Anna blickte in Dollys hageres, übermüdetes Gesicht mit den Runzeln, die vom Staube bedeckt waren; sie wollte sagen, was sie dachte, nämlich daß Dolly recht abgemagert sei, aber indem sie sich vergegenwärtigte, daß sie schöner geworden, und der Blick Dollys ihr dies sagte, seufzte sie, und begann, von sich zu sprechen.

»Du blickst mich an,« sagte sie, »und denkst, kann sie glücklich sein in ihrer Lage. Nun, was soll ich sagen! Es ist schmachvoll, es einzugestehen; aber ich – ich bin unverzeihlich glücklich! – Mir ist etwas Zauberhaftes, Etwas wie ein Traum vor sich gegangen, in dem es uns furchtbar, seltsam wird, aus dem man plötzlich erwacht, um zu fühlen, daß alle diese Schrecken gar nicht da sind. Ich bin erwacht. Ich habe Qualvolles, Furchtbares durchlebt, und es ist jetzt schon geraume Zeit, besonders seit wir hier sind, daß ich so glücklich bin,« sprach sie mit schüchternem, fragendem Lächeln Dolly ins Auge sehend.

»Wie freue ich mich,« sagte Dolly lächelnd, aber unwillkürlich kühler, als sie wollte. »Ich freue mich sehr über dich. Weshalb hast du mir nicht geschrieben?«

»Weshalb? Deshalb, weil ich es nicht wagte – du vergißt meine Lage.«

»Gegen mich? Gegen mich hast du es nicht gewagt? Wenn du wüßtest, wie ich – ich glaube« –

Darja Aleksandrowna wollte ihre Gedanken vom heutigen Morgen aussprechen, aber aus irgend einem Grunde erschien ihr dies jetzt nicht am Platze.

»Doch davon später. Was ist das, alle diese Gebäude?« frug sie, im Wunsche das Thema zu wechseln, auf die roten und grünen Dächer zeigend, welche hinter dem Grün lebender Akazienzäune sichtbar wurden. Es sah dies alles aus wie ein Städtchen.

Anna antwortete ihr nicht.

»Nein, nein; wie urteilst du über meine Lage, wie denkst du darüber; wie?« frug sie.

»Ich vermute,« wollte Darja Aleksandrowna beginnen, doch in diesem Augenblick sprengte Wasjenka Wjeslowskiy, der die Stute in Galopp mit Nachtseinsatz gebracht hatte, schwerfällig in seinem kurzen Jaquet auf dem sämischen Leder des Damensattels auf und niedergeworfen, an ihnen vorüber.

»Sie geht, Anna Arkadjewna!« schrie er.

Anna schaute ihn indessen nicht einmal an, und Darja Aleksandrowna schien es wiederum, daß es unpassend sei, in der Kalesche dieses langatmige Thema anzuschlagen, und sie brach daher in der Äußerung ihres Gedankens ab.

»Ich urteile gar nicht darüber,« sagte sie, »ich habe dich stets geliebt, und wenn man liebt, liebt man den ganzen Menschen so, wie er ist, nicht so, wie man will, daß er sei.«

Anna versank in Nachdenken, indem sie die Augen vom Gesicht der Freundin wegwendete und blinzelte – eine neue Gewohnheit, die Dolly noch nicht an ihr gekannt hatte – sie wünschte die Bedeutung dieser Worte ganz zu erfassen. Nachdem sie sie augenscheinlich so, wie sie es wünschte, aufgefaßt hatte, schaute sie Dolly an.

»Wenn du Sünden haben solltest,« sprach sie, »so möchten sie dir alle vergeben sein für dein Kommen und für diese Worte.«

Dolly sah, daß ihr die Thränen in die Augen getreten waren. Schweigend drückte sie Annas Hand.

»Also was sind das für Gebäude? – Wie viel es doch sind!« Sie wiederholte nach einer Minute des Schweigens ihre Frage.

»Dies sind die Gebäude des Personals, der Fabriken, die Ställe,« antwortete Anna. »Dort beginnt der Park; alles das war verwildert, aber Aleksey hat es wieder neu hergerichtet. Er liebt dieses Besitztum sehr und fühlt sich, was ich nimmermehr erwartet hätte, leidenschaftlich zur Landwirtschaft hingezogen. Er hat überhaupt eine so reich beanlagte Natur! Was er auch anfassen mag, alles vollführt er ausgezeichnet. Und er langweilt sich nicht nur nicht dabei, sondern beschäftigt sich mit leidenschaftlichem Eifer. So wie ich ihn kenne, ist er ein haushälterischer, vorzüglicher Hausherr geworden, sogar geizig in der Wirtschaft ist er; aber auch nur in der Wirtschaft! Da, wo es sich um Zehntausend handelt, rechnet er nicht,« sprach sie mit jenem freudig schlauen Lächeln, mit welchem Frauen oft über geheime, ihnen allein bekannte Eigenschaften eines geliebten Mannes sprechen.

»Siehst du dieses große Gebäude da? Das ist das neue Krankenhaus. Ich glaube, daß es mehr als hunderttausend Rubel kosten wird. Und weißt du, woher das Geld gekommen ist? Die Bauern hatten ihn gebeten, ihnen die Wiesen billiger abzulassen, er aber hatte sie abschläglich beschieden, und ich machte ihm Vorwürfe wegen seines Geizes. Natürlich nicht deswegen nun, aber alles in allem erwägend, begann er da dieses Krankenhaus zu bauen, um zu zeigen, verstehst du, daß er nicht geizig sei. Wenn du willst, c’est une petitesse, aber ich liebe ihn dafür umsomehr. Doch du wirst sogleich das Wohnhaus erblicken. Es ist noch vom Großvater her und an der Außenseite in nichts verändert worden,«

»Wie schön,« sagte Dolly, mit unwillkürlichem Erstaunen, auf ein schönes Haus mit Säulengängen blickend, welches aus dem bunten Grün der alten Bäume des Gartens hervortrat.

»Nicht wahr, das ist schön? Und vom Hause aus, von oben herab, ist die Aussicht wunderbar.«

Sie fuhren auf einen mit Schotter bedeckten und von Blumenbeeten geschmückten Hof, auf welchem zwei Arbeiter ein Blumenbosquet mit unbehauenen porösen Steinen garnierten, und hielten in der gedeckten Einfahrt.

»Ah, sie sind schon angekommen,« sagte Anna, auf die Reitpferde blickend, die soeben von der Freitreppe hinweggeführt wurden. »Nicht wahr, dieses Pferd ist schön? Es ist eine Stute, mein Liebling. Führe es hierher und bringt Zucker. Wo ist der Graf?« frug sie zwei herauseilende Paradelakaien. »Ah, dort ist er,« sagte sie, den heraustretenden und ihr mit Wjeslowskiy entgegenkommenden Wronskiy erblickend.

»Wo habt Ihr die Gräfin untergebracht?« sagte Wronskiy auf Französisch, zu Anna gewendet, begrüßte dann nochmals, ohne eine Antwort abzuwarten, Darja Aleksandrowna und küßte ihr jetzt die Hand: »Ich denke, wir bringen unsern Besuch im großen Balkonzimmer unter? –«

»O nein; das ist zu abgelegen! Besser im Eckzimmer, wir können uns da mehr sehen. Gehen wir,« sagte Anna, den ihr von einem Lakaien präsentierten Zucker dem Lieblingspferde reichend.

»Et vous oubliez votre devoir,« sagte sie zu Wjeslowskiy, welcher gleichfalls auf der Freitreppe erschienen war.

»Pardon, j’en ai tout plein les poches,« antwortete dieser lächelnd, die Finger in die Westentasche steckend.

»Mais vous venez trop tard,« sagte sie, mit dem Taschentuch die Hand abwischend, welche ihr das Pferd feucht gemacht hatte, indem es den Zucker nahm.

Anna wandte sich zu Dolly:

»Du bleibst doch für längere Zeit hier? Nur auf einen Tag? Das ist unmöglich!«

»Ich habe so versprochen, die Kinder –« sagte Dolly, mit einem Gefühl der Verlegenheit, daß sie den Reisesack aus der Kalesche nehmen mußte, sowie weil sie wußte, daß ihr Gesicht sehr mit Staub bedeckt sein müsse.

»Nein, Dolly, Herzchen; doch wir werden ja sehen. Komm, komm!« Anna führte Dolly in ihr Zimmer.

Dieses Zimmer war nicht das Paradezimmer, welches Wronskiy vorgeschlagen hatte, sondern das, von welchem Anna sagte, Dolly möchte es entschuldigen. Jedoch auch dieses Gemach, für welches eine Entschuldigung erforderlich gewesen war, war voll von einem Luxus, in welchem Dolly niemals gelebt hatte, und der ihr die besten Salons des Auslandes in die Erinnerung zurückrief.

»Ach, Herzchen, wie bin ich glücklich!« sprach Anna, für eine Minute in ihrer Amazone neben Dolly Platz nehmend, »erzähle mir doch von den Deinen. Stefan habe ich flüchtig gesehen, doch von Kindern kann er nicht reden. Was macht mein Liebling, die Tanja? Es ist ein großes Mädchen geworden, glaube ich?«

»Ja, sehr groß,« antwortete Darja Aleksandrowna kurz, selbst verwundert, daß sie so kühl über ihre Kinder Bescheid gab. »Wir befinden uns recht wohl bei den Lewin,« fügte sie hinzu.

»Ach, hätte ich gewußt,« antwortete Anna, »daß du mich nicht verachtest. Ihr hättet alle zu uns kommen müssen. Stefan ist doch ein alter und intimer Freund Alekseys,« fügte sie hinzu, und errötete plötzlich.

»Wir befinden uns so ganz wohl,« versetzte Dolly verlegen.

»Da habe ich übrigens aus Freude Dummheiten gesagt. Noch einmal, Herzchen, wie freue ich mich über dich,« sagte Anna, sie wiederum küssend, »aber du hast mir noch nicht gesagt, wie und was du über mich denkst, und ich will alles wissen. Und ich freue mich darüber, daß du mich durchschaust, wie ich bin. Es liegt mir nichts daran, vor allem, daß man denke, ich wollte in irgend etwas demonstrieren. Ich will nicht demonstrieren, sondern einfach nur leben; niemandem Übles thun, außer mir selbst. Dieses Recht habe ich, nicht wahr? Doch das ist eine langatmige Unterhaltung und wir werden schon noch über alles sprechen. Ich gehe jetzt, mich umzukleiden und werde dir ein Mädchen schicken.«