Rang und Würde des Lotsen.
In den vorausgehenden Kapiteln habe ich es versucht, durch Eingehen auf die Einzelheiten der Wissenschaft des Lotsen den Leser Schritt für Schritt zu einem Verständnis dessen zu führen, woraus diese Wissenschaft besteht, und gleichzeitig den Beweis zu liefern, daß sie eine sehr eigenartige Wissenschaft und seiner Aufmerksamkeit wohl wert ist. Wenn ich gern bei meinem Thema verweilt habe, so ist das nicht überraschend, denn ich liebte den Beruf weit mehr als irgend einen, dem ich seither obgelegen habe, und war maßlos stolz darauf. Der Grund ist klar: ein Lotse war in jenen Tagen das einzige ungebundene und gänzlich unabhängige, menschliche Wesen, das auf Erden lebte. Die Könige sind nur die abhängigen Diener des Parlaments und des Volkes; die Parlamente sitzen in Ketten, welche ihre Wähler schmiedeten; der Herausgeber einer Zeitung darf nicht selbständig sein, sondern muß, mit der einen Hand durch Partei und Gönner gefesselt, arbeiten und kann zufrieden sein, wenn er seine Meinung halb oder zu zwei Dritteln sagen darf; kein Geistlicher ist ein freier Mann und darf die ganze Wahrheit sagen, ohne auf die Meinungen seiner Pfarrgemeinde Rücksicht zu nehmen; die Schriftsteller jeder Art sind die gefesselten Sklaven des Publikums. Wir schreiben furchtlos und freimütig, aber wir ›modifizieren‹, ehe wir das Geschriebene drucken lassen. In Wahrheit haben alle – Mann, Weib und Kind – einen Herrn und mühen und quälen sich in der Knechtschaft; nur der Lotse auf dem Mississippi hatte zu den Zeiten, von denen ich schreibe, keinen Herrn. Der Kapitän konnte im Glanz einer sehr kurzen Autorität auf dem Sturmdeck stehen und ihm ein paar Befehle geben, während das Dampfboot auf den Strom hinausdampfte, aber dann war seine Herrschaft vorüber. Sobald das Boot auf dem Flusse in Fahrt war, stand es unter der alleinigen und unbestrittenen Leitung des Lotsen. Er konnte damit thun, was er wollte, konnte fahren, wann und wohin es ihm beliebte, und es am Ufer festlegen, sobald ihm das rätlich erschien. Seine Bewegungen waren vollkommen frei; er zog niemanden zu Rate, empfing von niemandem Befehle und wies schon den leisesten Ratschlag zurück. Ja, das Gesetz der Vereinigten Staaten verbot ihm geradezu, auf Befehle oder Ratschläge zu hören, von der ganz richtigen Annahme ausgehend, daß der Lotse notwendigerweise besser wissen müsse, wie ein Dampfer zu steuern sei, als sonst irgend jemand. Hier gab es also etwas ganz Neues: einen König ohne Aufseher, einen Monarchen, dessen Herrschaft im vollsten Sinne des Worts absolut war und nicht bloß dem Namen nach. Ich habe gesehen, wie ein achtzehnjähriger Bursche einen großen Dampfer dem scheinbar ganz sichern Untergang entgegensteuerte, während der bejahrte Kapitän stumm dabeistand, voller Befürchtungen, aber machtlos, einzugreifen. Letzteres wäre in diesem besondern Fall vielleicht sehr nützlich gewesen, aber hätte man es gestattet, so wäre ein verderbliches Präcedenz geschaffen worden. In Anbetracht der unbegrenzten Autorität des Lotsen kann man sich leicht denken, daß er in den alten Zeiten des Dampfbootfahrens eine wichtige Persönlichkeit war. Er wurde vom Kapitän mit großer Höflichkeit und von allen Offizieren und Bediensteten mit größter Ehrerbietung behandelt; und diese ehrerbietige Haltung teilte sich rasch auch den Passagieren mit. Ich glaube, die Lotsen waren von den Menschen, die ich je kennen gelernt habe, so ziemlich die einzigen, welche in Gegenwart reisender fremder Fürstlichkeiten keinerlei Befangenheit zeigten. Denn natürlich, Leute in unserem eigenen Rang machen uns selten verlegen.
Infolge langjähriger Gewohnheit kam es dahin, daß die Lotsen alle ihre Wünsche in die Form von Befehlen kleideten. Noch heute wurmt es mich, daß ich meinen Willen in der schwachen Form eines Wunsches äußern muß, statt in der bündigen Form eines Befehls.
Zu jener Zeit brauchte man im Durchschnitt etwa fünfundzwanzig Tage, um ein Schiff in St. Louis zu befrachten, es nach New-Orleans und zurück zu bringen und die Ladung zu löschen. Sieben oder acht Tage davon verbrachte das Dampfboot an den Hafendämmen von St. Louis und New-Orleans, wo die ganze Mannschaft tüchtig zu arbeiten hatte, die beiden Lotsen allein ausgenommen; sie thaten weiter nichts, als in der Stadt die feinen Herren spielen, und empfingen dafür dieselbe Gage, als wenn sie im Dienst gewesen wären. Sobald der Dampfer in einer der beiden Städte den Quai berührte, waren sie am Lande, und gewöhnlich sah man sie nicht eher wieder, bis das letzte Glockenzeichen ertönte und alles für die nächste Fahrt bereit war.
Hatte ein Kapitän einen Lotsen von besonders hohem Ansehen gefunden, so gab er sich Mühe, ihn zu behalten. Als die Löhne auf dem oberen Mississippi bis auf vierhundert Dollars im Monat gestiegen waren, kannte ich einen Kapitän, der einem solchen Lotsen drei Monate lang sein volles Gehalt als Wartegeld zahlte, während der Strom zugefroren war. Dabei darf man nicht vergessen, daß vierhundert Dollars monatlich in jenen billigen Zeiten ein fast unbegreiflich glänzendes Gehalt waren; nur wenige Leute am Lande wurden so hoch bezahlt, waren aber dann auch höchst angesehen. Kamen Lotsen von dem einen oder andern Ende des Stromes in unser kleines Städtchen am Missouri, so bewarben sich die besten Kreise um ihre Gesellschaft und behandelten sie mit übertriebenem Respekt. Auf Wartegeld im Hafen liegen, war eine bei vielen Lotsen sehr beliebte und geschätzte Sache, besonders zur Blütezeit der Schiffahrt auf dem Missouri, in den sogenannten Kansaszeiten, als sie neunhundert Dollars für die Reise bekamen, was etwa achtzehnhundert Dollars für den Monat gleichkam. Hier zur Probe ein Gespräch aus jener Zeit. Ein Mann vom Illinois-River mit einem kleinen Hinterraddampfer redet ein paar geputzte und goldgeschmückte Missourilotsen an:
»Meine Herren, ich habe eine hübsche Fahrt nach dem Oberland, und würde Sie etwa vier Wochen lang brauchen. Wieviel wird das kosten?«
»Achtzehnhundert Dollars für jeden.«
»Himmel und Erde! Da wollen wir lieber tauschen; nehmen Sie mein Boot und geben Sie mir Ihren Verdienst.«
Ich will hier beiläufig bemerken, daß die Dampfbootleute auf dem Mississippi in den Augen der Landbewohner (und bis zu einem gewissen Grade auch in ihren eigenen) eine Wichtigkeit besaßen, die derjenigen des Bootes entsprach, auf dem sie dienten. So war es z. B. etwas höchst Ehrenvolles, zu der Mannschaft eines so stattlichen Fahrzeuges wie des ›Aleck Scott‹ oder des ›Großtürken‹ zu gehören. Die schwarzen Heizer, Matrosen und Barbiere von jenen Dampfern waren in ihren Kreisen hervorragende Persönlichkeiten, und sich dessen wohl bewußt. Ein strammer Schwarzer erregte einmal durch sein hochmütiges Benehmen Ärgernis auf einem Negerball in New-Orleans. Schließlich eilte einer der Ballordner auf ihn zu und sagte:
»Wer bist du denn? Wer bist du? Das möcht‘ ich wissen!«
Der Missethäter kam nicht im geringsten außer Fassung, sondern warf sich in die Brust und sprach in einem Ton, der zeigte, daß er sich wohl bewußt war, weshalb er so stolz auftrat:
»Wer ich bin? Wer ich bin? Ihr sollt gleich erfahren, wer ich bin! Ihr Nigger müßt wissen, daß ich den mittleren Kessel auf dem ›Aleck Scott‹ heize!«
Dies genügte.
Der Barbier des ›Großtürken‹ war ein putziger junger Neger, der seine Wichtigkeit mit höchster Selbstgefälligkeit zur Schau trug und in dem Kreise, in welchem er sich bewegte, äußerst angesehen war. Die farbige junge Welt in New-Orleans trieb gern Liebeleien im Zwielicht auf den hölzernen Bänken der Seitenstraßen, wo jemand eines Abends folgendes mit angehört hat: Eine Negerin von mittlerem Alter steckte den Kopf durch eine zerbrochene Scheibe und rief sehr laut (damit die ganze Nachbarschaft es hören und sie beneiden konnte): »Marianne, komme sofort ins Haus! Stehst da draußen und treibst Thorheiten mit dem gemeinen Gesindel, und hier drinnen ist der Barbier vom ›Großtürken‹ und will mit dir plaudern!«
Meine obige Erwähnung der Thatsache, daß der Lotse infolge seiner eigenartigen dienstlichen Stellung außerhalb des Bereichs der Kritik und der Befehle stand, erinnert mich an Stephen W – –. Er war ein begabter Lotse, ein gutherziger Mensch, ein unermüdlicher Plauderer voll Witz und guten Humors. Im Gefühl seiner Selbständigkeit benahm er sich Leuten von Reichtum, Würden und Alter gegenüber mit köstlicher Unbefangenheit. Er hatte stets Beschäftigung, ersparte sich nie einen Pfennig, war ein beharrlicher Borger und jedem Lotsen auf dem Mississippi sowie den meisten Kapitänen Geld schuldig. Er verstand es, sein sorgloses und waghalsiges Lotsen mit einem gewissen Glanz zu umgeben, der es fast bezaubernd machte – aber nicht für jedermann. Einmal machte er eine Fahrt mit dem guten alten Kapitän Y – – und wurde aus dem Dienst entlassen, als das Boot nach New-Orleans kam. Als jemand seine Verwunderung darüber ausdrückte, schauderte Kapitän Y – – schon bei der bloßen Erwähnung Stephens; dann flötete seine schwache, dünne Stimme etwa wie folgt:
»Guter Gott! Ich möchte um die Welt kein solches Ungetüm auf meinem Dampfer haben – nicht um die ganze Welt! Er flucht, er singt, er pfeift, er gellt – habe nie einen Indianer so gellen hören. Und zwar zu allen Zeiten der Nacht – das ist ihm alles einerlei. Er gellt just drauf los, nicht aus einem besonderen Grunde, sondern weil es ihm ein gewisses teuflisches Vergnügen gewährt. Wenn ich im besten Schlafe lag, wurde ich plötzlich durch einen jener fürchterlichen Kriegsschreie aus dem Bett geschreckt. Ein komischer Kauz – sehr komisch; keinerlei Respekt vor irgend etwas oder irgend jemand; manchmal nannte er mich einfach Johnny. Und dann hielt er sich eine Geige und eine Katze. Er spielte schauderhaft; das schien die Katze zu kränken, die dann zu heulen pflegte. Niemand konnte schlafen, wo dieser Mensch – und seine Familie – war. Und leichtsinnig! So etwas ist noch nicht dagewesen. Sie mögen es mir glauben oder nicht, aber so wahr ich hier sitze, er jagte mit vollem Dampf durch jene schrecklichen Baumstämme bei Chicot, und dazu wehte der Wind ganz satanisch! Meine Offiziere können es Ihnen sagen; sie haben’s mit angesehen. Und ich will zeitlebens den Mund nicht mehr aufthun, wenn er nicht die Lippen spitzte und zu pfeifen begann, während wir durch die Baumstämme jagten und ich, an allen Gliedern zitternd, betete! Ja, Sir, er pfiff: ›Mädel von Buffalo, kommt ihr nicht heute nacht, kommt ihr nicht heute nacht?‹ und das so ruhig und gelassen, als ob gar nichts passiert wäre. Und als ich ihm deshalb Vorstellungen machte, blickte er lächelnd auf mich herab, als ob ich ein kleines Kind wäre, und sagte, ich solle in die Kajüte gehen, brav sein und meine Vorgesetzten nicht belästigen!«
Eines Tages wurde Stephen, stellenlos und wie gewöhnlich ohne Geld, in New-Orleans von einem ziemlich filzigen Kapitän angetroffen. Da Stephen ›bös in der Klemme‹ war, willigte er auf vieles Zureden endlich ein, für hundertfünfundzwanzig Dollars monatlich – gerade die Hälfte des üblichen Lohnes – zu lotsen, wobei der Kapitän sich verpflichtete, das Geheimnis zu bewahren, um dem armen Kerl nicht die Verachtung der ganzen Gilde zuzuziehen. Aber das Boot war kaum einen Tag unterwegs, als Stephen entdeckte, daß der Kapitän sich seines Handels mit Stephen gerühmt und allen seinen Offizieren davon erzählt hatte. Stephen zwinkerte mit den Augen, sagte aber nichts. Um die Mitte des Nachmittags betrat der Kapitän das Sturmdeck, blickte um sich und schien sehr überrascht zu sein. Er sah fragend zu Stephen hinauf, der aber ganz gemächlich pfiff und auf seinen Dienst achtete. Der Kapitän wartete eine Weile, offenbar sehr mißmutig, und schien ein paarmal eine Bemerkung machen zu wollen: aber die auf dem Flusse herrschende Etikette hatte ihn gelehrt, eine derartige Übereilung zu vermeiden, und so bezwang er sich denn und schwieg. Er ärgerte und wunderte sich noch eine Weile und kehrte dann in seine Gemächer zurück; aber bald erschien er wieder, anscheinend noch verwunderter als vorher. Endlich wagte er die höfliche Bemerkung:
»Recht guter Wasserstand jetzt – nicht wahr, Sir?«
»Nun, das kann man wohl sagen: zum Überlaufen voll, ein ziemlich reichlicher Wasserstand!«
»Scheint hier eine starke Strömung zu sein.«
»Stark ist zu wenig gesagt; sie ist stärker als ein Mühlstrom.« »Ist die Strömung näher am Ufer nicht geringer, als hier in der Mitte?«
»Ja, ich denke wohl; aber man kann mit einem Dampfer nicht vorsichtig genug sein. Hier draußen ist’s ziemlich sicher, können den Boden nicht berühren, darauf können Sie sich verlassen.«
Der Kapitän entfernte sich ziemlich mißmutig; wenn es so fortging konnte er am Ende an Altersschwäche sterben, ehe sein Dampfer nach St. Louis kam. Als er am nächsten Tag wieder auf Deck erschien, steuerte Stephen wieder getreulich mitten im Strom hinauf und kämpfte gegen die ganze, gewaltige Kraft des Mississippi an, wobei er in seiner ruhigen Weise eine Melodie pfiff. Die Sache wurde ernst. Drüben am Ufer dampfte ein langsameres Boot lustig im stillen Wasser dahin und gewann immer mehr Vorsprung. Es begann auf eine Inseldurchfahrt zuzusteuern, während Stephen sich mitten im Strom hielt. Da entrang sich dem Kapitän die gepreßte Frage:
»Herr W. – –, schneidet jener Arm nicht eine hübsche Strecke Weges ab?«
»Ich glaube wohl, weiß es aber nicht.«
»Sie wissen es nicht? Ist denn jetzt nicht Wasser genug darin zum Durchfahren?«
»Ich glaube wohl, weiß es aber nicht sicher.«
»Bei meiner Seele, das ist sonderbar. Ei, die Lotsen auf dem Boot da drüben wollen es probieren. Wollen Sie etwa sagen, daß Sie nicht soviel wissen wie die?«
» Die? Ei, das sind Zweihundertfünfzigdollars-Lotsen Kapitän! Aber beruhigen Sie sich nur; ich weiß soviel, wie ein Mann für hundertfünfundzwanzig Dollars zu wissen braucht!«
Der Kapitän streckte die Waffen. Fünf Minuten später dampfte Stephen durch die Passage und zeigte dem andern Boot ein paar Fersen für zweihundertfünfzig Dollars.