Zur gewöhnlichen Stunde ertönten die Pfiffe der Schließer in den Korridoren des Gefängnisses; die eisernen Thüren der Säle öffneten sich; Geräusch von Schritten ließ sich vernehmen; die Korridore füllten sich mit dem Gestank der Nachteimer, welche fortgetragen wurden; männliche und weibliche Gefangene kleideten sich an, der Appell wurde abgenommen, und alle setzten sich dann auf ihre Betten, um ihren Thee zu trinken.

In allen Sälen herrschte an diesem Tage eine lebhafte Unterhaltung; dieselbe betraf das Ereignis des Tages, die Peitschung zweier männlicher Gefangenen. Der eine derselben war ein intelligenter und gebildeter junger Mann, ein Commis Namens Wassiljeff, der verurteilt worden, weil er seine Geliebte in einem Eifersuchtsanfalle getötet hatte. Alle seine Zellengenossen liebten ihn wegen seiner Fröhlichkeit und Freigebigkeit, und weil er es verstand, den Aufsehern Trotz zu bieten; denn er kannte das Reglement genau und duldete keine Uebertretung desselben. Dafür konnten ihn auch die Schließer und Aufseher nicht leiden.

Vor drei Wochen hatte der Schließer einen Gefangenen geschlagen, der ihm beim Vorübergehen Suppe auf seine neue Uniform gegossen hatte. Wassiljeff war für seinen Kameraden eingetreten und hatte gesagt, es sei im Reglement verboten, die Gefangenen zu schlagen. »Das Reglement? Ich werde dir das Reglement beibringen!« hatte der Schließer erwidert und auf Wassiljeff zu schimpfen angefangen, Dieser hatte in demselben Tone geantwortet; der Schließer hatte ihn schlagen wollen, doch Wasfiljeff hatte ihn bei beiden Händen gepackt, ihn so einige Augenblicke festgehalten und ihn dann aus dem Saale gestoßen. Der Aufseher hatte sich beschwert und der Inspektor hatte Wassiljeff zum Karzer verurteilt.

Die Karzer waren eine Reihe schwarzer Zellen, die von außen mit einem Doppelriegel verschlossen waren. In diesen schwarzen und kalten Zellen stand weder Bett, noch Tisch, noch Stuhl, so daß der Gefangene sich auf den schmutzigen Erdboden legen mußte, wo so zahlreiche und freche Ratten um ihn und auf ihm herumliefen, daß der Gefangene kein Stück Brot bei sich behalten konnte, ohne daß sie den Versuch machten, es ihm aus den Händen zu reißen.

Wassiljeff hatte erklärt, er hätte keine Schuld und würde deshalb nicht in den Karzer gehen. Mit Gewalt hatte man ihn fortgeschleppt. Er hatte sich gesträubt, und zwei seiner Kameraden hatten ihm geholfen, sich den Händen der Aufseher zu entziehen. Diese hatten sich nun Verstärkung geholt und besonders einen gewissen Petroff herbeigerufen, der wegen seiner Stärke berüchtigt war. Die drei rebellischen Gefangenen waren wieder gefaßt und in den Karzer geworfen worden. Man hatte dem Gouverneur sofort einen Bericht eingereicht, in welchem die Sache als versuchte Meuterei hingestellt war. Als Antwort war aus dem Palast des Gouverneurs eine Ordre gekommen, die die zwei Hauptschuldigen, Wassiljeff und einen Landstreicher Nepomniak, zu je dreißig Knutenhieben verurteilte. Die Knutung sollte noch an demselben Morgen im Frauensprechzimmer stattfinden.

Seit dem vorigen Tage wußte das ganze Gefängnis die Neuigkeit, und in den verschiedenen Sälen war in der Frühstücksstunde nur davon die Rede.

Die Korablewa, die Fenitschka, die »Schönheit« und die Maslow saßen in ihrem Lieblingswinkel und schwatzten alle vier, rot und aufgeregt, denn sie hatten schon viel Schnaps getrunken, der infolge des Geldes der Maslow ihnen jetzt fortwährend floß. Sie tranken ihren Thee und unterhielten sich von der Knutung.

»Wenn er sich noch empört hätte!« sagte die Korablewa und biß mit ihren starken Zähnen ein Stück Zucker durch. »Er hat doch nur einen Kameraden verteidigt! Man hat nicht mehr das Recht, ihn deshalb zu schlagen!«

»Er soll jung und sehr tapfer sein,« fügte Fenitschka hinzu, während sie fortfuhr, auf ihre Theekanne acht zu geben.

»Du solltest mit »ihm« über den armen Jungen sprechen,« sagte die Eisenbahnwärterin zu der Maslow.

Unter dem Worte »ihm« verstand sie Nechludoff.

»Sicher werde ich mit ihm darüber sprechen; er will ja alles für mich thun,« versetzte die Maslow mit eitlem Lächeln.

»Aber Gott weiß, wann er kommt, und Wassiljeff soll schon abgeholt worden sein,« sagte Fenitschka. »Das ist gräßlich!« setzte sie seufzend hinzu.

»Ich habe einmal gesehen, wie ein Mann auf dem Amtsgerichte geschlagen wurde. Man hatte mich zu dem Schwiegervater des Stationsvorstehers geschickt, und als ich nach dem Amtsgerichte kam …«

Und nun erzählte die Eisenbahnwärterin eine lange Geschichte, die aber plötzlich durch das Geräusch von Schritten und Stimmen, die im Korridor des oberen Stockwerks hörbar wurden, unterbrochen ward. Die Weiber schwiegen und spitzten die Ohren.

»Sie haben ihn fortgeführt, die Teufel!« erklärte die »Schönheit«. – »Sie werden ihn jetzt umbringen. Zudem sind die Aufseher noch auf ihn wütend, weil er sie hindert, nach ihrem Kopfe zu handeln!«

Oben ward wieder alles still. Die Eisenbahnwärterin nahm ihre Geschichte wieder auf und erzählte, wie man in ihrem Beisein einen Muschik unter einem Schuppen zu Tode gepeitscht und wie ihr in diesem Augenblick das Herz im Leibe gesprungen war. Die Schönheit berichtete, wie man Tschegloff geschlagen, ohne daß er ein Wort der Klage hören ließ. Dann nahm Fenitschka den Thee fort; die Korablewa und die Eisenbahnwärterin nahmen wieder ihre Näharbeit auf, während die Maslow sich mit hochgezogenen Knieen auf ihrem Bette ausstreckte. Sie wollte ein bißchen schlafen, um die Langeweile zu verscheuchen, als die Aufseherin ihr sagte, sie solle sich ins Bureau begeben, es wäre ein Besuch für sie da.

»Sprich nur ja mit ihm von uns!« sagte die alte Betschwester zur Maslow, während diese ihre Haare vor einem halbstumpfen Spiegel zurechtmachte. »Du wirst ihm sagen, wir hätten das Feuer nicht angesteckt, sondern der Schenkwirt, der Hallunke, hat es selbst gethan; ein Arbeiter hat es gesehen! Sage ihm, er solle Mitri rufen lassen! Mitri wird ihm alles erklären, so klar wie die Handfläche. Uns, die wir nichts gethan haben, hat man ins Gefängnis geworfen, während er, der Hallunke, in der Schenke mit dem Weib des andern den Zaren spielt, und mein Alter niemand hat, der ihm seine Läuse abfängt!«

»Ich werde es ihm sagen; gewiß werde ich es ihm sagen!« versetzte die Maslow.

»Vorwärts!« fügte sie dann hinzu, »trinken wir noch einen Schluck, um uns Mut zu machen!«

Die Korablewa goß ihr ein Glas Branntwein ein. Die Maslow leerte es in einem Zuge, wischte sich den Mund und eilte mit demselben fröhlichen Lächeln, mit dem sie zu trinken verlangt, »um sich Mut zu machen«, zu der Aufseherin, die im Gange auf sie wartete.