Die Stadt der furchtbaren Nächte

Die erstickende feuchte Hitze, die auf dem Land liegt wie ein Tuch, macht jede Hoffnung auf Schlaf zuschanden; dazu das unablässige Zirpen der Zikaden und das gellende Geheul der Schakale! Unmöglich, es noch länger auszuhalten in dem leeren, dunkeln, echoreichen Haus und immer und ewig sehen zu müssen, wie der Punkahfächer in die tote Luft schlägt! So ging ich hinaus um zehn Uhr nachts in den Garten und steckte meinen Spazierstock in ein lockeres Beet, um zu sehen, nach welcher Richtung er fallen würde. Er deutete hinüber zur mondlichtbeschienenen Straße, die zur Stadt der furchtbaren Nächte führt. Das Geräusch seines Falles scheuchte einen Hasen auf. Der hoppelte von seinem Lager auf und lief hinüber zu einer aufgelassenen mohammedanischen Begräbnisstätte, auf der die zahnlosen Schädel und blanken Schenkelknochen, erbarmungslos bloßgelegt durch die Juli-Wolkenbrüche, wie Perlmutter schimmerten auf dem von Regengüssen zerwühlten Grund. Es war, als hätte die schwere Erde und die heiße Luft sogar die Toten emporgetrieben, Kühlung zu suchen. Der Hase hoppelte weiter, beschnupperte seltsam einen rauchgeschwärzten Lampenscherben und verschwand im Schatten eines Tamariskengebüsches.

Die offene Hütte des Mattenwebers beim Hindutempel war erfüllt von schlafenden Menschen, die umherlagen wie eingewickelte Leichen. Hoch oben am Himmel brannte das starre Auge des Mondes. Dunkelheit täuscht Kühle nur vor; beständig mußte ich mir vorsagen, das grelle Licht trüge keine Schuld an der Hitze ringsum. Eine krankhafte Wärme ging vom Mond aus und strahlte in die Luft. Wie ein gerader Streifen aus poliertem Stahl lief die Straße hinüber zur Stadt der furchtbaren Nächte; an den Wegrändern hingestreckt in phantastischen Stellungen, leichenhaft schlafend, die Leiber von hundertsiebzig Menschen auf Lagerstätten. Einige ganz in Weiß gehüllt und die Münder fest geschlossen, einige nackt und schwarz wie Ebenholz in dem gleißenden Licht, und einer, weit weg von ihnen, das Gesicht aufwärts gekehrt, den Kiefer herabgesunken, silberig schimmernd und aschig fahl: ein Aussätziger.

Die übrigen: erschöpfte Kulis, Diener, Kleinladenbesitzer und Kutscher von dem nahen Wagenstand. Szene: das Land vor den Toren der Stadt Lahore und eine heiße Augustnacht. Das war alles, was ich sah, aber nicht alles, was ich hätte sehen können. Der Hexenspuk des Mondlichts hatte die Welt in ein grausiges Bild verwandelt: die lange Reihe der nackten »Toten« bot einen schauerlichen Anblick – und als letzter darin der statuenhafte Leprakranke. Eine Straße aus Menschenleibern gebildet! Lauter Männer. Mußten denn die Frauen in den stickigen Höhlen der Lehmhütten die Nacht verbringen, so gut es ging? Das klägliche Greinen eines Kindes gab mir Antwort auf meine stumme Frage. Wo Kinder sind, da sind auch die Mütter nicht weit, die sie behüten. Sie halten Wache bei ihnen in diesen zermürbenden sengenden Nächten. Ein schwarzer kleiner Kugelkopf lugte vom Giebel eines niedrigen Lehmhüttendaches herab und ein dünnes – jämmerlich dünnes Beinchen streckte sich über die Regenrinne. Dann das scharfe Klicken eines Glasarmbandes; ein Frauenarm wird sichtbar einen Augenblick lang über der Brustwehr, schlingt sich um den Nacken des Kindes und zieht es zurück – das Zappelnde, Widerstrebende – in die schwüle Bettstatt. Schnell und kurz, wie es ertönte, ist das Piepsen des Kleinen verstummt; sogar die Kinder der Gosse sind zum Weinen zu erschöpft.

Wieder: leichenhaft schlafende Leiber, eine Koppel bewegungslos ruhender Kamele am Wegesrand, Mondlichtstreifen, eine weiße Straße, eine Vision dahineilender Schakale, Ekka-Ponys in tiefem Schlummer, das Zuggeschirr noch auf dem Rücken, und – wieder Leichen, Leichen. Messingbeschlagene Landkarren blitzen im Mondlicht – wieder Leichen, Leichen. Wo immer ein Heuwagendach, ein Baumstumpf, ein zersägter Stamm, ein Büschel Bambus, oder ein Strohhaufen Schatten wirft, da ist der Boden bedeckt mit diesen Schlafleichen. Einige mit dem Gesicht nach abwärts, die Arme verschränkt, im Staub; einige mit über den Köpfen gefalteten Händen; andere, zusammengekrümmt wie Hunde, oder wie die Geschützrohre steif an den Seiten der Kornwagen liegend. Andere wieder im grellen Mondesglanz und die Stirnen an die Knie gepreßt. Ich empfände es wie eine Erlösung, wenn sie schnarchen würden, aber alles bleibt still wie auf einem Totenfeld. Bisweilen beschnuppert den oder jenen ein Hund und trabt dann weiter. Hie und da liegt ein mageres Kindchen neben seinem Vater auf der Erde und gelegentlich schlingt sich ein Arm um seinen Körper; aber zumeist schlafen die Kleinen bei ihren Müttern auf den Dächern. – Gelbhäutige, blank-zähnige Parias weiß man nicht gern in der Nähe brauner Kinderleiber. Ein erstickend heißer Hauch aus dem Munde des Delhi-Tores ertötet fast meinen Entschluß, um diese Stunde die Stadt der furchtbaren Nächte zu betreten.

Es ist ein Gemisch aller üblen Gerüche tierischen und pflanzlichen Ursprungs, die eine mauerumgürtete Stadt ausbrüten kann in einem Tag und in einer Nacht; die Hitze, die in den Gruppen der Platanen und Orangenbäume außerhalb der Wälle herrscht, ist wie Eiseskälte, gemessen an der Temperatur, die einem entgegendringt. Gott sei allen Kranken und Säuglingen gnädig, die innerhalb dieser Stadt die Nacht verbringen müssen! Die hohen Häusermauern strahlen noch immer Glutwellen aus, und aus den Gossengruben dampfen faulige Miasmen, die einen Büffel betäuben könnten. Aber die Büffel schenken dem keine Beachtung. Ein halbes Dutzend lustwandelt in der menschenleeren Hauptstraße, und von Zeit zu Zeit drücken sie ihre massigen Nüstern an die Verschalungen der Kornhändlerläden und beschnauben sie dann wie die Walfische.

Wieder Stille. Aber jene gewisse Stille, die erfüllt ist von den Nachtgeräuschen einer großen Stadt: einen Augenblick erklingt ein Saiteninstrument, aber nur einen Augenblick. Hoch oben reißt einer ein Fenster auf und das Klappern des Rahmens ruft das Echo wach in den verödeten Straßen. Von einem Dach herab dringt das rhythmische Schlagen einer Punkah und Leute reden miteinander, – es klingt wie das sanfte Glucksen der Wasserpfeife. Ein wenig weiter und das Geräusch einer Unterhaltung wird deutlich. Ein schmaler Lichtstreifen zwischen den Ritzen des Rollverschlusses eines Ladens: drinnen ein stoppelbärtiger, müdäugiger Händler mitten unter Baumwollballen schreibt Zahlen in sein Hauptbuch. Drei verhüllte Gestalten leisten ihm Gesellschaft und machen von Zeit zu Zeit eine Notiz. Der Händler macht eine Eintragung, dann eine Bemerkung, dann fährt er sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn. Die Hitze in der eng verbauten Straße ist furchtbar; drin im Laden muß sie unerträglich sein. Aber die Arbeit geht ihren Gang: Eintragung, ein Kehllaut, ein Zucken der Hand nach der Stirn, so folgt eins auf das andere mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks.

Ein Polizeimann – ohne Turban und tief im Schlaf – liegt quer über dem Weg auf der Straße zur Moschee des Wazir Khan. Ein Streifen Mondlicht glänzt auf seinem Gesicht, aber es stört ihn nicht. Es ist dicht vor Mitternacht und noch immer nimmt die Hitze zu. Der offene viereckige Platz vor der Moschee ist bedeckt mit »Leichen«; vorsichtig muß man sich den Weg ertasten, um nicht auf sie zu treten. Das Mondlicht fällt quer auf die hohe Front der mit bunten Diagonalstreifen aus Email geschmückten Moschee und jede der in den Nischen und Winkeln des Mauerwerks träumenden Tauben wirft ihren kugelförmigen Schatten. Verhüllte Gestalten taumeln schlaftrunken auf von ihren Pritschen und verschwinden geisterhaft in den dunkeln Tiefen des Gebäudes. Ob es wohl möglich ist, bis zum Giebel des Minaretts emporzuklimmen, um von dort in die Stadt hinabzuschauen? Auf alle Fälle lohnt es den Versuch, vorausgesetzt, daß die Tür zur Treppe nicht verschlossen ist! Sie ist offen, aber ein tiefschlafender Türhüter liegt auf der Schwelle, das Angesicht dem Monde zugekehrt. Eine Ratte huscht aus seinem Turban beim Geräusch der sich nähernden Schritte. Der Mann grunzt, öffnet die Augen für eine Minute, dreht sich um und schläft wieder ein. Die ganze Hitze eines Jahrzehnts glühender indischer Sommer ist aufgespeichert in den pechschwarzen glatten Wänden der Wendeltreppe. Auf halber Höhe des Minaretts regt sich etwas Lebendiges, Warmes und Fedriges, und schnarcht. Von Stufe zu Stufe emporgetrieben, flattert es hinauf und entpuppt sich als gelbäugiger, wutfauchender Raubvogel. Zu Dutzenden schlafen sie in den Minaretten und der Kuppel darunter. – Jetzt, auf der Spitze des Turmes, ein Schatten von Kühle, oder wenigstens ein geringerer Gluthauch, als unten. Erfrischt davon, bleibe ich stehen und blicke hinab auf die Stadt der furchtbaren Nächte.

Doré hätte sie zeichnen, Zola sie beschreiben können: diese Tausende, die da schliefen im Mondlicht und seinen Schlagschatten. Die Dächer erfüllt mit Männern, Frauen und Kindern! Die Luft ist voll undefinierbarer Geräusche. Alles ruhelos in dieser Stadt der furchtbaren Nächte. Kein Wunder! Ein Wunder nur ist’s, daß diese Menschen noch atmen können! Sieht man genau hin, so bemerkt man, daß sie unruhig sind wie Menschen am hellen Tage, nur ist keine Eile in ihnen, – das Leben scheint unterdrückt. Überall, wohin man blickt, sieht man Schläfer sich unruhig wälzen, ihre Lagerbetten hin und her zerren und sich wieder ausstrecken. Auch unten in den Höfen der Häuser dasselbe Bild.

Erbarmungslos scheint der Mond auf sie hernieder. Scheint auf die Flächen außerhalb der Stadt und hie und da auf das handbreite Rinnsal des Ravee-Flusses hinter den Wällen. Dann reißt er einen glitzernden Silberblitz auf einem Hausdach auf, genau unter dem Moscheeminarett: irgendeine arme Seele gießt sich einen Kübel Wasser über den fiebernden Leib. Das Plätschern der fallenden Tropfen dringt leise an mein Ohr. Zwei oder drei andere folgen dem Beispiel; die Wassergüsse leuchten auf wie heliographische Signale. Eine kleine Wolke zieht über den Mond: und die Stadt und ihre Einwohner – soeben noch in weißes Licht und schwere Schlagschatten getaucht, – verschwimmen in einen Klumpen von Dunkel und immer tieferwerdendem Schwarz. Aber das unstete Geräusch dauert fort: das Seufzen einer großen Stadt, gewürgt von Hitze, und eines Volkes, das vergeblich nach Ruhe ächzt. Nur die Frauen der niedrigeren Kaste schlafen – versuchen zu schlafen – auf den Häusern der Dächer. Welche Qual muß erst herrschen in den vergitterten Zenanas – den Frauenhäusern? Hie und da sieht man durch die kleinen Fenster noch immer Lampen funkeln. Da! Schritte im Hofe unten! Es ist der Muezzin – der gläubige Diener der Moschee; eine Stunde früher hätte er hier sein sollen, um den Rechtgläubigen zu sagen, daß Gebet besser ist als Schlaf – Schlaf, der doch nicht kommt in die Stadt der furchtbaren Nächte!

Einen Augenblick tastet der Muezzin an der Tür eines Minaretts herum, verschwindet für eine Weile – dann verkündet ein furchtbarer Ruf – ein donnernder Baß, dröhnend wie das Brüllen eines Stieres, daß er auf der Spitze des Turmes angekommen ist. Sie müssen ihn hören – alle – bis hinüber zu den trockenen Sandbänken des Ravee. Bis hinab auf den Hofraum fällt die Gewalt des Rufes. Die Wolke zieht vorbei und der Mondglanz zeigt den Muezzin, wie er sich abhebt als schwarze Silhouette gegen den Himmel, wie er seine Hände an die Ohren preßt und seine breite Brust sich gehoben hat unter dem Atemstoß seiner Lungen bei dem hallenden Schrei: » Allah ho Akbar.« Dann eine Pause und: ein anderer Muezzin, aus der Richtung vom Goldenen Tempel her, nimmt den Ruf auf: » Allah ho Akbar.« Und wieder und wieder dröhnt es. Im ganzen viermal. Ein Dutzend Männer sind bereits aufgestanden von ihren Strohsäcken.: »Zeuge bin ich, es gibt keinen Gott außer Gott!« – was für ein herrlicher Ruf das ist, dieses Bekenntnis der Gläubigen, der die Menschen scharenweise von den Lagern scheucht um Mitternacht! Wieder dröhnt die Donnerstimme denselben Satz, und der Muezzin taumelt unter der Wucht seines eigenen Rufes; und dann nah und fern erbebt die Nachtluft mit dem Wort: »Mohammed ist Gottes Prophet.« Es ist, als fliege der Schrei bis hin zum fernen Horizont und fordere den Sommerblitz heraus, der da zuckt und aufgrellt wie ein aus der Scheide gerissenes Schwert. Bald, und alle Muezzin der Stadt rufen es herab von den Moscheezinnen; – schon haben sich viele auf den Dächern in die Knie geworfen. Eine lange Pause geht dem Schlußruf voran: » La ilaha Illallah!« Dann Totenstille. Wie ein Sack schließt sich das nächtliche Schweigen über allem.

Der Muezzin stolpert die dunkle Treppe hinunter, brummt etwas in den Bart, schreitet durch den Eingangsbogen und verschwindet. Erstickende Hitze brütet wieder stumm über der Stadt der furchtbaren Nächte. Wieder schlafen die Raubvögel in den Minaretten und schnarchen noch lauter als vorher; Gluthauch steigt in langsamen Wellen auf und der Mond gleitet unmerklich zum Horizont hinab. Bis zur Morgendämmerung kann man da an der Brustwehr lehnen, die Ellenbogen aufgestützt, und hinunterschauen auf den von Hitze gequälten, summenden menschlichen Bienenschwarm. Wie sie wohl ihr Leben verbringen? Woran sie denken? Wann sie wohl erwachen werden? Wieder das Plätschern von Wassereimern; leises Scharren von hölzernen Bettstellen, die in und aus dem Schatten gerückt werden; mißtönende Musik von Saiteninstrumenten, die, durch die große Entfernung gemildert, wie ein wehmütiger Klageruf klingt, dann das tiefe Grollen eines Donners weit drüben im Land. Der Türhüter unten im Hofraum der Moschee, derselbe, der quer über der Schwelle lag, als ich das Minarett betrat, fährt plötzlich wild auf im Schlaf, wirft die Arme in die Höhe, murmelt etwas und fällt wieder zurück in seine alte Stellung. Eingelullt von dem Schnarchen der Turmkäuze – sie röcheln wie Menschen, die erdrosselt werden, – versinke ich in quälenden Halbschlaf; nur dunkel kommt mir zu Bewußtsein, daß es drei Uhr geschlagen hat und eine leise, kaum merkliche Kühle in der Luft liegt. In der Stadt unten herrscht vollkommene Ruhe, nur bisweilen unterbrochen vom Liebesgesang streunender Hunde. Sonst schwerer Schlaf überall.

Wochenlang, so will mir scheinen, dauert die Finsternis: der Mond ist untergegangen. Sogar die Hunde schweigen. Ich warte, bis die Dämmerung kommt, ehe ich heimgehen will. Abermals ein Geräusch schlurfender Füße. Der Morgenruf hebt an und meine Nachtwache ist vorüber. » Allah ho Akbar! Allah ho Akbar!« Der Osten färbt sich grau und gleich darauf safrangelb; der Morgenwind erhebt sich, als hätte ihn der Muezzin beschworen, und wie ein Mann steht die Stadt der furchtbaren Nächte auf von der Lagerstatt auf den Dächern der Häuser. Die Lider schwer vom Entbehren des Schlummers, schleiche ich mich aus dem Minarett über den Hofraum der Moschee auf den breiten Platz hinaus, wo die erwachten Schläfer aufgestanden sind, ihre Bettstätten aufzuräumen, und von der Morgenwasserpfeife reden. Die kurze Minute der Kühle ist vorbei und es ist wieder so heiß, wie zuvor.

»Möchte der Sahib die Freundlichkeit haben, ein wenig zur Seite zu treten?« »Weshalb? Was ist geschehen?« Auf Männerschultern wird ein Etwas herangetragen im Zwielicht, und ich weiche einen Schritt zurück. Die Leiche einer Frau wird zum Verbrennungsghaut hinabgeführt. Einer der Herumstehenden sagt: »Sie ist heute um Mitternacht an der Hitze gestorben.« Nicht nur eine Stadt der furchtbaren Nächte ist Lahore, auch eine Stadt des Todes.

Der Ausgelöschte

»Das Grab spie seinen Toten aus,
Im Lager er erschien
Und sprach sein Wort, ging wieder fort,
Ließ unsre Herzen glühn.

Seid Männer! Nehmt’s Gewehr zur Hand!
Die Rache ruft zur Tat!
Bald findest du, so Gott will, Ruh,
Mein toter Kamerad!«
Ballade

Man muß sich darüber im klaren sein, daß der Russe ein ganz entzückender Mensch ist, solange man sein Hemd nicht sieht. Als Orientale genommen, ist er einfach hinreißend; – wenn er aber verlangt, als östlichster der Westlichen behandelt und angesehen zu werden, statt als Westlichster der östlichen, dann hat man eine Kategorie Mensch vor sich, von dem man beim besten Willen nicht weiß, wie man mit ihm umspringen soll. Hat man ihn zu Gast, so weiß man nie, welche Seite seiner Natur er im nächsten Augenblick herauskehren wird …

Dirkowitsch war ein Russe – der russischste aller Russen, und es hatte den Anschein, als erwerbe er seinen Lebensunterhalt als Kosakenoffizier im Dienste des Zaren – und nebenbei als Korrespondent einer russischen Zeitung unter einem Namen, der sich nie zweimal wiederholte. Er war ein hübscher junger Asiat und liebte es, unerforschte Teile der Erde zu durchreisen. Er kam nach Indien, kein Mensch wußte, woher. Ob er auf dem Weg über Balkh, Badakshan, Chitral, Beludschistan, Nepal oder sonst ein Paßgebiet gekommen war? Niemand hatte die leiseste Ahnung. Die indische Regierung, die gerade guter Laune gewesen sein mochte, hatte den Befehl gegeben, ihn höflich aufzunehmen und ihm alles zu zeigen, was er zu sehen wünschte; und so trieb er sich denn umher mit einem schlechten Englisch und einem noch schlechteren Französisch, bis er eines Tages in Peshawur landete, wo damals die Weißen Husaren Ihrer Majestät der Königin lagen – an der Mündung des engen Einschnitts in die Berge, der Khyber-Paß heißt. Zweifellos Offizier, war er nach russischer Art mit kleinen emaillierten Kreuzen dekoriert und konnte uferlos schwätzen, wie nicht so bald einer. (Dekoriert war er deshalb wohl kaum worden.) Beim Black-Tyrone-Regiment ging die Sage um, er sei nicht zu schlagen – im Saufen nämlich. Man hätte sich vergeblich bemüht, so hieß es, ihn mit heißem Whisky und Honig, mit glühendem Branntwein und Schnapsgemischen aller Art unter den Tisch zu kriegen, aber nichts hätte gefruchtet. Und wenn die Black Tyrones so etwas eingestehen, die doch alle Irländer sind, so stand außer Zweifel, daß dieser Fremde fraglos ein Übermensch auf diesem Gebiete war.

Die Weißen Husaren sind bei der Wahl ihrer Weine ebenso gewissenhaft wie bei sonstigen Angriffen auf den Feind; sie stellten also ihre sämtlichen Getränke, einschließlich eines märchenhaften Branntweins, zu Dirkowitschs freier Verfügung, und er trank denn auch ganz unglaubliche Mengen davon – mehr noch als bei den Black Tyrones.

Dennoch blieb er geradezu unerträglich europäisch, nannte die Weißen Husaren: »Ljiebe rummbedäckte Gampfesgenossen und Härzänsbridder«. Stundenlang konnte er seinem Herzen Luft machen mit Reden über die glorreiche Zukunft, der die verbündeten englischen und russischen Armeen entgegengingen, wenn sie erst einmal wie ihre Länder unauflöslich ein Herz und eine Seele sein würden, um die Zivilisation Asiens in Angriff zu nehmen. Das klang zwar nicht sehr wahrscheinlich, denn Asien wird sich schwerlich nach europäischem Muster zivilisieren lassen; es ist zu alt dazu! Eine Frau, die viele Liebhaber gehabt hat, kann man nicht bessern, und Asien war in früheren Zeiten unersättlich als galante Dame. In die Sonntagsschule wird sich Asien nicht schicken lassen, wird auch nicht lernen, Wahlzettel zur Hand zu nehmen statt Schwerter.

Dirkowitsch wußte das natürlich ganz genau, aber es paßte ihm besser, den Spezialkorrespondenten herauszukehren als den Offizier einer fremden Macht, und sich so beliebt wie möglich zu machen. Gelegentlich ließ er auch ein paar nebensächliche Brocken über seine eigene Kosakensotnja fallen, die offenbar irgendwo im Hinterland ohne ihn herumgaloppierte. Er hatte in Zentralasien schwere Arbeit geleistet und war auf den Selbsterhaltungskampf besser dressiert als so mancher in seinem Alter, hütete sich jedoch wohlweislich, es merken zu lassen. Noch mehr ließ er es sich angelegen sein, die Disziplin, die Uniformen und die Organisation der Weißen Husaren Ihrer Majestät zu bewundern. Und die Weißen Husaren sind auch wirklich ein bewundernswertes Regiment. Als Lady Durgan, die Witwe des verstorbenen Sir John Durgan, einst in der Garnisonsstadt eingetroffen war und ihr bald darauf jeder einzelne des Regiments einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte sie es verstanden, die öffentliche Meinung durch die feine Erklärung für sich einzunehmen, sämtliche Herren wären so entzückend, den Colonel und ein paar bereits verheiratete Majore mit einbegriffen, daß sie sich mit einem einzigen Offizier unmöglich begnügen könne. Aus diesem Grunde und sicherlich nur aus Widerspruchsgeist heiratete sie dann einen kleinen Niemand aus einem Schützenregiment. Zuerst wollten die Weißen Husaren daraufhin Mann für Mann einen Trauerflor an ihre Ärmel legen, aber bald besannen sie sich eines Besseren und erfüllten am Hochzeitstag die Kirche durch ihre Anwesenheit mit stummem Vorwurf. In Wirklichkeit hatte sie alle verschmäht, vom Seniorkapitän Basset-Holmer angefangen bis herab zu Mildred, dem jüngsten Fähnrich, der ihr jährlich 4000 Pfund und einen Titel zu Füßen hätte legen können.

Die einzigen, die die allgemeine Hochachtung für die Weißen Husaren nicht teilten, waren ein paar tausend Herren jüdischer Abkunft, die jenseits der Grenze wohnten und auf den Namen »Pathans« oder Afghanen hörten. Sie waren einmal mit dem Regiment in offiziellen Angelegenheiten kaum zwanzig Minuten lang beisammen gewesen, aber schon diese kurze Zusammenkunft, die durch verschiedene kleine, aber um so lebhaftere Kontroversen gewürzt war, hatte sie mit Vorurteilen aller Art erfüllt, so daß sie die Weißen Husaren als Teufelskinder bezeichneten und als Söhne von Leuten, mit denen man unmöglich in guter Gesellschaft verkehren könne. Trotz dieser Abneigung ließen sie sich jedoch nicht abhalten, sich auf Kosten der Weißen Husaren gelegentlich zu bereichern. Das Regiment besaß nämlich Karabiner – schöne Martini-Henry-Gewehre, die nicht nur eine Kugel 1000 Meter weit ins feindliche Lager zu schleudern vermochten, sondern auch viel leichter zu handhaben waren als lange Büchsen. Sie waren deshalb die ganze Grenze entlang sehr begehrt und, da bekanntlich die Nachfrage das Angebot zu regeln pflegt, wurden sie unter Gefahr für Leib und Leben mit Silber aufgewogen, das heißt: mit 16 Pfund Sterling das Stück bezahlt. Sie wurden des Nachts von schlangenhurtigen Dieben, die unter den Nasen der Wachen herangekrochen kamen, gestohlen, verschwanden auf geheimnisvolle Weise aus verschlossenen Waffenschränken und, bei heißem Wetter, wenn alle Barackentüren und Fenster offenstanden, verdunsteten sie wie ihre eigenen Rauchwolken. Die Grenzbewohner bedurften ihrer dringend zu Zwecken der Blutrache und anderer Erfordernisse. In den langen kalten Nächten des nordischen indischen Winters wurden sie besonders gern gestohlen, denn um diese Zeit blüht das Mordgeschäft ganz besonders, und die Gewehrpreise stiegen dann beträchtlich. Man verdoppelte deshalb die Regimentswachen und schließlich verdreifachte man sie. Der gemeine Soldat macht sich nicht viel daraus, wenn er sein Gewehr verliert, denn die Regierung muß es ja ersetzen, aber beraubt ihn jemand seines Schlafes, dann wird er fuchsteufelswild; kein Wunder daher, daß so mancher Flintendieb, der auf der Tat erwischt wurde, bis zur heutigen Stunde das sichtbare Zeichen des Regimentszornes am Leibe trägt. Dergleichen Maßnahmen geboten den Räubereien für längere Zeit Einhalt, so daß man die Zahl der Wachen herabmindern und das Regiment sich wieder dem Polospiel zuwenden konnte. Und dies mit unerwartetem Erfolg; es gelang ihm nämlich, mit zwei Goals gegen eins das furchtbare Polo-Team des Lushkar Light Horse-Regiments zu schlagen, trotzdem dieses vier Ponys für den nur einstündigen Kampf zur Verfügung hatte – und außerdem einen eingeborenen Offizier, der wie eine züngelnde Flamme auf dem Spielplatz herumhuschte.

Die Weißen Husaren gaben ein Fest, um das Ereignis zu feiern. Das ganze Lushkar-Team kam, und auch Dirkowitsch erschien. In der Galauniform eines Kosakenoffiziers. Er wurde den Lushkars vorgestellt und machte große Augen, als er sie erblickte. Es waren noch schlankere Männer als die Husaren, und sie bewegten sich mit einem Schwung, der alle Punjab-Grenztruppen und irregulären Reiter auszeichnet. Wie alles im Dienst muß er gelernt werden, wird aber nie mehr vergessen, wie so manches andere, und haftet dem Körper an bis zum Tode.

Der große, mit einem Balkendach gedeckte Speisesaal der Weißen Husaren bot einen imposanten Anblick. Das ganze Silber der Offiziersmesse war auf dem langen Tisch aufgedeckt – demselben Tisch, auf dem die Leichen von fünf Offizieren, die in einem längst vergessenen Kampfe gefallen waren, einst aufgebahrt gewesen waren. Zerfetzte Standarten schmückten den Eingang, Sträuße von Winterrosen lagen zwischen den silbernen Leuchtern, die Porträts hervorragender verstorbener Offiziere blickten herab auf ihre Nachfolger zwischen den Köpfen und Geweihen von Sambhur, Nilghai und Markhor (*Indischer Hirsch, Blau-Antilope und indische Bergziege.*) und dem Stolz der Tafelrunde: zwei grinsenden Schneeleoparden, deren Erbeutung Basset-Holmer vier Monate Urlaub gekostet, den er statt auf der Straße nach Tibet, und täglich bedroht von Lawinen, Schneestürmen und Steinfall, ganz gut in England hätte zubringen können.

Die Diener, in fleckenlosen weißen Musselin gekleidet, das Regimentswappen am Turban, warteten hinter ihren Herren, die im Scharlach und Gold der Weißen Husaren und im Milchweiß und Silber der Lushkar Light Horses prangten. Dirkowitschs stumpfgrüne Uniform war der einzige dunkle Punkt an der Tafel, aber seine großen Onyxaugen entschädigten dafür. Er fraternisierte überströmend mit dem Kapitän des Lushkar-Regimentes, der dabei vermutlich überlegte, mit wieviel von Dirkowitschs Kosaken es wohl jeder einzelne seiner eigenen dunkelhäutigen zähen Reiter aufnehmen könnte; er ließ sich natürlich nicht die Spur anmerken. Wer täte das!

Die Unterhaltung wurde immer lebhafter. Die Regimentskapelle spielte zwischen den Gängen, wie das seit undenklichen Zeiten Sitte war, bis ein allgemeines Schweigen beim Abräumen der Speisen eintrat und ein Offizier sich erhob und den ersten pflichtgemäßen Toast mit den Worten einleitete: »Herr Stellvertreter! Die Königin!« Worauf der kleine Mildred am ändern Ende des Tisches ausrief: »Die Königin! Gott segne sie!« und die großen Sporen aneinanderklirrten, die hochgewachsenen Männer aufsprangen und auf das Wohl der Königin tranken, aus deren Kasse, wie sie irrtümlicherweise annahmen, ihr Lebensunterhalt bestritten wurde. Dieses Tafelritual bleibt immer jung; niemals verfehlt es, dem, der es hört, die Brust zu schwellen, sei es zu Wasser oder zu Lande. Dirkowitsch erhob sich mit seinen »rummvol-län Briddern«, aber das Verständnis fehlte ihm; nur ein Offizier kennt die Bedeutung des Toastes, die Menge bringt es bloß bis zum Gefühl. Kurz nach der Stille, die der Zeremonie folgte, trat der eingeborene Offizier ein, der für das Lushkar-Regiment Polo gespielt hatte. Er durfte natürlich nicht mit an der Tafel speisen, aber zum Dessert kam er herein, in seiner ganzen Länge von sechs Fuß, mit dem blau und silbernen Turban oben und den hohen schwarzen Lackstiefeln unten. Die ganze Tafelrunde erhob sich fröhlich, als er zum Zeichen der Huldigung dem Obersten der Weißen Husaren seinen Säbelgriff zur Berührung hinhielt und sich dann in einen Sessel fallen ließ, während alle durcheinander jubelten: »Rung ho (was soviel heißt, wie: komm und siege), Rung ho, Hira Singh!« – »Hab ich dir eins übers Knie gegeben, Alter?« – »Ressaidar Sahib, was zum Teufel hast du auch das kleine hintenausschlagende Schwein von einem Pony in den letzten zehn Minuten noch mitspielen lassen müssen?« – »Shabash, Ressaidar Sahib!« Und mitten hinein ertönte die Stimme des Obersten: »Auf das Wohl des Ressaidar Hira Singh!«

Nachdem sich der Lärm gelegt hatte, erhob sich Hira Singh, um zu antworten, denn er war der Sprößling eines Fürstenhauses, der Sohn eines Königssohnes, und wußte, was sich bei solchen Gelegenheiten gehörte. Er bediente sich seiner Muttersprache, als er rief: »Oberst Sahib und Offiziere des Regimentes! Ihr habt mir eine große Ehre erwiesen. Ich werde dessen eingedenk bleiben. – Wir sind hergekommen, um mit den Weißen Husaren zu spielen. Wir sind geschlagen worden.« (»Es war Ihre Schuld nicht, Ressaidar Sahib! Wir waren auf unserm Spielplatz besser zu Hause, vergessen Sie das nicht! Und dann waren eure Ponys noch steif von der Eisenbahnfahrt. Entschuldigen Sie sich nicht!«) – »Deshalb werden wir vielleicht wiederkommen, so Gott es will.« (»Hört, hört! Bravo! Pst -«) – »Um nochmals mit euch zu spielen.« (»Auf Wiedersehen!«) – »Bis unsere Ponys sich die Beine vom Leib abgelaufen haben werden. So will es der Sport.« Seine Hand faßte nach dem Säbelgriff und sein Blick glitt hinüber zu Dirkowitsch, der zurückgelehnt in seinem Sessel saß -»Aber sollte nach Gottes Ratschluß dann nicht Polo, sondern – ein anderes Spiel gespielt werden, so seid versichert, Colonel Sahib und ihr Herren Offiziere, daß wir Seite an Seite bis ans Ende spielen werden, und wenn sie auch«, wieder heftete er den Blick auf Dirkowitsch, »fünfzig Ponys hätten und wir nur eins.« Und mit einem tief aus der Kehle kommenden »Rung ho«, das dumpf dröhnte, wie wenn ein Gewehrkolben auf Steinfliesen fallen gelassen wird, setzte er sich wieder nieder beim Gläserklang.

Dirkowitsch, unentwegt schwelgend im Genüsse des erwähnten märchenhaften Branntweins, hatte kein Wort verstanden; auch die lauwarm-milden Übersetzungen, die man ihm beibrachte, konnten ihm den Sinn nicht klarmachen. Hira Singhs Rede bildete das Ereignis des Tages, und es wollte scheinen, als solle das Getöse bis zum Morgen dauern – da fiel plötzlich draußen ein Schuß, der alle nach der linken, unbewaffneten Seite greifen ließ. Gleich darauf ein wildes Getümmel vor der Tür und ein Schmerzensschrei.

»Wieder mal ein Karabinerdiebstahl!« sagte der Adjutant gelassen und fiel wieder in seinen Sessel zurück. »Das kommt davon, wenn man die Wachen reduziert. Hoffentlich haben ihn die Posten erschossen!«

Die Schritte von Soldaten dröhnten über den Steinboden der Veranda, und es schien, als schleifte man etwas herbei.

»Warum stecken sie den Kerl nicht bis morgen früh in eine Zelle!« meinte der Oberst ärgerlich. »Sehen Sie nach, Sergeant, ob er verwundet ist.«

Der Mann eilte hinaus in die Dunkelheit und kam gleich darauf mit zwei Gemeinen und einem Korporal zurück -alle höchlichst bestürzt.

»Indifidium gefaßt beim Karabinerstehlen«, meldete der Korporal. »Is er wenigstens an die Baracken hin gekrochen, Herr Oberst, und an die Schildwachen vorbei. Und die Schild-wach, die sagt, Herr Oberst—-«

Das zusammengekauerte Lumpenbündel, das die drei hereingebracht hatten und am Hals in die Höhe hielten, stöhnte laut. Noch nie hatte man einen so elenden und herabgekommen Afghanen gesehen: ohne Turban, ohne Schuhe, mit Schmutzfladen bedeckt und anscheinend halbtot mißhandelt. Hira Singh schauderte leicht zusammen bei dem Schmerzenslaut des Mannes. Dirkowitsch schenkte sich noch einen Schnaps ein.

»Also, was sagt der Wachtposten?« fragte der Oberst.

»Sagt, er sprich englisch«, meldete der Korporal.

»Also deshalb hast du ihn hereingebracht, statt ihn dem Sergeanten zu übergeben! Merk dir: und wenn er mit Pfingstzungen geredet hätte, hereinbringen durftest du ihn nicht!«

Wieder stöhnte und jammerte das Lumpenbündel. Der kleine Mildred stand auf, um den Fall zu untersuchen. Er sprang zurück wie von einer Schlange gebissen.

»Es wäre gut, die Leute hinauszuschicken«, sagte er halblaut zu dem Obersten. Dann legte er seinen Arm um das in Lumpen gehüllte Jammerbild und setzte es in einen Stuhl. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß Mildred deswegen der »kleine« Mildred hieß, weil er die ungeheure Größe von sechs Fuß vier Zoll hatte. Als der Korporal sah, daß ein Offizier sich des Gefangenen annahm und das Auge des Obersten zu funkeln begann, drückte er sich schnell mit seinen Leuten. – Die Tafelrunde war nunmehr allein mit dem Karabinerdieb, der seinen Kopf auf den Tisch sinken ließ und bitterlich, hoffnungslos, trostlos zu weinen und zu schluchzen begann.

Hira Singh sprang auf: »Oberst Sahib, das ist kein Afghane! Afghanen weinen: Ai, Ai. Er ist auch kein Hindustani; die weinen: Oh! Ho! Er weint nach Art der Weißen: Au! Au!«

»Woher, zum Kuckuck, Hira Singh, haben Sie denn diese Kenntnis?« fragte der Kapitän des Lushkar-Regiments.

»Hören Sie ihn?« fragte Hira Singh ruhig.

»Er hat soeben ‚Mein Gott‘ gesagt«, bestätigte der kleine Mildred, »ich habe es genau gehört.«

Schweigend betrachteten der Oberst und die ändern Offiziere den Unglücklichen. Es ist etwas Furchtbares, einen Mann weinen zu hören. Eine Frau kann mit dem Gaumen schluchzen, oder mit den Lippen, oder sonstwie, aber ein Mann schluchzt aus dem Zwerchfell herauf – es zerreißt ihn.

»Armer Teufel!« brummte der Oberst und hustete. »Wir müssen ihn ins Spital schicken, er ist mißhandelt worden.«

Der Adjutant hingegen liebte seine Karabiner zu sehr, als daß er hätte gerührt sein können; Karabiner galten ihm soviel wie Enkelkinder und kamen gleich nach der Mannschaft im Rang. Darum brummte er rebellisch: »Daß ein Afghane stiehlt, kann ich noch begreifen, denn es liegt in seiner Natur; aber daß er weint, kann ich nicht begreifen. Das macht die Sache noch schlimmer.«

Der Märchenbranntwein schien Dirkowitsch endlich besiegt zu haben, denn Dirkowitsch lag in seinem Sessel und starrte zur Decke empor. Dort war nichts Besonderes zu sehen, bis auf einen Schatten, der die Form eines kolossalen schwarzen Sarges hatte. Wahrscheinlich infolge irgendeiner Eigentümlichkeit in der Konstruktion des Speisesaals erschien er immer, wenn die Lichter angezündet wurden. Die Verdauung der Weißen Husaren störte sein Anblick nicht im geringsten. Im Gegenteil: Sie waren stolz auf ihn.

»Ob er wohl die ganze Nacht so weinen wird?« meinte der Oberst. »Oder sollen wir mit dem kleinen Mildred als Gast aufbleiben, bis es ihm wieder besser geht?«

Der Mann im Sessel erhob mit einemmal den Kopf und starrte die Versammlung an. »Oh, mein Gott!« sagte er. Sogleich sprang alles auf. Der Lushkar-Kapitän aber tat etwas, wofür ihm das Viktoriakreuz gebührt hätte als Auszeichnung für Tapferkeit im Kampf gegen überwältigende Neugier: Er gab seinen Leuten ein Zeichen mit den Augen, wie eine Hauswirtin es ihren Damen gegenüber in schicklichen Momenten zu geben pflegt, und führte sie nach den wenigen an den Obersten gerichteten Worten: »Dies ist nicht unsere Angelegenheit, Sir!« hinaus auf die Veranda und in die Gärten. -Hira Singh war der letzte, der den Saal verließ; er warf nur noch einen Blick auf den Russen. Dirkowitsch bemerkte es nicht; er war ins Schnapsparadies eingegangen und studierte noch immer den Sarg an der Decke, lautlos dabei die Lippen bewegend.

»Ein Weißer bis in die Knochen«, sagte Basset-Holmer, der Adjutant. »Was für ein heilloser Renegat das sein muß! Möchte gern wissen, wo er herkommt.«

Der Oberst schüttelte den Mann leicht am Arm und fragte: »Wer sind Sie?«

Keine Antwort. Der Mann starrte im Saal umher und lächelte dann dem Obersten ins Gesicht. Der kleine Mildred, der stets mehr Weib als Mann war, solange nicht der Ruf erscholl: »Mannschaft! Aufgesessen!« wiederholte die Frage in einem Ton, der einen Geyser zu Vertraulichkeiten hätte verleiten müssen, aber das Lumpenbündel lächelte nur.

Dirkowitsch benützte die Gelegenheit, sanft von seinem Sessel herab auf den Fußboden zu gleiten; kein Adamsohn kann auf dieser unvollkommenen Welt den Champagner der Weißen Husaren flaschenweise mit ihrem Märchenbranntwein gemischt durcheinander trinken, ohne an die Grube gemahnt zu werden, der er einst entstiegen und in die er wieder zurückkehren wird! Die Musikkapelle stimmte in diesem Augenblick die Melodie an, mit der die Weißen Husaren seit Gründung des Regimentes alle ihre Festlichkeiten zu beschließen pflegten; lieber hätten sie sich pensionieren lassen, als auf sie verzichtet. Als die Weise ertönte, erhob der Mann den Kopf und begann im Takt mit den Fingern auf die Tischplatte zu trommeln.

»Eigentlich sehe ich nicht ein, warum wir Wahnsinnige unterhalten sollen«, meinte der Oberst. »Rufen Sie eine Wache, damit er in eine Zelle gesteckt wird. Wir wollen die Angelegenheit morgen untersuchen. Aber geben Sie ihm vorher noch ein Glas Wein.«

Der kleine Mildred füllte ein Sherryglas mit Brandy und schob es dem Manne hin. Er trank. Die Musik spielte lauter. Er richtete sich stramm auf. Dann streckte er seine krallenartigen Finger nach einem silbernen Tafelgerät aus und streichelte es zärtlich. Darin war eine Feder verborgen, gewissermaßen ein Geheimnis. Wenn man darauf drückte, wurde aus dem Ding eine Art speicherförmiger Kandelaber. Der Mann fand die Feder, drückte darauf und lachte leise. Dann stand er auf, betrachtete ein Bild an der Wand, dann das nächste, während die Offiziere ihn schweigend beobachteten. Als er beim Kaminsims angekommen war, schüttelte er den Kopf und schien enttäuscht. Ein Aufsatz aus Silber, einen Husaren in voller Uniform zu Pferd darstellend, fesselte seine Aufmerksamkeit; er deutete mit fragender Miene darauf und dann wieder auf das Kaminsims.

»Was er wohl damit meinen mag?« sagte der kleine Mildred und erklärte ihm gleich darauf mit einem Ton, so herzensgut, wie etwa eine Mutter zu ihrem Kinde sprechen würde: »Ein Pferd ist es, schau nur: ein Pferd!«

Und langsam kam die Antwort zurück – in halbersticktem, leidenschaftslosem Gurgelton: »Ja – ich – hab’s gesehen. – Aber – wo – ist dieses Pferd?«

Man hätte die Herzen schlagen hören können, so lautlos machten die Offiziere dem Manne Platz, wie er langsam im Speisesaal umherwanderte. Keinem fiel es mehr ein, den Wachposten zu rufen.

Wieder sprach da der Mann – mit zögernden Worten: »Wo – wo ist – unser Pferd?«

Es gab nur ein Bild eines Pferdes bei den Weißen Husaren und es hing an der Tür draußen vor dem Speisesaal. Es stellte den Schecken des Trommlers dar, des Königs der Regimentsmusik, und hatte siebenunddreißig Jahre lang treu gedient, bis es wegen Altersschwäche erschossen werden mußte. Sofort rissen einige der Herren das Bild von seiner Stelle und reichten es dem Manne hin. Er nahm es und stellte es – auf das Kaminsims. Dann taumelte er an das Ende der Tafel und sank in Mildreds Stuhl. Ein Stimmengewirr erhob sich: »Seit dem Jahre 67 hat das Trommlerpferd nicht mehr über dem Kaminsims gehangen!« – »Wie kann er das wissen!?« – »Mildred, geh, sprich doch noch mal mit ihm!« – »Oberst, was gedenken Sie zu tun?« -»So schweigt doch! Laßt dem armen Teufel Zeit, zu sich zu kommen.« – »Das wird er nie, er ist doch wahnsinnig!«

Der kleine Mildred trat zu dem Obersten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann wandte er sich an die Gesellschaft und sagte laut: »Ich bitte die Herren, wieder alle ihre Plätze einzunehmen!« Es geschah. Nur Dirkowitschs Sessel blieb leer. Der kleine Mildred setzte sich in Hira Singhs Stuhl. Unter allgemeiner Totenstille füllte der diensthabende Sergeant, die Augen weit aufgerissen, die Gläser. Wieder, wie vorher am Schlusse des Banketts, erhob sich der Oberst, faßte sein Glas, aber seine Hand zitterte, so daß der Wein auf den Tisch floß, und rief mit heiserer Stimme, den am Ende der Tafel in seinem Sessel zusammengesunkenen Mann anstarrend: »Herr Stellvertreter! Die Königin!« Eine bange Pause folgte, dann sprang der Mann auf und antwortete ohne zu stocken: »Die Königin! Gott segne sie!« Und als er das Glas geleert hatte, brach er mit den Fingern den Stiel ab.

Vor langer, langer Zeit, als die Kaiserin und Königin noch eine junge Frau war und es noch keine falschen Ideale im Lande gab, war es bei gewissen militärischen Liebesmahlen Sitte gewesen, nach solchen Toasten die Stiele der Trinkgläser abzubrechen zum Entzücken aller Heereslieferanten, aber diese Sitte besteht jetzt nicht mehr; weswegen sollte man auch etwas zerbrechen! Höchstens – brechen, und das besorgt die Regierung selber, besonders wenn es das Brechen eines gegebenen Wortes anbelangt.

»Das löst das Rätsel«, sagte der Oberst aufatmend, »er ist kein Sergeant. Aber was, in aller Welt, ist er denn?«

»Ja, was ist er?« rief alles wie aus einem Munde und eine Flut von Fragen erhob sich. Kein Wunder, daß der zerlumpte, schmutzbedeckte Eindringling es nur zu einem verständnislosen Lächeln und Kopfschütteln brachte.

Da kroch Dirkowitsch, wahrscheinlich aus gesundem Schlummer erweckt durch Füße, die unabsichtlich auf seinem Körper herumgetrampelt hatten, unter dem Tisch hervor. Auf seinem Gesicht lag ein seliges Lächeln. Er tauchte dicht neben dem Manne auf, aber kaum hatte ihn dieser erblickt, so schrie er laut auf und krümmte sich unter seinen Lumpen in wildem Entsetzen. Es war ein grausiger Anblick nach dem erhebenden und feierlichen Trinkspruch, der die verwirrten Sinne so schnell beruhigt hatte.

Dirkowitsch rührte keinen Finger, um dem Unglücklichen zu helfen, dafür sprang Mildred auf und stützte ihn. Es schickt sich nicht, daß ein Gentleman, der einen Toast auf die Königin auszubringen imstande ist, einem subalternen Kosakenoffizier zu Füßen liegt!

Durch das hastige Zugreifen Mildreds war dem Manne der obere Teil seiner Bekleidung fast bis zum Gürtel aufgerissen worden. Sein Körper war über und über bedeckt mit schwarzen trockenen Narben! Es gibt nur ein Instrument in der Welt, das solche parallel laufende Striemen reißt. Weder Dornen noch Katzenkrallen bringen dergleichen hervor! Dirkowitsch erblickte sie, und seine Augen erweiterten sich. Auch in seinen Mienen ging eine merkwürdige Veränderung vor. Er sagte etwas, das klang wie: »Shto ve takete?« und sofort hauchte das Lumpenbündel unterwürfig: »Chetyre.«

»Was heißt das?« schrien alle durcheinander.

»Das ist seine Nummer. Nummer vier, wjissen Sie«, erklärte Dirkowitsch mit schwerer Zunge.

»Was hat ein Offizier Ihrer Majestät der Königin mit einer Nummer zu tun?« fragte der Oberst in schneidendem Ton; ein drohendes Murmeln lief um den Tisch.

»Wjie kann jich das wissen?« sagte der geschmeidige Asiat mit einem süßen Lächeln. »Er ist – wjie sagt man? – eine Desertörr – eine Flüchtling von drüben –« Er deutete in das Dunkel der Nacht hinaus.

»Sprechen Sie mit ihm! Vielleicht antwortet er Ihnen. Aber, bitte, sanft!« sagte der kleine Mildred und drückte den Mann wieder freundlich in den Stuhl zurück. Es erregte allgemeine Entrüstung, daß Dirkowitsch Brandy schlürfte, während er mit dem Geschöpf, das ihm so zaghaft und von offensichtlicher Furcht ergriffen antwortete, russisch zischte und knurrte. Da aber Dirkowitsch den Mann zu verstehen schien, unterbrach man ihn nicht. Alle lauschten gespannt und vorgebeugt, und man konnte ihren schweren Atem hören während der langen Pausen, die bisweilen in dem Verhör eintraten. Wenn die Weißen Husaren einmal keinen Dienst haben werden, wollen sie nach Petersburg fahren, um Russisch zu lernen!

»Er weiß nicht, wie lange es her ist«, berichtete Dirkowitsch mit einem Blick auf das Offizierskorps, »aberr er sagt, es müsse sein gewesen vor serr Ijange Zeit, wärrend eines Krieges. Ich gljaube, es warr eine Zufall. Err sagt, er hat mitgemacht den Krieg mit Ihrem rummbedeckten und ausgezeichneten Regiment.«

»Die Listen! Die Listen! Holmer, bring die Listen her!« schrie der kleine Mildred, und der Adjutant stürzte ohne Mütze hinaus ins Ordonnanzzimmer, wo die Musterungslisten des Regiments aufbewahrt wurden. Als er zurückkam, hörte er, wie Dirkowitsch seine Rede mit den Worten schloß: »Deshalb meine teurren Freunde, bin ich iber die Maaßen betrübt, daß ein Zufall die Veranlassung war, der wieder hätte gut gemacht werden können, wenn er sich hätte entschuldigt bei unsenn Oberst, der von ihm ist belj eidigt worden.«

Abermals entstand ein lautes Murren, das der Oberst nur mit Mühe ersticken konnte, die Offiziere schienen nicht in der Laune zu sein, Beleidigungen gegen einen russischen Obersten abzuwägen.

»Err sagt, er erinnert sich nicht mehr«, fuhr Dirkowitsch fort, »aber ich glaube, es war eine Zufall. Deshalb wurde er nicht, wie die andern Gefangenen ausgetauscht, sondern an einen ändern Ort – verschickt; nach – wjie soll ich sagen? – Nun: aufs Land! Auf diese Weise kam er dann schließlich hierher, er weiß nicht, wie. Nicht? Err war in Chepany.« Der Mann hörte den Namen, nickte und schauderte. »Err war in Zhigansk und Irkutsk. Ich begreife nicht, wie err hat können entfliehen! Er sagt auch, daß er sich hat herumgetrieben viele Jahre in den Wäldern, aber wie viele, hat er vergessen wie so vieles andere. Es war eine Zufall. Weiler sich nicht hat entschuldigt bei unserm Oberst. Ach!«

Anstatt in Dirkowitschs Bedauern mit einzustimmen, schienen die Weißen Husaren im Gegenteil das damalige Verhalten ihres Kameraden nur zu billigen, wie aus ihren höchst unchristlichen Freudebezeigungen hervorging, nebst anderen Gefühlsäußerungen, die kaum durch das Gebot der Gastfreundschaft im Zaume gehalten wurden.

»Ruhig jetzt!« erwähnte Holmer. »Da haben wir’s: 56-55-54: Leutnant Austin Limmason. Vermißt. Das war bei Sebastopol. Was für eine höllische Schande!: hat einen russischen Offizier beleidigt und wird deshalb einfach verschickt. Dreißig Jahre seines Lebens einfach ausgelöscht!« Und Holmer warf die vergilbten und verstaubten Listen auf den Tisch. Die Offiziere fielen darüber her. »Aber entschuldigt hat er sich doch nicht!« riefen alle wie aus einem Munde. »Hat wahrscheinlich gesagt, er wolle lieber verdammt sein!«

»Armer Kerl! Später hatte er wohl keine Gelegenheit dazu«, sagte der Oberst. »Wie hat er sich nur hierher durchgeschlagen?«

Das Lumpenbündel auf dem Sessel konnte keine Antwort geben.

»Wissen Sie, wer Sie sind?«

Das Lumpenbündel lächelte unsicher.

»Wissen Sie nicht, daß Sie der Leutnant Limmason sind? – Leutnant Limmason von den Weißen Husaren?«

Schnell wie ein Schuß kam die Antwort: »Ja. Ich bin Limmason. Natürlich.« Sofort jedoch erlosch das Licht in den Augen des Mannes wieder; er brach zusammen und beobachtete schreckerfüllt jede Bewegung Dirkowitschs. Eine Flucht aus Sibirien kann wohl einige einfache Tatsachen im Gedächtnis zurücklassen, aber zusammenhängende Gedankengänge scheint sie zu zerstören. Wie eine verirrte Taube hatte Limmason den Weg zu seinem Regiment zurückgefunden, aber wie ihm das möglich gewesen, vermochte er nicht zu erklären. Was er gelitten und gesehen – er wußte es nicht mehr. Er krümmte und wand sich vor Dirkowitsch so instinktiv, wie er die Feder des Leuchters gedrückt, das Bild des Trommlerpferdes gesucht und in den Toast auf die Königin eingestimmt hatte; alles andere war eine ausgelöschte Tafel, die die russische Sprache nur mangelhaft ausfüllen konnte. Er hielt den Kopf auf die Brust gesenkt und kicherte abwechselnd in sich hinein oder schauderte.

Vom Teufel, der im Branntwein steckt, angestachelt, hielt Dirkowitsch es für nötig, in diesem höchst unpassenden Augenblick eine Rede zu halten. Er stand auf, schwankte ein wenig, erwischte die Tischkante aber noch rechtzeitig und begann, wobei seine Augen schimmerten wie Opale:

»Rummbedeckte Waffenkameraden – treue Freunde und Gastgeberr! Es warr eine unglückliche Zufall! Ieberraus beklagänswert. Höchst beklagänswert!« – hier lächelte er den Anwesenden honigsüß zu; »aber Sie werden an ihn denken – an den kleinen, kleinen Fall! Soo klein, njicht wahrr? Der Zar, pscha, ich schnappe mit den Fingern auf ihn! Gljaube ich an ihn? Nein. Aber an uns Slawen, die noch nichts getan haben, an die glaube ich. Siebzig – was sage ich? – nein, nein viel viel mehr Millionen, die haben noch nichts getan – nicht eine Sache! Napoleon? – Eine Episode! Pah!« – hier schlug er mit der Hand auf den Tisch – »hört genau, ihr alten Völker! Wir haben noch njichts getan in der Welt – hier zum Beispiel! Alle unsere Arbeit ist noch zu tun! Aberr, sie wirrd getan werden, ihr alten Völker! Forrt mit euch!« -gebieterisch streckte er den Arm aus; deutete dann auf das Lumpenbündel. »Seht ihr ihn da? Err ist nicht lieblich anzuschauen! Er ist nur ein kleiner – oh, so ganz kleiner Zufall, den man vergessen hatte. Jetzt ist er das da! So wird’s auch mit euch gehen, Waffenbrüder liebe! Aber ihr werdet nicht zurückkommen, wie der da! Ihr werdet dahin gehen, wohin err gegangen ist, oder dorthin -« Er deutete auf den großen Sargschatten an der Decke und stammelte: »- siebzig Millionen – fort mit euch, ihr alten Völker!« Dann fiel er in Schlaf wie vom Blitz gefällt.

»Schön und zutreffend«, sagte der kleine Mildred. »Aber wozu wütend werden? Machen wir es lieber diesem armen Teufel bequem!«

Das wurde denn auch schnell und liebevoll von den Weißen Husaren besorgt. Leutnant Limmason war nur zurückgekehrt, um drei Tage später wieder fortzugehen, wobei die Klänge eines Trauermarsches und der schütternde Schritt der Schwadronen der erstaunten Mannschaft, die trotzdem keine Lücke in der Tafelrunde bemerkte, Kunde gaben, daß ein Offizier des Regimentes seine neuerlangte Charge wieder niedergelegt hatte.

Auch Dirkowitsch, liebenswürdig, freundlich, geschmeidig, wie immer, reiste ab. Mit dem Nachtzug. Der kleine Mildred und noch ein anderer Offizier gaben ihm das Geleit, denn er war nun einmal Gast des Regimentes, und hätte er den Obersten selbst mit der flachen Hand geschlagen, der Offizierscomment erlaubte keine Verletzung des Gastrechts.

»Leben Sie wohl, Dirkowitsch, und: glückliche Reise!« sagte der kleine Mildred.

»Au revoir!« rief der Russe zurück.

»Wirklich? Auf Wiedersehen? Wir dachten, Sie wollten heimreisen?«

»Ja! Aberr ich komme wieder! Ist denn dieser Weg verschlossen, meine Ijieben Freunde?« Dirkowitsch deutete auf den Horizont des Nachthimmels, wo der Polarstern über dem Khyber-Paß glänzte.

»Wahrhaftig, das habe ich ganz vergessen! Natürlich, ja!« sagte Mildred freundlich. »Aber haben Sie auch alles, was Sie brauchen? Zigarren? Eis? Bettzeug? Alles in Ordnung? Gut, au revoir, Dirkowitsch!«

»Hm«, brummte der Begleitoffizier, als die letzten Lichter des Zuges verschwanden, »von allen – diesen – hemmungslosen – –«

Der kleine Mildred antwortete nicht, richtete seinen Blick auf den Polarstern und summte das Liedchen einer neuen Simla-Posse, die es damals den Weißen Husaren ganz besonders angetan hatte, vor sich hin:

»Er tut mir leid, der Ritter Blaubart,
Leid tat mir’s, tat ich ihm weh!
Doch kehrt er zurück: das gäbe ein Stück
Spektakel, soviel ich seh.«

Georgie Porgie

»Georgie Porgie, Wurm im Speck,
Küßt die Mädchen froh und keck;
Nimmt ihn eins jedoch beim Wort,
Läuft Georgie Porgie schleunigst fort.«

Wer es für selbstverständlich hält, früh am Morgen sein Besuchszimmer nicht zu betreten, solange das Stubenmädchen aufräumt und Staub abwischt, der sollte sich auch darüber im klaren sein, daß es nicht angeht, als zivilisierter Mensch, der aus Porzellan speist und eine Visitenkartentasche bei sich trägt, in einem Land mit fremder Kultur die eigenen Sitten und Gebräuche und Ansichten über Recht und Unrecht durchsetzen zu wollen. Wenn das Gebiet einmal umgestaltet und vorbereitet ist – von solchen, die dazu berufen sind, – dann mag er kommen mit seinem Gepäck von Gesellschaftsordnung, seinen zehn Geboten und der übrigen Maschinerie. Wo das Gesetz der Königin noch nicht feststeht, – dort eine strenge Beobachtung anderer und lässiger Vorschriften zu erwarten, ist unvernünftig. Männer, die vorne an der Deichsel des Wagens ziehen, der zu Wohlstand und Besitz führt und die Wege durchs Dschungel ebnet, darf man nicht beurteilen, als seien sie eingesessene Bürger oder Mitglieder der guten Gesellschaft.

Erst vor wenigen Monaten hatte das Gesetz der Königin wenige Meilen nördlich von Thayetmyo am Irrawaddy halt gemacht. Dort herrschten zwar auch noch keine strengen Gesetze, aber immerhin reichten sie aus, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn die Regierung es für zeitgemäß erachtete, das Gesetz der Königin vorwärts zu tragen bis Bhamo und zur chinesischen Grenze, dann wurde der Befehl dazu gegeben, und es fanden sich auch immer Männer genug, beseelt von dem Wunsche, ändern voranzugehen zur Hebung und Verbreitung des nationalen Ansehens, die sich den vorstoßenden Truppen anschlossen. Es waren das zumeist Leute, die ein regelrechtes Examen kaum bestanden hätten und auch viel zu selbständig dachten, als daß sie sich für den regulären Bürodienst in den Provinzen geeignet hätten. Wenn später alles soweit war, trat die Regierung mit Vorschriften und Umänderungen dazwischen und drückte Neu-Burma auf das tote Niveau Indiens herab; aber in der kurzen Zwischenzeit brauchte man starke Männer, die nach eigenem Gutdünken die Vorarbeit leisteten.

Unter diesen Pionieren der Zivilisation befand sich Georgie Porgie, ein, wie alle wußten, die ihn kannten, höchst zielbewußter Mann. Er hatte eine Stellung inne in Ober-Burma, als der Befehl kam, zur Grenze vorzurücken; seine Freunde nannten ihn Georgie Porgie, weil er es liebte, ein burmesisches Lied zu singen, dessen erste Zeile so ähnlich klingt, wie »Georgie Porgie«. Wohl jeder, der einmal in Burma gewesen ist, kennt das Lied; übersetzt heißt es: »Puff, puff, puff, puff, großes Dampfschiff.« Georgie Porgie sang es zum Banjo und seine Zuhörer waren immer entzückt davon und brüllten jedesmal so laut dazu, daß man es bis weit hinein in die Teak-Wälder hören konnte.

Als er hinauf nach Ober-Burma zog, scherte er sich einen Quark um Gott oder Mitmensch, aber er verstand es, sich Respekt zu verschaffen und die verzwickten Militär-Zivil-Pflichten zu erfüllen, die in jenen Monaten auf jedermanns Haupt ruhten. Er arbeitete im Amt und, wie es gerade kam, brachte er Detachements von fieberdurchschüttelten Soldaten wieder in Ordnung, die, auf der Suche nach fliehenden Dakoits begriffen, durch seine kleine Welt gestolpert kamen. Bisweilen zog er selbst los, um die Dakoits zur Vernunft zu bringen, denn im Gebiet rauchte es an allen Orten, und ehe man es sich versah, konnte die Flamme wieder auflodern. Er liebte derlei kleine Abwechslungen, aber die Dakoits fanden sie wenig ergötzlich. Alle Beamten, die mit ihm in Berührung kamen, reisten mit der festen Überzeugung wieder ab, er sei ein wirklich sehr wertvoller Mensch, und diesem Umstand verdankte er es auch, daß man ihn schalten und walten ließ, wie er es für gut fand.

Nach ein paar Monaten bekam er seine Einsamkeit satt und sehnte sich nach Ansprache und ein wenig Luxus. Das Bürgerliche Gesetzbuch machte sich in der Gegend vorerst nur schwach fühlbar und die öffentliche Meinung, die noch viel strenger ist, lag erst in weiter Ferne. Damals war es allgemein Sitte, daß ein weißer Mann sich ein Weib aus den Töchtern des Landes wählen durfte gegen entsprechende Bezahlung. Die Ehe war dann zwar nicht so bindend, wie die Nikkah-Zeremonie der Mohammedaner, aber die Gattin war vergnüglich.

Wenn alle unsere Truppen aus Burma zurück sein werden, wird das Sprichwort in aller Mund kommen: »so gedeihlich wie eine Burmesin« – und dann werden sich die hübschen englischen Damen den Kopf zerbrechen, was der Sinn dieses Satzes in aller Welt wohl bedeuten mag.

Der Bürgermeister des Dorfes nächst Georgie Porgies Posten besaß eine schöne Tochter, die Georgie Porgie erblickt und sich von weitem in ihn verliebt hatte. Als das Gerücht in Umlauf kam, der Engländer mit der strengen Hand im Blockhaus drüben denke an einen regelrechten Haushalt, machte sich der Bürgermeister auf und erklärte, er sei bereit, seine Tochter gegen eine Abfindung von fünfhundert Rupien Georgie Porgie anzuvertrauen, vorausgesetzt die Verpflichtung, sie in Ehren zu halten, rücksichtsvoll zu behandeln, hübsch zu kleiden und mit Wohlstand zu umgeben, wie es die Landessitte verlangte. Der Handel kam zustande und Georgie Porgie hatte keine Ursache, es zu bereuen.

Sehr bald zog Behaglichkeit in sein rohgezimmertes Haus ein und alles blitzte vor Sauberkeit; seine bis dahin ungeordneten Ausgaben schrumpften auf die Hälfte zusammen und er selbst wurde verhätschelt und herausgeputzt von seiner neuen Akquisition, die bei Tisch präsidierte, ihm Lieder vorsang, die Madrassi-Diener in Zucht hielt und in jeder Hinsicht ein so süßes, fröhliches, treues und gewinnendes kleines Frauchen war, wie es sich auch der verbissenste Hagestolz besser nicht hätte wünschen können. Keine Rasse, so sagen die, die es wissen müssen, bringt so gute Gattinnen und Hausfrauen hervor, wie die burmesische. Als das nächste Detachement, auf dem Kriegspfad wandelnd, anmarschiert kam, fand der kommandierende Subalternoffizier an Georgie Porgies Tafel eine Hausfrau, der man in jeder Hinsicht wie einer Dame von Rang mit Ehrerbietung begegnen mußte; und als er am nächsten Tage in aller Frühe seine Leute zusammenrief, um ins Dschungel einzudringen, dachte er im Scheiden sehnsuchtsvoll an das kleine hübsche Diner zurück und an das liebliche Gesichtchen und beneidete aus tiefstem Herzen seinen Gastgeber. War er doch selber in der Heimat verlobt mit einem Mädchen – und das stimmt ein Männerherz gar weich.

Der Name der kleinen Burmesin klang nicht besonders hübsch; Georgie Porgie christianisierte ihn deshalb bald in: Georgina. Ihr zärtliches Wesen und die Behaglichkeit im Hause paßten ihm und er sagte sich, daß er seine fünfhundert Rupien gar nicht besser hätte anlegen können.

Nach drei Monaten eines erfreulichen Zusammenlebens kam ihm eines Tages die Idee, eine wirkliche Ehe – eine englische nämlich – müsse eigentlich etwas sehr Hübsches sein. Wenn er sich hier, im Hinterlande der Welt, schon behaglich fühlte mit diesem Burmesenmädchen, das ostindische Zigarren rauchte, wie erst mit einem süßen englischen Girl, das keine Knüppel rauchte, und Piano spielte statt Banjo! Er sehnte sich ein wenig zurück nach Menschen seiner Rasse, wollte wieder einmal eine Musikkapelle hören und einen Gesellschaftsanzug tragen. Wahrhaftig ja: eine Ehe dieser Art mußte etwas Herrliches sein. Beständig dachte er daran an den langen Abenden, während Georgina ihm vorsang, ihn bisweilen fragend, warum er so schweigsam sei und ob sie ihn vielleicht verletzt oder gekränkt hätte. Beim Nachdenken rauchte er und beim Rauchen blickte er Georgina an und malte sich aus, es säße nicht sie da, sondern ein blondes, häusliches, unterhaltendes, fröhliches, kleines englisches Mädel, das Haar tief in die Stirn gekämmt und – vielleicht – eine Zigarette zwischen den Lippen. Nur, um Himmelswillen, keine von den großen, dicken Burma-Cheeruts, die Georgina rauchte! Ein Mädchen wollte er heiraten, das Georginas Augen hatte und ihr auch sonst glich. Nur nicht in jeder Hinsicht; etwas Besseres mußte es sein. Er blies dicke Rauchwolken durch die Nase und streckte die Beine aus: ja, er wollte die Ehe kosten! Dank Georginas Umsicht hatte er sich Geld zurücklegen können und außerdem hatte er sechs Monate Urlaub gut.

»Schau mal, kleine Frau«, sagte er, »wir müssen im kommenden Vierteljahr noch mehr sparen; ich brauche Geld.« Das war eine Anspielung auf Georginas Haushaltskasse, auf die sie sehr stolz war; aber, natürlich, wenn ihr Gott Geld brauchte, mußte alles herhalten.

»Du brauchst Geld?« rief sie und lachte fröhlich. »Oh, ich habe Geld! Da schau!« Und sie lief in ihr Zimmer, holte einen kleinen Beutel Rupien, schüttete die Münzen auf dem Tische aus und schob sie ihm zu mit ihren zarten, flinken, blaßgelben Fingern. »Schau! Hundert und sieben Rupien. Ich hab sie zusammengespart von dem, was du mir gegeben hast. Nimm sie. Oder brauchst du noch mehr? Es ist mir eine Freude, sie dir zu geben.«

Nie mehr ermahnte Georgie Porgie sie von da an zur Sparsamkeit.

Drei Monate später, nach einem Hin- und Herschreiben von Briefen, die Georgina haßte, weil sie ihren Inhalt nicht lesen und verstehen konnte, eröffnete ihr Georgie Porgie, daß sie in ihres Vaters Haus zurückkehren müsse, da er zu verreisen gedenke.

Georgina weinte und wollte ihren Gott begleiten von einem Ende der Welt bis zum andern. Warum sie ihn denn verlassen solle? Sie liebe ihn so sehr!

»Ich gehe nur nach Rangun«, erklärte Georgie Porgie. »In einem Monat bin ich wieder zurück, aber es ist sicherer, du bist bei deinem Vater. Ich werde dir zweihundert Rupien dalassen.«

»Wenn du nur einen Monat wegbleibst, wozu dann zweihundert? Fünfzig sind mehr als genug. Das bedeutet Unheil! Geh nicht, oder nimm mich mit!«

Georgie Porgie denkt auch heute noch ungern zurück an die Szene damals. Schließlich wurde er Georgina los, indem er ihr fünfundsiebzig Rupien aufdrängte; mehr wollte sie nicht nehmen. Dann eilte er mittelst Dampfer und Eisenbahn nach Rangun.

Der geheimnisvolle Briefwechsel hatte ihm einen Urlaub von sechs Monaten eingetragen. Seine heimliche Flucht und das Bewußtsein, sich hinterlistig benommen zu haben, vergällte ihm eine Zeitlang die Freiheit, aber als der große Dampfer hinaus in die blaue See fuhr, wurde ihm leichter zumute und die Erinnerungen an Georginas Gesicht, das kleine seltsame Blockhaus, die nächtlichen Überfälle der heulenden Dakoits, der Kampf und der Schrei des ersten Menschen, den er mit eigener Hand getötet, und hundert andere intimere Begebnisse verblaßten immer mehr und mehr in seinem Herzen, – machten der Vision der näher und näher kommenden englischen Heimat Platz. Der Dampfer war überfüllt von urlaub-genießenden, fröhlichen Seelen, die, den Staub und die Hitze Ober-Burmas hinter sich, ausgelassen tollten wie die Schulbuben; dies half Georgie Porgie vergessen.

Dann kam England mit seinem Luxus, seinen feinen Sitten und Bequemlichkeiten aller Art; Georgie Porgie wanderte wie in einem Wonnetraum durch die Straßen, wie ein Mensch, der das Ausweichen verlernt hat, und konnte sich nicht genug wundern, daß es überhaupt Menschen gab, die auch nur daran denken konnten, dein Stadtleben den Rücken zu kehren. Er empfand dies schwelgerische Auskosten des Urlaubs wie eine Belohnung für seine dem Staate geleisteten Dienste. Aber die Vorsehung hielt noch eine andere und viel schönere Überraschung für ihn bereit: all die Freuden einer geruhsamen englischen Brautwerbung, die so gänzlich verschieden ist von dem eisernen Geschäftssinn des Ostens, wo die ganze Gemeinde im Hintergrund lauert und wettet, wie die Geschichte ausfallen und was Mrs. Soundso dazu sagen wird.

Ein hübsches Mädchen, ein tadelloser Sommer und ein geräumiges Landhaus bei Petworth, wo Morgen um Morgen Land sich hinzieht, bestanden mit rotem Heidekraut, und feuchte fruchtbare Wiesen mit hohem Gras! Georgie Porgie fühlte, daß er endlich etwas gefunden hatte, was das Leben wertvoll machte, und sein erstes dementsprechend war, daß er das Mädchen fragte, ob sie das Leben mit ihm in Indien teilen wolle. In ihrer Unerfahrenheit willigte sie ein. In diesem Falle war ein Schachern mit einem Dorfbürgermeister überflüssig; es gab eine solide Mittelstandshochzeit auf dem Lande mit einem stattlichen Papa, einer weinenden Mama, einem Brautführer in Purpur und feinem Linnen und sechs stupsnasigen Mädchen aus der Sonntagsschule, die Rosen streuten auf den Weg vom Friedhof bis zur Kirche. Die Lokalzeitung beschrieb das Fest des langen und breiten bis zu den Orgelklängen der Hochzeitshymne, nicht zum wenigsten, weil das Blatt hinsichtlich Stoffmangel am Rande des Hungertodes schwebte.

Dann Flitterwochen in Arundel. Die Mama weinte vorbildlich, ehe sie einwilligte, daß ihre einzige Tochter unter dem ehelichen Schütze Georgie Porgies nach Indien davonsegle. Über allem Zweifel: er hatte das Mädchen unendlich gern, und sie schaute zu ihm auf wie zu dem besten und bedeutendsten aller Männer. Als er sich in Bombay zum Amtsantritt meldete, fühlte er sich seiner jungen Gattin wegen geradezu verpflichtet, eine möglichst gute Anstellung zu verlangen, und da er offensichtlich im Begriffe stand, seinen in Burma begangenen gesellschaftlichen Fehltritt wieder gutzumachen, bewilligte man ihm fast alles, was er forderte, und wies ihm als Posten eine Station an, die wir Sutrain nennen wollen. Sie lag auf einem Bergplateau und galt als Kurort – wahrscheinlich, weil eine Wasserleitung so gut wie nicht vorhanden war. Hier siedelte sich Georgie Porgie an und empfand gar bald die Ehe als etwas überaus Natürliches. Es kam ihm weder seltsam vor, noch als Gipfelpunkt der Wonne, – wie es bei einem jung verheirateten Mann bisweilen der Fall ist – wenn sich jeden Morgen sein Herzblatt mit ihm zum Frühstück setzte, sondern wie die selbstverständlichste Sache von der Welt.

»Es war ihm nichts Neues«, wie die Amerikaner sagen, und wenn er die Vorzüge seiner neuen Hulda mit denen Georginas verglich, so neigte er zu der Ansicht, er hätte keinen schlechten Tausch gemacht.

Jenseits der Bai von Bengalen hingegen, unter den Teak-Bäumen, wo Georgina bei ihrem Vater wohnte und auf Georgie Porgies Heimkehr wartete, herrschte weder Glück noch Seelenfrieden. Der Bürgermeister war ein alter Mann – erinnerte er sich doch noch des Krieges von 1851! Er war einst eine Zeit lang in Rangun gewesen und dort mit der Lebensanschauung der Kullahs bekannt geworden: die trockene Philosophie, die er Georgina beizubringen versuchte, wenn er abends mit ihr vor der Tür seines Hauses saß, konnte sie nicht im geringsten trösten.

Ihr Unheil war, daß sie Georgie Porgie in einer Weise liebte, wie man es nur in englischen Geschichtsbüchern von französischen Mädchen liest, die einen unglücklichen Märtyrer wie einen Heiligen verehren. Eines Tages verschwand sie aus dem Dorf; als Reisezehrung nahm sie außer dem Schatz an Rupien, die ihr Georgie Porgie zurückgelassen, nur die paar Brocken englischer Worte mit, die sie ebenfalls ihm verdankte.

Der Herr Bürgermeister war anfänglich ergrimmt, aber dann zündete er sich eine frische Cheerut an und machte sich Luft mit ein paar abfälligen Bemerkungen über das weibliche Geschlecht im allgemeinen. Georgina war ausgezogen, um Georgie Porgie zu suchen, gleichgültig, ob er in Rangun weilte oder jenseits des großen schwarzen Wassers, ob er tot war, noch am Leben, oder sonst in einer Lage, von der sie sich kein klares Bild machte. Der Zufall kam ihr zu Hilfe: ein alter Sikh-Polizist erzählte ihr, Georgie Porgie sei hinübergereist über das Große Wasser. Sie löste eine Zwischendeckkarte und fuhr nach Kalkutta, – das Geheimnis, wen sie suche, tief im Herzen verschlossen.

In Indien verschwand jede Spur von ihr durch volle sechs Wochen; kein Mensch weiß, welchen Herzenskummer sie mit sich herumgetragen haben muß.

Dann tauchte sie wieder auf vierhundert Meilen nördlich von Kalkutta, in zerrissenen Kleidern, gramdurchfurcht, ruhelos nach Norden wandernd, aber ungebrochen in ihrem Entschluß, Georgie Porgie zu finden. Sie verstand die Sprache der Bevölkerung nicht, aber Indien ist unendlich gastfreundlich und die Frauen der Stämme entlang der großen Schienenstrecke versorgten sie mit Nahrung. Ein inneres Gefühl sagte ihr, sie werde Georgie Porgie am Ende dieses furchtbaren Weges finden. Vielleicht – ja, vielleicht – würde sie einen Sepoy treffen, der ihn von Burma her kannte! Schließlich begegnete sie auch wirklich einem auf dem Marsch begriffenen Regiment und fand unter den vielen Subalternen einen, den Georgie Porgie einst in den Tagen der Menschenjagd auf die Dakoits zu sich zu Tisch geladen hatte. Ein allgemeines Schmunzeln trat ein, als Georgina sich dem Mann zu Füßen warf und zu klagen begann; aber bald verstummten sie alle, als ihre Leidensgeschichte erzählt wurde; man leitete eine Kollekte ein, und das war das richtige. Einer der Subalternen hatte von Georgie Porgies neuer Stellung, nicht aber von seiner Verheiratung gehört; er erzählte Georgina, was er wußte, und, Freude im Herzen, reiste sie weiter nach Norden – diesmal in einem Eisenbahnkupee, wo ihre müden Füße ausruhen konnten und es ein wenig Schatten gab für ihr kleines bestaubtes Köpfchen. Die Wanderung von der Endstation der Bahn durch die Berge war anstrengend über alle Begriffe, aber Georgina hatte ja jetzt Geld und die auf Ochsenkarren reisenden Familien standen ihr bei. Es war eine Reise voller Wunder und Georgina fühlte es wie Gewißheit, daß die guten Geister Burmas über ihr wachten. Die Bergstraße nach Sutrain ist ein eisiger Weg und Georgina zog sich eine schwere Erkältung zu, aber die Hoffnung hielt sie aufrecht: am Ende aller ihrer Leiden stand ja Georgie Porgie, um sie in die Arme zu schließen und zu streicheln wie einst in alten Tagen, wenn das Tor der Blockhütte verschlossen wurde und er sich mit ihr zum Abendessen setzte. Sie eilte vorwärts, so schnell sie konnte, und noch einmal erwiesen die guten Geister ihr eine – letzte – Gunst:

Ein Engländer hielt sie an – in der Dämmerung – an der Straßenbiegung nach Sutrain – mit den erstaunten Worten: »Um Himmelswillen! Was machst du hier?«

Es war Gillis, Georgie Porgies ehemaliger Assistent aus Ober-Burma, der den zweiten Stationsposten vor dem Dschungel innegehabt. Georgie Porgie hatte ihn nach Sutrain kommen lassen, da er seine Tüchtigkeit zu schätzen wußte.

»Ich bin hergekommen«, sagte Georgina schlicht. »Der Weg war so lang und ich mußte Monate hindurch reisen und wandern. Wo ist sein Haus?«

Gillis rang nach Atem.. Er kannte Georgina zu lang und zu gut, um nicht zu wissen, daß Erklärungen vergeblich sein würden. Man kann Asiaten Dinge nicht erklären, man muß sie ihnen vor Augen führen.

»Ich werde dich hinführen«, sagte Gillis, nahm Georgina bei der Hand und geleitete sie auf einem Seitenweg einen Hügel hinauf zur Rückseite des Hauses, das auf einer Plattform, tief eingeschnitten in die Berglehne, lag.

Die Lampen waren soeben erst angezündet worden und die Vorhänge noch nicht zugezogen, »Dort! Schau hin!« sagte Gillis und blieb vor dem Fenster des Empfangszimmers stehen. Georgina blickte hinein, sah die junge Frau – und fuhr sich mit der Hand in das Haar, das, zum Scheitelknoten geschürzt gewesen, sich unter ihrem Griff löste und sofort in Strähnen über ihr Gesicht fiel. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihr zerlumptes Kleid in Ordnung bringen, aber was gab es da noch viel glatt zu streichen! Gillis starrte unverwandt die junge Frau – drin im Zimmer – an; Georgina streifte sie nur einmal mit den Augen, dann hielt sie den Blick fest auf Georgie Porgie gerichtet.

»Was gedenkst du zu tun?« fragte Gillis und hielt Georgina am Handgelenk fest, damit sie nicht zu dem Lichtschein hinstürze. »Willst du hineingehen und der englischen Frau sagen, daß du mit ihrem Gatten zusammengelebt hast?«

»Nein«, hauchte Georgina. »Laß mich gehen. Ich schwöre, daß ich gehen werde.« Sie riß sich los und lief hinein in die Dunkelheit.

»Armes kleines Tier!« murmelte Gillis vor sich hin, als er wieder in die Landstraße einbog. »Hätte ich ihr doch etwas gegeben, damit sie wieder nach Burma zurück kann. Knapp durchgewischt ist er! Er hätte es ihr nie verziehen, der – Engel!«

Gillis schien demnach seinem Freunde Georgie Porgie nicht allzu sehr gewogen zu sein.

Das jungvermählte Paar trat nach dem Abendessen hinaus auf die Veranda, damit der Rauch von Georgie Porgies Zigarre sich nicht an die neuen Empfangszimmervorhänge hefte.

»Was ist das für ein Lärm dort unten?« fragte die junge Frau und lauschte in die Finsternis.

»Ach«, meinte Georgie Porgie, »wahrscheinlich prügelt irgend ein Rohling von Bergbewohner seine Frau.«

»Schlagen – seine – Frau! Wie entsetzlich!« sagte die junge Gattin. »Wenn ich mir ausmale, du könntest mich schlagen!« – und sie schlang den Arm um Georgie Porgies Brust, lehnte den Kopf an seine Schulter und blickte im Gefühl tiefster Geborgenheit über das wolkenbedeckte Tal hin.

Es war nur Georgina gewesen, die da geschrien hatte, während sie die Berglehne hinabgelaufen war zwischen den Steinen des Wasserlaufs, in dem die Wäscher die Kleider waschen.

Die Juden in Shushan

Meine erst vor kurzem gekauften Möbel waren, gelinde ausgedrückt, unzuverlässig, die Sessel verloren die Beine, und bei der geringsten Belastung kippten die Tischplatten von ihren Gestellen. Aber, so oder so, sie mußten bezahlt werden, und Ephraim, der Agent und Geldeintreiber des städtischen Auktionators, wartete bereits draußen auf der Veranda mit der Quittung. Mein Diener hatte ihn als: Ephraim Yahudi – Ephraim, der Jude – gemeldet. Wer da glaubt, alle Menschen seien Brüder, der hätte hören sollen, wie mein Elahi Bukhsh das Wort »Jude« zerbiß mit seinen weißen Zähnen und soviel Ingrimm, wie er vor mir, seinem Herrn, zu zeigen wagte. Ephraim war, was das Äußere betraf, so mild und unterwürfig, daß man gar nicht verstand, wieso er auf den Beruf eines Rechnungseintreibers hatte verfallen können. Er sah aus wie ein gemästetes Schaf und seine Stimme paßte vortrefflich zu seiner Gestalt. Auf seinem Gesicht lag wie eine starre Maske der unveränderliche Ausdruck einer kindlichen Verwunderung; bezahlte man ihn ohne Widerspruch, so konnte er nicht genug staunen, wie reich man sei, und schickte man ihn fort, so blickte er verwirrt drein ob solcher Hartherzigkeit. Wohl noch nie gab es einen Juden, der so aus seiner Art geschlagen schien. Er trug eingesäumte Pantoffel und Rupfenkleider, die derart aufdringlich gemustert waren, daß selbst der abgebrühteste britische Subalterne vor ihnen lautlos die Flucht ergriffen hätte. Seine Rede war langsam und gemessen; jedes Wort wog er sorgfältig ab, bevor er es aussprach, ob es auch niemand beleidige. Nach einigen Wochen fühlte er sich gedrängt, über seine Freunde mit mir zu sprechen.

»Wir sind unser acht in Shushan«, begann er, »und wenn wir zehn sein werden, dann reichen wir in Kalkutta ein Gesuch ein, daß man uns eine Synagoge bewillige. Dann werden wir von Kalkutta Abschied nehmen. Heute besitzen wir keine Synagoge und ich bin Priester und Schächter meines Volkes in einer Person. Ich bin aus dem Stamme Judah, ich glaube es wenigstens, aber genau weiß ich es nicht. Mein Vater war aus dem Stamme Judah, und wir wünschen sehnlichst, eine Synagoge zu bekommen. Ich werde der Priester dieser Synagoge sein.«

Shushan ist eine große Stadt im Norden Indiens und ihre Einwohner zählen nach Zehntausenden; und in ihrer Mitte lebten nur diese acht des Auserwählten Volkes und warteten auf die Zeit und den günstigen Augenblick, wo sie als Religionsgemeinde anerkannt sein würden.

Miriam, das Weib Ephraims, zwei kleine Kinder, ein Waisenknabe ihres Stammes, Ephraims Onkel Jackrael Israel, ein weißhaariger Greis, Hester, seine Frau, ein Jude aus Cutch: ein gewisser Hyem Benjamin, und Ephraim, Priester und Schächter zugleich, das war die ganze Liste der Juden, die in Shushan lebten. Sie wohnten sämtlich in einem Haus am äußersten Rande der Stadt inmitten Haufen alter zerbrochener, salpetrig gewordener Ziegel und Herden von Vieh, die beständig auf ihrem Zug zur Trinkstelle am Fluß Wolken undurchdringlichen Staubes aufwirbelten. Wenn abends die Jugend der Stadt auf den freien Platz geströmt kam, um Drachen steigen zu lassen, sahen die beiden kleinen Söhne Ephraims von weitem zu vom Dache ihres Hauses aus, aber niemals gingen sie hinunter, um daran teilzunehmen. Angebaut an die Rückwand des Hauses stand ein enger aus Ziegeln errichteter Stall, in dem Ephraim das Fleisch für die Familie zu koschern pflegte nach jüdischem Ritus. Eines Tages wurde die Tür dieses Abteils heftig von innen aufgerissen, als fände ein Kampf drin statt, und da wurde der anscheinend so schwache, milde Rechnungseintreiber sichtbar bei seiner Arbeit; die Nüstern weit aufgebläht und die Lippe über die Zähne emporgezogen, hielt er ein halbrasendes Schaf mit beiden Händen fest. Er war seltsam gekleidet – in Gewänder, die gar keine Ähnlichkeit hatten mit seinem gewöhnlichen wildgemusterten Rupfenanzug, und hielt ein Messer im Mund. Wie er so rang mit dem Tier, kam sein Atem in keuchenden Stößen aus seiner Brust; die Natur des Mannes schien vollkommen verändert. Als der Ritualakt des Schächtens vorbei war, bemerkte er erst, daß die Tür offenstand, und schloß sie hastig, wobei seine Hand eine blutige Spur auf der Klinke zurückließ; entsetzt und mit weitaufgerissenen Augen standen die Kinder auf den Dächern der Nachbarhäuser und starrten herab. Ephraim bei der Ausübung seiner religiösen Pflichten zu belauschen, bot einen wenig erfreulichen Anblick, nach dem man sich ein zweites Mal nicht sehnte.

Der Sommer brach über Shushan herein, verwandelte den zertrampelten Erdboden in Eisen und brachte Epidemien in die Stadt.

»Wir werden verschont bleiben«, sagte Ephraim zuversichtlich. »Ehe noch der Winter kommt, haben wir unsere Synagoge. Mein Bruder mit seinem Weib und den Kindern kommt von Kalkutta herauf, und dann werde ich Priester der Synagoge sein.«

Jackrael Israel, der Greis, kroch aus seiner Höhle heraus an den erstickend heißen Abenden, setzte sich auf einen Schutthaufen und beobachtete, wie man die Leichen hinab zum Fluß trug.

»An uns wird es vorübergehen«, sagte er dann mit seiner schwachen zitterigen Stimme, »denn wir sind das Volk Gottes, und mein Neffe wird Priester der Synagoge sein. Mögen die andern sterben.« Und kroch zurück ins Haus und verschloß die Tür vor der Welt der Heiden.

Aber Miriam, Ephraims Weib, sah aus dem Fenster auf die Leichen in den Totenbahren hinab und sagte, sie fürchte sich; Ephraim beruhigte sie mit dem Hinweis auf die kommende Synagoge und kassierte Rechnungen ein, wie immer.

Eines Nachts starben die beiden Kinder, und Ephraim begrub sie am frühen Morgen. »Die Sorge ist meine Sorge«, sagte er, und dieser Ausspruch schien ihm zu genügen, um die sanitären Maßnahmen der Regierung eines großen, blühenden, weise beherrschten Kaiserreichs für nichts achten zu dürfen.

Der Waisenknabe, der ganz auf die Wohltaten Ephraims und seines Weibes angewiesen war, wußte wahrscheinlich nichts von Dankbarkeit und muß wohl ein Taugenichts gewesen sein, denn er bettelte sich von seinen Pflegeeltern so viel Geld heraus wie nur möglich und floh dann damit aus Angst um sein Leben in einen andern Distrikt. Eine Woche nach dem Tode der Kinder stand Miriam heimlich des Nachts aus dem Bett auf und wanderte über Land. Um die Kleinen zu finden? Hinter jedem Busch hörte sie sie weinen, sah sie ertrinken in jedem Weiher auf den Feldern, und schließlich flehte sie die Schaffner der Großen Reichseisenbahn an, ihr ihre Kinder nicht zu entführen. Am Morgen kam die Sonne und brannte auf sie nieder, wie sie barhaupt dahinwanderte; da verkroch sie sich in die kühlen, Halme des Korns und kam nie mehr zurück; Ephraim und Hyem Benjamin suchten sie vergebens zwei Nächte lang.

Der Ausdruck staunender Verwunderung, der beständig auf Ephraims Gesicht lag, vertiefte sich noch, aber er hatte eine Erklärung für das Vorgefallene: »Unser sind so wenige und des Volkes in der Stadt so viele«, sagte er; »kann sein, daß unser Gott uns vergessen hat.«

In dem Haus am Rande der Stadt murrte das greise Ehepaar, Jackrael Israel und Hester, daß sich niemand um sie kümmere und Miriam ihrem Stamme untreu geworden sei. Ephraim ging umher und kassierte Rechnungen ein und abends rauchte er zusammen mit Hyem Benjamin, bis Hyem Benjamin in einer Dämmerungsstunde starb, nachdem er alle seine Schulden an Ephraim beglichen hatte. Jackrael Israel und Hester saßen da ganz allein in dem leeren Haus den ganzen Tag und, wenn Ephraim heimkam, vergossen sie die Tränen, die so leicht in die Augen alter Leute treten, und weinten sich in den Schlaf hinein.

Eine Woche später sah ich Ephraim, unter einer Last von Lumpen und Kochgeschirr, zur Bahnstation wanken; er führte die beiden Alten durch das Getümmel, – sie wimmerten vor Angst und Verwirrung.

»Wir gehen nach Kalkutta«, suchte er Hester zu beruhigen, die sich in ihrer Furcht fest an seinen Ärmel geklammert hatte, »dort sind mehr von unserm Volk und hier steht mein Haus verödet.«

Er half der Greisin in das Kupee, wandte sich um zu mir und sagte: »Priester der Synagoge hätte ich sein können, wären unser nur zehn gewesen. Sicherlich: unser Gott hat uns vergessen.«

Der Rest der winzigen Kolonie fuhr hinaus aus der Station dem Süden zu. Der Schalterbeamte, über seine Akten im Buchungsraum gebeugt, mußte wohl die letzten Worte Ephraims gehört haben, denn er summte zerstreut den Kehrreim eines Couplets vor sich hin: »Die zehn kleinen – die zehn kleinen Niggerbuben.«

Es klang fast so feierlich wie ein Totenmarsch.

Das war der Grabgesang für die Juden in Shushan.

Vorwort

Im Norden Indiens stand einst ein Kloster, genannt die Ghubara des Dhunni Bhagat. Niemand weiß heute mehr, wer Dhunni Bhagat gewesen ist. Er hatte sein Leben gelebt, wie es eben jeder Hindu lebt, hatte ein bißchen Geld erworben und es, wie jeder gute Hindu tun soll, auf ein frommes Werk verwendet: eben jene Chubara. Diese Chubara enthielt eine Menge gemauerter Zellen, deren Wände mit Bildern von Göttern, Königen und Elefanten bunt bemalt waren. Asketisch aussehende Priester pflegten darin zu sitzen und über die Letzten Dinge nachzudenken. Die Gänge waren mit Ziegeln gepflastert; die nackten Füße Tausender hatten sie zu Rinnsteinen ausgehöhlt. Grasbüschel wuchsen in ihren Ritzen, heilige Feigenbäume breiteten ihre Blätter aus über die Brunnenwinde, die den ganzen Tag über knarrte und ächzte, Scharen von Papageien schwirrten durch das Geäst, Krähen und Eichhörnchen waren zahm wie Haustiere; wußten sie doch, daß ihnen von den Priestern keinerlei Gefahr drohte!

Die wandernden Bettler, die Amulettverkäufer und heiligen Landstreicher auf hundert Meilen in der Runde machten die Chubara zu ihrem Unterkunfts- und Ruheplatz. Mohammedaner, Sikhs, Hindus, einträchtig gesellten sie sich zueinander unter den Bäumen – Greise alle mitsammen. – Wenn der Mensch sich dem Wegkreuz der großen Nacht nähert, erscheinen ihm die vielen, verschiedenen Glaubensformen der Welt wunderbar gleich und farblos.

Gobind, der Einäugige, erzählte mir dies alles. Er war ein heiliger Mann, hatte früher auf einer Insel inmitten des Flusses gelebt und zweimal am Tage die Fische mit Brotkrumen gefüttert. Wenn zur Zeit des Hochwassers aufgedunsene Leichen an den Strand getrieben kamen, sorgte Gobind dafür, daß sie pietätvoll begraben wurden – um der Ehre der Menschheit willen und auch mit Rücksicht auf seine eigene dereinstige Abrechnung mit Gott. Als später eine Überschwemmung zwei Drittel der Insel wegspülte, kam Gobind über den Fluß hinüber in die Chubara des Dhunni Bhagat mit seinem kupfernen Trinkgefäß, das ihm am Brunnenseil befestigt um den Hals hing, mit seiner nägelbeschlagenen kurzen Armstütze, seiner Gebetrolle, seiner großen Pfeife, seinem Sonnenschirm, seiner hohen zuckerhutförmigen Kopfbedeckung mit der nickenden Pfauenfeder. – Er wickelte sich in seine, aus Flicken jeder Farbe und jedes Stoffes der Welt zusammengesetzte Decke, hockte sich in eine Ecke der friedvoll ruhigen Chubara, stützte den Arm auf seine kurze Krücke und erwartete den Tod. – Das Volk brachte ihm Nahrung und Sträußchen von Dotterblumen, und er gab ihnen seinen Segen dafür. – Er war fast blind und sein Gesicht über jede Beschreibung faltig, verrunzelt und durchfurcht, denn er hatte schon zu einer Zeit das Licht der Welt erblickt, als die Engländer noch nicht einmal auf fünfhundert Meilen an das Gebiet herangekommen waren, in der die Chubara des Dhunni Bhagat lag.

Als wir näher miteinander bekannt wurden, erzählte mir Gobind bisweilen Geschichten mit einer Stimme, dumpfrollend wie eine Holzbrücke, über die schwere Kanonen fahren. Es waren wirklich wahre Geschichten, aber unter zwanzig könnte man auch nicht eine in einem europäischen Buche drucken; die Europäer denken in anderer Weise als die Eingeborenen. Sie brüten über Dinge, die zu überdenken der Eingeborene sich Zeit läßt, bis der geeignete Moment eingetreten ist, und worauf sie nicht zwei Gedanken verwenden würden, darüber grübelt der Eingeborene stundenlang nach. – Wenn sie dann zu einer gemeinsamen Unterhaltung zusammentreffen – Eingeborene und Europäer – so starren sie einander verglast an, durch breite Klüfte des Mißverstehens getrennt.

»Und was ist dein ehrenwertes Gewerbe«, fragte mich eines Sonntagabends Gobind, »und womit erwirbst du dir dein tägliches Brot?«

»Ich bin«, sagte ich, »ein Kerani – einer, der mit der Feder auf Papier schreibt -, obgleich ich nicht im Dienste der Regierung stehe.«

»Was schreibst du also?« fragte Gobind. »Komm näher, denn ich kann dein Gesicht nicht sehen und das Tageslicht schwindet.«

»Ich schreibe von allen Dingen, die ich verstehe, aber auch von vielen Dingen, die ich nicht verstehe. Hauptsächlich schreibe ich über das Leben und über den Tod, von Männern und von Weibern und über Liebe und Schicksal, je nach dem Maß meiner Kraft, indem ich die Geschichten einer, zwei oder mehreren Personen in den Mund lege. – Dann werden die Geschichten verkauft, wenn Gott es zuläßt, und das Geld fließt mir zu, damit ich davon leben kann.«

»Ich verstehe«, sagte Gobind. »Dasselbe tut auch der Geschichtenerzähler in den Bazars, nur spricht er unmittelbar zu den Männern und Frauen und schreibt nichts auf. Wenn jedoch seine Geschichte die allgemeine Erwartung erregt hat und auf dem Punkte angelangt ist, wo dem Tugendhaften in der Schilderung Gefahr droht, dann unterbricht er sie plötzlich und verlangt Bezahlung, bevor er fortfährt. – Machst du es bei deinem Berufe ebenso, mein Sohn?«

»Ich habe gehört, daß es auch bei meinesgleichen so etwas Ähnliches gibt. Wenn eine Geschichte sehr lang ist, dann verkauft man sie in Abschnitten wie eine Melone.«

»Oh, ich war auch einmal ein berühmter Geschichtenerzähler«, sagte Gobind. »Damals, als ich auf der Landstraße zwischen Koshin und Etra bettelte, vor meiner letzten Pilgerfahrt nach Orissa. Oh, ich habe sehr viele Geschichten erzählt und noch viel mehr gehört, wenn wir des Abends nach langer Wanderung froh beisammen saßen. Ich trage die Gewißheit im Herzen, daß erwachsene Menschen so sind wie die Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt; die ältesten Geschichten sind ihnen die liebsten.«

»Bei deinen Leuten ist das so«, sagte ich, »aber die Menschen meines Volkes wollen immer neue Geschichten und, wenn sie sie gelesen haben, dann stehen sie auf und sagen, so oder so geschrieben hätten sie ihnen besser gefallen; sie bezweifeln, ob sie auch wahr seien, oder sprechen geringschätzig von ihrer Erfindung.«

»O wie töricht!« rief Gobind und erhob seine runzlige Hand. »Eine Geschichte ist wahr, solange die Erzählung dauert. Und was das Schwätzen darüber betrifft – nun, du weißt ja, was Bilas Khan, der doch der König aller Geschichtenerzähler war, zu einem gesagt hat, der ihn in einem großen Unterkunftshause an der Straße nach Jhelum unterbrach und verspottete: – ›Fahr du jetzt fort, mein Bruder‹, sagte er, ›und vollende, was ich begonnen habe!‹ – Der Spötter nahm zwar den Faden der Erzählung auf, aber da er weder die Stimme noch die nötige Gabe besaß, blieb er stecken und mußte es sich gefallen lassen, daß ihn die Pilger die halbe Nacht hindurch verhöhnten und knufften.«

»Bei uns sind die Leute aber in ihrem Recht, da sie ja ihr Geld dafür hergeben. Man darf doch auch einem Schuster Vorwürfe machen, wenn die Schuhe nicht gut sind, die man bei ihm gekauft hat. Wenn ich wieder einmal ein Buch schreibe, sollst du es zu sehen kriegen und beurteilen.«

»Ja, ja, auch der Papagei sagte zu dem fallenden Baum: Warte, Bruder, bis ich eine Stütze hole«, sagte Gobind und lachte grimmig. »Gott hat mir bereits achtzig Jahre gegeben und noch ein paar darüber. Ich kann jetzt nur mehr auf Tage rechnen. Jeder Tag, der mir gewährt wird, ist eine Gnade. Du müßtest dich also recht sehr beeilen.«

»In welcher Weise gehe ich wohl am besten bei meinem Berufe vor«, fragte ich, »o du Fürst aller derer, die Perlen mit der Zunge aufreihen?«

»Wie kann ich das wissen?« Gobind dachte eine kleine Weile nach. »Doch warum sollte ich es auch nicht wissen! – Gott hat viele Köpfe gemacht, aber es gibt nur ein Herz in der ganzen Welt, bei deinen Leuten und bei meinen Leuten. Alle sind sie Kinder, wenn es sich um Geschichten handelt!«

»Ja, aber gerade Kinder können fürchterlich werden, wenn man ein Wort an die falsche Stelle setzt oder beim zweitenmal Erzählen auch nur um einen Deut abweicht.«

»Freilich! Das weiß ich! Habe ich doch auch einst solchen Kindern Geschichten erzählt; mach es so: -« Seine alten Augen ruhten versonnen auf den bunten Wandmalereien, der blauen und roten Kuppel und den flammenden Poinsettien im Hintergrund. »Erzähl ihnen zuerst von den Dingen, die du mit ihnen zusammen gesehen hast. Dann wird ihr eigenes Wissen das ergänzen, was du unvollständig läßt. Sodann erzähle ihnen, was du allein gesehen hast, dann, was du selber gehört hast, und dann – da sie ja alle Kinder sind – erzähl ihnen von Schlachten, von Königen, Pferden, Teufeln, Elefanten und Engeln; aber vergiß auch nicht, ihnen von Liebe und dergleichen zu erzählen. Die Erde ist voll von Geschichten für jemand, der hören kann und die Armen nicht von seiner Türe weist; die Armen sind die besten Geschichtenerzähler, denn sie müssen jede Nacht ihr Ohr an die Erde legen.«

Seit jenem Gespräch reifte der Stoff für mein Buch in meinem Kopf von Tag zu Tag, und Gobind erkundigte sich wiederholt und eingehend, welche Fortschritte es mache.

Nachdem wir uns Monate nicht mehr gesehen hatten, erhielt ich die Nachricht, daß ich verreisen müßte, und ging, Abschied von ihm zu nehmen.

»Ich komme heute, um dir Lebewohl zu sagen«, begann ich, »denn ich muß eine lange Reise unternehmen, Gobind.«

»Ich auch! Eine längere noch als du! Aber wie steht es mit dem Buch, mein Sohn?«

»Es wird rechtzeitig geboren werden, wenn es so sein soll.«

»Ich wollte, ich könnte es noch sehen«, sagte der alte Mann und kauerte sich unter seiner Decke zusammen. »Aber das wird nicht geschehen. Ich werde in drei Tagen sterben. Nachts. Kurz vor Sonnenaufgang. Die Zahl meiner Jahre ist reif.«

In neun Fällen unter zehn täuscht sich ein Eingeborener nicht über den Tag seines Todes. Er hat in dieser Hinsicht das Ahnungsvermögen eines Tieres.

»Dann wirst du in Frieden scheiden; deine Rede ist gute Rede, daß das Leben dir keine Freude ist.«

»Es ist schade, daß das Buch noch nicht geboren ist. Wie werde ich wissen, ob mein Name wirklich darin aufgezeichnet ist?«

»Ich verspreche dir, daß gleich am Anfang des Buches, allem ändern voran, stehen soll, daß Gobind, der Saddhu, von der Insel im Flusse, und in Erwartung Gottes in der Chubara des Dhunni Bhagat, mir zuerst von dem Buche gesprochen hat«, sagte ich.

»Und seinen Rat dazu gegeben hat – den Rat eines alten Mannes – den Rat Gobinds, des Sohnes Gobinds, aus dem Dorfe Chumi im Kreis Karaon, im Distrikt Mooltan. Wird auch das darin stehen?« forschte der Greis.

»Auch das wird darin stehen.«

»Und das Buch wird über das Schwarze Wasser gehen bis in die Häuser der Leute deines Volkes, und alle Sahibs werden von mir wissen, der ich jetzt älter als achtzig Jahre bin?«

»Alle, die das Buch lesen, werden von dir wissen. Für die anderen kann ich nicht gutstehen.«

»Das ist gute Rede. Ruf sie alle herbei mit lauter Stimme, die im Kloster sind, damit ich es ihnen erzählen kann!«

Und sie kamen alle herbei, die Fakire, die Saddhus, die Sunnyasis, die Bairagis, die Nihangis und Mullahs, – Priester aller Religionen und in jedem Grade der Zerlumptheit. Gobind, auf seine Krücke gestützt, sprach zu ihnen mit einer Begeisterung, daß sie sämtlich von Neid erfüllt wurden, bis ein weißhaariger Greis ihn ermahnte, an sein Ende zu denken, anstatt an den vergänglichen Ruhm im Munde der Fremden. Dann gab mir Gobind seinen Segen, und ich ging fort.

Die Geschichten, die ich in dem Buche bringe, habe ich an allen möglichen Orten gesammelt, habe sie gehört aus dem Munde so manchen Priesters in der Chubara, aus dem Munde Ala Yars, des Bildschnitzers, und Jiwun Singhs, des Schlossers – von Menschen ohne Namen, die ich auf Dampfern und in Eisenbahnzügen traf, von Weibern, die im Zwielicht vor ihren Hütten spannen, von Offizieren und Gentlemen, die längst tot und begraben sind; einige hat mir mein Vater auf den Weg mitgegeben, sie sind die besten.

Die bemerkenswertesten Geschichten kann ich hier nicht bringen – aus leichtbegreiflichen Gründen!