Kapitel 8

»In Gottes Namen denn, nimm blau statt rot,« sagte Mahbub, auf die Hindu-Farbe von Kims schäbigem Turban anspielend.

Kim entgegnete mit dem alten Sprichwort: »Ich will meinen Glauben und mein Bett wechseln, aber Du mußt dafür bezahlen.«

Der Händler lachte, daß er fast vom Pferde fiel. In einem Laden an der Stadtgrenze ward der Wechsel vollzogen, und Kim trat als Mohammedaner, äußerlich wenigstens, wieder heraus.

Mahbub nahm ein Zimmer der Eisenbahn-Station gegenüber, ließ ein gekochtes Mahl der feinsten Sorte und mit Mandeln gefülltes Zuckerwerk holen (Balushai nennen wir es), dazu fein gehackten Tabak aus Lucknow.

»Dies ist besser als das Essen mit dem Sikh,« grinste Kim im Niederhocken, »und sicherlich gibt’s in meiner Madrissah nicht so gute Dinge.«

»Ich möchte mehr von dieser Madrissah hören.« Mahbub stopfte sich voll mit Massen von gewürztem, in Fett gebratenem Hammelfleisch mit Kohl und goldbraunen Zwiebeln. »Aber vor allem,« sprach er, seinen Gürtel lösend, »erzähle mir ausführlich und wahrheitsgemäß die Art Deines Entwischens. Denn, o Freund aller Welt, ich glaube nicht, daß es so oft passiert, daß ein Sahib und eines Sahibs Sohn so von dort fortläuft.«

»Wie sollten Sie wohl? Sie kennen das Land nicht. Es war ganz leicht.« Und Kim begann seine Erzählung. Als er an die Verkleidung und die Unterredung mit dem Bazar-Mädchen kam, vermochte Mahbub nicht ernst zu bleiben; er lachte laut und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel.

»Shabash! Shabash! (Schelm!) Gut gemacht, Kleiner! Was wird der Türkisen-Doktor dazu sagen? Nun langsam, laß hören, was weiter passierte, Schritt vor Schritt, übergehe nichts.«

Schritt vor Schritt erzählte Kim, vom Husten unterbrochen, wenn der scharf riechende Tabak ihm in die Kehle drang, seine Abenteuer.

»Ich sagte es,« murmelte Mahbub Ali leise, »ich sagte es, das Pony bricht aus, um Polo spielen zu lernen. Die Frucht ist schon reif – fehlt nur noch, daß er die Distanzen und den Paßgang, seine Meß-Rute und den Kompaß kennt. Höre! Die Peitsche des Obersten habe ich Deiner Haut fern gehalten, und das ist kein geringer Dienst.«

»Wahr.« Kim paffte gleichmütig. »Das ist sehr wahr.«

»Aber es ist nicht gesagt, daß dies Aus- und Einrennen irgendwie vernünftig wäre.«

»Es waren meine Ferien. Viele Wochen war ich ein Sklave. Warum sollte ich nicht fortlaufen, als die Schule geschlossen wurde? Bedenke auch, daß ich dem Oberst Sahib eine große Ausgabe sparte, da ich bei meinen Freunden lebte und bei dem Sikh mein Brod verdiente.«

Mahbubs Lippen zuckten unter dem wohlgepflegten mohammedanischen Schnurrbart.

»Was fragt der Oberst Sahib nach ein paar Rupien!

» – Der Pathan streckte die offene Hand nachlässig aus – »Er gibt das Geld für einen Zweck, keineswegs aus Liebe zu Dir.«

»Das,« sprach Kim langsam, »wußte ich schon sehr lange.«

»Wer sagte es Dir?«

»Der Oberst Sahib selbst. Nicht in so vielen Worten, aber deutlich genug für einen, der nicht ganz und gar ein Strohkopf ist. Ja, er sagte es in dem Zug, als wir nach Lucknow fuhren.«

»Gut. Dann will ich Dir mehr sagen, Allerweltsfreund, obwohl ich dadurch meinen Kopf in Deine Hand gebe.«

»Der war mir schon verfallen,« sprach Kim mit großem Wohlbehagen, »damals in Umballa, wo Du mich auf Dein Pferd nahmst, als der Tambour-Junge mich schlug.«

»Sprich ein wenig deutlicher. Alle Well mag sich belügen, aber wir untereinander nicht. Denn ebenso ist Dein Leben mir verfallen, wenn ich nur meinen Finger aufhebe.«

»Und dies weiß ich ebenfalls,« sagte Kim, eine neue Holzkohle auf den Tabak legend. »Es ist ein festes Band zwischen uns. In der Tat ist Dein Halt fester als meiner, denn wer würde nach einem Knaben fragen, der totgeschlagen oder vielleicht in einen Brunnen am Wegrande geworfen wäre? Was hingegen Dich betrifft, so würden viele hier und in Simla und jenseits der Pässe hinter den Hügeln fragen: »Was ist Mahbub Ali zugestoßen?« wenn er tot zwischen seinen Pferden gefunden würde. Sicher würde auch der Oberst Sahib Nachforschungen anstellen. Aber wiederum« – Kims Gesicht zuckte vor Schelmerei – »zu lange würde er nicht nachforschen, denn man könnte fragen: »Was hat dieser Oberst Sahib mit diesem Pferdehändler zu tun? Aber ich – wenn ich am Leben bliebe –«

»Aber Du würdest sicher sterben –«

»Kann sein; aber ich sage, wenn ich lebte, so wüßte ich und ich allein, daß in der Nacht einer vielleicht als ein gewöhnlicher Dieb in Mahbub Alis Bretter-Abteilung in dem Serai eindrang und ihn da totschlug, bevor oder nachdem selbiger Dieb seine Satteltaschen und sogar die Sohlen seiner Schuhe durchgesucht. Wäre das etwas, um es dem Oberst zu erzählen oder würde er sagen –: (Ich habe nicht vergessen, wie er mich nach seiner Zigarrentasche zurückschickte, die er nicht vergessen hatte) – Was geht mich Mahbub Ali an?«

Eine dicke Wolke Rauch stieg aufwärts. Eine lange Pause trat ein; dann sprach Mahbub voll Bewunderung: »Und mit solchen Gedanken im Kopf legst Du Dich nieder und stehst auf zwischen all den kleinen Sahib-Söhnen in der Madrissah und hörst bescheiden die Unterweisungen Deiner Lehrer an?«

»Es ist Befehl,« sagte Kim ruhig. »Wer bin ich, daß ich einem Befehl zuwider handeln dürfte?«

»Ein vollendeter Sohn des Eblis (zerstörender Engel),« murmelte Mahbub Ali. »Aber was ist’s mit der Geschichte von dem Dieb und der Untersuchung?«

»Das, was ich sah in der Nacht, als ich mit meinem Lama nahe Deinem Platz in dem Kashmir-Serai lag. Die Tür war nicht verschlossen, was, glaube ich, nicht Deine Gewohnheit ist, Mahbub. Er trat ein wie jemand, der wußte, daß Du nicht bald zurückkämest. Mein Auge war an einem Astloch in der Planke. Er suchte nach etwas – nicht nach einer Pferdedecke oder Steigbügel, nicht nach einem Zaum oder nach Messingtöpfen – er suchte etwas Kleines und sorgfältig Verborgenes. Weshalb sonst hatte er einen Stahl zwischen die Sohlen Deiner Schuhe gesteckt?«

»Hah!« Mahbub Ali lächelte sanft. »Und da Du dies gesehen, welche Geschichte hast Du Dir daraus zusammengedacht, Brunnen der Wahrheit?«

»Keine. Ich legte die Hand auf mein Amulett, das ich immer auf der Haut trage, und mich des Stammbaums eines weißen Hengstes erinnernd, den ich aus einem Stück muselmännischen Brotes herausgebissen, ging ich fort nach Umballa mit dem Bewußtsein, daß mir etwas Wichtiges anvertraut war. In der Stunde, hätte es mir beliebt, wäre Dein Kopf verfallen gewesen. Ich brauchte nur dem Manne zu sagen: »Hier habe ich ein Papier, das ich nicht lesen kann, es betrifft ein Pferd.« »Und dann?« Kim blinzelte Mahbub unter halbgeschlossenen Augenlidern an.

»Dann würdest Du Wasser geschluckt haben, zweimal – vielleicht dreimal. Ich denke, nicht mehr als dreimal,« sagte Mahbub einfach.

»Das ist wahr. Ich dachte ein wenig daran, aber am meisten dachte ich daran, daß ich Dich lieb habe, Mahbub. Deshalb ging ich nach Umballa, wie Du weißt, aber (und das weißt Du nicht) ich lag im Gartengras verborgen, um zu sehen, was Oberst Creighton Sahib tun würde, nachdem er des weißen Hengstes Stammbaum durchgelesen.«

»Und was tat er?« Denn Kim hatte die Unterhaltung plötzlich abgebrochen.

»Gibst Du Berichte aus Liebe oder verkaufst Du sie?«

»Ich verkaufe und – ich kaufe.« Mahbub nahm ein Vieranna-Stück aus seinem Gürtel und hielt es empor.

»Acht!« sagte Kim, mechanisch dem Handels-Instinkt des Ostens folgend.

Mahbub lachte und steckte die Münze wieder ein. »Der Handel auf diesem Markt ist zu bequem, Freund aller Well. Erzähle mir aus Liebe. Unser Leben liegt eines in des andern Hand.«

»Gut denn. Ich sah den Jang-i-Lat Sahib (Oberbefehlshaber) zu einem großen Mittagessen ankommen. Ich sah ihn in Creighton Sahibs Arbeitszimmer. Ich sah die Beiden den Stammbaum des weißen Hengstes durchlesen. Ich hörte selbst die Befehle geben zur Eröffnung des großen Krieges.«

»Hah!« Mahbub nickte mit glühenden Augen. »Das Spiel ist gut gespielt. Der Krieg ist nun beendet und das Unheil vor der Blüte abgeschnitten – dank mir – und Dir. Was tatest Du weiter?«

»Aus der Neuigkeit machte ich mir einen Angelhaken, um Nahrung und Ehre von den Dorfleuten zu bekommen, in dem Dorfe, wo der Priester meinen Lama mit Opium betäubte. Aber ich hatte des alten Mannes Geldbeutel an mich genommen, und der Brahmane fand nichts. Am andern Morgen war er wütend. Ho! Hoh! Und wieder benutzte ich die Neuigkeit, als ich dem weißen Regiment mit seinem Stier in die Hände fiel!«

»Das war Torheit,« brummte Mahbub. »Mit Neuigkeiten soll man nicht umher werfen wie mit Dungfladen, sondern sparsam mit ihnen umgehen wie mit – Bheing (Aus Hanf gewonnenes, berauschendes Getränk).«

»Jetzt denke ich auch so. Überdies hat es mir nichts genützt. Aber das ist lange her.« Er bewegte die schmale, braune Hand, als wolle er das alles wegbürsten. »Seitdem und besonders in der Nacht, unter der Punkah, in der Schule habe ich tief nachgedacht.«

»Ist es erlaubt zu fragen, wohin die Gedanken des Himmels-Entsprossenen geführt haben?« sprach Mahbub mit gewähltem Sarkasmus, seinen Scharlach-Bart glättend.

»Es ist erlaubt,« entgegnete Kim im selben Ton.

»In Nucklao sagen sie, ein Sahib muß einem schwarzen Mann nicht sagen, daß er ein Versehen gemacht hat.«

Mahbubs Hand fuhr in sein Gewand, denn einen Pathan einen »schwarzen Mann« (Kala admi) nennen, ist eine tödliche Beleidigung. Er besann sich aber und lachte. »Rede, Sahib, Dein schwarzer Mann hört zu.«

»Aber,« fuhr Kim fort, »ich bin kein Sahib und ich bekenne, ich machte einen Fehler, als ich Dich, Mahbub Ali, verwünschte, an dem Tage zu Umballa, wo ich glaubte, von einem Pathan betrogen worden zu sein. Ich war sinnlos; ich war eben erst gefangen, und ich wollte den niedrig geborenen Trommler umbringen. Heute sage ich, Hajji, Du hast wohl getan, und ich sehe den Weg zu einem guten Dienst klar vor mir. Ich werde in der Madrissah bleiben, bis ich reif bin.«

»Gut gesprochen. Besonders sind Distanzen und Zahlen und der Gebrauch des Kompasses wichtig zu lernen für das Geschäft. In den Hügeln oben erwartet Dich einer, um Dich zu unterweisen.«

»Ich will alles lernen unter einer Bedingung – daß meine Zeit ohne Weiteres mir gehört, wenn die Madrissah geschlossen wird. Fordere dies für mich von dem Oberst.«

»Aber warum den Oberst nicht selbst fragen in der Sahib-Sprache?«

»Der Oberst ist Diener der Regierung. Er muß auf einen Befehl hierhin und dorthin gehen und muß an seine eigene Beförderung denken. (Sieh, wie viel ich schon in Nucklao gelernt habe!) Außerdem, den Oberst kenne ich seit drei Monaten; Mahbub Ali aber seit sechs Jahren. So! Nach der Madrissah will ich gehen. In der Madrissah will ich ein Sahib sein. Aber wenn die Madrissah geschlossen wird, will ich frei unter mein Volk gehen. Sonst sterbe ich!«

»Und wer ist Dein Volk, Freund aller Welt?«

»Dieses große und wundervolle Land,« sagte Kim, und fuhr mit der Hand rundum in dem kleinen lehmwandigen Raum, wo die Öllampe in der Nische dunkel durch den Tabaksqualm schimmerte. »Und dann – ich möchte meinen Lama wiedersehen. Und dann – ich brauche Geld.«

»Das braucht jeder,« sagte Mahbub kläglich. »Ich will Dir acht Annas geben, das muß für lange Zeit genügen, denn viel Geld ist nicht aus Pferdehufen zu gewinnen. Übrigens bin ich zufrieden mit Dir, und wir brauchen nichts weiter zu reden. Lerne tüchtig und in drei Jahren, vielleicht schon früher, kannst Du eine Stütze sein, selbst für mich.«

»Bin ich bis jetzt so nutzlos gewesen?« kicherte Kim.

»Gib keine Antworten,« brummte Mahbub. »Du bist mein neuer Pferdejunge. Geh und leg Dich zwischen meinen Leuten nieder. Sie sind nahe dem nördlichen Ende der Station mit den Rossen.«

»Sie werden mich an das südliche Ende hinunter prügeln, wenn ich ohne Vollmacht komme.«

Mahbub faßte in den Gürtel, rieb den angefeuchteten Daumen an einem Stück chinesischer Tinte und preßte den Abdruck davon auf ein Blatt weichen landesbräuchlichen Papieres. Von Balkh bis Bombay kennen die Leute diesen groblinigen Stempel mit der alten, diagonal verlaufenden Narbe darüber.

»Das genügt für meinen Obmann. Ich komme gegen Morgen.«

»Auf welchem Wege?«

»Auf dem Wege von der Stadt her. Es gibt nur den einen. Und dann kehren wir zu Creigthon Sahib zurück. Ich habe Dir eine Tracht Prügel erspart.«

»Allah! Was ist eine Tracht Prügel, wenn der Kopf lose auf den Schultern sitzt?«

Kim glitt leise in die Nacht hinein, glitt halb um das Haus herum, hielt sich dicht an der Mauer und marschierte wohl eine Meile weg von der Station; machte dann einen weiten Bogen und schlenderte nach der Station zurück. Er brauchte Zeit, ein Märchen zu erfinden für den Fall, daß Mahbubs Leute ihn ausfragen sollten. Diese lagerten auf einem unbenutzten Platz neben der Eisenbahn und hatten, als Eingeborene, selbstverständlich nicht Mahbubs Tiere ausgeladen aus den beiden Viehwagen, wo sie unter einer Sendung anderer von der Bombay Straßenbahn-Compagnie angekaufter heimischer Zuchtpferde standen. Der Obmann, ein heruntergekommener, schwindsüchtig aussehender Muselmann, fuhr Kim sofort grob an, beruhigte sich aber beim Erblicken von Mahbubs Handabdruck.

»Der Hajji hatte die Güte, mich in Dienst zu nehmen,« sprach Kim gekränkt. »Bezweifelst Du es, so warte, bis er am Morgen selbst kommt. Und nun, einen Platz am Feuer.«

Es folgte das übliche nichtssagende Geschwätz, das Niederklassige bei jeder Gelegenheit anheben. Als es still ward, lagerte Kim sich hinter dem Häuflein von Mahbubs Knechten, fast unter den Rädern eines Viehwagens, zugedeckt mit einer geliehenen wollenen Decke. Eine Schlafstelle zwischen Ballastabfall und Ziegelbarren, zwischen zusammengedrängten Pferden und ungewaschenen Baltis, in einer feuchten Nacht, würde wenigen weißen Knaben behagen; Kim aber war glückselig. Wechsel der Umgebung, der Beschäftigung, der Verhältnisse, das war Kims Lebenslust; und der Vergleich seines Lagers mit den in Reih und Glied stehenden saubern weißen Betten unter der Punkah in St. Xarier, machte ihn so lustig, als wäre es ihm gelungen, das Einmaleins auf Englisch richtig zu wiederholen.

»Ich bin sehr alt,« dachte er, halb im Schlaf. »Jeden Monat werde ich ein Jahr älter. Ich war sehr jung und ein Narr vom Kopf bis zu den Füßen, als ich Mahbubs Botschaft nach Umballa trug. Auch bei dem weißen Regiment war ich noch sehr jung und klein und nicht klug. Jetzt aber lerne ich jeden Tag mehr, und in drei Jahren wird der Oberst mich aus der Madrissah nehmen, mich mit Mahbub auf die Heerstraße nach Stammbäumen von Rossen jagen lassen, oder vielleicht darf ich allein gehen; oder – kann sein – ich finde den Lama und gehe mit ihm. Ja; das wäre das Beste; wieder als Chela mit meinem Lama wandern, wenn er zurückkehrt nach Benares.«

Die Gedanken wurden langsamer und undeutlicher. Er versank in ein wundervolles Traumland; da traf ein Flüstern sein Ohr, scharf vernehmbar über dem einförmigen Geplapper am Feuer. Es kam hinter dem eisenbeschlagenen Viehwagen hervor.

»Er ist also nicht hier?«

»Wo wird er anders sein als in der Stadt herumschwärmen! Wer sucht nach einer Ratte in einem Froschteich? Komm weiter. Er ist nicht unser Mann.«

»Er darf nicht ein zweites Mal über die Pässe zurückkommen. Es ist Befehl.«

»Finde ein Weib, das ihm einen Trank gibt. Das kostet nur einige Rupien und Zeugen gibts keine dann.«

»Ausgenommen das Weib. Es muß sicherer gemacht werden. Bedenke den Preis auf seinen Kopf.«

»Jawohl; aber die Polizei hat einen langen Arm, und wir sind fern von der Grenze. Wenn es in Peshawur wäre –« »Ja – in Peshawur,« höhnte die zweite Stimme. »Peshawur, das voll von seinen Blutsverwandten ist – voll von Schlupfwinkeln und von Weibern, hinter deren Röcken er sich verstecken kann. Peshawur oder die Hölle könnten mir gleich gut passen.«

»Was ist denn Dein Plan?«

»Narr, habe ich es Dir nicht hundertmal gesagt? Warte bis er kommt, um sich niederzulegen, dann ein sicherer Schuß. Die Viehwagen sind zwischen uns und den Verfolgern. Wir brauchen nur über die Schienen zu springen und unserer Wege zu gehen. Sie werden nicht sehen, woher der Schuß kam. Warte hier wenigstens bis zur Dämmerung. Welch eine Art Fakir bist Du, zu schaudern bei ein bißchen Wachen?«

»Oho!« dachte Kim hinter fest geschlossenen Augen. »Wieder gilt es Mahbub. Wirklich, der Stammbaum eines weißen Hengstes ist kein gutes Ding, um damit bei Sahibs hausieren zu gehen. Kann aber sein, Mahbub verkaufte noch andere Neuigkeiten. Was ist zu tun, Kim? Ich weiß nicht, wo Mahbub steckt, und kommt er vor Morgendämmerung hierher, so schießen sie ihn nieder. Das wäre kein Vorteil für Dich, Kim. Es ist auch keine Sache für die Polizei. Das wäre wieder kein Vorteil für Mahbub – und« – er kicherte fast laut – »ich entsinne mich keines Unterrichts in Nucklao, der mir hier helfen könnte. Allah! Hier ist Kim und dort sind die. Zuerst also, Kim muß aufwachen und fortgehen, ohne daß die Argwohn schöpfen. Ein böser Traum weckt einen Menschen auf, – so –«

Er warf die Decke vom Gesicht und richtete sich ungestüm auf, mit dem fürchterlichen, gurgelnden wahnsinnigen Geheul der Asiaten, wenn ein Alp sie drückt.

»Urr-urr-urr-urr! Ya-la-la-la! Narain! Die Churel! Die Churel!«

Die Churel ist ein besonders boshafter Geist einer Frau, die im Kindbett starb. Sie lauert an einsamen Wegen, ihre Füße sind rückwärts gekehrt, und sie stürzt Menschen in Qualen.

Lauter wurde Kims quäkendes Heulen, bis er zuletzt aufsprang und schlaftrunken fortstolperte, indes die Lagernden ihn verwünschten für die Störung. Zwanzig Schritte entfernt legte er sich wieder nieder, wohl darauf bedacht, daß die Flüsterer sein Stöhnen und Grunzen noch hören konnten, wie er sich langsam wieder beruhigte. Nach einigen Minuten kugelte er auf die Straße und stahl sich hinaus in die Dunkelheit.

Er trabte rasch vorwärts, bis er an eine Wegüberbrückung kam und duckte sich dahinter, daß sein Kinn in gleicher Höhe mit dem Klappenstein war. Hier konnte er ungesehen den nächtlichen Verkehr beobachten.

Verschiedene Fuhrwerke rasselten vorüber nach den Vororten; ein hustender Polizist, ein paar eilende Wanderer, die sangen, um böse Geister fern zu halten. Dann der Trapp von beschlagenen Hufen.

»Ah! Das sieht nach Mahbub aus,« dachte Kim, als das Tier vor dem kleinen Kopf über dem Steinrund scheute.

»Ohe! Mahbub Ali,« flüsterte er, »sieh Dich vor.«

Das Roß ward rückwärts, fast auf die Keulen, gezügelt, und auf den Brückenkopf zu getrieben.

»Nie wieder,« sagte Mahbub laut, »reite ich ein beschlagenes Pferd bei nächtlichen Geschäften. Jedes Knöchelchen und jeden Nagel in der Stadt reißen sie sich in den Fuß.« Er bückte sich und hob den Vorderfuß des Pferdes auf, das brachte seinen Kopf nahe an den Kims. »Nieder – bleib unten,« murmelte er. »Die Nacht ist voller Augen.«

»Zwei Männer warten auf Dich hinter den Viehwagen. Sie wollen Dich erschießen, wenn Du Dich niedergelegt, denn es ist ein Preis auf Deinen Kopf gesetzt. Ich hörte es, als ich neben den Pferden lag.«

»Sahest Du sie? … Steh still, Herr aller Teufel!« Dies wütend zu dem Pferde.

»Nein.«

»War einer vielleicht wie ein Fakir gekleidet?«

»Einer sagte zu dem andern: »Was für eine Art Fakir bist Du, daß Du schauderst bei ein wenig Wachen?«

»Gut. Geh zurück ins Lager und lege Dich nieder. Diese Nacht sterbe ich noch nicht.«

Mahbub wandte sein Pferd und verschwand. Kim schlich längs des Grabens zurück bis gegenüber seinem zweiten Ruheplatz, schlüpfte dann wie ein Wiesel über den Weg und rollte sich wieder in seiner Decke zusammen.

»Wenigstens ist Mahbub unterrichtet« dachte er. »Und sicherlich, er sprach, als ob er so etwas erwartet hätte. Ich glaube nicht, daß die beiden Männer von ihrer Nachtwache viel profitieren werden.«

Eine Stunde ging hin, und beim besten Willen wach zu bleiben, schlief er fest ein. Hin und wieder brauste ein Zug auf den Metallsträngen, zwanzig Fuß von ihm, vorüber, aber er besaß die Abgestumpftheit der Orientalen gegen bloßes Geräusch, und es webte sich nicht einmal ein Traum in seinen Schlummer ein.

Mahbub schlief aber nicht. Es verdroß ihn mächtig, daß Leute, außerhalb seiner Sippe, und unbeeinträchtigt von seinen gelegentlichen Liebesabenteuern, ihm nach dem Leben trachteten. Sein erster und natürlicher Impuls war, weiter unten das Geleise zu kreuzen, dann zurück zu schleichen, seine guten Freunde von hinten zu packen und summarisch tot zu schlagen. Dann bedachte er mit Kummer, daß ein anderer Zweig der Regierung, gänzlich außer Verbindung mit Oberst Creighton, Erklärungen fordern könnte, die schwer zu geben wären; außerdem noch war ihm bekannt, daß man südlich der Grenze eine lächerliche Wichtigkeit aus einem gefundenen Leichnam macht. Seitdem er Kim mit der Botschaft nach Umballa gesendet, war er nicht mehr belästigt worden, und er wähnte jeden Verdacht endgültig beseitigt. Da kam ihm eine brillante Idee.

»Die Engländer sagen ewig die Wahrheit, deshalb werden wir Eingeborenen ewig zum Narren gehalten. Bei Allah, ich will Wahrheit sprechen zu einem Englischen. Was nützt die Regierungs-Polizei, wenn einem armen Kabuli die Pferde aus ihren eigenen Wagen gestohlen werden? Das ist so schlimm wie in Peshawur! Ich sollte Beschwerde bei der Station vorbringen – besser noch bei einem jungen Sahib von der Eisenbahn! Die sind eifrig, und wenn sie Diebe fangen, wird es ihnen zur Ehre angerechnet.« Er band sein Roß außen an das Stationsgebäude und betrat den Bahnsteig.

»Halloh, Mahbub Ali!« rief ein junger Assistent von der Distrikt-Verkehrs-Inspektion, der wartete, um die Linie abzufahren – ein schlanker, flachshaariger Jüngling mit sportsmännischen Manieren, in schmutzig-weißes Leinen gekleidet. »Was macht Ihr hier? Klepper verkaufen – he?«

»Nein, ich habe keine Sorge um meine Pferde. Ich warte hier auf Lutuf Ullah. Ich habe eine Pferdeladung auf der Bahn. Könnte jemand sie ausladen ohne Wissen der Bahnverwaltung?«

»Sollte nicht denken, Mahbub. Ihr könnt uns verantwortlich machen, wenn es geschieht.«

»Ich sah zwei Männer fast die ganze Nacht zwischen den Rädern eines der Wagen hocken. Fakirs stehlen keine Rosse, so beobachtete ich sie nicht weiter. Ich wollte Lutuf Ullah, meinen Teilhaber, erwarten.«

»Zum Teufel auch! Und Ihr kümmertet Euch nicht weiter darum? Auf mein Wort, gut, daß ich Euch treffe. Wie sahen sie aus, he?«

»Es waren ja nur Fakire. Sie werden vielleicht ein bißchen Getreide von den Wagen nehmen. Es gibt viele an den Geleisen. Der Staat wird den Anteil nicht vermissen. Ich kam hierher, um Lutuf Ullah zu suchen.«

»Schon gut mit Eurem Partner. Wo sind Euere Pferdewagen?«

»Ein wenig nach dieser Seite, weit weg von dem Ort, wo sie das Licht für den Zug bereit halten.«

»An der Signal-Bude. Ja –.«

»Und auf dem Schienenstrang nächst dem Weg auf der rechten Seite – wenn man die Bahn so herunter sieht. Aber was Lutuf Ullah betrifft – ein großer Mann mit einer zerbrochenen Nase und einem persischen Jagdhund – Aie!«

Der Jüngling war fortgeeilt, um einen jungen, feurigen Polizisten zu wecken, denn, wie er sagte, die Verwaltung hatte viel von Diebstahl in den Güterschuppen gelitten. Mahbub Ali kicherte in seinen gefärbten Bart.

»Sie werden in ihren schweren Stiefeln gehen und Lärm machen und sich dann wundern, keine Fakire zu finden. Es sind geschickte Jungen – Barton Sahib und Young Sahib.«

Er wartete lässig einige Minuten, erwartend, sie zur Tat gegürtet die Linie entlang eilen zu sehen, als eine Hilfs-Lokomotive, mit dem jungen Barton im Führerstand, durch den Bahnhof glitt.

»Dem Kinde tat ich Unrecht,« sprach Mahbub, »er ist nicht ganz und gar ein Narr. Einen Feuerwagen zu brauchen, um einen Dieb zu fangen, ist ein neuer Sport.«

Als Mahbub in der Dämmerung nach seinem Lager kam, erachtete es keiner der Mühe wert, ihn von den Vorfällen der Nacht zu unterrichten, keiner, ausgenommen ein kleiner Pferdejunge, der eben in den Dienst des mächtigen Mannes getreten war, und den Mahbub in sein kleines Zelt berief, um beim Packen zu helfen.

»Ich weiß alles,« flüsterte Kim, über Satteltaschen gebeugt. »Zwei Sahibs kamen herunter in einem Feuerwagen. Ich lief in der Dunkelheit hin und her an dieser Seite der Pferdewagen, als der Feuerwagen langsam auf und ab fuhr. Sie griffen zwei Männer, unter diesem Viehwagen hockend, – Hajji, was soll ich mit diesem Klumpen Tabak machen, ihn in Papier wickeln und unter den Salzbeutel legen? Ja – und schlugen sie nieder. Aber der eine führte mit einem Fakir-Bockhorn (Kim meinte den aus Hörnern zusammengefügten Schild, die einzige Waffe der Fakire) einen Streich gegen einen Sahib, und das Blut floß. Der andere Sahib, nachdem er seinen Mann bewußtlos hingestreckt, traf den Mörder mit einer kurzen Flinte, die aus des ersten Mannes Hand gefallen war. Sie wüteten alle wie wahnsinnig gegeneinander.«

Mahbub lächelte mit himmlischer Resignation. »Nun dies ist nicht sowohl Dèwanee (bedeutet: Wahnsinn, oder: ein Fall für das Zivil -Gericht, ein Wortspiel, auf beide Fälle anwendbar), als vielmehr Nizamut (ein Kriminal-Fall). Eine Flinte, sagst Du? Das gibt gute zehn Jahre Gefängnis.«

»Dann lagen sie beide still; ich glaube, sie waren beinahe tot, als man sie auf einen Zug brachte. Ihre Köpfe baumelten ›so‹. Und es ist viel Blut auf dem Wege. Komm und sieh.«

»Blut kenne ich so schon. Das Gefängnis ist sicher. Und sicher werden sie falsche Namen angeben, und sicher wird man sie sobald nicht finden. Es waren nicht gerade meine Freunde. Dein Schicksal und das meine sind, scheint es, an einem Strang. Nun rasch vorwärts mit den Satteltaschen und dem Kochgeschirr. Wir wollen die Pferde ausladen und fort nach Simla.«

Eilig – was Orientalen unter Eile verstehen – mit langen Auseinandersetzungen, mit Schimpfen und losem Geschwätz, sorglos und mit Aufenthalt um hundert vergessene Kleinigkeiten wurde das unordentliche Lager abgebrochen und das halbe Dutzend steifer und launenhafter Pferde die Kalka-Straße entlang getrieben, in die regenfeuchte Dämmerung hinein. Kim, als Mahbubs Günstling behandelt von denen, die mit dem Pathan sich gut stellen wollten, wurde nicht zur Arbeit herbeigerufen. Im bequemen Schritt zog die Karawane dahin, bei jeder Raststelle am Wege haltend. Viele Sahibs reisen auf der Kalka-Straße und, wie Mahbub Ali sagte, jeder junge Sahib hält es für notwendig, sich als Pferdekenner auszugeben, und sind sie auch bis über die Ohren in Schulden, so tun sie doch, als ob sie kaufen wollten. Deshalb hielt Sahib auf Sahib seine Landkutsche an und eröffnete eine Unterredung. Einige stiegen ab und befühlten die Füße der Pferde, stellten alberne und häufig aus bloßer Unkenntnis des Dialekts gröblich beleidigende Fragen an den unerschütterlichen Roßkamm.

»Als ich zuerst mit Sahibs zu tun hatte, und das war zur Zeit, als Oberst Soady Sahib Gouverneur von Fort Abazai war, und aus Schabernack – des Kommissars Lagerplatz unter Wasser setzte,« sprach Mahbub zutraulich zu Kim, der ihm die Pfeife unter einem Baume füllte, »wußte ich noch nicht, wie große Narren sie waren und geriet oft in Zorn. So wie einmal –,« er erzählte Kim ein Geschichtchen von einem in aller Unschuld verkehrt angewandten Ausdruck, das diesen in stürmische Heiterkeit versetzte – »Jetzt weiß ich,« – er blies behäbig den Rauch aus – »jetzt weiß ich, sie sind wie alle Menschen, klug in manchen Dingen, in anderen sehr töricht. Sehr töricht ist es, ein verkehrtes Wort gegen einen Fremden anzuwenden; denn weiß auch das Herz nichts von einer Beleidigung, wie soll der Fremde das ahnen? Er sucht die Wahrheit eher mit einem Dolch.«

»Wahr. Wahre Rede,« sprach Kim feierlich. »Narren sprechen von einer Katze, z. B. wenn eine Frau in die Wochen kommt. Ich hörte das.«

»Deshalb, in welcher Lage Du auch sein magst, eines mußt Du immer beobachten mit zweierlei Gesicht: Unter Sahibs nie vergessen, daß Du ein Sahib bist; unter dem Volk von Hind immer gedenken, daß Du –« er hielt mit verlegenem Lächeln inne.

»Was ich bin? Muselmann, Hindu, Jain oder Buddhist? Das ist eine harte Nuß.«

»Du bist ohne Frage ein Ungläubiger und wirst dafür verdammt werden. So sagt mein Gesetz – oder ich glaube, daß es so sagt. Aber Du bist auch mein kleiner Allerweltsfreund, und ich habe Dich lieb, – so sagt mein Herz. Es ist mit Glaubenssachen, wie mit Pferdefleisch. Der gescheite Mann weiß, Pferde sind wertvoll, es ist mit allem Profit zu machen; und ich, der ich ein guter Sunnit (Sekte, orthodoxe Moslim) bin und die Männer von Tirah hasse – ich glaube, daß es dasselbe ist, mit allen Religionen. Versetze eine Kattiwar-Stute aus ihrem sandigen Geburtsland nach dem westlichen Bengalen, und sie wird lahmen, so gut, wie ein Balkischer Hengst (und es gibt keine besseren Pferde als die balkischen, wenn sie nur nicht so schwer in den Schultern wären) in den großen Nordischen Wüsten gegen Schnee-Kamele, die ich gesehen habe, nicht mehr aufkommt. Jedes hat seine Vorzüge in seinem eigenen Lande.«

»Aber mein Lama sprach ganz anders.«

»Oh, er ist ein alter Träumer vom Bhotiyal. Mein Herz ist etwas erzürnt, Freund aller Welt, daß Du so viel Wert in diesem Manne siehst, den man so wenig kennt.«

»Mag wohl sein, Hajji, aber ich sehe einen Wert, und mein Herz fühlt sich zu ihm hingezogen.«

»Und seines zu Deinem, so höre ich. Herzen sind gleich Pferden. Sie kommen und gehen gegen Gebiß und Sporen. Rufe Gul Sher Khan dort zu, er solle den Anbindepflock des grauen Hengstes fester einschlagen. Wir wollen nicht an jedem Halteplatz eine Pferdeschlacht haben, und der Dunkelbraune und der Schwarze müssen getrennt stehen… Nun höre mich. Ist es notwendig für die Ruhe Deines Herzens, den Lama zu sehen?«

»Es ist eine meiner Bedingungen. Wenn ich ihn nicht sehe, wenn er mir genommen wird, verlasse ich die Madrissah in Nucklao und, und – einmal fort, wer soll mich finden?«

»Wahr. Nie wurde ein Füllen an dünnerer Hufleine gehalten als Du.« Mahbub nickte mit dem Kopf.

»Sei ohne Furcht.« Kim sprach, als könnte er jeden Augenblick in Luft verschwinden. »Mein Lama sagte, er würde nach der Madrissah kommen, um mich zu sehen –«.

»Ein Bettler mit der Bettelschale, in Gegenwart dieser jungen Sa –«

»Nicht alle sind es!« schnaubte Kim dazwischen. »Vielen von ihnen schimmern die Augen bläulich, und ihre Nägel sind geschwärzt von minderkastigem Blut. Söhne von Metheranees, verschwägert mit Bhungis (Auskehrer).«

Wir wollen den Stammbaum nicht weiter verfolgen; Kim legte seinen Fall klar, ohne Hitze, ein Stück Zuckerrohr kauend.

»Freund aller Welt«, sprach Mahbub, dem Knaben seine Pfeife zur Reinigung hinhaltend, »ich habe viele Männer, Weiber und Knaben gekannt und nicht wenige Sahibs. In all meinen Tagen aber keinen Dämon getroffen, wie Du einer bist.«

»Und wie das? Da ich Dir stets die Wahrheit sage –?«

»Vielleicht eben deshalb, denn dies ist eine Welt voll Gefahren für ehrliche Leute.« Mahbub erhob sich schwerfällig, gürtete sich und ging zu den Pferden hinüber.

»Oder verkaufe –«

Es war ein Ton in Kims Stimme, der Mahbub halten und sich umwenden machte. »Welch neue Teufelei?«

»Acht Annas, und ich will reden,« sagte Kim grienend. »Es betrifft Deinen Frieden.«

»Oh, Shaitan!« (Satan.) Mahbub gab das Geld.

»Erinnerst Du Dich der kleinen Angelegenheit mit den Dieben, damals in der Nacht, zu Umballa?«

»Da sie mein Leben suchten, habe ich sie nicht gänzlich vergessen. Warum?«

»Erinnerst Du Dich des Kashmir-Serai?«

»Sahib, ich werde Dich gleich am Ohr haben!«

»Nicht nötig, Pathan. Nur der zweite Fakir, den die Sahibs beinahe erschlagen hätten, war der Mann, der Deinen Bretterverschlag zu Lahore durchsuchte. Ich sah sein Gesicht, als man ihm auf die Maschine half.«

»Warum sagtest Du das nicht gleich?«

»Oh, er wandert ins Gefängnis und ist für einige Jahre fest. Wozu mehr als notwendig zur Zeit erzählen? Außerdem, ich hatte nicht früher Geld für Zuckerwerk nötig.«

»Allah Kerim!« rief Mahbub. »Willst Du nicht nächstens meinen Kopf verkaufen, wenn Dich die Lust nach Zuckerwerk anwandelt?«

Kim wird bis ans Ende seines Lebens sich dieser Reise von Umballa durch Kalka und die Pinjore-Gärten aufwärts nach Simla erinnern. Eine plötzliche Anschwellung des Guggerstromes schwemmte ein Roß hinweg (das wertvollste natürlich) und ertränkte Kim fast in den tanzenden Wellen. Weiter aufwärts wurden die Pferde durch einen Elefanten der Regierung in wilde Flucht gejagt, und da sie durch gutes Grasfutter feurig geworden waren, kostete es ein und einen halben Tag, sie zusammen zu treiben. Dann begegnete ihnen Sikandar Khan mit einigen unverkäuflichen Schindmähren, die von seinem Transport übrig geblieben waren, und Mahbub, dessen kleiner Finger mehr von Pferden verstand, als Sikandar Khan vom Kopf bis Fuß, fand es richtig, zwei der miserabelsten zu kaufen, und das erforderte wieder acht Stunden angestrengter Diplomatie und ungezählte Tabakpfeifen. Für Kim aber war alles Entzücken – die Heerstraße, aufsteigend, abfallend, über ansteigende Gebirgsläufe sich hinziehend; das Morgenrot, das die fernen Schneegipfel färbte, die vielgliedrigen Kakteen, die Reihe auf Reihe an den steinigen Hügelseiten emporklommen; die Stimmen von tausend Wasserrinnen, das Geschnatter der Affen, die feierlichen Deodare, die, einer über den andern, mit niederhangenden Zweigen aufwärts stiegen, der Blick auf die tief unten sich ausbreitenden Ebenen, das unaufhörliche Schmettern der Tonga-Hörner und die wilde Scheu der geleiteten Pferde, wenn eine Tonga (einheimischer, zweirädriger Karren) um eine scharfe Krümmung bog, die Raste zum Gebet (Mahbub war sehr religiös mit trockenen Waschungen und Gebeteheulen, wenn er gerade Zeit hatte), die abendlichen Unterhaltungen an den Ruheplätzen, wenn Kamele und Ochsen feierlich nebeneinander kauten und die Treiber sich Geschichten vom Wege erzählten – das alles machte Kim das Herz in der Brust tanzen.

»Aber,« sprach Mahbub, »wenn das Singen und Tanzen aufhört. Kommt der Oberst Sahib an die Reihe, und das wird nicht so süß sein.«

»Ein schönes Land – ein wundervolles Land, dies Hind – und das Land der fünf Flüsse ist schöner als alle,« war Kims fast gesungene Erwiderung. »Dahin will ich gehen, wenn Mahbub Ali oder der Oberst Hand oder Fuß gegen mich erheben. Einmal weg – wer soll mich finden? Schau, Hajji, ist dort die Stadt Simla? Allah! Welch eine Stadt!«

»Meines Bruders Bruder, und er war ein alter Mann, als Mackerson Sahibs Brunnen zu Peshawur neu war, erinnerte sich der Zeit, als nur zwei Häuser in der Stadt standen.«

Die Pferde wurden unterhalb der Hauptstraße hingeleitet nach dem unteren Basar von Simla – dem wimmelnden Kaninchen-Gehege, das aus dem Tale sich in einem Winkel von 45° aufwärts windet bis zum Stadthaus. Ein Mann, der dort die Wege kennt, kann der ganzen Polizei von Indiens Sommer-Hauptstadt trotzen, so schlau schließt Veranda sich an Veranda, Durchgang sich an Durchgang, Schlupfloch an Schlupfloch. Hier leben die, die für die Bedürfnisse der lustigen Stadt sorgen: Jhampanis, die abends die Wagen der schönen Damen ziehen und bis zum Morgengrauen Würfel spielen; Gewürzkrämer, Ölhändler, Kuriositätenhändler, Holzverkäufer, Priester, Taschendiebe und eingeborene Verwaltungsangestellte. Hier werden von Courtisanen Dinge besprochen, die als tiefes Geheimnis des Indischen Rats gelten; und hier treffen sich alle die Unter-Unter-Agenten von Dutzenden einheimischer Staaten. Hier auch mietete Mahbub Ali ein Zimmer, das besser verschlossen war als sein Verschlag zu Lahore, im Hause eines muselmännischen Viehhändlers. Es war wieder ein Ort der Wunder, denn hinein ging um die Dämmerung ein mohammedanischer Pferdejunge, und heraus trat eine Stunde später ein eurasischer Jüngling – die Farbe des Mädchens von Lucknow hielt gut – in schlecht passenden, billigen Basarkleidern.

»Ich habe mit Creighton Sahib gesprochen,« sagte Mahbub, »und ein zweites Mal hat die Hand der Freundschaft die Geißel des Unheils abgewendet. Er sagt. Du hättest sechzig Tage auf der Landstraße verbummelt, und es sei zu spät geworden, Dich in eine Gebirgsschule zu schicken.«

»Ich habe gesagt, daß meine Ferien mein eigen sind. Ich gehe nicht in zwei Schulen. Das ist eine meiner Bedingungen.«

»Dem Oberst ist von der Abmachung noch nichts bekannt. Du sollst in Lurgan Sahibs Haus wohnen, bis es Zeit ist, wieder nach Nucklao zu gehen.«

»Ich möchte lieber bei Dir wohnen, Mahbub.«

»Du weißt diese Ehre nicht zu schätzen. Lurgan Sahib selbst hat nach Dir gefragt. Du mußt den Hügel ersteigen, oben auf dem Wege vorwärts gehen und dort für eine Weile vergessen, daß Du jemals mich, Mahbub Ali, der an Creighton Sahib, den Du nicht kennst, Pferde verkauft, gesehen oder gesprochen hast. Gedenke! Dies ist Befehl.«

Kim nickte. »Gut,« sprach er, »und wer ist Lurgan Sahib? Nein« – er verstand Mahbubs schwertscharfen Blick – »wahrlich, ich hörte seinen Namen noch nie. Ist er zufällig,« er sprach ganz leise, »einer von uns?«

»Welche Rede ist das – von uns , Sahib?« Mahbub sprach in dem Ton, den er Europäern gegenüber anschlug. »Ich bin ein Pathan; Du bist ein Sahib und der Sohn eines Sahib. Lurgan Sahib hat einen Laden zwischen den europäischen Läden. Ganz Simla kennt ihn. Frage dort … und, Freund aller Welt, er ist einer, dem man auf einen Augenwink zu gehorchen hat. Man sagt, er treibe Magie, doch das braucht Dich nicht zu kümmern. Gehe den Berg hinan und frage. Hier beginnt das Große Spiel.«