Als Aleksey Aleksandrowitsch in das kleine, mit altertümlichem Porzellan dekorierte und Gemälden behängte anheimelnde Kabinett Lydia Iwanownas trat, war die Herrin selbst noch nicht anwesend. Sie kleidete sich um.

Auf einem runden Tische war ein Tafeltuch aufgedeckt, auf welchem ein chinesisches Service und eine silberne Theemaschine stand. Aleksey Aleksandrowitsch betrachtete zerstreut die unzähligen, ihm bekannten Porträts, welche das Kabinett schmückten, und öffnete, nachdem er sich an dem Tische niedergelassen, das auf demselben liegende Evangelium.

Das Rauschen des seidenen Kleides der Gräfin zog ihn davon ab.

»So, nun wollen wir uns gemächlich setzen,« sagte die Gräfin Lydia Iwanowna, mit aufgeregtem Lächeln hastig zwischen Tisch und Diwan durchschreitend, »und bei unserem Thee sprechen.«

Nach einigen Worten der Vorbereitung gab die Gräfin Lydia Iwanowna schwer atmend und errötend das empfangene Schreiben Aleksey Aleksandrowitsch in die Hände.

Das Schreiben durchlesend, blieb dieser lange stumm.

»Ich glaube nicht das Recht zu haben, ihr einen abschläglichen Bescheid geben zu dürfen,« sagte er zaghaft, die Augen erhebend. –

»Mein Freund, Ihr seht doch in keinem Menschen das Böse!.«

»Im Gegenteil sehe ich, daß alles von Übel ist! Ob es aber richtig ist.«

In seinem Gesicht lag Unentschlossenheit und das Suchen nach Rat, nach Unterstützung und Leitung in der Sache, die ihm unerfaßbar war.

»Nein« – unterbrach ihn die Gräfin Lydia Iwanowna, »alles hat seine Grenze! Ich begreife die Unmoral,« sagte sie – nicht ganz aufrichtig, da sie nie begreifen konnte, was Frauen zur Unmoral führt – »begreife aber nicht diese Hartherzigkeit. Gegen wen? gegen Euch! Wie kann man in dieser Stadt verbleiben, in welcher Ihr seid? Nein; man kann hundert Jahre leben und lernt nicht aus! Ich aber lerne Eure Erhabenheit und ihre Niedrigkeit erkennen!« –

»Wer will einen Stein auf sie werfen?« sagte Aleksey Aleksandrowitsch, augenscheinlich mit seiner Rolle zufrieden. »Ich habe alles vergeben, und kann sie daher nicht dessen berauben, was eine Forderung ihrer Liebe ist, der Liebe zu ihrem Kinde« –

»Aber ist denn das Liebe, mein Freund? Ist das aufrichtig von Euch? Gesetzt auch, Ihr habt ihr vergeben, Ihr verzeiht ihr – haben wir deshalb das Recht, auf die Seele jenes Engels einzuwirken? Er hält sie für tot. Er betet für sie und bittet Gott, ihr ihre Sünden zu vergeben. So ist es doch am besten. Sonst aber – was wird er da denken?« –

»Hieran dachte ich nicht,« antwortete Aleksey Aleksandrowitsch, augenscheinlich zustimmend.

Die Gräfin Lydia Iwanowna bedeckte das Gesicht mit den Händen und blieb stumm. Sie betete.

»Wenn Ihr nach meinem Rate fragt,« sagte sie, mit beten fertig und das Gesicht wieder aufdeckend, »dann empfehle ich Euch, dies nicht zu thun. Sehe ich denn nicht selbst, wie Ihr leidet, wie dies alle Eure Wunden wieder geöffnet hat? Aber nehmen wir an, Ihr vergäßet, wie immer, Euch selbst; wozu könnte das dann führen? Zu neuen Leiden nur Eurerseits, zu Qualen für das Kind! Wenn in ihr noch etwas Menschliches geblieben ist, so darf sie dies selbst nicht wünschen. Ich rate, ohne mich dabei zu bedenken, nicht dazu, und wenn Ihr bestimmt, werde ich ihr schreiben.« –

Aleksey Aleksandrowitsch willigte darein, und die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb folgendes Billet auf Französisch:

»Geehrte Frau! Die Erinnerung an Euch kann für Euren Sohn zu Fragen seinerseits führen, auf die es keine Antwort giebt, welche in die Seele des Kindes nicht den Geist des Tadels dem gegenüber einpflanzen müßte, was für ihn ein Heiligtum sein soll; demgemäß ersuche ich Euch, den abschläglichen Bescheid Eures Gatten im Geiste der christlichen Liebe aufzufassen.

Ich bitte den Höchsten um seine Barmherzigkeit mit Euch.

Gräfin Lydia Iwanowna.«

Dieses Schreiben verfolgte jenen geheimen Zweck, den die Gräfin Lydia Iwanowna sogar vor sich selbst verhehlte. Es traf Anna bis auf den Grund der Seele.

Aleksey Aleksandrowitsch seinerseits von Lydia Iwanowna nach Hause zurückgekehrt, vermochte es nicht, sich an diesem Tage seinen gewöhnlichen Geschäften zu widmen, und jenen inneren Frieden des gläubigen und geretteten Menschen zu finden, den er vorher empfunden hatte.

Die Erinnerung an sein Weib, das so schuldbeladen vor ihm war, und vor welchem er so hehr erschien, wie ihm ganz richtig die Gräfin Lydia Iwanowna gesagt hatte, hätte ihn nicht beunruhigen dürfen; und doch war er nicht ruhig; er vermochte das Buch nicht zu verstehen, welches er las, er vermochte die quälenden Erinnerungen an seine Beziehungen zu ihr nicht von sich zu weisen, die Erinnerung an jene Fehler, die er, wie ihm jetzt schien, ihr gegenüber begangen hatte.

Die Erinnerung daran, wie er, bei der Rückkehr von den Rennen, das Geständnis ihrer Untreue entgegengenommen hatte – besonders dies, daß er von ihr nur äußeren Anstand verlangt und nicht zum Duell herausgefordert hatte – peinigte ihn jetzt wie eine Reue. Ebenso folterte ihn auch die Erinnerung an das Schreiben, welches er ihr gesandt hatte, und insbesondere seine Verzeihung, die niemand etwas genützt hatte, und seine Sorge um jenes ihm fremde Kind versengte sein Herz vor Scham und Reue.

Ganz das nämliche Gefühl der Scham und Reue empfand er auch jetzt, da er seine ganze Vergangenheit mit ihr durchmusterte, und indem er sich der ungeschickten Worte erinnerte, mit denen er ihr nach langem Zaudern, seine Erklärung gemacht hatte.

»Aber woran trage ich eine Schuld?« sprach er zu sich selbst, und diese Frage rief in ihm stets eine andere hervor – die, ob die anderen Menschen wohl anders empfänden, anders liebten, anders heirateten. Jene Wronskiy, Oblonskiy, diese Kammerherren mit den drallen Waden, und eine ganze Reihe von jenen strotzenden, starken, rücksichtslosen Männern stieg vor ihm auf, die stets, Wider seinen Willen und allerorten seine Neugier und Aufmerksamkeit erregt hatten.

Er wies diese Gedanken von sich, er bemühte sich, sich zu überzeugen, daß er nicht für das gegenwärtige Leben lebe, sondern für das ewige, daß sich in seiner Seele der Frieden und die Liebe befinde. Aber das, was er in diesem zeitlichen, nichtigen Leben begangen hatte, wie ihm schien, einige unbedeutende Fehler, peinigte ihn doch so, als gäbe es jenes ewige Seelenheil gar nicht, an welches er glaubte.

Aber diese Versuchung währte nicht lange, und alsbald erstand wieder in der Seele Aleksey Aleksandrowitschs jene Ruhe und Erhabenheit, dank welcher er das zu vergessen vermochte, dessen er nicht zu gedenken wünschte.