein großer Verehrer der Aristokratie; er wies den Antrag eines Gonduel von Jersey und eines Buguet-Nicolin von Serk zurück. Man ging sogar so weit, auf das Allerbestimmteste zu erklären – doch können wir nicht unterlassen, an der Glaubwürdigkeit dieser Versicherung zu zweifeln – daß Mess Lethierry den Antrag eines Aristokraten von Aurigny, ja sogar den eines Gliedes der Familie Edu, welche ohne alle Frage von »Eduard der Bekenner« abstammt, abgelehnt habe.

————

Eilftes Capitel. Mess Lethierry’s Antipathie.

Mess Lethierry hatte einen großen Fehler. Er haßte, nicht eine Person, sondern eine Sache: den Priester. Als er eines Tages las – denn Mess Lethierry las zuweilen – es war in einem Buch von Voltaire – und ihm die Worte aufstießen: »Die Priester sind Katzen,« da legte er das Buch bei Seite und man hörte ihn zwischen den Zähnen murmeln: »Katzen? – hm – dann bin ich ein Hund.«

Man muß an die vielfachen Verfolgungen denken, die Mess Lethierry von den Priestern der verschiedenen Confessionen, den Lutheranern, Calvinisten und Katholiken in Folge der Schöpfung seines Teufelsschiffes zu erdulden hatte. Der revolutionäre Fortschritts-Versuch in der Schifffahrt des normännischen Archipelagus, der kleinen Insel Guernesey die Wohlthat und die Ehre einer neuen bewunderungswürdigen Erfindung angedeihen zu lassen, war, wir verhehlen es nicht, eine verdammungswürdige Frechheit. Es ist hier, wir bitten es zu bemerken, nicht von der jetzigen Geistlichkeit die Rede, welche fast in allen Kirchen dem liberalen Fortschritt huldigt. Jede Gelegenheit, durch donnernde Kanzelreden der großartigen Unternehmung Mess Lethierry’s Hindernisse in den Weg zu legen, ward von der Geistlichkeit jener Zeit mit Eifer ergriffen. Verabscheut von dem Clerus, verabscheute Mess Lethierry ihn wiederum; der Haß der Geistlichkeit diente dem seinigen als Milderungsgrund.

Gestehen wir es nur, dieser Haß war bei ihm eine Gemüthseigenthümlichkeit, die nicht erst des Priesterhasses zu ihrer Anregung bedurfte. Er war, wie er sagte, jenen Katzen gegenüber der Hund. Er war ihr Gegner aus Ueberzeugung und, was noch viel zwingender ist, aus Instinct. Er fühlte die verborgenen Krallen dieser Katzen, und er zeigte ihnen die Zähne. Oft geschah es, wir müssen es gestehen, zur Unzeit und am unrichtigen Ort. Alles unterschiedslos in einen Topf zu werfen, ist ein Unrecht. Es giebt keinen gesunden Haß in Bausch und Bogen. Er war ein Philosoph, einigermaßen auf Kosten der Vernunft. Es giebt eine Unduldsamkeit der Duldsamen, ebenso wie eine Heftigkeit der Besonnenen. Mess Lethierry’s angeborene Gutmüthigkeit ließ jedoch einen eigentlichen Haß nicht aufkommen. Er war niemals Angreifer; er begnügte sich damit, Angriffe zu pariren. Er hielt sich die Priester vom Leibe. Sie hatten ihm Böses zugefügt; er vergalt nicht Böses mit Bösem, sondern hatte nur einfach kein Wohlwollen für sie. Der ganze Unterschied zwischen dem Haß der Priester und seinem eigenen bestand darin, daß jener voll leidenschaftlicher Erbitterung, der seinige dagegen nichts als Widerwille war.

So klein die Insel Guernesey ist, sie hatte dennoch Platz genug für zwei Confessionen. Die Katholiken wie die Protestanten besaßen ihr besonderes Gotteshaus. In Deutschland, in Heidelberg z. B., macht man weniger Umstände; dort wird eine Kirche in zwei Hälften getheilt; die eine ist für Calvin, die andere für St. Peter bestimmt; Beide sind durch eine Scheidewand von einander getrennt, um die gegenseitigen Faustschläge und Püffe der Bekenner der verschiedenen Confessionen zu verhüten. Die Katholiken haben drei Altäre, die Protestanten desgleichen. Eine einzige Glocke ladet die Bekenner beider Religionen zur Andacht ein. Diese Glocke ruft zu Gott und zu dem Teufel. Jedenfalls eine äußerst praktische Einrichtung, eine kostenersparende Vereinfachung.

Das deutsche Phlegma duldet eine solche Nachbarschaft. In Guernesey jedoch hat jede Religion ihr besonderes Haus. Es giebt dort eine rechtgläubige und eine ketzerische Pfarrei. Zwischen diesen hatte Mess Lethierry die Wahl. Er wählte keine von Beiden.

Dieser Matrose, dieser Philosoph, dieser Emporkömmling des Arbeiterstandes war im Grunde nicht so einfach, als es den Anschein hatte. Er hatte seine Meinungen und bestand mit Hartnäckigkeit auf denselben. In Bezug auf die Priester war er unerschütterlich. Er hätte selbst einen Montlosier ausstechen können.

Mess Lethierry erlaubte sich zuweilen, in sehr unangemessener Weise über die Religion zu spotten; so nannte er z. B. zur Beichte gehen »sein Gewissen kämmen.« Sein Bischen Schreibekunst – es war nur ein ganz kleines Bischen, gewissermaßen eine bei Wind und Wetter gehaltene Nachlese – bestand aus orthographischen Fehlern. Auch seine Aussprache hatte ihre Fehler. Als nach der Schlacht bei Waterloo der Friede zwischen dem Frankreich Ludwigs XVIII. und dem England Lord Wellingtons geschlossen wurde, sagte Mess Lethierry: »Bourmont hat die Vereinigung der beiden feindlichen Lager verhandelt. Einmal schrieb er statt »Papstthum« – » Papstdumm.« Wir glauben nicht, daß er dies absichtlich gethan.

Seine Feindschaft gegen das Papstthum machte ihm übrigens die Anglikaner nicht zu Freunden. Er war ebenso wenig von den protestantischen Predigern als von den katholischen Pfarrern geliebt. Den gewichtigsten Dogmen gegenüber kam sein Unglaube rückhaltslos zum Ausbruch. Ein Zufall führte ihn in eine Predigt des ehrwürdigen Herrn Jaquemin Herode über die Hölle. Dieser ehrenwerthe Geistliche schilderte mit großer Beredsamkeit von der Kanzel herab die Strafen der ewigen Verdammniß, die Pein des höllischen Feuers, den Zorn und die Rache des höchsten Wesens, dessen unerbittliche Strenge, dessen niemals endenden Zorn. Nach Beendigung dieser glänzenden Rede hörte Jemand Mess Lethierry zu einem der Anwesenden mit gedämpfter Stimme sagen: »Seht, Nachbar, ich habe so meine eigenen Ideen über den lieben Gott; ich bilde mir ein, daß er gut ist.« Den Gährungsstoff dieses Atheismus hatte Mess Lethierry aus Frankreich mitgebracht.

Obgleich Guerneseyer von Geburt, nannte man doch Mess Lethierry wegen seines unreinen Geistes »den Franzosen.« Er selber machte übrigens durchaus kein Hehl aus seinen revolutionären Ansichten; nichts hatte dies wohl klarer bewiesen, als der Bau des sogenannten Teufelsschiffes. »Das Jahr 1789 hat mich gesäugt,« sagte er. Die neunundachtziger Milch ist keine gute Milch.

Uebrigens war Mess Lethierry in seinem Thun und Lassen durchaus nicht immer consequent. In kleinen Ländern ist es auch schwierig, es zu sein. In Frankreich erkauft man die Wohlthat eines ruhigen, friedlichen Lebens dadurch, daß man den Schein bewahrt; in England durch ein anständiges Verhalten. Letzteres macht außer einer wohlgeordneten Cravatte und der Heiligung des Sonntags noch eine Menge anderer kleiner Anstandsregeln zur Pflicht. »Sorgen zu müssen, daß Keiner mit dem Finger auf uns deute,« ist ein schreckliches Gesetz. Mit dem Finger auf Jemand zeigen ist das Diminutiv des Bannfluches. Die kleinen Städte wimmeln von Gevatterinnen und Frau Basen, welche Meisterinnen in jener isolirenden Bosheit sind, die der Bannfluch, durch das umgekehrte Opernglas gesehen, das Anathem im verjüngten Maßstabe ist. Die Muthigsten fürchten die Stachelreden dieser Klatsch-Basen. Man mag sich unerschrocken dem Kartätschenfeuer aussetzen, man mag dem Sturme trotzen, aber man flieht vor Madame Pimbeche.

Selbst Mess Lethierry »goß aus Furcht vor Madame Pimbeche zuweilen Wasser in seinen Wein.«

Er vermied die Geistlichen, doch er schloß ihnen nicht geradezu die Thür. Bei feierlichen Gelegenheiten empfing er den katholischen Herrn Kaplan sowohl wie den lutherischen Herrn Rector mit gebührendem Respect in seinem Hause; ja, er begleitete sogar zuweilen seine Nichte in die Kirche; wir wissen aber schon, daß Deruchette diese nur viermal des Jahres, nämlich an den großen Festen, besuchte.

Sei dem aber wie ihm wolle, diese Inconsequenzen peinigten das philosophisch-freigeistige Gewissen Mess Lethierry’s, und je öfter er durch äußere Rücksichten gezwungen war, sich, wie er es nannte, etwas zu vergeben, um so schroffer ward die Scheidewand, die ihn von den Dienern der Kirche trennte; er rächte sich für diese gezwungenen Inconsequenzen durch Spott und Lästerung. Sein von Natur so harmloses Wesen war in diesem einen Punkt voll Bitterkeit. Alle Versuche, ihn zu bessern, blieben erfolglos.

Mess Lethierry war und blieb ein Feind der Pfaffen; er war als Pfaffenfeind geboren.

Seine revolutionäre Geringschätzung erstreckte sich auf die ganze Geistlichkeit. Worin eigentlich der Unterschied der verschiedenen Confessionen lag, wußte er kaum, und der große Fortschritt, nicht an die wirkliche Gegenwart des Herrn im Abendmahl zu glauben, fand deshalb bei Mess Lethierry keine besondere Anerkennung. Seine Blindheit und Unwissenheit in diesen Dingen ging so weit, daß er die Würde eines Abts nicht von der eines Pfarrers zu unterscheiden wußte. Ein »ehrwürdiger Doctor« war in seinen Augen dasselbe, was ein »ehrwürdiger Vater« war. Er sagte: » Wesley ist nicht besser als Loyola.« Wenn er einem Pastor mit seiner Frau am Arme begegnete, wandte er sich ab und sagte: Pfui! ein verheiratheter Priester! Er erzählte, daß er auf seiner letzten Reise nach England die » Frau Bischöfin von London« gesehen habe. Die Empörung, welche dergleichen Ehebündnisse in ihm erzeugten, grenzte an Zorn. – »Ein Weiberrock darf keinen Weiberrock ehelichen,« sagte er. In seinen Augen waren die Priester ein Geschlecht für sich. Seine Rede war: »Weder Frau, noch Mann, ein Priester.« –

» Heirathe wen Du willst, nur keinen Pfaffen!« sagte er zu Deruchette.

————

Zwölftes Capitel. Sorglosigkeit ist unzertrennlich von Anmuth.

Hatte Mess Lethierry ein Mal etwas gesagt, so war es gesagt, und er vergaß es nie. Deruchette ließ auch gar manches kleine Wörtchen fallen, doch sobald sie es ausgesprochen, war es auch vergessen. Darin unterschieden sich Oheim und Nichte.

Deruchette war durch ihre feine Erziehung ein wenig verhätschelt; sie war, so zu sagen, Selbstherrscherin in ihrem kleinen Reiche. Die Bedeutung des Wortes Verantwortlichkeit kannte sie nicht. Eine Erziehung, welche ihr Augenmerk mehr auf die heiteren, gefälligen und angenehmen, als auf die ernsten Seiten des Lebens richtet, ist gefährlich. Vielleicht ist es eine Unklugheit, sein Kind zu schnell glücklich machen zu wollen.

Deruchette glaubte, wenn sie nur zufrieden wäre, sei Alles gut; gab es doch für Mess Lethierry kein größeres Glück, als sein Goldtöchterchen heiter und froh zu sehen. Das Glaubensbekenntniß ihres Oheims war auch das ihrige; sie begnügte sich damit, vier Mal im Jahre, und zwar an den Hauptfeiertagen, das Gotteshaus zu besuchen. Man sah sie zum ersten Mal zu Weihnachten in ihrem Sonntagsstaat zur Kirche gehen. Vom Leben kannte sie noch nichts. Sie besaß alle Eigenschaften, um gelegentlich einmal wahnsinnig zu lieben. Einstweilen lebte sie in sorgloser Heiterkeit.

Wie eine Lerche trillerte Deruchette ihr heiteres Lied, sie kam, ging, plauderte, scherzte, zerpflückte Gänseblümchen und haschte nach großen Schmetterlingen mit sammtenen Flügeln, umflatterte selber wie ein Schmetterling ihre Blumen; kurz, sie lebte lustig in den Tag hinein. Dazu denke man sich noch die Freiheit englischer Sitte. In England ist ein junges Mädchen die freieste Person der Welt; sie ist ihre eigene Herrin, darf mit ihrer Freiheit schalten und walten wie sie will. Später legt die Pflicht beengende Fesseln um ihren Nacken; wenn sie sich vermählt, wird sie Sklavin. Das Kind, die Jungfrau hat alle Freiheit, die verheirathete Frau besitzt keine.

Deruchette stand jeden Morgen auf, ohne sich von den Handlungen des vergangenen Tages Rechenschaft abzulegen; es hätte sie in die allergrößeste Verlegenheit versetzt, wenn Jemand sie gefragt hätte, was sie in der vergangenen Woche gethan habe. Dessenungeachtet hatte Deruchette Stunden, in welchen eine geheimnißvolle Schwermuth sie erfaßte. Der klarste Himmel kann sich plötzlich umwölken. Doch wenn die Wolken vorübergezogen, dann wird der Himmel wieder heiter, blau und strahlend. Deruchette lachte über ihre Schwermuth, die sie nicht verstand. Sie lachte über ihre Heiterkeit, deren Grund sie ebenso wenig kannte.

Deruchette spielte mit Allem. Sie hatte stets irgend eine Schelmerei in Vorrath. Die jungen Burschen peinigte sie mit Spöttereien und Bosheiten. Ich glaube, sie hätte sogar dem Teufel irgend einen Schabernack gespielt. Sie war hübsch, aber ihre Unschuld machte ihre Schönheit gefährlich. Sie war zu einem Lächeln ebenso schneit bereit, wie ein junges Kätzchen zu einem Pfotenschlag. Um so schlimmer für den Gekratzten! Deruchette lächelte; wehe dem, der dieses Lächeln nicht vergessen konnte, denn – Deruchette vergaß, daß sie gelächelt halte; sie lebte nur in der Gegenwart, das Gestern kannte sie nicht mehr. So geht es denen, die zu glücklich sind. Bei Deruchette schwand die Erinnerung an Vergangenes, wie der Schnee schmilzt.

  1. I. Buch Mosis Capitel III. Vers 16.: Du sollst mit Schmerzen gebären.
  2. I. Buch Mosis Cap. I. Vers 4.
  3. poupe – Hintertheil des Schiffes.