Als Nechludoff in sein Zimmer getreten war, begann er in fieberhafter Erregung auf- und ab zu gehen. Er hatte die Empfindung, alle seine Beziehungen mit Katuscha wären abgebrochen, für immer abgebrochen. Auf ewig mußte er darauf verzichten, Katuscha nützlich zu sein, und dieser Gedanke erfüllte ihn mit Scham und Traurigkeit. Doch er hatte auch die Empfindung, dieser Gedanke dürfe ihn jetzt nicht mehr beschäftigen, er hätte jetzt eine andere Angelegenheit zu regeln, die nicht nur nicht zu Ende war, sondern sich ihm mit gebieterischer Kraft aufdrängte.
Er fühlte sich etwas entsetzlich Schlechtem gegenüber, das zu zerstören er die Pflicht hatte, ohne daß er doch wußte, wie er es zerstören konnte. Es war jenes Schlechte, das ihn einst selbst zu Grunde gerichtet, das Katuscha zu Grunde gerichtet, und jetzt eben den lieben, wunderbaren Krülzoff, der da drüben mit seinem blauen Tuche schlief.
Und Nechludoff sah wieder die Hunderte von Menschen vor sich, die in verpesteter Lust, von gleichgültigen Gouverneuren, Staatsanwälten, Gefängnisdirektoren eingepfercht wurden. Er sah wieder die zornigen Blicke des kleinen Greises vor sich, der den »Dienern des Antichrist« trotzte. Er sah in der Totenkammer das schöne Gesicht Krülzoffs vor sich. Das alles, das ganze Leben, das ihn umgab, wirkte auf ihn wie ein böser Traum, und er fragte sich, ob er, Nechludoff, toll wäre oder die, die sich für klug hielten und ein solches Leben duldeten.
Nachdem er lange hin- und hergewandert, warf er sich auf den Divan, und mechanisch schlug er eins der kleinen Evangelien des Engländers auf, das ihm dieser gegeben, und das er auf den Tisch gelegt, als er die Taschen seines Pelzes ausgeleert.
»Es giebt Leute, die behaupten, man könne darin eine Antwort auf alles finden,« dachte er, als er das kleine Buch aufs Geratewohl aufschlug. Er las und hatte gerade ein Kapitel des Evangelium Matthäi, das achtzehnte Kapitel aufgeschlagen.
1. Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größte im Himmelreich?«
2. Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie.
3. Und sprach: »Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
4. Wer nun sich selbst erniedrigt, wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.«
»Ja, so ist’s,« sagte sich Nechludoff, indem er sich, erinnerte, wie er selbst Frieden und Lebensfreude nur in dem Maße genossen, als er sich selbst erniedrigt hatte und einem Kinde gleich geworden war.
Und er las weiter:
5. Und wer Ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.
6. Wer aber ärgert dieser Geringsten Einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist.«
Nechludoff hörte auf zu lesen. »Was mag dieses: »Wer mich aufnimmt!« und dieses: »In meinem Namen!« wohl heißen?« fragte er sich, denn er fühlte, daß diese Worte für ihn keine Bedeutung hatten. »Und was haben dieser Mühlstein und das Meer damit zu thun? Nein, das alles ist nichts für mich! – Das ist nicht klar, das hat keinen Sinn!«
Er erinnerte sich, daß er schon mehrmals in seinem Leben versucht hatte, die Evangelien zu lesen, und daß ihn die Unklarheit solcher Stellen stets verwirrt hatte.
Trotzdem nahm er das Buch wieder zur Hand und las die nun folgenden Verse. Jesus sprach darin von den »Aergernissen«, von »der Verurteilung gewisser Menschen«, von dem »höllischen Feuer«, von »gewissen Engeln, die gewissen Kindern angehören« und »das Angesicht des Vaters im Himmel sehen«.
»Wie schade, daß das alles so unklar und so schlecht ausgesprochen ist!« dachte er; »denn man fühlt, daß es im Grunde etwas Schönes ist, das man gern besser gesagt sehen möchte.« Und er begann weiter zu lesen:
11. Denn des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.
12. Was dünket euch? Wenn irgend ein Mensch hundert Schafe hätte, und Eins unter denselben sich verirrte: läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, gehet hin, und suchet das verirrte?
13. Und so sich’s begiebt, daß er es findet, wahrlich, ich, sage euch: Er freuet sich darüber mehr, denn über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind.
14. Also ist es auch von eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß jemand von diesen Kleinen verloren werde.
»Ja, gewiß, das war nicht der Wille des Vaters, daß sie verloren gehen! Aber deshalb gehen sie doch zu Hunderten, zu Tausenden zu Grunde. Und es giebt kein Mittel, sie zu retten!« dachte Nechludoff.
Er las noch einige Verse.
21. Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist es genug siebenmal?
22. Jesus sprach zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.
23. Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.
24. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm Einer vor, der war ihn: zehntausend Pfund schuldig.
25. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen.
26. Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will ja alles bezahlen.
27. Da jammerte den Herrn desselben Knechtes, und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch.
28. Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig, und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist!
29. Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, ich will dir alles bezahlen.
30. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis daß er bezahlte, was er schuldig war.
31. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles, was sich begeben hatte.
32. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest;
33. Solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmet habe?
»Sollte es das sein?« rief Nechludoff plötzlich, nachdem er diese Worte gelesen. »Sollte die Antwort, die ich suche, darin liegen?«
Und die geheime Stimme seines ganzen Wesens antwortete ihm: »Ja, das ist’s, nur das ist es!«
Und dasselbe Phänomen vollzog sich bei Nechludoff, das sich, bei all den Personen vollzieht, die mit dem geistigen Leben vertraut sind. Ein Gedanke, der ihnen zuerst seltsam, paradox, phantastisch erschienen, klärt sich plötzlich in ihren Augen durch die Resultate einer unbewußten Erfahrung auf und wird für sie sofort zur einfachen, klaren, deutlichen Wahrheit.
So ward ihm plötzlich, der Gedanke klar, daß das einzig mögliche Mittel gegen das Leiden, an dem die Menschen krankten, darin bestand, daß sie anerkannten, sie hätten eine Verpflichtung gegen Gott und infolgedessen kein Recht, über andere zu Gericht zu sitzen und sie zu bestrafen. Er begriff plötzlich, daß das schreckliche Leiden, dessen Zeuge er in den Gefängnissen und auf den Transportzügen gewesen, sowie die ruhige Sicherheit derer, die dieses Uebel verursachten oder duldeten, eine sehr einfache Ursache hatte. Das kam alles daher, daß die Menschen etwas Unmögliches unternommen hatten, denn sie waren sehr schlecht und wollten das Böse abschaffen. Lasterhafte Menschen wollten lasterhafte Menschen bessern. Da sie aber lasterhaft waren, so konnten sie nur das Laster verbreiten, anstatt es zu bessern; da sie selbst verdorben waren, so verbreiteten sie ihre eigene Verderbtheit in ihrer Umgebung. Die Antwort, die Nechludoff ängstlich suchte, ohne sie zu finden, war dieselbe, die Jesus dem Petrus gegeben hatte; die Antwort lautete, man müsse immer verzeihen, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.
»Noch nein! So einfach kann die Sache nicht sein,« sagte sich Nechludoff, und doch wußte er mit absoluter Klarheit, daß es die einzige Antwort war, nicht allein vom theologischen, sondern auch vom praktischen Standpunkt. Die Sache erschien ihm, der er an entgegengesetzte Meinungen gewöhnt war, seltsam und unglaublich, doch er fühlte und wußte, daß sie unbestreitbar war.
Der gewöhnliche Einwand, was man mit den Dieben und Mördern anfangen sollte, hatte schon seit langer Zeit keine Bedeutung mehr für ihn. Dieser Einwand hätte in der That nur dann Sinn gehabt, wenn die Strafen die Anzahl der Verbrechen vermindert, wenn sie die Verbrecher gebessert hatten; doch die Erfahrung hatte Nechludoff bewiesen, daß das Gegenteil eintrat. Hatten die Menschen seit den vielen Jahrhunderten, da sie das Verbrechen bestraften, dasselbe unterdrückt oder auch nur abgeschwächt? Weit entfernt, es zu unterdrücken oder auch nur abzuschwächen, hatten sie es nur noch stärker entwickelt, sowohl dadurch, daß sie die Gefangenen durch die Verurteilungen, denen sie sie aussetzten, zu Grunde richteten, wie auch dadurch, daß sie den Verbrechen dieser Gefangenen – den Verbrechen der Diebe und Mörder – ihre eigenen Verbrechen, die Verbrechen der Gerichtsräte, Staatsanwälte, Henker, Untersuchungsrichter, Polizisten und Aufseher zugesellten.
Und Nechludoff begriff plötzlich, daß das notgedrungen so sein mußte. Er begriff, wenn die Gesellschaft und die sociale Ordnung weiter existierten, so geschah das nicht dank der Beamten und ihrer Grausamkeit, sondern im Gegenteil trotz ihnen, und weil es neben ihnen noch Menschen gab, die mit den andern Mitleid haben und sich gegenseitig liebten.
Das Evangelium hatte endlich zu Nechludoffs Herzen gesprochen und sich ihm enthüllt, wie jedem Menschen, der es zu lesen geneigt ist, Nechludoff beschloß, noch ein paar Seiten zu lesen. Er nahm die Bergpredigt, die ihn jederzeit sehr gerührt hatte. Diesmal entdeckte er aber, als er sie las, daß diese Predigt nicht allein eine Sammlung edler Gedanken und rührender Bilder war, die ein kaum zu verwirklichendes moralisches Ideal begleiteten. Er bemerkte, daß die Bergpredigt nur vollständig klare, einfache, praktische und leicht anzuwendende Vorschriften enthielt, deren Befolgung die sofortige Schöpfung einer vollständig neuen menschlichen Gesellschaft zur Folge haben würde, aus der jede Gewaltthat und jede Ungerechtigkeit verbannt war, und die in dem der menschlichen Schwäche erlaubten Maße das Himmelreich auf Erden schuf.
Diese Vorschriften waren fünf an der Zahl: Die erste bestand darin, daß der Mensch einen andern Menschen, seinen Bruder, nicht nur nicht töten, sondern sich auch, nicht gegen ihn erzürnen, ihn nicht anklagen, und nicht verachten durfte; wenn er sich aber mit einem andern Menschen gezankt, so mußte er sich mit ihm versöhnen, bevor er Gott ein Opfer darbrachte, das heißt, bevor er sich mit Gott durch das Gebet des Herzens vereinte.
Die zweite Vorschrift bestand darin, daß der Mensch sich nicht nur nicht der Sinnlichkeit überlassen und die Schönheit des Weibes nicht entheiligen darf, indem er ein Werkzeug seines groben Vergnügens aus ihr macht; sondern er muß, wenn er sich mit einein Weibe vermählt, sich mit ihr auf immer als verbunden betrachten.
Die dritte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nichts unter seinem Eide versprechen durfte, da er selbst weder Herr seiner selbst, noch irgend einer Sache ist.
Die vierte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nicht nur nicht Auge um Auge, Zahn um Zahn fordern darf, sondern daß er, wenn man ihn auf die eine Wange geschlagen, die andere Wange hinhalten muß; daß er die Beleidigungen verzeihen, sie mit Ergebenheit ertragen muß und nichts verweigern darf, was die andern Menschen von ihm fordern.
Die fünfte Vorschrift bestand darin, daß der Mensch nicht nur seine Feinde nicht hassen oder gegen sie kämpfen darf, sondern daß er sie lieben, ihnen helfen und dienen muß.
Nechludoff streckte sich auf dem Divan aus und begann zu träumen. Er erinnerte sich an das ganze Elend und an die ganze Häßlichkeit des augenblicklichen Lebens der Menschen, und dachte daran, wie sich dieses Leben wohl gestalten würde, wenn die Menschen die Vorschriften befolgten, die er eben gelesen. Und seine ganze Mutlosigkeit schwand, ein Strom von Begeisterung schwellte seine Seele. Er fühlte, daß er nach einem Leben des Leidens in der Finsternis plötzlich das sanfte, kräftigende, wohlthätige Licht erblickt.
In dieser Nacht schlief er nicht. Ganz der Freude über die Entdeckung, die er eben gemacht, sich hingebend, las er eifrig die Evangelien von einem Ende bis zum andern. Und wie es allen geschieht, denen sich die allgemeine Bedeutung der Evangelien endlich enthüllt hat, so wunderte er sich beim Lesen, daß er jetzt vollständig den Sinn von Worten begriff, die er so manchesmal als einfache Bilder gelesen, ohne ihnen die geringste Bedeutung beizulegen. Wie ein Schwamm in einem Gefäß all das Wasser aufnehmen möchte, das es enthält, so wollte er alles in sich aufnehmen, was in diesem Buche Nützliches, Bedeutendes, Ernstes und Fröhliches für ihn enthalten war. Und alles, was er las, schien ihm seit langer Zeit vertraut, denn was er las, bestätigte und erklärte ihm Dinge, die er seit langer Zeit ahnte, die er aber nicht als wahr anzuerkennen wagte. Jetzt aber erkannte er sie als wahr und glaubte daran.
Und er erkannte nicht nur und glaubte, daß die Menschen, wenn sie den Vorschriften der Evangelien folgten, sich zum höchsten Grade des Glückes erheben könnten, dessen sie fähig sind; nein, er erkannte auch und glaubte, daß es für einen Menschen besser war, lieber gar nichts zu thun, als diesen Vorschriften nicht zu folgen; er erkannte und glaubte, daß diese Vorschriften die einzige Daseinsberechtigung des menschlichen Lebens verkörperten, und daß der Mensch, wenn er sie verletzte, eine Schuld beging, die ihre Strafe sofort nach sich zog.
Diese Schlußfolgerung ging für Nechludoff aus dem ganzen Buche hervor; doch mit ganz besonderer Klarheit und Kraft fand er sie in der Parabel von den Arbeitern im Weinberge ausgedrückt. Die Arbeiter hatten sich eingebildet, der Garten, den man ihnen zum Bebauen gegeben, gehöre nicht ihrem Herrn, sondern ihnen selbst; alles, was sich in diesem Garten befände, wäre für sie bestimmt, und ihre einzige Pflicht wäre es, diesen Garten ihrem eigenen Vorteile dienstbar zu machen; so vergaßen sie denn ihren Herrn und töteten die, die sie an ihre Verpflichtungen ihm gegenüber erinnerten.
»So handeln wir alle!« dachte Nechludoff. »Wir leben in dem Glauben, wir seien selbst die Herren unseres Lebens, und dieses sei uns nur zu unserem Vergnügen gegeben. Was ist aber eine unsinnige, vollständig unsinnige Annahme. Der Mensch ist nicht zu seinem Vergnügen in die Welt gekommen, es muß ihn jemand aus irgend einem Grunde dorthin geschickt haben. Wir aber haben diese Thatsache vergessen, und bilden uns ein, wir lebten nur zu unserem Vergnügen. Dann wundern wir uns, daß wir leiden und uns unbehaglich fühlen, als wäre das nicht die notwendige Folge unserer Lage als Arbeiter, die dem Willen ihres Herrn nicht nachkommen wollen. Der Wille unseres Herrn aber ist in diesem kleinen Buche ausgesprochen.«
»Trachtet nach dem Himmelreich, und das übrige wird euch von selbst zufallen.« Wir aber suchen nur das übrige, und wundern uns dann, wenn wir es nicht finden können.«
»Ja, so ist mein Leben gewesen, doch dieses Leben ist jetzt vorüber, und ein anderes beginnt.«
Und thatsächlich begann von dieser Nacht an für Nechludoff ein neues Leben; neu nicht nur, weil er vollständig aufhörte, an sich selbst zu denken, und nur noch lebte, um den andern zu dienen, sondern vor allem auch darum neu, weil alles, was ihm seit dieser Nacht zustieß, alles, was er that, alles, was er sah, von nun an in seinen Augen eine andere Bedeutung als früher hatte.
Wie diese neue Periode seines Lebens enden wird, wird die Zukunft lehren.