Noch ein Landsmann

(Nummer 2.)

Ich saß mit Harris in einer Sennhütte, beschäftigt, meine Tagebücher zu ordnen und verschiedene wissenschaftliche Beobachtungen zu Papier zu bringen, als ein schlanker, junger Amerikaner zu uns eintrat. Er mochte etwa dreiundzwanzig Jahre alt sein und näherte sich mir mit jener ungekünstelten Selbstgefälligkeit, welche Jünglinge seines Alters für feine, weltmännische Lebensart halten. Er trug das Haar in der Mitte gescheitelt und lächelte so albern, wie ein Höfling auf der Bühne, als er sich mir vorstellte. Während er mit seiner schöngepflegten Rechten meine Hand umkrallte, verbeugte er sich dreimal mit dem Oberkörper bis zu den Hüften nach Theatersitte und sagte in gnädig herablassendem Beschützerton:

»Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, freue mich wirklich außerordentlich. Habe alle Ihre kleinen Versuche gelesen und bewundere sie sehr; hörte, Sie seien hier und wollte –«

Ich deutete auf einen Stuhl und er nahm Platz.

Dieser hohe Herr war der Enkel eines zu seiner Zeit sehr namhaften Amerikaners, der auch heutigen Tages noch nicht vergessen ist und dem nur noch so wenig fehlte, um ein großer Mann zu sein, daß er bei seinen Lebzeiten allgemein dafür gehalten wurde.

Ich ging langsam in dem Zimmer auf und ab, mit der Lösung wissenschaftlicher Probleme beschäftigt und hörte dabei die folgende Unterhaltung:

Enkel. Sie sind zum erstenmal in Europa?

Harris. Ich? – Ja.

Enkel ( mit einem wehmütigen Seufzer zur Erinnerung an vergangene Freuden, die man in ihrer Süßigkeit nur einmal genießt), Ach, ich weiß, wie Ihnen zu Mute ist. Der erste Besuch ist so romantisch. Ich möchte jene Gefühle wohl noch einmal durchleben.

Harris. Ja, ich finde, es übertrifft alle meine Träume. Es liegt ein unbeschreiblicher Zauber darin. Ich muß gestehen …

Enkel ( mit einer gezierten Handbewegung, als wollte er sagen: »Verschonen Sie mich mit den rohen Ausbrüchen Ihrer Begeisterung, guter Freund!«) Ich weiß, ich weiß! Man besucht die Kirchen und staunt. Man geht durch endlose Galerien und staunt wieder. Man steht hier und dort und überall auf historischem Boden und staunt immerfort. Man sammelt seine ersten unreifen Kunstbegriffe und fühlt sich stolz und glücklich. Ja, stolz und glücklich – das ist der richtige Ausdruck. Recht so, genießen Sie es nur – es ist ein unschuldiges Vergnügen.

Harris. Aber Sie? Freuen Sie sich denn nicht mehr daran?

Enkel. Ich? Sie spaßen wohl, bester Herr. Wenn Sie erst ein so alter Reisender sind wie ich, werden Sie solche Frage nicht mehr stellen. Ich sollte noch die vorgeschriebenen Galerien besuchen, in den vorgeschriebenen Kirchen herumstehen und alle die abgedroschenen Sehenswürdigkeiten besichtigen? – das fiele mir ein!

Harris. Aber was thun Sie denn sonst?

Enkel. Was ich thue? Ich bin bald hier, bald dort – immer unterwegs; aber ich folge nicht der großen Herde. Heute bin ich in Paris, morgen in Berlin, dann wieder in Rom; vergebens würden Sie mich aber im Louvre suchen oder an andern Orten, die der gewöhnliche Reisende in den Hauptstädten aufsucht. Wer mich finden will, muß in verborgene Ecken und Winkel gehen, wohin sich andere Leute nie verlieren. An einem Tage quartiere ich mich vielleicht in einer entlegenen Bauernhütte ein, am nächsten in einem längst verlassenen Schloß, das irgend ein Kleinod der Kunst birgt, für welches der Unerfahrene kein Verständnis hat und an dem ein weniger geübtes Auge flüchtig vorübergehen würde. Oft weile ich auch als Gast in den geheiligten Wohngemächern von Palästen, in deren unbenutzte Räume die große Herde einen Blick werfen darf, wenn sie sich dem Diener dafür erkenntlich erweist.

Harris. Sind Sie ein Gast an solchen Orten?

Enkel. Ja, ein hochwillkommener Gast.

Harris. Das überrascht mich. Wie geht das zu?

Enkel. Meines Großvaters Name verschafft mir Zutritt bei allen Höfen Europas. Ich brauche ihn nur zu nennen und jede Thür steht mir offen. Ich eile nach Belieben von einem Hof zum andern und bin stets gern gesehen. In den europäischen Schlössern fühle ich mich so zu Hause, wie Sie bei Ihren eigenen Verwandten. Es giebt, glaube ich, keine hochstehende Persönlichkeit, die ich nicht kenne. Ich habe fortwährend alle Taschen voll Einladungen; jetzt bin ich auf dem Wege nach Italien, wo ich versprochen habe, in mehreren hohen Adelsfamilien als Gast einzukehren. In Berlin mache ich im Kaiserpalast die glänzendsten Gesellschaften mit. Und so geht es überall, wohin ich auch komme.

Harris. Wie angenehm. Doch muß Ihnen Boston ziemlich langweilig erscheinen, wenn Sie wieder zu Hause sind.

Enkel. Natürlich; aber ich gehe nicht oft nach Hause. Dort ist kein Leben – man findet da wenig, was der höhern Natur des Menschen Nahrung giebt. Der Horizont von Boston ist sehr beschränkt, wissen Sie. Die Leute selbst ahnen das nicht, man könnte sie auch nicht davon überzeugen, deshalb äußere ich auch nicht dergleichen, wenn ich dort bin. Wozu könnte das auch führen? – Boston würde es doch nicht verstehen, es hat eine zu gute Meinung von sich; aber sein Horizont ist sehr eng, das können Sie mir glauben. Wer so viel gereist ist wie ich und so viel von der Welt gesehen hat, erkennt das klar und deutlich, aber ändern läßt es sich nicht. Darum bleibe ich auch nicht dort, sondern suche mir eine Sphäre, die meinem Geschmack und Bildungsstandpunkt besser zusagt. Wenn ich gerade nichts Wichtigeres zu thun habe, fahre ich vielleicht einmal im Jahr hinüber, aber ich komme sehr bald wieder nach Europa zurück, wo ich meine meiste Zeit zubringe.

Harris. Ja so, Sie machen Ihre Pläne und dann – –

Enkel. Nein, entschuldigen Sie, ich mache gar keine Pläne. Ich thue jeden Tag nur, wonach mir zu Mute ist. Zu binden brauche ich mich nicht, ich bin mein eigener Herr und lebe ganz nach Gefallen. Ein alter Reisender wie ich braucht sich nicht zu beschränken, indem er sich bestimmte Ziele steckt. Das Reisen ist mir zur zweiten Natur geworden, zur fest eingewurzelten Gewohnheit. In einem Wort, ich bin ein Bürger der Welt – anders kann ich mich nicht bezeichnen. Ich sage nie: ich will da oder dorthin gehen, ich verliere überhaupt kein Wort darüber, sondern schreite gleich zur That. Vielleicht bin ich nächste Woche bei einem spanischen Granden zu Besuch, oder nach Venedig abgereist, wenn ich nicht etwa nach Dresden gehe. Wahrscheinlich werde ich mich binnen kurzem nach Ägypten begeben. Während mich dann meine Freunde aber noch an den Katarakten des Nil vermuten, erfahren sie zu ihrer Überraschung, daß ich schon irgendwo in Indien bin. Ich setze die Leute fortwährend in Erstaunen. »Als wir zuletzt von ihm hörten,« sagen sie wohl, »war er in Jerusalem, aber der Himmel weiß, wo er jetzt ist.«

Bald darauf erhob sich der Enkel, um fortzugehen; vielleicht hatte er eine Verabredung, irgendwo mit einem Kaiser zusammenzutreffen. Er wiederholte seine Höflichkeitsbezeugungen, streckte mir auf Armeslänge seine weiße Rechte hin, drückte sich mit der andern Hand den Hut gegen den Magen, knickte dreimal in der Mitte zusammen wie ein Taschenmesser und murmelte:

»Sehr gefreut, sehr gefreut. Wünsche Ihnen besten Erfolg.«

Dann entzog er uns seine holde Gegenwart.

Einen Großvater zu haben, ist ein großes, ein erhabenes Glück.

 

Da ich das Bild des jungen Menschen möglichst naturwahr zeichnen wollte, habe ich durchaus nicht zu stark aufgetragen. Meine anfängliche Entrüstung über ihn verwandelte sich bald in inniges Mitleid. Wer könnte auch Groll hegen gegen ein leeres Nichts? – Ich habe das Gespräch möglichst wortgetreu wiedergegeben, den Kern und Inhalt jedenfalls ganz genau. Dieser Jüngling und der harmlose Schwätzer, den ich auf dem Schweizer See traf, sind die kostbarsten und interessantesten Vertreter des jungen Amerika, denen ich auf meinen Reisen begegnet bin. Die Art, wie sich der dreiundzwanzigjährige Enkel zu wiederholten Malen einen alten Reisenden und erfahrenen Weltmann nannte, schien mir unbezahlbar, und daß er die Güte gehabt hat, seine Vaterstadt Boston nicht über ihren engen Horizont aufzuklären, war äußerst dankenswert.