Nachdem sie einen düstern und stinkenden Korridor durchschritten, traten Nechludoff und der Engländer unter Führung des Direktors in den ersten Saal der zur Zwangsarbeit Verurteilten. Hier erblickten sie ungefähr siebzig Gefangene, von denen die meisten sich schon zur Nachtruhe niedergelegt hatten. Man hatte alle Betten in der Mitte des Saales zusammengeschoben, so daß die Gefangenen nebeneinander lagen.

Beim Eintritt der Besucher erhoben sich alle plötzlich, unter lautem Kettengerassel, und Nechludoff war von dem Leuchten ihrer kahlen, neuerdings rasierten Schädel betroffen.

Zwei von ihnen standen jedoch nicht auf. Der eine war ein ganz junger Mann mit rotem Gesicht, der vor Fieber zitterte; der andere, der älter war, stöhnte fortwährend.

Der Engländer fragte, ob dieser junge Gefangene schon lange krank wäre. Er war es erst seit dem Morgen; doch der andere Gefangene litt schon seit längerer Zeit an einer Magenkrankheit, und man wartete nur darauf, daß ein Platz im Lazaret frei wurde, um ihn dahin zu schicken.

Dann bat der Engländer Nechludoff, er möchte den Gefangenen einige Worte übersetzen, die er an sie richten wollte, und sofort teilte er ihnen mit, er reise durch Sibirien, um das Verschickungssystem zu studieren, auch hätte er es übernommen, das gute evangelische Wort unter den Verschickten zu verbreiten.

»Ich möchte Ihnen sagen, daß Christus gestorben ist, um Sie zu retten. Sie sollen an ihn glauben, und Sie werden gerettet werden! hier ist das Buch, in dem das geschrieben steht!«

Er bat Nechludoff, diese kleine Rede zu übersetzen; dann zog er ein Päckchen in verschiedene Farben gebundener Neuer Testamente aus der Tasche. Sogleich streckten sich eine Reihe grober Hände mit schwarzen Nägeln nach ihm aus, die sich gegenseitig zurückstießen. Er verteilte an sie einige Exemplare des kleinen Buches und ging hinaus, um sich in einen andern Saal zu begeben.

In dem zweiten Saal spielte sich dieselbe Scene ab. Derselbe Mangel an frischer Luft, derselbe Gestank. Wie im ersten Saale hing ein Heiligenbild zwischen den Fenstern, gegenüber stand der Nachteimer. Wie im ersten Saal lagen sechzig Männer nebeneinander, die beim Eintritt der Besucher schnell aufsprangen. Doch diesmal konnten sich drei Mann nicht erheben; zwei richteten sich auf ihrem Lager auf; der dritte warf nicht einmal einen Blick auf die Fremden. Der Engländer bat Nechludoff, seine Rede zu wiederholen, und verteilte wieder einige Evangelien.

In dem folgenden Saal befanden sich ebenfalls drei Kranke. Der Engländer fragte den Direktor, warum man die Kranken nicht in ein einziges Zimmer bringe. Doch der Direktor erwiderte, das wollten die Kranken selber nicht. Uebrigens wäre ihre Krankheit nicht ansteckend; auch besuchte sie der Lazarethgehilfe und behandelte sie sorgfältig.

»Ja, seit zwei Wochen hat man keine Nasenspitze von ihm hier gesehen,« murmelte eine Stimme.

Ohne etwas zu erwidern, ging der Direktor in einen andern Saal, und in diesem Saale, wie in dem folgenden und allen andern Sälen bot sich dasselbe Schauspiel den Besuchern, und dieselbe Scene fand statt, «Dasselbe Schauspiel und dieselbe Scene in den Zimmern der Verschickten, und in denen der zur Einschließung Verurteilten. Ueberall sahen Nechludoff und sein Gefährte dieselben hungrigen, unbeschäftigten, kranken, flachen, tückischen Menschen, die mehr Tieren als menschlichen Geschöpfen ähnlich sahen.

Nach ungefähr einer halben Stunde verzichtete der Engländer, der übrigens seinen Vorrat an Evangelien erschöpft hatte, auf die weitere Uebersetzung seiner Ansprache von seiten Nechludoffs. Offenbar erstickte der Gräuel dessen, was er sah, und vor allem der entsetzliche Gestank seine ganze Energie. Er ging mechanisch von Zimmer zu Zimmer und begnügte sich, auf alle Auskünfte, die ihm der Direktor über die Zahl der Gefangenen und über die Art ihrer Strafen lieferte, mit: » All right!!« zu antworten.

Nechludoff aber ging wie im Traum, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu hören, ohne die Kraft zu finden, fortzugehen oder zu bleiben, und in jeder Minute fühlte er sich verzweifelter und schamerfüllter. In einem der letzten Säle, die man besichtigte, hatte Nechludoff eine Begegnung, die ihn doch aus seinem Stumpfsinn aufrüttelte. Er sah dort unter den Verschickten denselben seltsamen kleinen alten Mann, der am Morgen auf der Fähre sein Nachbar gewesen war.

Dieser kleine alte Mann, der ein zerfetztes Hemd und ein altes geflicktes Beinkleid trug, saß mit nackten Füßen in einer Ecke und warf den Besuchern einen strengen Blick zu. Sein runzliges Gesicht erschien noch düsterer und lebhafter als auf der Fähre. Und während alle Gefangenen des Saales sich beim Eintritt des Direktors mit einer einzigen Bewegung aufgerichtet hatten und aufgesprungen waren, blieb der kleine Greis sitzen. Seine Augen leuchteten, und seine Brauen zogen sich zornig zusammen. »Aufstehen!« rief ihm der Direktor zu.

Doch der Greis zuckte die Achseln und lächelte verächtlich.

»Deine Diener stehen vor dir auf! Ich aber bin nicht dein Diener. Du trägst das Zeichen auf der Stirn!« fuhr der Greis mit lauter Stimme fort.

»Was heißt das?« fragte der Direktor in drohendem Tone.

»Ich kenne diesen Mann!« sagte Nechludoff. »Es ist ein Original. Warum ist er im Gefängnis?«

»Die Polizei hat ihn uns wegen Landstreichern geschickt! Wir bitten sie, sie möchte uns niemand mehr schicken, aber das ist wie in den Wind gesprochen,« erklärte der Direktor.

»Du gehörst also auch, wie ich sehe, dem Heere der Antichristen an,« sagte der kleine Greis, sich an Nechludoff wendend.

»Nein, ich bin hier nur zum Besuch,« versetzte Nechludoff.

»Haha! Du wolltest sehen, wie der Antichrist die Menschen quält? Nun, sich nur hin, sieh dir’s an! Er hat sie gepackt und in den Käfig gesperrt, so viel, daß er damit ein ganzes Heer bilden könnte! Die Pflicht der Menschen ist es, sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts zu verdienen, und er, der Antichrist, hält sie hier eingesperrt, und ernährt sie ohne Arbeit, wie die Schweine, um Schweine aus ihnen zu machen.«

»Was sagt er?« fragte der Engländer.

Nechludoff erwiderte ihm, der Greis beschuldige den Direktor und seinesgleichen, menschliche Wesen aller Gerechtigkeit zuwider eingeschlossen zu halten.

»Fragen Sie ihn doch, wie man sich seiner Ansicht nach, denen gegenüber verhalten soll, die das Gesetz nicht beobachten,« sagte der Engländer lächelnd.

Nechludoff übersetzte die Frage.

Der Greis begann zu lachen und zeigte dabei einige schwarze und abgebrochene Zähne.

»Das Gesetz!« lies er verächtlich; »ach ja, davon rede nur! Er hat sich zuerst der Erde bemächtigt, er hat alle Menschen ihrer Reichtümer beraubt, er hat alle diejenigen unterdrückt, die ihm widerstrebten; und dann hat er das Gesetz geschrieben und erklärt, man dürfe weder stehlen noch töten! Ich erkläre dir, vorher hat er sein Gesetz nicht geschrieben!«

Als Nechludoff ihm diese unerwartete Antwort übersetzt hatte, lächelte der Engländer von neuem und sagte:

»Ach, fragen Sie doch, wie man heut‘ den Dieben und Mördern gegenüber verfahren soll!«

»Du wirst ihm antworten,« sagte der Greis zu Nechludoff, der ihm diese Frage übermittelt, »du wirst ihm antworten, er solle zuerst selbst das Zeichen des Antichrist von seiner Stirn wegwischen, und wenn er das thut, wird er Arbeit genug haben und keine Zeit mehr finden, nm sich mit den Dieben und Mördern zu beschäftigen! Na, wiederhole ihm das doch in seiner Sprache!«

»Er ist sehr amüsant,« sagte der Engländer, als er diese Antwort hörte. Er lächelte wieder und verließ das Zimmer.

Nechludoff war zurückgeblieben der Greis wendete sich an ihn und fuhr in seiner Rede fort:

»Sorge du für dich und kümmere dich nicht um andere! Gott allein weiß zu strafen und zu belohnen; wir wissen gar nichts davon!«

Dann aber rief er Nechludoff zu, als wenn er darauf verzichtete, ihn bekehren zu wollen:

»Doch nein; ich habe dir nichts zu sagen! Geh‘, geh‘ deines Weges. Du hast jetzt zur Genüge gesehen, wie die Sklaven des Antichristen menschliche Geschöpfe den Läusen zum Fraße überlassen! Geh‘ jetzt und belustige dich anderswo!« Als Nechludoff seine Gefährten im Korridor eingeholt hatte, war der Engländer vor der halbgeöffneten Thür eines dunklen Zimmers stehen geblieben und fragte den Direktor, wozu dasselbe benutzt würde. Der Direktor erwiderte, das wäre der Ort, wo man die Toten abstelle.

»So! Wirklich!« sagte der Engländer, als Nechludoff ihm diese Antwort übersetzt hatte; dann meinte er, es würde ihm angenehm sein, die Stube zu besichtigen.

Der Direktor ließ eine Lampe bringen und führte die beiden Besucher in die Totenkammer. Es war ein großes, viereckiges Zimmer, das den andern ganz ähnlich sah. In einer Ecke lagen Säcke zusammengehäuft, in einer andern Ecke hatte man einen Kloben Holz aufgeschichtet; in der Mitte lagen auf einem Bette vier Leichen.

Die erste dieser Leichen, die mit einem Hemd und einer Hose bekleidet war, hatte einen kleinen Spitzbart, und die Hälfte des Kopfes war rasiert. Die Starre war bereits eingetreten; die Hände, die augenscheinlich gefaltet auf der Brust gelegen, hatten sich gelöst, und ebenso waren die nackten Füße auseinander gezerrt. Neben ihr lag ein altes Weib in weißer Jacke und ebensolchem Rock, mit einer ganz kleinen Haarflechte, einem gelben, ganz runzligen Gesicht und einer Stumpfnase. Neben dieses alte Weib hatte man den Leichnam eines Mannes gelegt, der ein blaues Tuch um den Hals trug. Dieses blaue Tuch fiel Nechludoff auf, denn er glaubte, es schon irgendwo gesehen zu haben.

Er trat näher und betrachtete den Leichnam genauer. Ein schwarzer, etwas krauser Knebelbart, eine gerade und kräftige Nase, eine große, weiße Stirn, gelockte Haare, die oben auf dem Kopfe dünner wurden, Nechludoff erkannte alle diesen vertrauten Züge, doch er wollte noch immer nicht seinen Augen trauen. Noch am vorigen Tage hatte er dasselbe Gesicht von Leidenschaft belebt und von Schmerz verzerrt gesehen, jetzt sah er es unbeweglich und ruhig, von einer Schönheit umstrahlt, die ihm Furcht einflößte. Ja, es war Krülzoff, oder wenigstens die Hülle, die sein körperliches Leben zurückgelassen!

»Warum hat er gelitten? Warum hat er gelebt? Hat er jetzt endlich die Wahrheit erfahren?« fragte sich Nechludoff, während er den Leichnam betrachtete. Und er gab sich sofort selbst die Antwort, es gäbe keine Wahrheit, es gäbe nichts, nichts, als den Tod. Von ganzer Seele beneidete er Krülzoff, der ausgelitten hatte.

Ohne auch nur daran zu denken, von dem Engländer Abschied zu nehmen, der die Totenkammer mit ganz eigentümlichem Interesse betrachtete, ließ sich, Nechludoff aus dein Gefängnis führen, um in Ruhe, in seinem Zimmer über alles, was sich an diesem Abend ereignet hatte, nachzudenken.