Über die Grenze.

Für die Liebe giebt es keine Kaste
und für den Schlaf kein zerbrochenes
Bett. Ich ging aus, die Liebe zu
suchen, und verlor mich selbst.

                   Indisches Sprichwort.

Unter allen Umständen sollte jeder, was ihm auch begegne, zu seiner Kaste, Rasse und Art halten. Der Weiße halte sich zum Weißen und der Schwarze zum Schwarzen! Giebt’s dann auch auf die eine oder andere Weise einen Anstoß, so verläuft doch alles innerhalb des Gewohnten; nichts Jähes, Unerhörtes, Ungedachtes stört unsere Kreise.

Hört die Geschichte eines Mannes, der eigenwillig die sicheren Grenzen und Wege der Alltagsgesellschaft überschritt und schwer dafür büßte.

Zum ersten wußte er zu viel, und dann sah er zu viel. Zu tief ging sein Interesse für das Leben der indischen Eingeborenen, aber nun ist er geheilt.

Ganz im Herzen der Stadt liegt Amir Nath’s Gasse, die von einer nur durch ein einziges vergittertes Fenster durchbrochenen Mauer abgeschlossen wird. Am Anfang der Gasse steht ein großes Kuhhaus und weiterhin sind auf beiden Seiten die Mauern ohne Fenster. Weder Suchet Singh noch Gaur Chand, die Hausbesitzer rechts und links, halten es für gut, wenn ihre Frauen und Töchter in die Welt hineinblicken. Wäre Durga Charan derselben Meinung gewesen, er wäre heute ein zufriedener Mann, und die kleine Bisesa könnte sich ihr eigenes Brot kneten. Ihr Zimmer schaute durch das vergitterte Fenster in die enge dunkle Gasse hinaus, in die niemals die Sonne schien und wo sich die Kühe im bläulichen Kote wälzten. Sie war eine Witwe im Alter von etwa fünfzehn Jahren, und Tag und Nacht betete sie zu den Göttern, sie möchten ihr einen Geliebten senden, denn das einsame Dasein gefiel ihr nicht.

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Eines Tages kam ein Mann – Trejago war sein Name – auf einer planlosen Wanderung in Amir Nath’s Gasse, ging bei den Kühen vorbei und stolperte unversehens über einen großen Haufen Viehfutter.

Dann bemerkte er, daß er sich in einer Sackgasse befand, und hörte hinter dem Gitterfenster ein leises Lachen ertönen. Dieses Lachen klang so einladend, daß Trejago zum Fenster trat und, da er wußte, daß die alten Gesänge aus »Tausend und eine Nacht« in solchen Fällen die besten Führer zum Ziele sind, in flüsterndem Tone jenen Vers aus »Har Dyals Liebessang« sprach, der anhebt:

Vermag ein Mann aufrecht zu stehen
im Angesicht der wolkenlosen Sonne oder
ein Verliebter vor dem Antlitz seiner Geliebten?

Wenn meine Füße straucheln, o Herz
meines Herzens, kannst du mich tadeln,
daß mich der Strahlenglanz deiner Schönheit
blendet?

Hierauf ließ sich hinter dem Gitter ein schwaches Tschink von den Armbändern einer Frau hören, und eine leise Stimme setzte den Sang mit dem fünften Verse fort:

Ach, ach! Kann der Mond zur Lotosblume
von seiner Liebe reden, wenn
des Himmels Thor verschlossen ist und
die Wolken sich sammeln zum Regenschauer?
Meine Geliebte haben sie von mir genommen
und mit den Lasttieren weggetrieben
nach Norden.
Eisenketten beschweren die Füße, die auf
meinem Herzen ruhten.
Ruf auf die Bogenschützen, daß sie sich
rüsten…

Plötzlich brach die Stimme ab, worauf Trejago langsam Amir Nath’s Gasse verließ, indem er sich fragte, wer in aller Welt Har Dyals Liebeslied so hübsch im Wechselgesange fortsetzen konnte. Als er am nächsten Morgen zu seinem Amte fuhr, warf ihm ein altes Weib in seinen Wagen ein Paket. Darin befand sich die Hälfte eines zerbrochenen Ohrrings, eine blutrote Dhakblume, ein wenig bhusa, d. h. Viehfutter, und elf Kardamomkerne. Das Ganze war offenbar ein Brief, kein grobes, kompromittierendes Schreibwerk, sondern eine unschuldige, nichts verratende Liebesepistel.

Trejago verstand, wie gesagt, viel zu viel von diesen Dingen. Eigentlich ist kein Engländer im stande, Sinnbildbriefe zu übersetzen. Aber als Trejago in seinem Amtszimmer den ganzen Inhalt des Pakets vor sich ausgebreitet hatte, gelang es ihm nach und nach, das Rätsel zu lösen.

Ein zerbrochenes Ohrgehänge bedeutet überall in Indien eine Witwe, weil beim Tode des Gatten die Armbänder der Frau an ihrem Handgelenk zerbrochen werden. Trejago verstand also, was das kleine Stück Glas besagen wollte. Die Dhakblume ist je nach den andern Beithaten verschieden zu deuten, entweder als »wünschen« oder »kommen«, »schreiben« oder »Gefahr«. Ein Kardamom bedeutet Eifersucht; findet sich aber irgend ein Gegenstand mehrfach in einem solchen symbolischen Briefe, so verliert er seine sinnbildliche Bedeutung und giebt nur eine Zahl zur Bezeichnung der Zeit oder, wenn Weihrauch, Lab oder Saffran beiliegt, des Ortes an. Die Botschaft lautete daher: Eine Witwe – Dhakblume und bhusa, – um elf Uhr. Das Stückchen bhusa, brachte Trejago auf die Spur. Er begriff – diese Art von Briefen überläßt viel instinktiver Erkenntnis –, daß die bhusa, sich auf den Haufen Viehfutter bezog, über den er in Amir Nath’s Gasse gefallen war, und daß die Botschaft von der Person hinter dem Gitter ausging, die er sich also als Witwe zu denken hatte. Demnach lautete die Botschaft vollständig: Eine Witwe von der Gasse, wo der Haufe Viehfutter liegt, wünscht, daß du um 11 Uhr kommst.

Trejago warf das ganze Zeug beiseite und lachte. Er wußte, daß man im Orient nicht um elf Uhr vormittags unter den Fenstern der Geliebten zu hofieren pflegt, und daß Frauen dort nicht »auf weite Sicht« zum Stelldichein einladen. So ging er am selben Abend um elf Uhr, in eine burka gekleidet, die einem Manne so gut wie einer Frau zur Umhüllung dienen kann, in Amir Nath’s Gasse. Kaum verkündeten die Gongs der Stadt die bestimmte Stunde, so hob die leise Stimme hinter dem Gitter Hal Dyals Liebessang an bei dem Verse, in dem Har Dyals Geliebte seine Rückkehr ersehnt. Das Lied ist in der Ursprache wirklich ergreifend; bei der Übertragung geht das Klagende verloren. Es lautet etwa folgendermaßen:

Vom Söller send‘ ich einsam meinen Blick,
Nach Norden spähend, schau‘ des Blitzes Strahl,
Nur Abglanz deiner Spur und Siegesmal.
Ich sterb‘, Geliebter, kommst du nicht zurück!

Still liegt zu meinen Füßen der Bazar;
Dort ruht der Reitkamele müde Schar,
Dort Kriegsgefang’ne, jammernd um ihr Glück.
Ich sterb‘, Geliebter, kommst du nicht zurück!

Rauh ist des Vaters Weib; ich kann’s nicht wehren.
O komm‘, Geliebter, eh‘ das Herz mir bricht!
Mein Brot ist Kummer, und mein Trank sind Zähren.
Ich sterbe bald; Geliebter, kommst du nicht?

Als das Lied zu Ende war, trat Trejago unter das Gitter und flüsterte: Ich bin da.

Bisesa war schön anzuschauen.

*

Mit dieser Nacht begann ein seltsames und so außerordentliches Doppelleben, daß Trejago sich heute manchmal erstaunt fragt, ob nicht alles nur ein Traum war. Von Bisesa oder ihrer alten vertrauten Dienerin, die ihm den Sinnbildbrief in den Wagen geworfen hatte, war das schwere Gitter vom Mauerwerk gelöst worden, so daß das Fenster nach innen niederging und nur eine quadratische Öffnung blieb, durch die ein behender Mann wohl schlüpfen konnte.

Tagsüber verrichtete Trejago mechanisch seine gewohnte Amtsthätigkeit, oder er warf sich in Salonkleidung und machte den Damen der Station seine Aufwartung, wobei er den Gedanken nicht unterdrücken konnte, wie lange sie ihn wohl noch kennen würden, wenn sie von der armen kleinen Bisesa wüßten. Nachts, wenn Stille über die ganze Stadt gebreitet war, hüllte er sich in die burka und wanderte durch die Straßen. Dann bog er plötzlich von einer Straße in Amir Nath’s Gasse ein, schlich dahin zwischen den schlafenden Kühen und den blinden Mauern, und nun war er bei Bisesa und hörte die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge der alten Frauen vor der Thür des kahlen kleinen Zimmers, das Durga Charan seiner Schwestertochter zugewiesen hatte. Wer oder was Durga Charan war, danach fragte Trejago nie; und warum er niemals entdeckt und erdolcht wurde, blieb ihm verborgen, bis seine Liebestollheit vorüber war und Bisesa … Doch wir werden ja sehen.

Bisesa war für Trejago die Quelle nimmer versiegenden Entzückens. Sorglos und leicht, von Wissen unbeschwert wie ein Vögelchen, hatte sie in ihrem streng abgeschiedenen Zimmer die verkehrtesten Vorstellungen von der Außenwelt, und ihre unglaublich naiven Äußerungen ergötzten Trejago nicht minder wie ihre Versuche, mit zärtlicher Stimme seinen Namen »Christoph« auszusprechen. Außer stande, auch nur die erste Silbe zu bemeistern, machte sie mit ihren rosigen Händchen lächerliche Bewegungen, als wollten sie helfen, den Namen herauszubringen, und dann kniete sie vor Trejago nieder und fragte ihn, ganz wie es auch eine Europäerin thun würde, ob er sie wirklich und wahrhaftig liebe. Er schwor, er liebe sie mehr als irgend ein Weib auf Erden. Und er sprach die Wahrheit.

Als dieser Liebesrausch einen Monat gewährt hatte, veranlaßten Trejago die Ansprüche seines Tageslebens, einer Dame seiner Bekanntschaft den Hof zu machen. Es ist eine einfache Thatsache, daß etwas derartiges in den indischen Städten nicht nur von den Rassengenossen des Mannes beachtet und besprochen, sondern auch in weiten Kreisen der Einheimischen mit Interesse verfolgt wird. Trejago hatte seine Umworbene zu begleiten und am Musikstand vor aller Augen sich mit ihr zu unterhalten, auch hin und wieder mit ihr auszufahren. Aber nie kam es ihm in den Sinn, daß dadurch sein ihm viel werteres Sonderleben berührt werden könnte. Doch die Neuigkeit flog, wer kann sagen wie, von Mund zu Mund, bis Bisesas treue Alte davon hörte und es ihr erzählte. Die Aufregung der Armen war so groß, daß sie ihre gewöhnlichen Haushaltungsgeschäfte versäumte und dafür von Durga Charans Weib Schläge erhielt.

Trejagos Werben dauerte noch keine Woche, so machte ihm Bisesa wegen seiner Untreue Vorwürfe. Sie wußte nichts von Verstellung und sprach gerade heraus. Trejago lachte, und Bisesa stampfte mit ihren Füßchen – Füßchen, hell wie Ringelblumen, und so zierlich, daß ein Mann sie auf einer Hand halten konnte.

Was man von orientalischer ungestümer Leidenschaftlichkeit erzählt hat, ist vielfach übertrieben und urteilslos aus trüber Quelle geschöpft, aber etwas ist doch daran, und stößt ein Europäer auf dieses Etwas, so wirkt es nicht weniger erschütternd als starke Leidenschaft in unserm europäischen Leben. In höchster Erregung drohte Bisesa, als der erste Sturm der Wut ausgetobt hatte, sie werde sich das Leben nehmen, wenn Trejago nicht augenblicklich die fremde memsahib, die zwischen sie getreten sei, aufgebe. Trejago wollte erklären und ihr zeigen, sie verstehe von diesen Dingen nach europäischen Begriffen nichts. Bisesa richtete sich auf und sagte nur:

Nein, ich weiß nichts davon. Aber das eine weiß ich: es ist nicht gut, daß ich dich, sahib, mir teurer werden ließ als mein eigenes Herz. Du bist ein Europäer. Ich bin nur ein schwarzes Mädchen – sie war lichter als geprägtes Gold – und die Witwe eines schwarzen Mannes.

Dann fuhr sie schluchzend fort: Aber, bei meiner Seele und bei meiner Mutter Seele, ich liebe dich. Dir soll kein Leid geschehen, was mir auch widerfahren mag.

Trejago suchte sie mit allen erdenkbaren Vernunftgründen zu beruhigen, aber ihre Aufregung wollte nicht weichen. Nur eins verlangte sie immer wieder: es müßten fortan alle Beziehungen zwischen ihnen aufhören, und er sollte sie sofort verlassen. Und er ging. Als er sich aus der Fensteröffnung niederließ, küßte sie ihn noch zweimal auf die Stirn, und er wanderte, in Sinnen verloren, heim.

Eine Woche und drei weitere Wochen vergingen ohne ein Zeichen von Bisesa. Trejago meinte, der Bruch hätte gerade lange genug gedauert, und ging, zum fünften Male in den drei Wochen, in Amir Nath’s Gasse, in der Hoffnung, er werde nicht vergebens an das Eisengitter klopfen. Seine Hoffnung wurde erfüllt.

Es war gerade Vollmond, und ein Strom von Licht ergoß sich in die Gasse und auf das Gitter, das bei seinem Klopfen weggezogen wurde. Aus dem tiefen Dunkel streckte Bisesa ihre Arme in das Mondlicht aus: Beide Hände waren an den Gelenken abgeschnitten, und die Stümpfe noch nicht verheilt.

Und wahrend Bisesa schluchzend ihr süßes Antlitz zwischen die Arme neigte, stieß jemand im Zimmer ein Grunzen aus wie ein wildes Tier, und etwas Scharfes – Messer, Schwert oder Speer – fuhr gegen den in die burka gehüllten Trejago. Der Streich fehlte seine Brust, durchschnitt aber eine Muskel in der Hüfte, eine Wunde, von der ihm sein Leben lang ein leichtes Hinken blieb.

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Das Gitter wurde wieder an seinen Platz gefügt, und kein äußeres Zeichen gab mehr Kunde von dem, was innerhalb des Hauses lebte, nichts war mehr sichtbar als der Mondlichtstreifen an der hohen Mauer und daneben die Finsternis der engen Gasse.

Das Nächste, woran sich Trejago, der wie toll zwischen den erbarmungslosen Mauern raste und schrie, erinnert, ist, daß er sich bei Anbruch der Dämmerung nahe beim Fluß befand, seine burka von sich warf und barhäuptig heimging.

Wie und warum das Schreckliche geschah – ob Bisesa in sinnloser Verzweiflung selbst alles enthüllt hatte, oder ob man hinter das Geheimnis gekommen war und sie gemartert hatte, bis sie es bekannte; ob Durga Charan seinen Namen erfahren hatte, und was aus Bisesa geworden ist – davon weiß Trejago noch heute nichts. Der Gedanke an das Gräßliche, Unbekannte, das sich ereignet hat, kommt ihm manchmal in der Nacht und läßt ihn schlaflos bis zum Morgen. Besonders merkwürdig erscheint, daß er gar nicht weiß, wo die Vorderseite von Durga Charans Hause ist. Vielleicht führt es in einen mehreren Häusern gemeinsamen Vorhof, vielleicht liegt es auch hinter einem der Thore in der Straße, von der Amir Nath’s Gasse abgeht, Trejago kann’s nicht sagen. Er kann Bisesa – die arme kleine Bisesa – nicht wieder finden. Sie ist für ihn verloren im Labyrinth der Stadt, wo jedermanns Haus so bewahrt und unauffindbar ist wie das Grab; und dazu ist die Gitteröffnung in der Sackgasse zugemauert.

Trejago aber ist ein gern gesehenes Mitglied der englischen Gesellschaft in der Stadt und gilt als sehr anständiger Mann. Es ist nichts Besonderes an ihm zu bemerken außer einer leichten Steifheit im rechten Bein als Folge einer Überanstrengung beim Reiten.

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  1. Ein weiter Überwurf, wie ihn die Inder tragen.
  2. Memsahib Herrin, sahib Herr.