DRITTES KAPITEL

Ein Millionär

Ehe ich weiter erzähle, muß ich auf ein früheres Ereignis zurückgreifen. Ich kehrte vor längerer Zeit von einer Reise nach Südamerika zurück, landete nach glücklicher Seefahrt in Bremerhaven und stieg in dem weitbekannten „Löhrs Hotel“ ab, um dort meine mitgebrachten Effekten für den Bahntransport umzupacken.

Beim Diner saß ein junger, vielleicht sechsundzwanzigjähriger Herr mir gegenüber, welcher sich mit keinem Worte an dem allgemeinen Gespräch beteiligte und dafür mir eine zwar stille, aber desto anhaltendere Aufmerksamkeit zu widmen schien. Er sah mich wiederholt prüfend an und senkte in den Zwischenpausen den Blick auf seinen Teller. Er dachte nach, schien aber mit mir oder über mich nicht ins reine zu kommen. Mir war es ganz so, als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte, doch konnte das nur sehr vorübergehend gewesen sein, da ich mich seiner nicht deutlich zu erinnern vermochte. Endlich, beim Dessert, sah ich sein Auge hell werden; er nahm eine zufriedene Miene an und schien nun zu wissen, wohin in seiner Erinnerung ich gehörte. Dadurch wurde aber die Aufmerksamkeit, welche er mir schenkte, keineswegs vermindert. Sein Blick blieb an mir und an jeder Bewegung, welche ich machte, hängen.

Nach der Tafel setzte ich mich allein an einen kleinen Fenstertisch, um dort den Kaffee zu mir zu nehmen. Er spazierte im Speisesaale auf und ab. Ich merkte ihm an, daß er gern mit mir sprechen wollte und mit sich zu Rate ging, wie er das anzufangen habe. Endlich drehte er sich entschlossen um, kam auf mich zu und sagte unter einer Verbeugung, welche weniger gewandt als gut gemeint war:

„Verzeihung, mein Herr! Haben wir uns nicht schon einmal gesehen?“

„Wohl möglich,“ antwortete ich, indem ich aufstand, um seine Verbeugung zu erwidern. „Vielleicht erinnern Sie sich besser als ich des Ortes, an welchem das geschehen ist.“

„Drüben in den Vereinigten Staaten. Ich glaube, es ist auf dem Wege von Hamilton nach Belmont in Nevada gewesen. Sind diese Städte Ihnen bekannt?“

„Allerdings. Wann soll das gewesen sein?“

„Vor ungefähr vier Jahren. Wir waren eine Gesellschaft von Goldgräbern, befanden uns auf der Flucht vor einer Horde von Navajos und hatten uns dabei so gründlich verirrt, daß wir uns in dem Gebirge nicht mehr zurechtfinden konnten und sehr wahrscheinlich zu Grunde gegangen wären, wenn wir nicht ganz zufälliger- und für uns so glücklicherweise Winnetou getroffen hätten.“

„Ah, Winnetou!“

„So kennen Sie diesen berühmten Häuptling der Apatschen?“

„Ein wenig.“

„Ein wenig nur? Wenn Sie der Herr sind, für den ich Sie halte, müssen Sie ihn viel besser als nur ein wenig kennen. Er war damals nach dem Mariposa-See unterwegs, wo er mit einem Freunde oder vielmehr mit seinem besten Freunde zusammentreffen wollte, und erlaubte uns, mit ihm zu gehen, da wir jetzt entschlossen waren, uns über die Sierra Nevada nach Kalifornien zu wenden. Wir erreichten den See glücklich und trafen dort andere Weiße, denen wir uns nun anschließen konnten. Am letzten Tage vor unserm Weiterritte kam der Freund Winnetous. Beide wollten hinauf nach den Big Trees, um dort zu jagen, und verließen uns schon vor Anbruch des nächsten Morgens. So kam es, daß Sie nur einige kurze Stunden mit uns am Lagerfeuer saßen und sich mein Gesicht nicht genau gemerkt haben.“

„Ich?“ fragte ich, indem ich mich erstaunt stellte.

„Nun ja, Sie! Oder sind Sie nicht der Freund Winnetous gewesen? Sie trugen damals allerdings einen ganz andern Anzug als heute. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich vorhin nicht so schnell erinnern konnte. Jetzt aber möchte ich behaupten, daß Sie der Bekannte des Apatschen sind.“

„Wie hieß denn der Mann, für den Sie mich halten?“

„Old Shatterhand. Habe ich mich geirrt, so verzeihen Sie die Störung!“

„Sie stören mich nicht; ich erlaube mir im Gegenteile die Frage, ob Sie nach Tisch Kaffee trinken?“

„Ich stand im Begriff, mir eine Tasse zu bestellen.“

„So bitte ich, ihn hier bei mir zu sich zu nehmen. Setzen Sie sich!“

Er folgte der Aufforderung, bekam den Kaffee, nahm einen Schluck und meinte dann:

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich zu sich hier einzuladen; weniger freundlich aber ist es, mich in Ungewißheit zu lassen.“

„Na, dann will ich Ihr Gemüt beruhigen, indem ich Ihnen sage, daß Sie sich nicht geirrt haben.“

„Ah! So sind Sie also doch Old Shatterhand?“

„Ich bin’s. Aber schreien Sie doch nicht so! Es wird die Herren, welche sich hier befinden, weniger interessieren, wer ich bin und wie ich da drüben im Westen genannt werde.“

„Es war die Freude, welche mich so laut machte. Sie können sich doch denken, daß ich ganz entzückt darüber bin, hier hüben mit einem so – –“

„Still!“ unterbrach ich ihn. „Hier hüben in dem Meere von Civilisierten bin ich ein Tropfen, welcher verschwindet. Da lesen Sie meinen eigentlichen Namen!“

Wir wechselten unsere Karten. Auf der seinigen stand „Konrad Werner“. Als ich diesen Namen las, bemerkte ich, daß er mich dabei anblickte, als ob er erwarte, daß ich denselben kennen oder gar mich überrascht zeigen werde. Da aber diese Erwartung sich nicht erfüllte, fragte er:

„Haben Sie den Namen vielleicht schon einmal gehört?“

„Wahrscheinlich schon vielemale, denn der Werners giebt’s in Deutschland wohl nicht wenige.“

„Ich meine drüben, drüben!“

„Hm! Nicht daß ich wüßte. Es ist aber anzunehmen, daß ich ihn damals aus Ihrem Munde gehört habe.“

„Natürlich habe ich Ihnen gesagt, wie ich heiße, denn wir alle nannten unsere Namen. Aber ich meine es anders. Der Name Werner, Konrad Werner, wird jetzt drüben viel genannt. Wollen Sie nicht die Güte haben, einmal an Oil-Swamp zu denken!“

„Oil-Swamp? Hm! Es ist mir allerdings so, als ob ich den Namen, und zwar in besonderer Beziehung, gehört hätte. Ist’s ein Ort oder ein Sumpf?“

„Es war ein Sumpf, ist aber jetzt ein Ort, ein vielgenannter Ort. Ich weiß, daß Sie den Westen kennen wie nur wenige, und bin daher einigermaßen erstaunt, daß der Name Ihnen unbekannt ist.“

„Das hat seine guten Gründe. Seit wann spricht man denn von ihm?“

„Seit fast zwei Jahren.“

„Gerade solange bin ich in Südamerika gewesen, und zwar in Gegenden, wohin Frau Fama gar nicht oder nur sehr spät zu kommen pflegt. Halten Sie mich also wenigstens nicht ganz und gar für einen Tungusen oder Kalmücken!“

„O nein! Es freut mich desto mehr, Ihnen heute hier sagen zu können, was aus dem hilflosen Menschen, der ich damals war, geworden ist, denken Sie, ein Ölprinz!“

„Sie sind des Teufels! Ein Ölprinz? Dann muß ich Ihnen herzlich gratulieren!“

„Danke! Ja, ein Ölprinz bin ich jetzt. Daß ich ein solches Glück finden würde, dachte ich freilich nicht, als wir mit Ihnen und Winnetou beisammen waren. Eigentlich habe ich es dem Apatschen zu verdanken, denn er war es, der uns die Idee eingab, uns aus Nevada fortzumachen und nach Kalifornien zu gehen. Dieser gute Rat hat mich zum Millionär gemacht.“

„Wenn Sie das wirklich sind, so bitte ich Sie, nicht bös darüber zu sein!“

„Nein, nein!“ lachte er. „Wenn Sie wüßten, wer und was ich früher gewesen bin, so würden Sie auch wissen, wie überflüssig diese Ihre Bitte ist.“

„Nun, was waren Sie denn?“

„Ein Luftikus, ein Taugenichts!“

„Das sieht man Ihnen freilich nicht an!“

„Weil ich jetzt keiner mehr bin. Ich wurde im Armenhause geboren, war also ein Armenhäusler und befand mich auf dem richtigen Wege, ein Zuchthäusler zu werden.“

„Was Sie sagen! Wenn das so ist, so haben Sie jedenfalls mit diesen Erinnerungen gebrochen und es ist besser, darüber zu schweigen.“

„Es würde mir auch gar nicht einfallen, einem andern etwas darüber zu sagen, aber da Sie derjenige sind, der Sie eben sind, so will mir gern das Herz aufgehen. Sie sind ein Deutscher. Vielleicht ist Ihnen die Gegend bekannt, aus welcher ich stamme.“

Er nannte ein kleines erzgebirgisches Städtchen.

„Kenne ich ganz gut,“ antwortete ich. „Bin früher einigemal dagewesen. “

„So werden Sie auch die armen Verhältnisse kennen, welche dort herrschen, oder doch geherrscht haben. Jetzt ist’s vielleicht anders und besser geworden; damals aber that der Staat weniger, als er jetzt thut, und die Gemeinden waren auf sich selbst angewiesen. Denken Sie sich eine blutarme Bürgerschaft und dazu ein Armenhaus mit noch viel ärmeren Insassen! Diese waren wahrhaftig meist nur auf das angewiesen, was sie sich auf den umliegenden Dörfern erbettelten. Einige ungekochte Kartoffeln, einige Schnitte trockenes Brot, ein Stückchen harter Käse, das war es, was sie von den Bettelgängen heimbrachten. Klug waren die, welche sich davon ein Mahl bereiteten. Meine Mutter aber war leider nicht so klug.“

„Ihre Mutter? Die lebte auch im Armenhause?“

„Ja. Ich sagte Ihnen ja, daß ich in demselben geboren sei. Als ich nur ein paar Wochen zählte, trug sie mich auch schon auf den Dörfern herum; später schleppte sie mich neben sich her. Das erweckte Mitleid, denn ich ging, ebenso wie sie, in Lumpen und wurde von ihr fürs Betteln förmlich angelernt und einstudiert. Besonders streng sah sie darauf, daß ich, wenn wir ein Haus betraten oder auf der Straße jemand begegneten, vor Kälte oder Hunger wimmerte. Um dies zu können, brauchte ich mich freilich nicht zu verstellen, denn für einen tüchtigen und fortwährenden Hunger war stets gesorgt. Sie aß nämlich fast gar nicht und gab mir so wenig wie möglich. Was sie von mitleidigen Menschen bekam, wurde verkauft. Es gab Leute, welche gern bereit waren, für das eingebettelte Brot einige Pfennige zu geben. Von diesem Gelde kaufte sie sich Branntwein, der ihr über alles ging und auch über ihr Kind.“

„Das sind ja schreckliche Verhältnisse! Ich meine, wir schweigen lieber darüber. Nicht?“

„Nein! Wenn ich Ihnen solche Dinge von meiner Mutter erzähle, so dürfen Sie mich dennoch nicht für einen schlechten Menschen halten. Es geschieht nur, um den Gegensatz zwischen jetzt und damals deutlicher zu machen. Meine Mutter galt als rettungslos verloren, und ich wurde auf ihrem bergab führenden Wege fortgeschleppt, bis ich von Gemeinde wegen gezwungen wurde, bei einem Schuhmacher in die Lehre zu treten. Der Mann war nur ein Flickschuster, denn ein besserer Meister wollte mich nicht zu sich nehmen. Da bekam ich wenig zu essen und dazu der bessern Verdauung halber den Knieriem über den Rücken gezogen. Sie können sich denken, daß mir das nicht behagte; ich entfloh zu verschiedenenmalen, strich bettelnd umher, wurde aber immer wieder eingefangen und zurückgebracht. Das jedesmalige Willkommen können Sie sich auch denken! So vergingen zwei Jahre; ich lernte nichts und wurde immer nichtsnutziger. Eines schönen Weihnachtsabends bescherte der Meister seiner Familie. Er war ein armer Teufel und konnte nur wenig geben; aber jedes Kind bekam doch eine Kleinigkeit; das Allerwenigste wurde mir beschert, nämlich nichts. Als ich das nicht gelten lassen wollte, ging die Bescherung freilich los, und zwar mit dem Knieriem. Der Mann schlug mich so, wie er mich noch nie geschlagen hatte, und dann mußte ich mich mit blutrünstigem Rücken hinauf auf den kalten Dachboden legen, wo meine Schlafstatt war – ein Bündchen Stroh, welches nur noch Häckerling genannt werden konnte; eine Decke gab es auch nicht!“

„Und jetzt Ölprinz? Das ist freilich ein Unterschied!“

„Ein gewaltiger. Aber es liegen auch viele Leidensjahre dazwischen! Als ich da oben lag, der Hunger an mir nagte und die Kälte mich schüttelte, nahm ich mir vor, wieder auszureißen, und zwar soweit, daß man mich gar nicht wiederfinden könne. Ich schlich mich also leise hinab, zum Hause hinaus, um die Stadt herum und stampfte dann im tiefen Schnee und bei schrecklichem Gestöber dem Ziele, welches ich mir in den Kopf gesetzt hatte, entgegen.“

„Welches war das?“

„Natürlich Amerika!“

„Welche Tollheit!“

„Ja, es war toll; aber was verstand ich denn davon? Ich glaubte, man brauche, um nach Amerika zu kommen, nur so fort und fort zu laufen. Ich hatte gehört, daß man dort reich werden könne, und reich, steinreich wollte ich werden. Dann wollte ich heimkehren und den Meister blamieren, schrecklich blamieren. Ich wußte, daß er nur altes Schuhwerk zusammenflicken konnte, und wollte mir dann aber ein Paar funkelnagelneue Stiefel bei ihm bestellen; das sollte meine Rache sein. Die verdorbenen Stiefel wollte ich ihm mitsamt dem Gelde an den Kopf werfen und dann stolz nach Amerika zurückkehren.“

„Nun, das können Sie jetzt thun!“

„Ja, ich werde es thun; ich werde mich rächen, aber in anderer Weise. Wenn der arme Mann noch lebt, werde ich ihm unter die Arme greifen. Er soll für jeden Hieb, den ich von ihm erhalten habe – und Sie können sich darauf verlassen, daß es nicht wenige sind eine Mark oder meinetwegen einen ganzen Thaler erhalten.“

„Das laß ich mir gefallen, und ich wünsche herzlich, daß er noch lebt. Ihre Geschichte beginnt, mich zu interessieren; der Anfang aber wollte mich abstoßen.“

„Die nächste Fortsetzung wird nicht viel besser klingen. Eine alte Leinenjacke, leinene Hosen, eine noch ältere Mütze und ein paar Holzpantoffel, das war mein Anzug, in welchem ich mich bis in die Magdeburger Gegend gebettelt habe.“

„Lieber Himmel! Es ist doch fast unmöglich, daß Sie auf dem weiten Wege nicht ein einzigesmal von der Polizei gesehen und aufgegriffen worden sind!“

„O, ich war schlau; man sollte mich nicht erwischen. Wenn ich Gefahr witterte, ließ ich mich nicht sehen und hungerte lieber.“

„Fanden Sie denn immer Leute, die Ihnen zu essen gaben, ohne Sie festzuhalten?“

„Ja. Ich ging immer in die ärmlichsten Häuser; oft auch nahmen sich Handwerksburschen meiner an, die mich zwar auslachten, mich aber nicht verrieten und mir gute Lehren und ein Stück Brot gaben. Aber ich konnte dieses Leben, diese Wanderung doch nicht aushalten; es ging mir von Tag zu Tag schlimmer, bis ich hinter Magdeburg auf offener Straße liegen blieb; ich konnte vor Hunger und Entkräftung nicht weiter und kroch in eine Schneewehe, um da zu sterben; denn daß mich da der Tod des Erfrierens erwartete, das wußte ich. Ich schlief auch sofort ein. Ich erwachte, als unter mir schwere Räder im Schnee knarrten; über mir erblickte ich eine Wagenblahe, und ich lag in tiefem, warmem Stroh, mit zwei Pferdedecken überbreitet. Nach einiger Zeit schaute ein dickes, kälterotes Gesicht vorn herein, sah, daß ich die Augen offen hatte, und fragte:

„Du lebst wieder, Junge? Wo kommst du her?“

„Aus Sachsen.“

„Wo willst du hin?“

„Nach Amerika.“

„Famos! Was sagt denn dein Vater dazu?“

„Nichts. Ich habe keinen mehr.“

„Und deine Mutter?“

„Auch nichts. Die ist alle Tage betrunken.“

„Was bist du denn eigentlich?“

„Schusterlehrjunge.“

„Und wie ist dein Vorname?“

„Konrad.“

Gut! Merke dir, was ich dir jetzt sage! Dort neben dir hängt ein Kober mit Brot und Käse; davon kannst du essen, soviel du willst. Dann kriechst du tiefer ins Stroh und kommst nicht eher heraus, als bis ich dich heraushole!“

Nach diesen Worten verschwand das Gesicht wieder. Das mit dem Kober ließ ich mir nicht zweimal sagen. Er enthielt ein halbes Brot und einen großen, ganzen Käse; ich habe ihn leer gemacht. Dann kroch ich unter die Decken und tief ins Stroh hinein und schlief wieder ein. Als ich geweckt wurde, war es Nacht. Der Mann, welcher am Tage mit mir gesprochen hatte, steckte bei mir im Wagen, welcher vor einem Dorfe mitten auf der Straße hielt.

„Kerl, du hast aber einen Hunger gehabt!“ sagte er. „Und einen Schlaf dazu! Hast du denn nicht gemerkt, daß wir ein paarmal gehalten haben?“

„Nein.“

„Also nach Amerika willst du! Da hast du bei mir die beste Gelegenheit, denn ich fahre hinüber. Willst du mit?“

„Ja.“

„Aber du bist ohne Erlaubnis fort, bist den Deinen durchgebrannt. Wahrscheinlich hast du keinen Paß, keine Legitimation?“

„Ich habe nichts, als was ich auf dem Leibe trage.“

„Höre, das ist auch nicht viel! Aber du thust mir leid. Ich habe dich aus dem Schnee herausgepuddelt und bin bereit, für dich zu sorgen, wenn du mir zweierlei versprichst. Erstens mußt du mir gehorchen, und zweitens darfst du keinem Menschen erzählen, wer du bist, woher du kommst und wohin du willst.“

„Das werde ich gern thun.“

„Gut! So bleibst du bei mir, bis wir nach Amerika kommen. Du nennst mich Vetter. Dein Großvater war der Bruder von meinem Vater, und du bist aus Halberstadt. Ich habe dich zu mir genommen, weil deine andern Verwandten alle gestorben sind, und du bist nun schon ein Vierteljahr bei mir. Willst du immer nur so und nichts andres sagen?“

„Ja,“ sagte ich in meiner Bedrängnis.

„So wirst du es gut bei mir haben. Also abgemacht! Wir sind, während du schliefst, durch eine Stadt gekommen; da habe ich bei einem Trödler Stiefel und einen Anzug für dich gekauft. Zieh ihn an!“

Er zog die Wagenblahe ein Stück auf, sodaß ich sehen und den Anzug mit meinen Fetzen vertauschen konnte. Dann mußte ich mich mit ihm in die Schoßkehle setzen, und wir fuhren nach dem Dorfe, wo er am Gasthofe hielt, um da zu übernachten.“

„Der menschenfreundliche Retter war wohl ein Fuhrmann, der das Fuhrwesen als Gewerbe betrieb?“ unterbrach ich seine Erzählung.

„Ja. Es war ein sogenannter Harzer Landfuhrmann.“

„Ah, die kenne ich. Die Leute zogen mit ihren schweren Lastwagen früher von Land zu Land, nahmen überall Gelegenheitsfrachten auf und kehrten oft erst nach mehreren Jahren in ihre Heimat zurück. Ihre Pferde hatten sie mit sonderbaren Kummeten und Dachsfellen ausgeputzt. Sie waren ehrliche Leute, denen man ein ganzes Vermögen getrost anvertrauen konnte. Der Ihrige aber scheint nicht ehrlich gewesen zu sein, wenigstens mit Ihnen nicht, weil er behauptete, daß er auch nach Amerika wolle, was doch keinesfalls die Wahrheit war. Höchst wahrscheinlich hat er Sie nur ausnützen wollen.“

„Das ist richtig. Zunächst aber schenkte ich ihm mein volles Vertrauen und gewann ihn sogar lieb. Er rief mich Konrad, und ich nannte ihn Vetter. Ich fütterte und putzte die Pferde, schlief bei ihnen im Stalle und nahm ihm auch sonst nach Kräften die Arbeit ab. Dafür erhielt ich mein Essen und zuweilen ein altes, abgetragenes Kleidungsstück, weiter nichts. Als nach und nach Monate vergingen, ohne daß wir nach Amerika kamen, merkte ich freilich, daß er mich belogen hatte; aber das ungebundene Leben gefiel mir, und so blieb ich bei ihm, bis er einmal eine Gelegenheitsfuhre nach Otterndorf bekam. Der Ort liegt in der Nähe der See; die Lust nach Amerika erwachte plötzlich von neuem und mit aller Gewalt, und die Folge war, daß ich ihm davonlief nach Bremerhaven.“

„Ohne Geld?“

„Er dachte freilich, ich hätte keins, und das hatte ihn sicher gemacht. Aber ich hatte in der Zeit von anderthalb Jahren, die ich bei ihm war, manches Frachtstück ein- und wieder ausgeladen und zuweilen doch ein Trinkgeld bekommen. Diese kleinen Beträge verheimlichte ich ihm und hob sie heilig auf. So kam es, daß ich jetzt soviel hatte, daß ich, ohne betteln zu müssen, von Otterndorf nach Bremerhaven wandern konnte. Zu einem längern Aufenthalt dort hätte es freilich nicht gereicht. Darum fragte ich sofort nach einer Matrosenkneipe. Ich war während der Zeit klüger geworden und hatte verschiedenemale gehört, daß man in solchen Kneipen Gelegenheit bekommen könne, umsonst nach Amerika zu fahren. In der Kneipe, nach welcher ich gewiesen wurde, saßen viele Matrosen. Einer von ihnen machte sich über mich her und fragte mich aus. Ich sagte ihm soviel, wie ich für nötig hielt, und er erklärte mir, daß er mir helfen wolle. Er ließ mir Essen bringen. Dazu tranken wir Nordhäuser, Rum, Arak, Cognak, Punsch, bis ich den Verstand verlor. Als ich ihn wieder bekam, lag ich in einem engen Loche, kaum größer wie ein Hundestall, und es war finster um mich her. Über mir knarrte es; unter mir rauschte Wasser; dazwischen hörte ich eine befehlende Stimme erschallen. Ich tastete um mich, konnte aber keinen Ausgang finden und mußte also liegen bleiben. Es war mir herzlich schlecht zu Mute; mein Kopf brummte wie eine Baßgeige, und meine Glieder waren wie zerschlagen. Nach langer Zeit hörte ich Schritte; ein Riegel wurde zurückgeschoben; dann sah ich vor mir einen Menschen in Matrosentracht, welcher ein Licht in der Hand hatte. Es war der Matrose, mit welchem ich gestern beisammen gewesen war. Er ließ ein rohes Lachen hören und sagte:

„Heraus mit dir, Landratte! Der Kapitän will dich sehen. Aber rede manierlich mit ihm, und widersprich ihm nicht; er ist kein Guter.“

„Ich kroch mühsam aus dem Loche; es war, wie ich später erfuhr, das Arrestlokal für widerspenstige Matrosen. Ich folgte dem guten Freunde zwei sehr schmale und sehr steile Treppen hinauf und sah mich dann auf dem Verdecke eines Schiffes, welches unter vollen Segeln ging. Ringsum war nichts als Wasser zu sehen. Ich wurde nach hinten geführt, wo der Kapitän auf mich wartete. Er hatte sehr weite Hosen an, ein goldbetreßtes Käppi auf dem Kopfe und einen gewaltigen Schnurr- und Knebelbart. Er nahm mich bei den Armen, drehte mich einigemale um und um, befühlte meine Muskeln und Knochen, grinste mich dann an, wie eine Katze die Maus, die sie verschlingen will, und fragte:

„Woher bist du?“

„Ich sagte ihm bei dieser und weiteren Fragen ohne Zaudern die Wahrheit, denn bei dem Gesichte, welches der Mann machte, getraute sich kein falsches Wort über meine Lippen.“

„Scheinst ein sauberes Früchtchen zu sein; werden dich aber kurieren. Habe die Absicht, dich als Schiffsjunge mitzunehmen. Dort steht der Maat, dem du zu gehorchen hast. Bei jedem Widerspruch setzt es Prügel. Marsch, fort mit dir!“

„Der Maat, an den er mich wies, war ein Kerl, der noch grimmiger aussah als sein Kapitän. Er nahm mich am Arme, zog mich nach vorn, gab mir einen Topf mit Teer in die Hand und zeigte auf ein Tau, welches außen am Schiff niedergelassen werden sollte. Man mutete mir, der die See noch nie gesehen hatte, zu, da draußen zu hängen und die Außenplanken mit Teer zu bestreichen. Ich weigerte mich, wurde auf ein Brett geschnallt und so lange geprügelt, bis ich nicht mehr schreien konnte. Es ging mir so traurig wie noch nie im Leben, und das ist doch viel gesagt. Wir segelten nach Westindien. Die Fracht wurde aus- und neue eingeladen; ich aber durfte nicht ans Land, durfte auch mit keinem, der von dorther an Bord kam, verkehren. Von da ging es nach Boston, dann nach Marseille, von dort aus zunächst nach Southampton und dann wieder hinüber nach Amerika, diesmal nach New-York.“

„Liebster Herr, warum ließen Sie sich das alles gefallen?“

„Weil ich nicht totgeschlagen sein wollte.“

„Pah! Sie haben die Sache nicht verstanden. Auf See allerdings waren Sie dem Kapitän widerstandslos überliefert; in jedem Hafen aber mußten Sie Gelegenheit finden, freizukommen.“

„Auch wenn ich an Bord festgehalten wurde?“

„Auch dann. Es kommen verschiedene Beamte an Deck. Sie brauchten sich nur an einen derselben zu wenden, um Hilfe zu erhalten.“

„Das wagte ich nicht, weil ich ein Ausreißer war. Aber in New-York kam ich doch frei. Der Kapitän hatte sich den Haß zweier Matrosen zugezogen, welche klüger waren als ich; die gingen des Nachts heimlich mit der Jolle durch und nahmen mich mit. Die Flucht gelang, und ich betrat als freier Mann Amerika. Zunächst lief ich soweit wie möglich fort, damit mein Kapitän oder einer seiner Häscher mich ja nicht zu sehen bekomme. Am Morgen war Feiertag, an welchem nicht gearbeitet wurde. Ich fand einen Neubau, in welchen ich mich schlich, um ungestört einen langen Schlaf zu thun, denn diesen brauchte ich noch nötiger als Essen und Trinken. Als ich aufwachte und völlig munter wurde, war es schon wieder Abend. Ich hatte Hunger, blieb aber dennoch liegen, einmal, weil ich dem Kapitän auch jetzt noch nicht traute, und zum andernmal, weil mir der Gedanke gekommen war, ob ich auf dem Neubaue nicht vielleicht Arbeit finden könnte.“

„Das war brav gedacht. Nur Arbeit konnte Sie retten.“

„Ja, das sah ich gar wohl ein. Die Schule, welche ich durchgemacht hatte, war fürchterlich gewesen und hatte mich mürbe gemacht. Ich wartete also bis zum nächsten Morgen. Da kamen die Maurer und Zimmerleute. Ich sprach mehrere an; sie verstanden aber nicht deutsch, bis ich endlich doch den richtigen traf, einen Preußen aus der Gegend von Königsberg. Er hatte sich auch Amerika voller goldener Berge geträumt und war hier nun unter die – Ziegelträger gegangen. Durch seine Fürbitte brachte er es soweit, daß ich dieselbe Arbeit bekam. Sie war nicht leicht, aber es ging. Ich lebte außerordentlich sparsam und hatte mir gegen den Winter hin über hundert Dollars zurückgelegt, mit denen ich nach Philadelphia ging, um mein ursprüngliches Handwerk zu treiben.“

„Sie sagten aber doch, daß Sie nichts gelernt hätten!“

„Nach unsern Begriffen allerdings. Aber ich hatte inzwischen erfahren, was Arbeitsteilung ist. Ich trat in Philadelphia in eine Fabrik, in welcher jeder Arbeiter stets nur eine und dieselbe Arbeit zu machen hat. Dazu braucht man kein gelernter Schuhmacher zu sein. Ich habe ein ganzes Jahr lang immerfort nur Spitzen angesteppt. Dann besaß ich dreihundert Dollars, mit denen ich nach Chicago ging, um in eine gleiche Fabrik einzutreten. Dort blieb ich freilich nicht lange. Ich wollte etwas lernen, was aber bei dieser Arbeitsteilung nicht möglich war. Ich traf einen Irländer, welcher auch ein kleines Sümmchen besaß. Er kannte das Land besser als ich und machte mir den Vorschlag, als Pedlar, mit ihm nach dem Westen zu gehen; bei diesem Geschäft sei viel Geld zu verdienen. Ich stimmte bei. Wir gingen über den Missisippi, legten unser Geld zusammen, kauften Waren ein und zogen damit den Missouri hinauf. Nach zwei Monaten hatten wir ausverkauft und unser Geld verdoppelt. Wir unternahmen noch vier solche Reisen, bis mein Compagnon plötzlich mit seinem und meinem Gelde verschwunden war.“

„Aha! Nun konnten Sie wieder Stiefelspitzen ansteppen!“

Ich griff zu andern Dingen, zum nächsten, was sich mir bot, arbeitete fleißig, brachte es aber zu keinen Ersparnissen mehr. Aus Verzweiflung darüber ging ich unter die Goldsucher.“

„Um nichts zu finden!“

„So ist es. Wir trieben uns hungernd in den Gebirgen umher; es war kein einziger Westmann unter uns. Darum ging es uns bitter schlecht. Schließlich wurden wir gar von Navajos überfallen. Wir entkamen ihnen zwar, doch hätten sie uns gewiß wieder eingeholt, wenn wir nicht auf Winnetou getroffen wären, der uns sicher nach dem Mariposasee geleitete, wo wir auch Sie zu sehen bekamen.“

„Hätten Sie mir damals Ihre Erlebnisse so erzählt wie heute, so wäre ich mit einem guten Rat und wohl auch mit der That zur Hand gewesen.“

„Es hat nicht sein sollen. Mein immerwährendes Unglück hatte mich verschüchtert. Wie konnte ich, der nichts, gar nichts war, einen Old Shatterhand belästigen! Und diese Schüchternheit war gut, denn es fragt sich sehr, ob ich durch einen Rat von Ihnen zum Millionär geworden wäre.“

„Dieser Meinung bin ich freilich auch. Ich bin sogar der festen Überzeugung, daß ich es selbst niemals soweit bringen werde. Doch weiter! Was thaten Sie in Kalifornien?“

„Das Handwerk hatte mich zu nichts geführt und der Handel zu noch weniger; so versuchte ich es denn nun einmal mit dem Ackerbau. Ich wurde Knecht auf einer Estancia. Der Besitzer gewann mich bald lieb; ich hatte Lust zur Sache und bekam schnell höhern Lohn. Einmal verleitete mich der Teufel zum Spielen. Ich riskierte einen halben Jahreslohn und gewann, war aber besonnen genug, um aufzuhören. In zwei Jahren hatte ich fünfhundert Dollars zusammen. Um diese Zeit schickte mich der Herr nach Jone-City, um Einkäufe für ihn zu machen, und ich nahm mein Geld mit, um es an diesem Platze sicher anzulegen. Da traf ich auf einen Yankee, der mir ein Stück Land droben am obern Federnflusse anbot. Er schwor hundert Eide, daß es das vortrefflichste Land in ganz Kalifornien sei. Der Hafer stach mich. Ich war jetzt Knecht und konnte selbst Besitzer werden. Die Kameraden des Yankee redeten mir auch zu, und ich kaufte das Land.“

„Wie teuer?“

„Vierhundert Dollars, bar bezahlt.“

„War der Yankee wirklicher Besitzer, oder konnte sein Recht bestritten werden? Sie wissen, welcher Schwindel mit solchen Käufen getrieben wird. Ich weiß, daß Ländereien ver- und gekauft worden sind, die gar nicht existierten.“

„Das war bei mir nicht der Fall. Ehe ich den Kauf abschloß, ließ ich alles von der Behörde prüfen. Das Land existierte wirklich; es gehörte dem Yankee, und er konnte es verkaufen.“

„Warum aber verkaufte er es? Wenn er es so lobte, hätte er es doch besser selbst behalten sollen!“

„Dafür hatte er einen Grund. Er liebte das abenteuernde Leben und konnte es auf der festen Scholle nicht aushalten.“

„Hm! Einen Haken hat es doch wohl gehabt!“

„Allerdings. Denn kaum war der Handel abgeschlossen und ich hatte das Geld bezahlt, so wurde ich von ihm und seinen Gesellen ausgelacht. Sie sagten mir aufrichtig, daß ich einen Sumpf, einen völlig unbrauchbaren Sumpf gekauft habe.“

„Einen Sumpf, also einen Swamp? Ah, jetzt kommen wir also auf Ihren Oil-Swamp!“

„Allerdings. Als ich nach meiner Heimkehr meinem Herrn von dem Handel mitteilte, war er zornig über mich. Er verlor mich ungern und riet mir, mich um den Sumpf gar nicht zu bekümmern, sondern bei ihm zu bleiben, und die vierhundert Dollars als verloren zu betrachten. Er meinte, damit erspare ich die letzten hundert Dollars, welche ich auf die Reise verwenden müsse, und werde das verlorene Geld bei ihm bald wieder zusammengespart haben. Ich ließ mich aber nicht halten. Hatte ich Land gekauft, so wollte ich es wenigstens auch sehen; mochte das letzte Geld dabei zu Ende gehen. Ich brach also auf und bekam bald Reisegefährten. Ein Deutscher nämlich, Namens Ackermann, welcher in San Francisco wohlhabend geworden war, hatte da oben, ganz in der Nähe meiner sumpfigen Besitzung, Holzland angekauft und war hinaufgezogen, um eine Schneidemühle anzulegen. Das Werk war in seinen bescheidenen Anfängen schon im Gange und sollte später einen großartigen Umfang erhalten. Sein Sohn war aus geschäftlichen Rücksichten in San Francisco geblieben, hatte diese Geschäfte erledigt und reiste nun dem Vater nach. Wir trafen uns, weil wir denselben Weg zu nehmen hatten. Er war schon einmal, allerdings nur kurze Zeit, oben gewesen, ließ sich meine Karte und den Plan zeigen, schüttelte den Kopf und sagte:

„Ich sehe, daß Sie unser nächster Nachbar sind, und kann Ihnen keine Hoffnungen machen. Sie haben allerdings einen Sumpf gekauft. Es ist freilich für diesen Preis ein riesiges Stück Land, aber es taugt zu nichts, zu gar nichts geradezu.“

„Das war ein schlechter Trost. Als wir dann oben bei seinem Vater ankamen und dieser davon hörte, stimmte er seinem Sohne bei.“

„Sie besitzen,“ sagte er, „einen mächtigen Thalkessel, welcher nur aus Sumpf besteht und rundum von kahlen, unfruchtbaren Höhen umgeben ist. Höchstens sehen Sie hier oder da einmal einen einsamen Strauch stehen. Was ist da zu machen! Sie haben Ihr Geld zum Fenster hinausgeworfen.“

„Dann will ich mir den Swamp wenigstens einmal ansehen,“ meinte ich niedergeschlagen. „Das ist das einzige, was ich davon habe.“

„Allerdings das einzige. Ruhen Sie sich heute bei mir aus; morgen reiten Sie hin, und wenn es Ihnen recht ist, werde ich Sie begleiten.“

„Am andern Morgen brachen wir auf. Sein Sohn ritt auch mit. Es ging erst lange Zeit durch hohen Nadelwald, welcher ihm gehörte und seiner Schneidemühle ein fast unerschöpfliches Material zu liefern versprach. Dann ging es zwischen kahlen Höhen hin, welche sich plötzlich öffneten und eine weite Niederung umschlossen, welche ein allerdings trostloses Aussehen bot. Vor uns lag Sumpf und nichts als Sumpf. Am Rande desselben waren noch einige Büsche zu sehen. Dann kam Schilf, dann Moos, grünbraunes Sumpfmoos, zwischen welchem blöde Wasserlachen lagen. Jede andere Vegetation war erstorben, und auch das Tierleben hatte sich aus dieser traurigen Bodensenkung zurückgezogen.“

„Da haben Sie es!“ sagte der alte Ackermann. „Dieser Anblick ist so trostlos, daß ich, so oft ich hierher komme, gleich wieder umkehre.“

„Weiter drüben waren Sie also wohl noch nicht?“

„Nein.“

„Ich möchte aber doch gern hinüber, um zu sehen, ob es dort ebenso aussieht wie hier.“

„Natürlich ist’s nicht anders als hier. Das zeigt Ihnen doch der erste Blick.“

„Mag sein! Aber ich will mein Besitztum einmal rund umreiten. Habe ich es dann von allen Seiten gesehen, so ist der Genuß mit vierhundert Dollars bezahlt, und ich komme nicht wieder her.“

„Wie Sie wollen! Wir haben ja Zeit. Umreiten wir den Platz also einmal! Aber in acht müssen wir uns nehmen. Der Boden ist trügerisch, und man weiß nicht, wie tief man einsinkt.“

„Wir ritten einer hinter dem andern vorsichtig weiter. Die Luft kam uns entgegen und brachte einen ganz eigenartigen Geruch mit sich. Der Alte, welcher voran war, merkte das auch. Er hielt sein Pferd ein, sog die Luft durch die Nase und meinte:

„Was ist das nur für ein häßlicher, penetranter Gestank? Den habe ich noch nie bemerkt. Es riecht wie Sarg!“

„Wie Leiche!“ stimmte sein Sohn bei.

„Wie Kienöl!“ fügte ich hinzu.

„Dann ging es wieder weiter. Der Geruch wurde stärker. Wir kamen an eine Stelle des rechts von uns liegenden Sumpfes, an welcher die Decke desselben, das Moos, weit zurücktrat; es hatte auch ein ganz anderes Aussehen, gerade als ob es vergiftet sei. Das Wasser sah ölig fett aus; es war wie mit einer blau- und gelbblinkenden Haut überzogen. Da stieß der alte Ackermann einen lauten Ruf aus, sprang vom Pferde und schritt dem Wasser zu.“

„Um Gotteswillen, was wagst du, Vater!“ schrie sein Sohn voller Angst. „Bleib da, bleib da!“

„Ich muß nachsehen, nachsehen!“ antwortete der Alte in unbegreiflichem Eifer.

„Aber die Decke schwankt unter deinen Füßen!“

„Mag sie schwanken!“

Jetzt hatte er den Wasserrand erreicht; er stand bis an das Knie im Sumpfe und sank immer tiefer ein. Wir sahen, daß er mit beiden Händen Wasser schöpfte und es besah, dann auch beroch. Schon steckte er bis über das Knie im Schlamme; da arbeitete er sich mit einer energischen Anstrengung heraus und kam zu uns zurück. Er stieg nicht auf sein Pferd, sondern trat zu mir, und fragte:

„Sagten Sie nicht, daß Ihnen nur hundert Dollars geblieben seien?“

„Ja.“

„So will ich Ihnen diesen Sumpf abkaufen. Wieviel wollen Sie dafür?“

„Sonderbare Frage! Geben Sie mir die vierhundert Dollars, welche ich bezahlt habe?“

„Nein, ich gebe Ihnen mehr, viel mehr.“

„Wieviel?“

„Sehr viel. Sagen wir hunderttausend, sagen wir sogar eine halbe Million Dollars!“

Ich saß vor Erstaunen stumm in meinem Sattel, denn Spaß konnte es nicht sein. Ackermann war überhaupt kein Spaßvogel, und daß er auch jetzt keinen Scherz trieb, das zeigte sein Gesicht. Als ich nicht redete, fuhr er fort:

„Junger Mann, Sie sind ein Glückskind, ein wahrer Glückspilz! Das ist Wasser, auf welchem Petroleum schwimmt. Das Steinöl tritt hier zu Tage. Es muß unter der Erde in ungeheuren Massen vorhanden sein. Sie sind Millionär!“

„Mil – li – o – när!“ wiederholte ich, beinahe lallend. „Sie irren sich; Sie müssen sich irren!“

„Nein, gewiß nicht. Ich habe lange Jahre jenseits der neuen Staaten in der Ölregion gelebt und kenne das genau. Ich weiß, was Petroleum ist. Glauben Sie mir das!“

„Pe – tro – le – um! Mil – li – o – när!“ silbierte ich noch immer.

„Ja, Sie sind Millionär! Sie sind das, was man hier einen Ölprinz nennt. Das heißt, Sie sind es noch nicht, sondern Sie werden es sein. Es ist nicht genug, daß man den Boden besitzt, in welchem das Petroleum steckt; man muß es herausschaffen, um es zu Geld zu machen.“

„Herausschaffenl“

„Ja, mit Maschinen. Und die sind teuer.“

„So werde ich kein Millionär. Wo soll ich das Geld für die Maschinen hernehmen!“

„Liebster Nachbar, seien Sie doch nicht so kurzsichtig! Sie brauchen kein Geld, keinen Pfennig. Annoncieren Sie, und sofort werden sich hundert und noch mehr Geldmänner finden, welche Ihnen ihre Kasse zur Verfügung stellen.“

„Das ist wahr! Ja, das glaube ich.“

„Aber die Leute wollen ihren Nutzen haben. Sie müssen ihnen große, sehr große Vorteile abtreten. Ich kenne aber einen, der Sie nicht über das Ohr hauen wird, wie diese Menschen.“

„Wer ist das?“

„Ich bin es, ich, der alte Ackermann. Ich würde nur nachbarlich, nur freundschaftlich gegen Sie handeln. Wollen Sie es mit mir versuchen?“

„Warum nicht! Aber haben Sie soviel Geld dazu?“

„Ich werde es schon zusammenbringen; da brauchen Sie gar keine Sorge zu haben. Und wenn das Meinige nicht reicht, nehmen wir billigen Kredit zu Hilfe, während andere viel höhere Ansprüche an Sie machen würden. Überlegen Sie sich mein Angebot! Jetzt aber wollen wir weiterreiten, um ganz um den Sumpf zu kommen und zu sehen, was er verspricht.“

„Was wir zu sehen bekamen, befriedigte ihn dermaßen, daß er mir gleich auf der Stelle die vorteilhaftesten Vorschläge machte, auf welche ich kurz entschlossen einging. Ich will nicht ausführlich berichten, wie sich nun das Geschäft entwickelte; kurz gesagt, Ackermann war ehrlich und übervorteilte mich nicht, und bald ging die Kunde von unserm Oil-Swamp durch die Vereinigten Staaten und noch weit über dieselben hinaus. Das Großkapital stellte sich uns zur Verfügung; das Unternehmen wuchs zu riesiger Höhe, und jetzt nach Verlauf von noch nicht zwei Jahren werde ich Ölprinz genannt, zu den Millionären gezählt und bin herüber, um meine Mutter hinüberzuholen.“

„Lebt dieselbe noch?“

„Ich hoffe es; gewiß aber weiß ich es nicht. Das war der eine Grund, welcher mich nach Deutschland gezogen hat.“

„Haben Sie noch einen zweiten?“ fragte ich, da er nicht weiter sprach, sondern mich so anblickte, als ob er diese Frage erwarte.

„Ja. Ihnen werde ich ihn mitteilen, da Sie Amerika kennen und mich nicht auslachen werden. Ich will mir nämlich in Deutschland etwas suchen, etwas – etwas –“

„Nur heraus damit, mein Lieber! Sie brauchen sich nicht zu schämen. Wenn Sie sich genieren, das Wort auszusprechen, so will ich es Ihnen sagen: Sie wollen sich hier hüben eine Frau suchen?“

„Ja, so ist es!“

„Weil die Amerikanerinnen Ihnen nicht gefallen wollen?“

„Richtig! Was thue ich mit einer Frau mit kleinen Füßen und winzigen Händen, aber desto größern Ansprüchen? Ja, ich könnte diese Ansprüche leicht befriedigen, aber ich möchte mir auch einige erlauben, und das duldet eine Amerikanerin nicht. Ich habe nie, nie ein Familienglück gekannt; ich möchte es kennen lernen, möchte es selbst fühlen und empfinden, und hege die Ansicht, welche vielleicht nur ein Vorurteil ist, daß man es nur an der Seite einer deutschen Frau zu finden vermag.“

„Ihr Vorurteil ist auch das meinige. Aber bleiben wir bei unserem Thema. Wann sind Sie hier gelandet?“

„Gestern.“

„Wann reisen Sie ab?“

„Morgen.“

„Ich auch. Ich fahre über Leipzig; dies ist auch Ihre Tour. Wollen Sie sich mir anschließen?“

„Wenn Sie erlauben, herzlich gern.“

„Abgemacht! Wir fahren miteinander!“

„Ja, wir fuhren bis Leipzig zusammen. Dort trennten wir uns. Ich mußte nach Dresden, und sein Weg führte ihn über Zwickau ins Gebirge. Vor unserer Trennung aber versprach er mir, mich, sobald er könne, in Dresden aufzusuchen, um mir Nachricht von seiner Mutter zu bringen.

Er suchte mich eher auf, als ich gedacht hatte, schon nach zwei Tagen, und ich erfuhr da von ihm, daß sein Besuch in der Heimat vergeblich gewesen war; er hatte seine Mutter nicht mehr am Leben gefunden; sie war schon vor längerer Zeit am Säuferwahnsinn gestorben. Er erzählte mir das in einem so gleichgültigen Tone, als ob von einer ihm vollständig fremden Person gesprochen werde. Es war bei ihr zwar von keiner Mutterliebe die Rede gewesen, aber es hätte doch besser geklungen, wenn dabei etwas mehr Gemüt von ihm verraten worden wäre. Da die Mutter nicht mehr lebte, hatte er sich nach seinem frühern Lehrmeister gar nicht erst erkundigt und war von der einstigen Heimat fortgegangen, ohne irgend jemandem zu sagen, wer er sei. Diese Kälte ließ auf keine Tiefe des Gemütes schließen, und nun fiel es mir auf, daß er nicht gewußt hatte, ob seine Mutter überhaupt noch lebe. Er, der so schnell reich gewordene Mann, hatte ihr also weder eine Unterstützung geschickt noch ihr einmal geschrieben. So wenig mir das von ihm gefallen wollte, gab es doch Gründe, die ihn hinreichend entschuldigten.

Er wohnte im besten Hotel der Residenz und besuchte mich täglich, doch hatte ich keine Zeit, in der Weise, wie er wohl wünschte, mit ihm zu verkehren. Seine Person hatte als diejenige eines frühern Schusterjungen und jetzigen Ölprinzen ein gewisses Interesse für mich; das war aber auch alles. Ich nahm seine Besuche zwar aus Höflichkeit entgegen, fühlte aber keine Veranlassung, sie zu erwidern. Bald sollte ich mich eingehender mit ihm beschäftigen.

Ich hatte auf einem Ausfluge in das Erzgebirge in einem kleinen Dorfe einen Musikus Namens Vogel getroffen, welcher so vortrefflich Cello spielte, daß ich ein Gespräch mit ihm anknüpfte. Er war ein drolliger Mann, sprach den possierlichen Dialekt der dortigen Gegend und erzählte mir von einem Sohne und einer Tochter, die noch viel musikalischer seien als er selbst, der erstere „spiele Violini, grad wie Paganini“, und die letztere sei „auf jeden Fall eine sächsische Nachtigall“, eine so prächtige Stimme besitze sie. Dies machte mich so neugierig, daß ich ihn am nächsten Tage in seiner Wohnung aufsuchte. Ich fand die Familie in sehr ärmlichen Verhältnissen, doch hatte er wirklich nicht zu viel gesagt; die Kinder waren hochbegabt. Franz, der Sohn, geigte mir sofort alles nach, was ich ihm vorspielte, und Martha, die Tochter, hatte eine so vielversprechende Stimme, daß die Mittellosigkeit des Vaters aufrichtig zu bedauern war. Ich beschloß, mich der beiden anzunehmen, und trug, nach Dresden zurückgekehrt, den Fall einem mir befreundeten Musikdirektor vor, bei dem ich früher Generalbaßstudien getrieben hatte. Er ging zu meiner Genugthuung auf meine Gedanken ein; es gelang uns, einige wohlhabende Musikfreunde zu gewinnen, durch deren Freigebigkeit wir die Mittel zusammenbrachten, welche zur Ausbildung der beiden jungen Leute erforderlich waren. Wir holten sie nach Dresden; der Musikdirektor beteiligte sich selbst an ihrem Unterrichte, und auch ich ließ ihnen, so oft ich von meinen Reisen nach der Heimat zurückkehrte, merken, daß sich mein Interesse für sie nicht verringert habe. Sie machten unsern Empfehlungen alle Ehre; nicht lange, so trat Franz Vogel als erster Violinspieler in eine hervorragende Kapelle, und seine Schwester wurde der Liebling des feineren Konzertpublikums. Beide verdienten nun so viel, daß sie ihre armen Eltern und die alte Großmutter unterstützen konnten. Später gab Franz sein Engagement auf, um sich noch weiter auszubilden. Er wollte es zum Virtuosen bringen, wozu er die Begabung und auch den eisernen Fleiß besaß. Er rechnete dabei auf die Unterstützung der bisherigen Gönner und auf das Einkommen der Schwester, welche sich auch äußerlich zu einer Schönheit entwickelt hatte. Beide waren besonders mir, den sie ihren Entdecker nannten, sehr dankbar und gaben das, so oft ich nach Dresden kam, in wahrhaft rührender Weise zu erkennen.

Es konnte nicht fehlen, daß Martha Vogel von der jungen Herrenwelt angeschwärmt und angeschmachtet wurde; es wurden ihr Gelegenheiten geboten, glänzende Verbindungen einzugehen, doch wollte es keinem ihrer Bewunderer gelingen, dieses Ziel bei ihr zu erreichen; sie schien nur für ihre Eltern und ihren Bruder leben zu wollen.

Nebenbei bemerkt, hatte ich von ihrer Großmutter erfahren, daß ein Sohn derselben, also ein Onkel der Geschwister, nach Amerika gegangen und dort verschollen sei; er wurde, da man nie wieder etwas von ihm gehört hatte, für tot gehalten.

Als ich jetzt aus Südamerika zurückkehrte, war es mein erstes, die Geschwister aufzusuchen. Franz stand seinem Ziele nahe, und Martha war schöner noch als vorher; beide aber schienen mit Sorgen zu kämpfen. Ich erriet das nur; sie sagten nichts davon. Die beiden Gönner waren gestorben, und der Bruder hatte sich nur noch auf seine Schwester zu verlassen. Das hätte weniger zu bedeuten gehabt, wenn die Eltern die anspruchslosen Leute geblieben wären, die sie früher waren; aber besonders dem Vater war die Künstlerschaft seiner Kinder in den Kopf gestiegen. Er hatte das kleine Dorf verlassen, war in die Residenz gezogen und lebte da so anspruchsvoll, als ob das Einkommen seiner Tochter dasjenige einer Diva sei. Ich erfuhr das nicht von ihr, sondern von fremden Leuten, und nahm mir vor, ihn einmal recht ernstlich vorzunehmen, wurde aber durch einen ganz unerwarteten Umstand verhindert, dies zu thun.

Der „Ölprinz“ nämlich, welcher während einiger Tage nicht mehr bei mir gewesen war, suchte mich auf und teilte mir triumphierend mit, daß er gekommen sei, mich zu seiner Verlobung mit der Sängerin Martha Vogel einzuladen. Ich war weniger überrascht als vielmehr betroffen. Wie hatte das so schnell kommen können? Ich wußte zwar, daß er ihre Konzerte besuchte, war aber ohne Ahnung gewesen, welche Absichten er dabei verfolgt hatte. Liebte sie ihn? Ich konnte dies kaum glauben. Er war Millionär, ob aber eines solchen Mädchens wert, das bezweifelte ich. Ich besuchte die Sängerin sofort und fand sie in einer so heitern, freien Stimmung, daß ich die Absicht, meine Bedenken zu äußern, fallen ließ. Ich gönnte sie ihm nicht, weil ich ihn nicht für den Mann hielt, sie glücklich zu machen, hatte aber nicht das mindeste Recht, Einblicke in das Seelen- oder Herzensleben meines bisherigen Schützlings zu verlangen. Sie heiratete einen amerikanischen Ölprinzen, machte also, wie ihr Vater sagte, „eine ungemein großartige Partie“; dagegen ließ sich meinerseits nichts sagen, doch fand ich eine hinreichende Entschuldigung, daß ich bei der Verlobungsfeier nicht erscheinen könne.

Werner war als einstiger Durchbrenner eigentlich legitimationslos. Wie er so schnell in den Besitz der zur Trauung nötigen Papiere kommen konnte, das weiß ich nicht, doch fand die Hochzeit schon vier Wochen nach der Verlobung statt. Das sei ganz selbstverständlich, sagte man, da er bald nach Amerika zurück müsse. Ich wurde natürlich zur Vermählung geladen und ging auch, nicht seinet- sondern ihretwegen, da mein Nichterscheinen sie gekränkt hätte. Zwei Stunden nach der Trauung war Werner so – – betrunken, daß er verschwinden mußte. Er ließ sich erst nach einigen Stunden wieder sehen und setzte sich gleich wieder zum Champagner. Bald hatte er wieder einen Rausch, in welchem er sich in seiner wahren Gestalt zeigte. Er protzte mit seinen Millionen, prahlte mit den armseligen Verhältnissen seiner Jugendzeit, schüttete, um seinen Reichtum zu zeigen, Ströme von Sekt unter die Tafel, warf mit beleidigenden Ausdrücken um sich und beantwortete die dagegen gerichteten Bitten der Gäste so mit Hohn, daß sie sich, einer nach dem andern, mit ihren Damen entfernten. Auch ich wollte gehen, doch bat mich die junge Frau thränenden Auges so innig, doch zu bleiben, daß ich ihren Wunsch erfüllte. Wir waren bald allein, das neu vermählte Ehepaar, die Verwandten Marthas und ich. Werner trank und trank weiter. Die Sängerin sah mich flehend an. Ich verstand sie und nahm ihm mit einer scherzhaften Äußerung die Flasche weg. Er sprang auf, entriß sie mir wieder und schlug sie mir, ehe ich es hindern konnte, an den Kopf, wobei sein Mund von Schimpfworten überfloß. Nun ging ich doch fort, ohne ein Wort zu sagen. Am andern Tage erwartete ich, daß er kommen werde, mich um Verzeihung zu bitten; er kam nicht, schickte mir aber einen Brief des Inhaltes, er müsse mir vor seiner heutigen Abreise sagen, daß er sehr bedaure, mich kennen gelernt zu haben; er habe wohl gemerkt, daß ich gegen seine Verheiratung sei, und seiner Frau streng verboten, von mir Abschied zu nehmen.

Einige Tage später kam Franz Vogel zu mir. Er war nicht zu bewegen gewesen, mit nach Amerika zu gehen, hatte die Seinen bis nach Bremerhaven begleitet und brachte mir einige Zeilen seiner Schwester, in denen sie sich für alles bedankte, nicht zum mindesten auch dafür, daß ich am Hochzeitsabend so außerordentlich nachsichtig gegen ihren Mann gewesen sei.

Franz blieb in Dresden. Er wurde von seinem Schwager unterstützt, trotz der Millionen desselben aber, wie es schien, nicht in ausreichender Weise, und brachte mir zuweilen Grüße von drüben. Seinen gelegentlichen Äußerungen entnahm ich, daß seine Schwester sich nicht sehr glücklich fühle, was keineswegs geeignet war, meine Ansicht über Werner günstig zu verändern. Er war ein Lump, und ich machte mir Vorwürfe, daß ich keinen ernstlichen Versuch gemacht hatte, die Verbindung der braven Sängerin mit diesem Manne zu verhindern.

Geraume Zeit später ging ich wieder nach den Vereinigten Staaten, wurde von Frisko aus als Berichterstatter nach Mexiko geschickt, machte die in den vorigen Kapiteln erzählten Erlebnisse durch und kam nach denselben glücklich in Texas an, wo ich von dem Gelde, welches ich erbeutet hatte, den deutschen Emigranten und dem Player Ländereien kaufte. Ich blieb längere Zeit bei ihnen und ritt dann mit Winnetou durch den Llano estacado nach Neu-Mexiko und Arizona, um zu jagen und verschiedene Indianerstämme zu besuchen. Dann ging’s durch Nevada nach Kalifornien und San Franzisko, wo Winnetou den Goldstaub und die Nuggets, welche wir während dieses Rittes aus seiner verborgenen „Sparbüchse“ geholt hatten, in Geld umwandeln wollte.

Unser Aufenthalt dort war nur auf einige Tage berechnet. Wir waren schon oft in Frisko gewesen, kannten es fast ebenso gut wie ein dortiger Einwohner, und sagten uns, daß wir unsere Zeit weit besser anwenden könnten, als uns in einer bekannten Stadt herumzutreiben. Wir wollten hinauf in die Sierra, nach Nevada, Utah und Colorado, um uns dort zu trennen, denn von dem letzteren Staate aus wollte ich durch Kansas und Missouri nach dem Osten, um per Dampfer heimzukehren.

Unsere Geschäfte in Franzisko waren schnell erledigt; dann schlenderten wir durch die Stadt. Ich trug noch meine mexikanische Kleidung und er seinen Indianeranzug; dies zog aber den Blick keines einzigen Menschen auf uns, denn solche Erscheinungen, wie wir waren, gehörten dort zu den gewöhnlichen.

Am Nachmittage besuchten wir die berühmten Woodwards Gardens, welche sich leicht mit unsern botanischen und zoologischen Gärten vergleichen lassen. Eben wollten wir da ins Aquarium treten, als uns drei Personen entgegenkamen, die ich zufälligerweise gar nicht beachtete, welche aber, wie ich doch bemerkte, bei unserem Anblicke stehen blieben. Ich sah sie gar nicht an. Sie waren wohl Fremde, die sich für die charaktervolle Erscheinung Winnetous interessierten. Aber als wir vorüber waren, hörte ich die mehr als heimatlichen Worte:

„Sapperlot! Is das nich der Dres’ner Doktor, der meine Kinder nach Dres’en mitgenommen hat?“

Natürlich drehte ich mich um; da standen die drei, zwei Damen und ein Herr. Die eine der Damen war verschleiert; ich konnte ihre Züge nicht erkennen. Die andere Dame steckte in einem sehr noblen Kleide, welches ihr aber nicht recht stehen wollte; es sah aus, als gehöre sie nicht hinein. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor; aber der Anzug und die fremde Gegend machten, daß ich mich nicht sofort auf sie besinnen konnte. Der Herr trug sich genau wie ein echter Yankee, sah aber dabei so lächerlich aus, daß ich, als ich ihm ins Gesicht sah, schmunzelnd ausrief:

„Was Teufel! Sind Sie es denn wirklich? Sie sind ja der reine Amerikaner geworden!“

Ja, es war der Celloist Vogel, der Vater von Franz und Martha aus dem Erzgebirge. Auf meine Worte richtete er sich um einen Zoll höher auf, warf sich in die Brust und antwortete:

„Nich nur Amerikaner, sondern ooch Millionärsch sind wir geworden; denken Sie sich nur, die reenen faktischen Millionärsch. Aber warum fragen Sie nich nach meiner Frau und Tochter hier? Kennen Sie sie etwa nich mehr?“

Also die ältere Dame in dem unpassenden Kleide war Frau Vogel und die andere – – Martha, die Schwester meines Schützlings. Sie schob den Schleier empor und reichte mir die Hand.

„Ja, ’s is meine Tochter, die Frau Ölprinzessin, die Millionärin!“ nickte ihr Vater wichtig. „Wissen Sie, drüben im Erzgebirge wohnen ooch noch Leute, aus denen so was Ordentliches werden kann! Aber ’s Zeug muß man dazu haben, ’s richtige, ordentliche Zeug!“

„Vater!“ bat da die Tochter. „Du weißt ja, daß wir alles eben nur diesem Herrn zu verdanken haben!“

„Na, eegentlich ja; wie man’s nimmt. Er hat uns mit der Nase droffgestoßen; aber daß wir nachher mit der Nase droffgeblieben sind, das war die Folge von unserer eegenen und angebotenen Pfiffigkeet. Doch darum keene Feindschaft nich. Zu was treiben denn Sie sich hier in Amerika herum?“

„Aus alter Gewohnheit. Sie wissen doch, daß ich öfters reise.“

„Ja. Und daran thun Sie sehr recht, denn wer eene große Reese macht, der kommt als gebildeter Mann heeme. Ich hab das an mir selber erfahren. Ich bin als een ganz anderer hier angekommen, als ich drüben war. Wissen Sie, man is ooch eener von die Großen mit geworden. Man kriegt ordentlich Respekt vor sich selber. Hier is alles anders, schöner, vornehmer und teurer. Aber unsere Einrichtung haben Sie noch nich gesehen, da müssen Sie gleich mit! So ‚was haben Sie noch nich gesehen. Wir wohnen wie die Ferschten oder Großherzoge. Kommen Sie! Sie setzen sich mit in unsere Eckipaasche. Sie brauchen keene Angst zu haben, wir haben Platz genug für Sie.“

„Thut mir leid; ich bin jetzt anderweit beschäftigt. Auch bin ich nicht allein. Hier steht mein Freund Winnetou, von welchem Sie, Frau Werner, doch auch gehört und gelesen haben.“

Sie hatte mit ihren Augen bis jetzt nur an mir gehangen und den Apatschen gar nicht beachtet. Jetzt wendete sie sich Winnetou zu, reichte ihm auch die Hand und fragte mich dann:

„Also keine Zeit haben Sie? Wie lange bleiben Sie hier?“

„Wahrscheinlich verlassen wir schon morgen San Franzisko.“

„Und da wollen Sie nicht mit uns kommen? Wissen Sie nicht, daß dies grausam ist? Kommen Sie mit! ich bitte Sie!“

„Und Ihr Herr Gemahl – –?“

„Wird sich herzlich darüber freuen. Wahrscheinlich aber ist er nicht daheim.“

„Gut, ich fahre mit. Erlauben Sie mir nur einen Augenblick, mich von meinem Freunde zu trennen.“

„Nein, das nicht. Ich habe von dem berühmten Häuptlinge soviel gelesen und auch gehört, daß ihm meine größte Hochachtung gehört. Bitten Sie ihn ja, mitzukommen!“

„Ja,“ nickte ihr Vater, „der Indianer muß ooch mit. Er braucht sich vor uns nich im geringsten zu fürchten; wir sind Leute, die keenen Wilden was zu leede thun. Aber fünf Personen gehen nich in unsere Eckipaasche; ich werde also mit meener Frau eene Droschke, oder wie man hier sagt, nehmen. Komm, Hanne, du gehst mit mir! Wir kommen schon ooch noch zur rechten Zeit eheeme.“

Er zog sie fort. Winnetou hatte natürlich von unserm Gespräch, welches deutsch geführt wurde, nur wenig verstanden; dennoch war weder ein Wort, noch ein Wink nötig. Als ich Martha meinen Arm bot, nahm er sofort an ihrer rechten Seite Platz und schritt so stolz und selbstbewußt neben ihr her, daß sie sich seiner ganz sicher nicht zu schämen brauchte.

Am Wagenplatze wartete die Equipage des „Ölprinzen“. Einen solchen Wagen und solche Pferde konnte sich allerdings nur ein Millionär leisten. Wir stiegen ein und setzten uns der Dame gegenüber, um dann mit der Geschwindigkeit des Windes davonzurollen.

Unser Zusammentreffen mit den Bekannten hier in Frisko war ein Zufall, über den ich mich nicht zu wundern brauchte; aber sie besaßen hier ein Haus oder gar einen Palast, und das kam mir verwunderlich vor. Warum wohnte Werner nicht droben in den Bergen bei seinem Ölwerke? Natürlich sprach ich diese Frage nicht aus; sie mußte sich in kurzer Zeit ganz von selbst beantworten.

Da hielt der Wagen vor einem Gebäude, welches mit vollem Rechte den Namen Palast verdiente. Wieviel mußte nur allein das herrliche Marmorportal gekostet haben! Über demselben waren große, echt vergoldete Buchstaben angebracht; ich fand nicht Zeit, dieselben zu lesen, denn wir mußten aussteigen, wobei uns zwei Neger behilflich waren, oder wenigstens Winnetou und mir behilflich sein wollten. Dann schritten sie vor uns her die Innenstufen empor nach einem prächtigen Vorsaale und öffneten eine Thür zu einem kleinen Gemache, welches fast wie ein Boudoir ausgestattet war. Kaum hatte die Hausherrin sich da auf dem Diwan niedergelassen, so begann dieses Boudoir sich nach oben zu bewegen; es war ein mechanischer Aufzug, ein durch Dampf getriebener Fahrstuhl in Gestalt eines reizend möblierten Zimmers. Ein anderer hätte einen Ausruf der Verwunderung oder gar des Schreckens ausgestoßen; Winnetou aber stand still und gleichmütig, als ob ihm diese Art, die Treppen zu vermeiden, etwas Alltägliches sei.

Wir kamen in das Empfangszimmer, welches im zweiten Stocke lag. Es war überreich ausgestattet. Man sah es ihm an, daß der Besitzer die Absicht hatte, zu prunken; aber verschiedene Kleinigkeiten und Anordnungen bewiesen, daß seine Frau bemüht war, diesen Eindruck zu mildern.

Jetzt, als wir den Fahrstuhl verlassen hatten, schien Martha sich erst ihrer selbst bewußt zu werden. Sie reichte mir und Winnetou beide Hände und sagte im herzlichsten Tone, den es nur geben kann:

„Hier sind wir daheim. Sie dürfen nicht so schnell wieder fort. Sie müssen hier bleiben, mehrere Tage, einige Wochen. Versprechen Sie mir das!“

Es war unmöglich, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, besonders um ihres Mannes willen, mit welchem ich nicht unter einem Dache sein mochte. Darum antwortete ich:

„Gern, wenn es möglich wäre, Frau Werner; aber wir müssen wirklich schon morgen fort.“

„O, Sie haben Zeit, sehr viel Zeit! Draußen in der Wildnis hätten Sie vielleicht einen Feind zu jagen, einen Menschen zu verfolgen, wobei freilich jede Minute kostbar ist; aber ich habe genug von Ihnen gelesen, um zu wissen, daß Sie unbeschäftigt sind, sobald Sie sich an einem Orte wie San Franzisko befinden.“

„Sie irren sich wirklich. Es giebt für uns sehr zwingende Gründe, welche –“

„Bitte, keine Ausreden!“ unterbrach sie mich. „Sprechen wir aufrichtig, ganz aufrichtig miteinander. Nicht wahr, mein Mann ist der Grund, daß Sie nicht bleiben wollen. Sprechen Sie nicht! Versuchen Sie keine Entschuldigungen! Ich werde Ihnen gleich beweisen, daß Sie ihm sehr willkommen sind. Ich werde ihn sofort aus seinem Bureau holen lassen. Gestatten Sie mir dazu einige Augenblicke!“

Sie entfernte sich. Winnetou wußte auch jetzt nicht, was gesprochen worden war; dennoch meinte er:

„Diese Squaw ist so schön, wie ich fast noch keine gesehen habe. Mein Bruder mag mir sagen, ob sie einen Mann hat!“

„Sie hat einen.“

„Was ist ihr Mann?“

„Ein armer Teufel aus meinem Vaterlande, welcher dadurch reich geworden ist, daß er eine Ölquelle entdeckt hat. “

„Wo hat er sie kennen gelernt?“

„Drüben, wo er geboren wurde. Sie ist ihm vor zwanzig Monden herüber gefolgt.“

Er dachte einige Augenblicke nach und fuhr dann fort:

„Das war die Zeit, in welcher Old Shatterhand auch in seiner Heimat gewesen ist. Mein Bruder hat sie drüben wohl gekannt?“

„Ja.“

„So hat der Mann diese Frau durch dich bekommen. Howgh!“

Wenn er das Wort Howgh aussprach, was stets am Schlusse einer Warnung oder Behauptung geschah, so war das ein Zeichen, daß er fest an die Wahrheit seiner Worte glaubte und sich durch nichts in seiner Überzeugung irre machen lassen werde. Ich staunte wieder einmal über seinen Scharfsinn, der gleich erriet, was ein anderer im ganzen Leben nicht erraten hätte.

Nun kehrte Martha zurück. Sie meldete mit sicht- und hörbarer Enttäuschung:

„Mein Mann ist leider im Bureau nicht anwesend, und ist dies der Fall, so darf auf ein baldiges Kommen nicht gerechnet werden. Das Geschäft nimmt ihn so sehr in Anspruch!“

Der Seufzer, den sie dabei hören ließ, schien mehr ihr selbst als dem Übermaße seiner Arbeit zu gelten.

„Das Geschäft?“ fragte ich. „Er hat doch jedenfalls seine Beamten, auf die er sich verlassen kann?“

„Das wohl; aber die Sachen sind oft so verworren und verwickelt; sein Compagnon nimmt sich derselben nicht genug an, und so kommt es, daß auf meinem Manne die größte Last der Arbeit liegt.“

„Verworren und verwickelt, sagen Sie? Das kann ich mir nicht denken. Und sein Cornpagnon Ackermann scheint nach dem, was ich von ihm gehört habe, ganz im Gegenteile ein sehr thätiger und unternehmender Mann zu sein.“

„Ackermann? Den meine ich nicht; der ist ja gar nicht mehr sein Compagnon. Sein jetziger Partner heißt Potter, der kein Deutscher, sondern ein Yankee ist.“

„Warum hat er mit dem zuverlässigen Deutschen gebrochen und sich –“

„Warum? fragen Sie,“ unterbrach sie mich. „Ah, da fällt mir ein, daß Sie noch gar nicht wissen werden, was geschehen ist. Haben Sie, als Sie aus dem Wagen stiegen, nicht die Firmenschrift über unserer Thür gelesen?“

„Nein.“

„Sie wissen also nicht, daß mein Mann jetzt der Mitbesitzer einer Länderei- und Handelsbank ist?“

„Habe keine Ahnung! Länderei- und Handelsbank? Hm! Aber den Oil-Swamp besitzt er nebenbei noch?“

„Nein. Er hat sich mit Ackermann und einem Konsortium auseinandergesetzt.“

„Aber warum, warum?“

„Sie fragen doch ganz ängstlich, Herr Doktor! Es gefiel ihm nicht mehr da oben am Sumpfe, und auch mir und meinen Eltern war es hier in der Stadt natürlich viel lieber. Wir lernten Potter kennen, der ein tüchtiger Geschäftsmann ist, obgleich er viele von seinen Arbeiten auf die Schultern meines Mannes legt, und folgten seinem Rate. Mein Mann trat seine Rechte am Oil-Swamp für drei Millionen Dollars ab. Wir zogen in die Stadt und gründeten mit diesem Gelde eben unsere Länderei- und Handelsbank.“

„Und welche Summe zahlte Potter ein?“

„Keine. Mein Mann giebt das Kapital und Potter die Kenntnisse. Sie wissen doch, daß Werner keine kaufmännischen Kenntnisse besitzen kann. “

„Warum hat er dann das Sichere aufgegeben und dafür das Unsichere eingetauscht?“

„Halten Sie unsere jetzige Lage denn für unsicher?“

„Ihr gegenwärtiges Geschäft kann ich nicht beurteilen, weil ich es nicht kenne; ich weiß nur, daß ich Ihrem frühern Nachbar Ackermann Vertrauen schenken würde.“

„Potter verdient es auch. Aber da höre ich meine Eltern kommen. Sprechen wir in ihrer Gegenwart nicht über diesen Gegenstand. Ich möchte ihnen nicht Sorgen bereiten, welche höchst wahrscheinlich grundlos sind.“

Der Fahrstuhl brachte die beiden Alten herauf.

„Da sind wir nun ooch!“ rief uns der einstige Celloer zu, indem er mit seiner Frau herantrat. „Ich kann mich noch immer nich in die englische Sprache finden, und da es so wenig Kutscher giebt, die deutsch verstehen, so sind wir wieder mal ewig in die Kreuz und Quere gefahren, ehe uns der Kerl vor der richtigen Thür abgeladen hat. Nun gehen wir aber nich gleich wieder fort!“

„Dennoch werdet Ihr unsern lieben Landsmann nur kurze Zeit genießen können,“ meinte Martha. „Er will schon bald wieder fort von uns.“

„Damit soll er uns nich kommen! Wen ich eenmal bei den Rockschößeln halte, den laß ich nich gleich wieder los.“

„Wir sprechen schon noch darüber. Zunächst wollen wir die Herren bitten, wenigstens bis zur Tafel hier zu bleiben. Dann kommt Werner und wird sie bewegen, länger unsere Gäste zu sein. Ich werde mit Mutter beschäftigt sein. Führe die Herren nach dem Rauchzimmer, Vater; vielleicht gelingt es dir, sie für diese kurze Zeit zu unterhalten.“

Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Das Rauchzimmer war ebenso brillant eingerichtet wie die übrigen Räume, in Gold überladen, Der alte, gute Vogel fühlte sich gar nicht wohl zwischen diesen Möbeln, Bildern und Wandleuchtern; er wußte nicht recht, wohin mit den Armen und Beinen, und setzte sich schließlich in einen Schaukelstuhl, weil dieser der niedrigste und bequemste war. Er hatte in der heimatlichen Hütte ja meist nur auf Schemeln gesessen.

Ich nahm mir unaufgefordert eine Cigarre, und Winnetou folgte diesem Beispiele. Leider konnte er sich nicht an unserer Unterhaltung beteiligen.

„Itzt sind wir nun alleene,“ begann der Alte, „ganz alleene unter uns vernünftigen Menschen, und können also offrichtig mit eenander reden. Meenen Sie nich?“

„Gewiß,“ nickte ich.

„Was sagen Sie eegentlich zum Millionär, zu meinem Schwiegersohn?“

„Den kenne ich nicht.“

4ch denke, Sie haben ihn drüben kennen gelernt?“

„Nur kurze Zeit. Seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen und auch nichts wieder von ihm gehört.“

„Hm, ja! Er hätte Ihnen wenigstens ‚mal schreiben sollen; aber er is nicht gut off Sie zu sprechen. Wenn meine Tochter Sie manchmal erwähnt, da kann er fuchsteufelswilde werden.“

„Hat er dazu einen Grund?“

„Nee, keenen eenzigen. Aber er fängt gleich früh zu trinken an und is deshalb den ganzen Tag benebelt.“

„Was Sie sagen!“

„Ja, so is es! Er muß das von seiner Mutter geerbt haben, die ja ooch am Säuferwahnsinn gestorben is.“

„Was sagt Ihre Tochter dazu?“

„Was soll die sagen! Die hat gar nichts zu sagen. Wenn die will, daß er etwas nich machen soll, da braucht sie ihn nur zu bitten, daß er’s machen soll.“

„Steht es so? 0 weh! So ein Leben –“

„Grad wie Hund und Katze!“ fiel er ein. „Aber, wissen Sie, wir Millionäre können uns das leisten. Er wohnt unten und sie oben; sie reden den ganzen geschlagenen Tag keen Wort mitnander, höchstens wenn er mal zum Essen kommt.“

„Wurde es denn gleich im Anfange so gehalten?“

„Nee. Droben im Oel-Schwamp war es anders. Da lebten wir ganz so, als ob wir zusammen gehörten; aber seit dieser Mister Potter unser Compagnon geworden is, hat sich een ganz anderes und viel vornehmeres Leben eingestellt. Wissen Sie, diesen Potter kann ich sehr gut leiden. Er hält ooch große Stücke off meine Tochter.“

„Ihr Schwiegersohn habe soviel zu thun, klagt Ihre Tochter?“

„Unsinn! Glooben Sie doch das nich! Der Potter versorgt das ganze Geschäft. Der rennt und schreibt und arbeitet Tag und Nacht. Der Werner aber, der bummelt bloß. Der is Mitglied von Klubbs und andern Gesellschaften, wo tüchtig getrunken und gespielt wird. Er wär ooch een Esel, wenn er das nich thäte, denn er is ja Millionär und kann es machen. Der Potter mag nur immer für ihn arbeiten.“

In dieser Weise ging es fort und fort, weiter und weiter. Der Alte faselte das Blaue vom Himmel herunter, stützte sich nur auf die Millionen seines Schwiegersohnes und hatte keine Ahnung davon, daß er mir dabei einen Einblick in die geschäftlichen und familiären Verhältnisse des Hauses bot, bei welchem mir angst und bange wurde. Ob Martha ihren Mann liebte oder nicht, darüber konnte ich nicht klar werden. War es nicht der Fall, so bemühte sie sich, es zu verbergen. Das Paar hatte in der ersten Zeit recht gut gelebt; dann aber war Potter erschienen und hatte die Bekanntschaft Werners gemacht. Es kam mir ganz so vor, als ob dieser Yankee es auf das Vermögen Werners abgesehen habe. Werner schien ihm alles Vertrauen zu schenken und nach und nach in eine Falle zu gehen, in welcher er seinen geschäftlichen Ruin finden mußte. Am wahrscheinlichsten kam es mir vor, daß Potter ihn ruinieren wolle, um mit dem Vermögen auch die schöne, junge Frau zu erlangen.

Was konnte ich da thun? Zur Entlarvung des Menschen bedurfte es Zeit, höchst wahrscheinlich langer Zeit, und dann war es wohl schon zu spät. Ich mußte versuchen, einen Einblick in die Geschäfte zu gewinnen, und dagegen sträubten sich jedenfalls alle beide. Leicht konnte ich dadurch das Übel ärger machen. Während der Alte redselig erzählte, überlegte ich hin und her und kam zu dem Resultate, daß es am besten sei, mich in diese Angelegenheit nicht zu mischen.

Bald kam dann die Frau Vogels, um uns zum Essen zu rufen. Martha hatte keinen Diener geschickt, weil sie wünschte, daß wir ganz allein und freundschaftlich unter uns sein sollten. Es gab ein einfaches Mahl, und ich bemerkte gar wohl, daß die junge Frau sich nach langer Zeit wieder einmal innerlich wohl fühlte. Nach Tische durften wir uns im Speisezimmer wieder eine Cigarre nehmen, und Martha begab sich in den Nebenraum, welcher, wie ich bald hörte, das Musikzimmer war. Es erklangen einfache, einleitende Akkorde auf dem Pianino, und dann erscholl die herrliche Stimme der einstigen Sängerin; sie sang ein deutsches Lied.

Ich saß mit dem Rücken dem Eingange und mit dem Gesichte dem Musikzimmer zugekehrt. Winnetou saß mir gegenüber und lauschte mit angehaltenem Atem. Er verstand die deutschen Worte nicht, war aber ganz entzückt von dem Gesange. Da nahm sein Gesicht plötzlich einen ganz andern Ausdruck an; ich sah, daß er scharf nach der Thür blickte und eine Bewegung machte, als ob er vom Stuhle aufstehen wolle. Schnell drehte ich mich um. Hinter mir standen unter der geöffneten Thür zwei Männer, nämlich der Ölprinz und Potter, wie ich nachher hörte. Der letztere war ein junger Mann von gar nicht übler Figur; sein Gesicht hatte jetzt den Ausdruck lauernder Spannung. Werners stark gerötete Augen waren stier auf mich gerichtet. Er wankte hin und her. Man sah sofort, daß er betrunken war.

Da ich den mexikanischen Anzug trug, hatte er mich, ehe ich mich umwendete, nicht erkannt. Jetzt aber sah er mein Gesicht, ballte sofort beide Fäuste, taumelte auf mich zu und schrie:

„Das ist ja der Halunke, der mir meine Frau abspenstig machen wollte! Der ist da bei ihr? Und sie singt ihm dieses Lied? Alle tausend Teufel! Potter, greif zu! Dem hauen wir die Knochen weich!“

Potter folgte der Aufforderung; ich stand auf. Noch hatten sie mich nicht erreicht, so erschien Martha. Sie hatte die Stimme ihres Mannes gehört und darum das Lied unterbrochen. Sie flog herbei, stellte sich zwischen mich und die beiden, breitete die Arme aus und rief:

„Keinen Schritt weiter! Du beleidigst nicht nur mich und meine Ehre, sondern auch dich selbst!“

„Weg mit dir!“ fuhr er sie an. „Ich habe mit ihm zu reden. Mit dir spreche ich dann auch!“

„Ich weiche keinen Schritt! Ich bin dem Herrn Doktor ganz zufällig begegnet und habe ihn natürlich eingeladen. Willst du unsern Gast beschimpfen!“

„Gast? Gast?“ lachte er höhnisch. „Potter ist mein Gast. Den habe ich geladen! Diesem deutschen Tintenklexer aber werde ich den Kopf waschen. Potter, komm! Wir hauen ihn, bis er nicht mehr schreien kann! Weg mit dir, Weib!“

Er ergriff sie beim Arme, ließ denselben aber sofort wieder los, denn neben ihm stand Winnetou. Eine einzige gebieterische Handbewegung desselben genügte, die beiden Angreifer einige Schritte zurückweichen zu lassen.

„Wer von euch beiden ist der Mann, dem dieses Haus gehört?“ fragte der Apatsche im reinsten Englisch.

„Ich bin es,“ antwortete Werner, indem er sich Mühe gab, ohne Taumeln festzustehen.

„Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatschen. Hast du von mir gehört?“

„Alle Teufel! – Winnetou, Winnetou!“

„Ja, das ist mein Name. Ich höre, daß du ihn kennst. Aber ich weiß nicht, ob du auch meine Eigenschaften und meine Thaten kennst. Versuche nicht, sie kennen zu lernen! Höre auf die Worte, welche ich dir jetzt sage! Hier steht mein Freund und Bruder Old Shatterhand. Wir sind deiner Frau begegnet. Sie lud uns hierher ein, und wir folgten ihr, um dir die Ehre unserer Gegenwart zu erweisen. Wir haben hier gegessen, und sie hat ein Lied gesungen. Das ist alles, was geschehen ist. Wenn du sie das entgelten lässest, wird Winnetou sie rächen. Meine Macht reicht bis in die Mitte dieser großen Stadt und bis in den hintersten Winkel des tiefsten Kellers des entlegensten Hauses. Ich werde dich beobachten lassen. Sage nur ein zorniges Wort zu ihr, so wird einer meiner Apatschen dir mit seinem Messer antworten. Jetzt weißt du, was ich will. Handelst du nicht darnach, so ist es um dich geschehen!“

Dann griff er in seinen Gürtel, zog ein Goldstück heraus, legte es auf den Tisch und fügte hinzu:

„Hier ist der Preis für das, was wir bei dir gegessen haben. Old Shatterhand und Winnetou mögen nichts von dir geschenkt haben, denn sie sind reicher, als du bist. Ich habe gesprochen!“

Werner wagte nicht ein Wort zu erwidern. Er stand da wie ein Schulknabe, der eine Züchtigung bekommen hat. Potter schien sich darüber zu ärgern und dennoch heimlich Freude darüber zu empfinden. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und fragte:

„Master, Ihr habt meinen Namen gehört und wißt also, wer ich bin?“

„Ja,“ antwortete er.

„Ich durchschaue Eure Absichten. Macht es gnädig mit Eurem Compagnon, sonst findet Ihr auch keine Gnade vor mir. Ich werde wiederkommen und Euch richten, nicht nach den Paragraphen Eurer Bücher und Akten, sondern nach dem strengen Gesetze der Prairie. Euer Compagnon wird Euch von mir erzählt haben. Glaubt ja nicht, daß er mich kennt! Und glaubt auch nicht, daß ich hier ebenso nachsichtig handeln würde, wie ich drüben gegen ihn gewesen bin. Und damit Ihr seht, daß es mein Ernst ist, will ich Euch Old Shatterhands Petschaft in die Muskeln drücken.“

Ich legte ihm die rechte Hand um den Oberarm und preßte denselben zusammen. Er stieß nicht etwa einen Schrei, sondern ein förmliches Geheul aus. Dann ging ich mit Winnetou nach der Thür. Wir schritten, ohne uns nur einmal umzusehen, zu derselben hinaus in das Empfangszimmer und traten in den Fahrstuhl. Ein Druck auf den Knopf setzte denselben nach unten in Bewegung; dann verließen wir den Palast, welcher nach meiner Ansicht dem Schicksale entgegensah, ein Haus des Elends zu werden.

Am nächsten Tage ritten wir von San Francisco fort, und drei Monate später nahmen wir am Hole in Rock für dreißig Monate Abschied voneinander. Er behielt das Pferd, welches ich geritten hatte, zurück, und ehe wir uns trennten, wurden, wie es auch früher stets gewesen war, der Ort und die Zeit genau besprochen, an welchem und zu welcher wir uns wieder treffen wollten.

Einige Monate blieb ich daheim; sodann ging es wieder fort, dieses Mal nach dem Orient, in welchem ich zwanzig Monate blieb. Nach meiner Rückkehr von dort versteckte ich mich für einige Zeit zwischen meine Bücher und kam nur wenig unter Menschen. Wöchentlich einmal aber besuchte ich einen Gesangverein, dessen Ehrenmitglied ich war und heute noch bin. Das war meine Erholung.

Eines Sonnabends saßen wir nach der Übungsstunde beisammen, um über ein Konzert zu milden Zwecken zu verhandeln, da kam der Wirt in unser separates Zimmer und teilte mir mit:

„Es sind zwei Herren da, welche mit Ihnen sprechen wollen.“

„Wer ist’s?“

„Ich kenne sie nicht. Der eine ist ein junger, sehr anständiger Herr, der andere aber ein ganz eigentümlicher dunkelfarbiger Mensch. Er spricht kein Wort, nimmt den Hut nicht ab und sieht einen mit seinen Augen an, daß man sich ganz unheimlich fühlt.“

„Scharlieh!“ rief es da unter der offen gebliebenen Thür.

Ich sprang schnell auf. Scharlieh pflegte Winnetou meinen deutschen Vornamen auszusprechen. Und da stand er unter der Thür! Winnetou, der berühmte Häuptling der Apatschen in Dresden! Und wie sah der gewaltige Krieger aus! Eine dunkle Hose, eine ebensolche Weste, um welche ein Gürtel geschnallt war, einen kurzen Saccorock; in der Hand einen starken Stock und auf dem Kopfe einen hohen Cylinderhut, der er nicht abgenommen hatte! Ich erzähle die Thatsache in einfacher, kurzer Weise, brauche aber wohl kaum zu versichern, daß meine Überraschung, mein Erstaunen, ihn hier zu sehen, wenigstens ebenso groß wie mein Entzücken darüber war.

Ich sprang auf ihn zu; er kam mir ebenso rasch entgegen; auf halbem Wege fielen wir uns in die Arme. Wir küßten uns wieder und immer wieder, betrachteten uns in den Zwischenpausen und brachen schließlich in ein herzliches Gelächter aus, was bei dem Apatschen noch nie vorgekommen war. Die Gestalt, in welcher er seinen Shatterhand vor sich sah, war gar so zahm, und die Figur, welche der tapferste Krieger der Apatschen bildete, war so friedlich und so drollig, daß ein Hexenmeister dazu gehört hätte, sich des Lachens zu enthalten.

Er hatte nicht auf die Rückkehr des ihn anmeldenden Wirtes gewartet, sondern war demselben gefolgt. Nun kam auch der junge Herr, der bei ihm gewesen war; das war kein anderer als – Franz Vogel, der frühere Schüler meines Kapellmeisters.

Die anwesenden Sänger kannten den Apatschen alle aus meinen Erzählungen. Welch ein Hallo, als ich seinen Namen nannte! Zunächst wollten sie es nicht glauben. Sie konnten sich ihn nicht anders denken, als in seiner bekannten Kleidung und mit der berühmten Silberbüchse. Ich ahnte, weshalb er den Hut nicht abnahm; er hatte die Fülle seines reichen, dunkeln Haares unter denselben verborgen. Ich nahm ihm den Cylinder ab; da wurde es frei und fiel ihm wie ein Mantel über die Schultern und weit auf den Rücken herab. Jetzt glaubten sie, daß es der Apatsche sei. Alle Hände streckten sich ihm entgegen, und als so ein begeisterter Bassist das „Dreimal hoch!“ anstimmte, fielen alle brausend ein.

Wie oft hatte ich Winnetou gebeten, einmal mit mir nach Deutschland zu gehen oder mich dort zu besuchen! Es war stets vergeblich gewesen. Daß er jetzt kam, so ganz unerwartet, mußte einen höchst wichtigen Grund haben. Er sah es mir an, daß ich denselben gern erfahren hätte, schüttelte aber den Kopf und sagte:

„Mein Bruder lasse sich nicht stören. Die Botschaft, welche ich bringe, ist wichtig; aber ist eine Woche und mehr darüber vergangen, so kann auch noch eine Stunde vergehen.“

„Wie aber hast du mich hier finden können?“

„Winnetou ist doch nicht allein. Das junge Bleichgesicht, welches Vogel heißt, ist mitgekommen. Dieser kannte deine Wohnung und führte mich hin. Wir hörten, du seist dorthin gegangen, wo gesungen wird; da wollte ich auch gern singen hören. Später kehren wir in deine Wohnung zurück, und dort werde ich dir sagen, aus welchem Grunde ich über das große Wasser gekommen bin.“

„Gut, ich gedulde mich also bis dahin, und du sollst nun deutschen Gesang zu hören bekommen.“

Als die Sänger von dem Wunsche des Apatschen hörten, waren sie natürlich gern bereit, denselben zu erfüllen. Wir setzten uns mit Vogel an einen abgelegenen kleinen Tisch und bestellten Bier, welches Winnetou sehr gern, aber auch sehr wenig trank. Dann begannen die Vorträge, welche nicht anders als Konzert genannt werden mußten. Die Leute waren stolz darauf, sich vor diesem berühmten Manne hören lassen zu dürfen.

Er hielt meine Rechte in der seinigen und ich seine Linke in der meinigen. Ich war ganz glücklich, ihn einmal bei mir in der Heimat zu haben, und er war ebenso glücklich darüber, mir dieses Glück bereiten zu können. Ich glaube, wir haben in den Augen der Zuschauer ein ganz rührendes Paar gebildet. Aber jeder, der uns drüben in der Savanne oder auf dem Gebirge begegnet war, hätte uns heute hier nicht wieder erkannt. Winnetou kam mir wie ein schwarzer Panther im Schafspelze vor, und ihm mochte es mit mir nicht viel anders gehen. Kleider machen auch hier wie überall Leute.

Es war wohl gegen Mitternacht, als der Apatsche erklärte, daß er nun genug gehört habe. Die eifrigen Notenbrüder hätten ihn noch gern bis morgen früh und auch noch länger unterhalten. Er bedankte sich bei ihnen, und dann gingen wir. Er sagte kein Wort über das, was er gehört hatte, aber da ich seine Eigenart kannte, wußte ich gar wohl, welch einen tiefen und unauslöschbaren Eindruck der deutsche Gesang in seiner Seele zurückgelassen hatte.

Als wir daheim bei mir angekommen waren, sah er sich sehr genau um, betastete jeden Gegenstand und schloß von Zeit zu Zeit die Augen, um sich alles tüchtig einzuprägen. Ich nahm zwei Friedenspfeifen von der Wand, stopfte sie und gab ihm eine. Vogel bekam eine Cigarre. Als ich dann mit dem besten, treuesten und edelsten meiner Freunde rauchend auf dem Sofa saß, sagte er:

„Wir kommen wegen der schönen weißen Squaw, die ich mit dir in San Francisco besucht habe.“

„Ah, von Martha, Ihrer Schwester?“

„Leider ja!“ antwortete Vogel. „Es ist nichts Erfreuliches, was wir Ihnen von ihr erzählen können. Ich war jetzt vier Monate drüben.“

„Eine kurze Zeit!“

„Ja, aber für mich lang genug, Diese Monate sind mir zu Jahren geworden, denn sie haben mir nichts als die bitterste Täuschung gebracht. Mein Schwager ist bankerott.“

„Ah! Meine Ahnung! Wie steht es mit Potter, dem Compagnon?“

„Der ist natürlich auch bankerott.“

„Das glaube ich nicht. Er hat Ihren Schwager ausgesogen und wird eine sehr erkleckliche Summe in Sicherheit gebracht haben. Ist der Bankerott etwa als ein betrügerischer anzusehen?“

„Nein. Es verliert kein Mensch einen Pfennig.“

„Niemand hat einen Pfennig verloren und doch ist das Fallissement erklärt worden? Also wurde das große Vermögen in dieser kurzen Zeit vollständig aufgewirtschaftet? Wie war das möglich?“

„Durch falsche Spekulationen, welche Potter gemacht hat. Mein Schwager hatte ihm alle geschäftlichen Bestimmungen allein überlassen.“

„Das war vorauszusehen. Potter schloß sich gleich von vornherein Ihrem Schwager in der Absicht an, ihn geschäftlich zu ruinieren. Wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte das große Vermögen nicht in so sehr kurzer Zeit alle werden können. Er wird scheinbar alles verspekuliert, in Wirklichkeit sich aber einen vollen Beutel erwirtschaftet haben. Ich hoffe, daß der Mann aber noch zu packen sein wird.“

„Das glaube ich nicht, denn wäre dies der Fall, so hielt er sich nicht noch in San Francisco auf, sondern wäre verschwunden. Mein Schwager ist natürlich an den Bettelstab gebracht. Das Wenige, was ihm geblieben ist, hat er der Familie entzogen und in die eigene Tasche gesteckt. Damit geht er nun von Spelunke zu Spelunke und trinkt, bis er mit dem letzten Heller auch noch den Verstand vertrunken haben wird.“

„Und was thut die Familie nun?“

„Das ist eine schlimme Sache. Als ich hinüber kam, ahnte noch niemand etwas. Ich hatte mich auf Werner verlassen. Durch seine pekuniäre Unterstützung dachte ich, schnell vorwärts zu kommen. Da aber brach schon nach drei Wochen der Krach herein. Ich war nur gekommen, um ein Esser zu viel zu sein. Die Eltern und Geschwister wollten verzweifeln. Martha allein behielt die Besinnung und dachte über Mittel nach, sich zu retten. Ich half ihr. Wir kamen auf die Idee, Konzerte zu geben. Zunächst reichte das Geld, welches sie für ihre wenigen überflüssigen Sachen löste, für das Notwendigste aus. Wir dachten auch an Sie. Wir hatten Ihnen schon soviel zu verdanken. Wären Sie drüben gewesen, so hätten Sie sich unser gewiß mit Rat und That angenommen; aber Sie waren eben nicht da. Da führte uns Gott Winnetou in das Haus.“

„Wie? Er kam zu ihnen ins Haus?“

„Ja.“

„Das ist ein Wunder. Nach dem, was wir darin erlebt haben, stand nicht zu erwarten, daß er es jemals wieder betreten werde.“

„Es war nicht dasselbe Haus. Wir waren aus dem Palaste förmlich geworfen worden; wir hatten ein ganz kleines Logis bezogen. Glücklicherweise war der Apatsche nach San Francisco gekommen, hatte an uns gedacht, sich nach uns erkundigt, unsere neue Wohnung erfahren und kam nun, uns zu trösten. Fast schäme ich mich, es zu sagen: Er gab uns Geld. Wir zögerten, es zu nehmen; er aber versicherte uns, wir würden bald in die Lage kommen, es ihm wiederzugeben. Er sprach davon, daß er ein ernstes Wort mit Potter sprechen wolle, und ließ ihn von da an nicht aus den Augen. Da kam ein amtliches Schreiben aus New Orleans, daß unser Oheim dort gestorben sei; der Bruder meiner Mutter.“

„Ah, ich besinne mich. Ihre Großmutter hat mir erzählt, daß sie einen Sohn gehabt habe, der nach Amerika gegangen sei, ohne jemals wieder etwas von sich hören zu lassen. Sie war überzeugt, daß er unterwegs verunglückt und gestorben sei.“

„So ist es. Er war aber nicht tot, sondern nur undankbar. Er ist erst vor kurzem als ein Millionär gestorben. Wenigstens hat die Behörde mir das mitgeteilt.“

„Ich gebe nicht viel auf solche Reichtümer. Sie haben ja erfahren, welchen Wert sie besitzen, wenn sie in unrechte Hände kommen. Wie aber hat die Behörde in New Orleans Ihre Adresse in San Francisco wissen können?“

„Sie hat aus alten Schreibereien und Aufzeichnungen des Verstorbenen ersehen, woher er stammt, und infolgedessen in unsere Heimat geschrieben. Von dort her ist unsere Adresse mitgeteilt worden.“

„Nun, so ist Ihnen ja geholfen. Wenn die Beweise vorliegen, daß Sie die einzigen Erben sind und die Hinterlassenschaft Ihnen also nicht streitig gemacht werden kann, wird sie Ihnen sehr bald ausgefolgt werden.“

„Das wäre allerdings sehr gut; aber die Sache hat doch einen Haken. Wir sind nämlich die einzigen Verwandten und doch vielleicht auch nicht die einzigen. Der Verstorbene hat einen Sohn gehabt, welcher verschollen ist.“

„Das ist allerdings ein schlimmer Haken. Die Angelegenheit kann sich da gewaltig in die Länge ziehen.“

„Das ist’s ja eben!“

„Der Sohn muß in den Zeitungen aufgerufen werden, und erst wenn er sich nach einer gewissen Anzahl von Jahren nicht meldet, wird er als verstorben betrachtet. Da werden Sie leider warten müssen.“

„Ja, wir müssen warten. Wenn man uns nur wenigstens einen Teil auszahlen wollte!“

„Das geht nicht. Entweder alles oder nichts.“

„Und dazu kommt, daß in New Orleans sich ein Advokat des Verschollenen annimmt. Er ist ein Freund von ihm und behauptet, daß er jedenfalls noch lebe. Der Sohn des Verstorbenen hat einen sehr erfahrenen und zuverlässigen Reisebegleiter bei sich gehabt, und dieser, so behauptet der Advokat, würde es jedenfalls gemeldet haben, wenn der Verschollene nicht nur verschollen, sondern gestorben wäre. Der Rechtsanwalt nimmt nun umfangreiche Nachforschungen vor, zu denen er die Frist bekommen hat.“

„Das zieht die Sache noch weiter in die Länge. Was ist denn Ihre Mutter für eine Geborene?“

„Jäger war ihr Mädchenname.“

„Also hieß auch der alte Millionär Jäger. Was war er denn?“

„Ursprünglich Schuhmacher. Als Gesell ist er ausgewandert, hat dann in New York es zu einem Laden gebracht, wohl jedenfalls durch eine gute Heirat, und ist dann immer weiter vorwärts gekommen.“

„Schuhmachergesell? New York? Laden? Reiche Heirat? Ah, da kommt mir ein Gedanke, da fällt mir etwas ein!“

„Was? Was?“

„Warten Sie nur, warten Sie! Ich muß mich besinnen.“

Ich stand vom Sofa auf und ging eine Weile im Zimmer auf und ab. Ich dachte an den Brief, den ich unter Meltons Effekten gefunden hatte. Sein Neffe hatte ihn geschrieben. Ich ging nach meiner Bibliothek und nahm den Brief, den ich mir aufgehoben hatte, aus dem betreffenden Fache, um ihn zu lesen.

Ja, da stand es deutlich geschrieben. Sollte der Brief sich auf den Fall beziehen, den wir jetzt besprachen? Ich mußte Gewißheit haben und fragte deshalb weiter:

„Jäger brachte es also zu einem Schuhwarenladen in New York. Ist er denn nicht Armeelieferant geworden?“

„Ja.“

„Und hat da nicht nur Fußbekleidungen, sondern auch andere Bedarfsartikel in Auftrag bekommen?“

„Ja, ja. Dadurch hat er sich die Millionen verdient. Aber woher wissen Sie das? Was für ein Schreiben haben Sie da in der Hand?“

„Nachher! Sagen Sie mir noch, ob er stets nur seinen deutschen Namen Jäger geführt hat!“

„Nein, er hat ihn in das englische Hunter amerikanisiert.“

„Warum sagten Sie das nicht gleich! Warum nannten Sie nur den deutschen Namen!“

„Ich dachte, es käme nichts darauf an.“

„Es kommt sogar viel, sehr viel, womöglich alles darauf an! Wissen Sie, wie der verschollene Sohn geheißen hat?“

„Ja, Small. Ein sonderbarer Name! Nicht wahr?“

„Ja; aber das ist nur vorteilhaft für Sie, denn je sonderbarer er ist, desto weniger kann der Träger desselben mit einem andern Menschen verwechselt werden. Also Small Hunter. Er ist verschollen. Und wo? Natürlich im Oriente! Oder nicht?“

„Ja, im Oriente!“ rief Vogel ganz erstaunt aus. „Auch das wissen Sie, Herr Doktor?“

„Auch das! Sie sind an den rechten Mann gekommen, lieber Freund.“

„Das sagte auch Winnetou!“

„Aha. Er hat einen kleinen, winzigen Stapfen der Spur erkannt, welcher Sie folgen müssen, und dann gleich alles mögliche gethan, damit sie dem Auge ja nicht wieder entgehen möge. Setzen Sie ihn nur erst auf eine Fährte, dann ist er unermüdlich und zeigt eine unerreichbare Meisterschaft.“

„Sie haben also eine Spur von dem Verschollenen?“

„Ja. Aber vorher muß ich noch fragen: war denn in dem behördlichen Berichte nicht zu lesen, wo man ihn vermuten kann?“

„Doch! Ich besinne mich. Man hat einen Brief gefunden, welchen er von Kairo aus an seinen Vater geschrieben hat.“

„Das ist gut! Wie alt ist der Brief?“

„Das war nicht erwähnt.“

„Schade! Es ist gerade ganz nötig, die Zeit zu wissen, wann Small Hunter in Kairo gewesen ist.“

„Er hat dort im Hotel du Nil gewohnt, dessen berühmten Palmengarten er ausführlich beschreibt.“

„Ist noch etwas aus dem Briefe erwähnt worden?“

„Nein! Und aber doch! Ich besinne mich. Er bittet seinen Vater, die Antwort nach dem amerikanischen Konsulate zu adressieren.“

„Das ist wichtig, sehr wichtig! Die Spur haben wir. Der Gesuchte ist nun mit Sicherheit zu finden, aber freilich als Leiche.“

„Sie halten ihn für tot?“

„Ja. Und dennoch wird er sich zu der Erbschaft melden.“

„Ein Toter meldet sich doch nicht zu einer Erbschaft!“

„Manchmal doch! Allerdings nur unter ganz besondern Umständen, welche Sie erfahren werden, wenn ich erst mit Winnetou gesprochen habe.“

„Sie machen mich höchst wißbegierig!“

„Ich werde Sie nicht lange auf die Folter spannen und darum mit dem Apatschen nicht indianisch, sondern englisch sprechen. Verstehen Sie das?“

„Ganz gut. Von dem Tage an, an welchem meine Familie nach Amerika zog, habe ich sehr eifrig Englisch getrieben.“

„So hätten wir uns jetzt dieser Sprache anstatt der deutschen, von welcher der Apatsche nur wenig versteht, bedienen sollen. Ich brauchte mich nun nicht extra an ihn zu wenden. Aber sagen Sie mir doch, ob Sie nicht wissen, ob die Behörde in New Orleans sich an das Konsulat nach Kairo gewandt hat?“

„Die Behörde und auch der Advokat, von welchem ich vorhin sprach.“

„Welche Antwort ist erfolgt?“

„Noch keine; die Zeit ist zu kurz dazu.“

„So weiß ich jetzt alles, was ich wissen muß, um Ihnen den Rat geben zu können, den Sie von mir erwarten werden. Sie sind ja doch nur deswegen zu mir herübergekommen?“

„Ja; ich gestehe das offen. Meine Schwester machte uns darauf aufmerksam, da Sie den Orient kennen und – –“

Er stockte.

„Und – nun sprechen Sie weiter!“ forderte ich ihn auf. „Wenn Sie Rat und That von mir verlangen, müssen Sie vollständig aufrichtig zu mir sein.“

„Sie haben das Wort schon selbst ausgesprochen, als Sie von Rat und That redeten. Meine Schwester meint, Sie kennen den Orient und wären wohl der richtige oder gar der einzige, den Verschollenen lebendig oder tot nachzuweisen.“

„Hm! Ich bin Ihrer Schwester sehr dankbar für das Vertrauen, welches sie da in mich setzt. Also nicht bloß raten soll ich, sondern auch thaten! Wissen Sie, was das heißt?“

„Ja. Wir haben uns diese Frage beantwortet. Wir fordern Zeit und Mühe von Ihnen.“

„Vielleicht noch mehr, unter Umständen sogar das Leben.“

„Doch nicht?“ fragte er erschrocken.

„Ja, das Leben. Die Spur, welche wir haben, weist nämlich hin auf eine großartige Schurkerei, welche entweder schon geschehen ist oder noch geschehen soll. Der Reisebegleiter, welchen Small Hunter bei sich hat, ist ihm nämlich außerordentlich ähnlich, fast wie ein Ei oder ein Tropfen dem andern. Ich vermute aus sehr guten Gründen, daß diese Ähnlichkeit die Ursache zu einem Morde werden soll oder schon geworden ist.“

„Sie erschrecken mich!“

„Der Reisebegleiter ermordet Small Hunter, um, da er ihm so ähnlich sieht, an seiner Stelle als Small aufzutreten und den alten Hunter zu beerben. Der Reisebegleiter ist ein Verbrecher, und sein Vater und sein Oheim, an den dieser Brief gerichtet war, sind doppelte und dreifache Mörder. Ich werde Ihnen das noch ausführlich erzählen. Mit fester Bestimmtheit kann ich freilich noch nicht von einem Morde reden; aber wie ich die Betreffenden kenne, werden sie unbedingt auf den Gedanken kommen, den Tod des alten Hunter auf diesem gräßlichen Wege für sich auszunützen. Doch nun vor allen Dingen zu Winnetou.“

Dieser hatte, da wir bis jetzt deutsch gesprochen hatten, uns nur wenig verstanden, war aber unsern Mienen und Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Vorher war der Ausdruck der Spannung auf seinem Gesichte zu lesen gewesen; seit ich aber den Brief geholt hatte, war diese verschwunden, um einem Zuge der Befriedigung Platz zu machen. Als er sah, daß ich mich nun auch an ihn wenden wolle, kam er mir mit den Worten zuvor:

„Mein Bruder Old Shatterhand hat meine Vermutungen bestätigt gefunden. Das verschollene Bleichgesicht ist mit dem Neffen Meltons nach der Gegend gereist, welche die Weißen den Orient nennen.“

„Winnetou hat uns beide richtig beobachtet. Der Schärfe seines Auges bleibt nichts verborgen.“

„Dazu bedurfte es keiner großen Schärfe. Old Shatterhand hat mir damals den Brief gezeigt und vorgelesen; ich merkte mir ihn. Nun kam ich nach Francisco, um die schöne, junge Frau zu sehen, deren Mann uns damals so schwer beleidigte, daß ich die Drohung aussprach, an ihm Rache zu nehmen, wenn ich später seine Squaw im Unglücke finden sollte. Ich erfuhr von dem Unheile, welches sie betroffen hat, und ging zu ihr, um sie zu trösten. Sie hatte Vertrauen zu mir, weil ich dein Freund und Bruder bin, und erzählte mir alles. Sie las mir auch das Schreiben vor, welches sie aus New Orleans erhalten hat. Darin stand der Name Hunter und noch anderes, was mit dem Inhalte deines Briefes stimmte. Da war es leicht, auf die richtige Fährte zu kommen. Wer sie verfehlt hätte, wäre blind und taub gewesen. Die Squaw hat dir einst ihr Vertrauen geschenkt. Ich beschloß, ihr zu helfen. Du allein warst der Mann, durch den ich helfen konnte; darum mußte ich zu dir. Den jungen Mann habe ich mitgenommen, weil er die Angelegenheit kennt und die Sprache deines Vaterlandes versteht, deren ich nicht mächtig bin. Welche Gedanken beabsichtigt nun mein Bruder, zu befolgen?“

„Jonathan Melton schreibt, daß er seine Ähnlichkeit mit Small Hunter ausnutzen werde. Was meint Winnetou, worin diese Ausnutzung bestehen wird? Etwa nur in Fälschungen und Betrügereien?“

„Nein. Small Hunter wird sterben, wenn nicht rechtzeitig ein Retter erscheint.“

„Davon bin ich auch überzeugt. An seiner Stelle wird Jonathan Melton erscheinen und die Erbschaft heben. Es muß sogleich ein tüchtiger Mann nach Kairo, um beim Konsulate nachzufragen und die Spur dann weiter zu verfolgen.“

„Dieser Mann sind Sie!“ fiel da Vogel ein, indem er meine Hände ergriff. „Gehen Sie; reisen Sie; beeilen Sie sich, ehe es zu spät wird!“

„Hm! Die Sache interessiert mich allerdings ungeheuer; aber meinen Sie, daß ich nur so hier sitze, um auf irgend eine Veranlassung hin meine Arbeiten wegzuwerfen und mich da drüben jenseits des Mittelmeeres mit Verbrechern herumzuschlagen?“

„Thun Sie es dennoch, thun Sie es! Wenn Sie Small Hunter retten, wird er Sie reich belohnen. ist er aber schon tot und Sie entlarven seinen Doppelgänger, so sind wir gern bereit, Ihnen einen Teil der Erbschaft auszuzahlen.“

„Uff!“ rief der Häuptling zornig. „Old Shatterhand nimmt kein Geld, und solches Fährtenspüren kann überhaupt kein Mensch bezahlen!“

Ich milderte diesen Einwurf durch die Erklärung ab:

„Beruhigen Sie sich, ich war schon vorhin im stillen bereit, mich sogleich nach Kairo aufzumachen, wenn die Hindernisse, welche mir für heute und morgen entgegenstehen, beseitigt sind.“

Wie scharfdenkend und feinfühlend Winnetou war, zeigte er auch jetzt wieder, indem er mit einer mir sehr verständlichen Bewegung die Hand auf seinen Gürtel legte und dabei sagte:

„Winnetou bittet Old Shatterhand, keine Hindernisse gelten zu lassen. Wie ist der Weg nach Kairo?“

„Von hier mit der Bahn nach Brindisi und dann per Schiff nach Alexandrien.“

„Wie lange fährt man mit der Bahn, und wann geht das Schiff ins Meer?“

„Die Fahrten finden ganz regelmäßig an bestimmten Wochentagen statt. Wer morgen von hier abreist und übermorgen in Brindisi ankommt, kann schon am nächsten Tage mit dem Dampfer in See stechen.“

„So fahren wir morgen. Howgh!“

Ich hatte so etwas geahnt. Winnetou war nicht herübergekommen, um mich nach Afrika zu schicken und allein wieder heimzukehren. Dennoch frappierte mich der feste entschlossene Ton, in welchem er diese Worte sprach. Ich fragte:

„Aber Winnetou geht in ein Land, welches ihm fremd ist!“

„Mein Bruder kennt das Land um so besser. Er mag nicht versuchen, mich irre zu machen! Hast du mir nicht hundertmal erzählt, was du in jenen Ländern gesehen hast, und sodann gesagt, du wünschest, daß auch ich einmal hinkommen möge?“

„Ja.“

„Dieser Wunsch wird dir jetzt in Erfüllung gehen; also sprich kein Wort dagegen.“

Ein Apatschenhäuptling in Kairo! Welch ein Gedanke! So etwas war noch nie dagewesen. Ich freute mich darüber, denn erstens fand nun ich auch einmal Gelegenheit, seinen Lehrer zu machen, und zweitens lag für uns die Möglichkeit vor, in Lagen zu kommen, wo das Urteil dieses Scharfsinnigsten aller Scharfsinnigen mir von großem Nutzen sein konnte. Und drittens, und das war momentan die Hauptsache, hatte er die Hand auf seinen Gürtel gelegt. Ich befand mich nicht in der Situation, ein so bedeutendes Reisegeld, wie nötig war, vorrätig im Kasten liegen zu haben; der Hinweis auf den Gürtel aber sagte mir, daß in demselben des schnöden und doch so edlen Mammons genug vorhanden sei.

Die Freude Vogels über unsern Entschluß war groß. Er begann immer wieder, von neuem sich zu bedanken, bis wir ihm dies rundweg und streng verboten. Er wurde ins Hotel geschickt; der Apatsche aber schlief natürlich bei mir, doch nicht lange, denn schon zur frühen Morgenstunde mußten wir den Zug besteigen. Das machte uns aber keine Schmerzen, denn umfangreicher Reisevorbereitungen bedurfte es nicht, da ich alles, was dazu gehört, stets für den augenblicklichen Gebrauch beisammen habe.

Vogel war mit genügenden Mitteln zur Rückkehr nach San Francisco versehen. Er verabschiedete sich am Coupé von uns und erhielt noch ausführlich gesagt, wie er und seine Verwandten sich in gewissen Fällen zu verhalten hätten.

Großen Spaß gewährte mir die Aufmerksamkeit, welche die Erscheinung des Apatschen überall erregte. Ich scheue mich nicht, zu sagen, daß er für kurze und oberflächliche Blicke wie ein neugekleideter Stromer aussah. Aber wer auf seine Haltung und auf die edlen, stolzen und meist unbeweglichen Züge seines hellbronzenen Gesichtes achtete, der war gezwungen, auf den Gedanken zu kommen, daß er keinen gewöhnlichen Menschen vor sich habe.

Kleine Erlebnisse, oft interessanter und oft lustiger Art, welche uns auf der Reise begegneten, gehören nicht hierher; ich sage nur, daß Winnetou trotz seiner gewohnten indianischen Zurückhaltung nicht aus dem Staunen herauskam. Es gab gar viel Neues, Unbekanntes und Unerwartetes zu sehen. In Alexandrien kaufte er sich einen arabischen Anzug, der ihm ganz vorzüglich stand, aber um so unbequemer vorkam.

In Kairo angekommen, verfügten wir uns sofort nach dem Hotel du Nil, wo Small Hunter gewohnt hatte. Wir erfuhren, daß er vor ungefähr drei Monaten abgereist sei, und das stimmte auch mit den Angaben, welche man uns auf dem amerikanischen Konsulate machte. Dort hörten wir noch weiteres. Die Behörden von New Orleans hatten Erkundigungen eingezogen, ebenso auch der schon erwähnte Advokat. Briefe waren zuerst nach Alexandrien und dann später nach Tunis nachzusenden gewesen. Der Vermittler in der letztgenannten Stadt war ein jüdischer Handelsmann Namens Musah Babuam.

Diese Auskünfte bestimmten uns, nach Tunis zu gehen, und zwar Kairo schon morgen zu verlassen, denn es galt, keine Zeit zu verlieren. Zu unsrer Beruhigung aber hatte man uns gesagt, daß Small Hunter sehr wohl gewesen sei und mit seinem Reisebegleiter in einem sehr guten, sogar vertraulichen Einvernehmen gestanden habe; die Ähnlichkeit zwischen beiden sei geradezu frappant gewesen, zumal sie sich bis ins kleinste gleich gekleidet hätten.

Am Abende spazierten wir einmal nach dem Hotel d Orient, in welchem ich früher gewohnt hatte. Es führte mich keine besondere Absicht dorthin; man kehrt ganz unwillkürlich und gern an Orte zurück, welche man früher betreten hat. Wir traten in den hellerleuchteten Garten und setzten uns an einen leeren Tisch, um ein Glas Limonade zu trinken. Man hatte uns bemerkt, denn Winnetou mußte auffallen, da er sein Haar ganz aufgelöst im Nacken trug.

Es gab mehrere Tische und viele Gäste da, welche sich an der kühlen Abendluft erfreuten. In ziemlicher Entfernung von uns hatte ein muselmännisch gekleideter Mann gesessen, welcher bei unserm Erscheinen aufgestanden war. Er kam näher und immer näher und verwendete keinen Blick von uns. Es war wohl irgend einer, der mich früher einmal in dieser Gegend gesehen hatte; ich achtete nicht mehr auf ihn. Da zog er die Kapuze seines hellen Haik halb über das Gesicht herab, kam ganz herbei, legte mir die Hand auf die Schulter und grüßte mich im schönsten Tehua-Indianisch:

„Oseng-ge tah, mo Old Shatterhand!“

Das heißt so viel wie „guten Abend, Old Shatterhand!“ Dann legte er seine Hand auch auf des Apatschen Arm und wiederholte den Gruß, nur mit dem andern Namen:

„Oseng-ge tah, mo Winnetou!“

Der Araber kannte uns. Ich sprang überrascht auf und fragte in demselben Indianerdialekte:

„Toh-ah oh sse – wer bist du, Mann?“

Da antwortete er in englischer Sprache:

„Rate doch einmal, alter Löwentöter! Bin wirklich neugierig, ob du mich denn nicht an der Stimme erkennen willst!“

„Emery, Emery Bothwell!“ rief ich aus, riß ihm die Kapuze über den Kopf zurück und schlang die Arme um ihn. Er that dasselbe mit mir, drückte mich an seine mächtige Brust und sagte im Tone tiefer Rührung:

„Habe mich lange, lange gesehnt nach dir, alter Knabe! Bist aber nie, wenn ich unterwegs war, auf meiner Fährte zu finden gewesen. Jetzt bist du in diesem gesegneten Garten beinahe über mich weggestolpert. Das hat das Kismet gewollt, und auch ich werde einen Willen haben, nämlich den, daß wir uns nicht sogleich wieder trennen. Bist du einverstanden?“

„Gern, liebster Freund! Also du hast uns beide sogleich erkannt?“

„Dich sofort; aber der Häuptling machte mir zu schaffen. Wer durfte in diesem Gewande den größten und berühmtesten Krieger der Apatschen vermuten! Wer hätte es für möglich gehalten, Winnetou hier in der fernen Kahira zu sehen.

Ich bin so erstaunt darüber, daß ich es, wenn ich nicht so gute und treue Augen hätte, gar nicht glauben würde. Es muß ein ebenso seltsames wie wichtiges Geschäft sein, welches den Häuptling bewogen hat, den Llano estacado mit der lybischen Wüste und das Felsengebirge mit dem alten Mokattam zu vertauschen.“

„Das ist es auch. Nimm Platz, so wirst du es erfahren. .“

Er ließ sich durch den Kellner seinen Scherbet und seinen Stuhl bringen und setzte sich zu uns.

Wer hätte daran gedacht, diesem meinem guten, kühnen und geradezu unbesiegbaren Kameraden aus der Prairie und der Sahara heute hier zu begegnen! Und ich hatte allen Grund, mich über dieses Zusammentreffen zu freuen; das werden diejenigen Leser gern glauben, welche „Die Gum“ [Fußnote] gelesen haben. Es sei mir erlaubt, das zu wiederholen, was ich dort über seine Persönlichkeit gesagt habe:

„Drüben im Farwest habe ich einen Mann getroffen, der sich ebenso wie ich aus reiner Abenteurerlust ganz allein in die finstern und blutigen Gründe des Indianergebietes gewagt hatte und mir bei allen Fährlichkeiten ein treuer Freund und Maat geblieben war. Sir Emery Bothwell war ein Engländer vom reinsten Krystall, stolz, edel, kalt, wortkarg, kühn bis zur Verwegenheit, voll Geistesgegenwart, ein starker Ringer, ein gewandter Fechter, ein sicherer Schütze, und dabei voller Aufopferungsfähigkeit, wenn sein Herz einmal freundschaftlichen Regungen zugänglich geworden war. Neben diesen zahlreichen Vorzügen besaß der gute Emery allerdings einige kleine Eigentümlichkeiten, die ihn sofort als Engländer charakterisierten und einen Fremden wohl gar abstoßen mußten. Mir gegenüber hatten sie keinerlei Störung, sondern im Gegenteile öfters eine kleine, allerdings heimliche und unschuldige Belustigung verursacht.“

Ja, so, ganz so war Emery Bothwell, der dann mit mir und wenigen Männern in der Sahara eine ganze Raubkarawane vernichtet hatte. Daß er, der sonst so wortkarge Mann, uns mit so vielen Worten begrüßt hatte, war ein Zeichen der ebenso großen wie aufrichtigen Freude, welche er bei dem gegenwärtigen Wiedersehen empfand. Er kannte Winnetou ebensogut persönlich wie mich, da wir mit ihm den Südwesten der Vereinigten Staaten fast drei Vierteljahre lang durchstreift und dabei manches ungewöhnliche Vorkommnis erlebt hatten. Der Apatsche freute sich infolgedessen wohl in demselben Grade, wie ich über dieses ganz unerwartete Zusammentreffen, doch war es nicht seine Weise, sich dergleichen Regungen auffällig merken zu lassen.

Daß wir hier und in dieser Zeit mit ihm zusammentrafen, war mir im hohen Grade willkommen. Er stand sich so, daß er stets über seine Zeit verfügen konnte, und ich war sofort überzeugt, daß er sich uns anschließen werde. Es handelte sich darum, nach einem Verschollenen zu suchen, vielleicht gar ein Verbrechen zu entdecken oder wenigstens zu verhüten, und das war seiner Abenteurerlust eine hochwillkommene Aufgabe. Und da er alles Nötige besaß, sie zu lösen, so konnte ich keinen bessern Begleiter finden, als ihn. Und wenn die Gesuchten sich noch so schlau und sorgfältig versteckt hätten, mit Winnetou, dem berühmtesten Pfadfinder des Westens, und mit Emery, dem fast ebenso berühmten Behluwan-Bei der algerischen Wüste, mußten sie entdeckt werden.

Der letztere war jedenfalls in hohem Grade erstaunt, den ersteren in Kairo zu sehen. Er sagte sich, daß nur ein ganz außerordentlicher Umstand den Indianer zu dieser Reise veranlaßt haben könne. Winnetou hätte nicht gefragt, sondern gewartet; Emery aber war ein Weißer; er legte seiner Wißbegierde keine Schranken an und wendete, als er bei uns Platz genommen hatte, sich mit verschiedenen Fragen über das Woher und Wohin an mich.

„Ist’s möglich!“ rief er, „Ihr wollt nach Tunis? Ich auch!“

„Wann?“

„Wann es euch beliebt.“

„Schön! Wir reisen also zusammen. Was willst du dort?“

„Welche Frage! Abenteuer. Und ihr?“

„Wahrscheinlich finden auch wir Abenteuer. Ich meinte nur, es müsse eine nähere Ursache, -welche dich nach Tunis zieht, vorhanden sein.“

„Richtig! Die Ursache heißt Small Hunter.“

„Uff!“ rief der Indianer, dem dieser Name so überraschend kam, daß er dadurch ganz wider Willen aus seinem Schweigen gerissen wurde.

„Small Hunter?“ fragte auch ich schnell. „Ist das möglich? Kennst du ihn?“

„Yes. Du auch, wie es scheint?“

„Nein; aber ich suche ihn in Tunis.“

„Bist auf falscher Fährte. Er ist in Ägypten und zwar in Alexandrien.“

„Und von dorther kommen wir! Hätten wir das gewußt! Wir haben uns hier nach ihm erkundigt und da erfahren, daß er schon vor etwa drei Monaten nach Tunis abgereist sei.“

„Unsinn! Ist noch da.“

„Aber er hat Anweisung gegeben, ihm alle Postsachen nach Tunis nachzusenden, und es sind ihm auch schon Briefe nachgeschickt worden!“

„Thut auch nichts. Er ist doch noch da; aber er will fort, und zwar mit mir; er wartet in Alexandrien auf mich.“

„So bist du schon vorher mit ihm zusammengewesen?“

„Fragen und immer wieder Fragen! Soll ich dir etwa eine Erzählung machen?“

„Das wäre mir freilich das Liebste.“

„Well! Sie wird aber kürzer sein, als du denkst. Bin da unten in Neghileh mit ihm zusammengetroffen; haben miteinander einen Ausflug nach Berd Ain gemacht, zwei Monate lang. Hunter muß nun nach Tunis, und ich gehe mit. Bin aber vorher nach Kairo, um Kasse zu holen. Er wartet in Alexandrien auf mich.“

„Und du gehst nur seinetwegen nach Tunis?“

„Nein. Wäre auch ohne ihn hingegangen. Habe mit dir die algerische Sahara kennen gelernt und jetzt Ägypten angesehen. Will nun auch wissen, was dazwischen liegt; das ist Tunis und Tripolis.“

„So so! Wer war bei Hunter?“

„Niemand.“

„Wirklich niemand? Aber er hat ja einen Begleiter bei sich Namens Jonathan Melton.“

„Kenne den Mann nicht; habe ihn nicht gesehen.“

„Hat Hunter nicht von ihm gesprochen?“

„Kein Wort!“

„Hm! Sonderbar! Aber von seinen Verhältnissen hat er etwas verlauten lassen?“

„Keine Silbe. Ist mir nicht eingefallen, mich danach zu erkundigen.“

„Aber man pflegt doch nicht mit einem unbekannten Menschen zu reisen!“

„Unbekannt? – Pshaw! Hunter trat sehr anständig auf. Ist lange Zeit, wie ich mich überzeugte, im Oriente gewesen. Was willst du mehr!“

„So scheint es, daß ich ihn besser kenne als du, obgleich ich ihn noch nicht gesehen habe. Wir suchen ihn. Er soll nach Hause kommen, eine großartige Erbschaft machen. Sein Vater ist gestorben. In welchem Hotel sollst du ihn in Alexandrien treffen?“

„In keinem. Wohnt privat. Geht nach Tunis, um dort einen Freund zu besuchen, den Kalaf Ben Urik, Kolarasil bei den tunesischen Truppen.“

„Kalaf Ben Urik? Sonderbarer Name! So kann eigentlich weder ein Araber noch ein Maure oder Beduine heißen! Der Name kommt mir wie ein selbstgemachter vor!“

„Was kann dich das interessieren?“

„Mehr als du denkst. Weißt du vielleicht, wie alt Kalaf Ben Urik ungefähr ist?“

„Bei guten Jahren. Hunter erwähnte es zufällig. Er sagte auch, daß ich mit dem Kolarasi englisch sprechen könne.“

„Englisch? Ah! Wie kommt es, daß ein tunesischer Hauptmann das Englische versteht?“

„Weil er eigentlich ein Fremder ist. Hunter sagte mir, der Hauptmann sei vor acht Jahren zum Islam übergetreten, als er nach Tunis kam.“

„Woher kam er da?“

„Weiß es nicht. Aber da er englisch spricht, scheint der Master ein Landsmann von mir zu sein.“

Ein Engländer? Ich möchte ihn lieber für einen Amerikaner halten, weil Hunter, der doch ein Yankee ist, ihn besucht.“

„Mag sein. Ist mir auch lieber. Müßte mich darüber ärgern, wenn ein früherer Christ und jetziger Mohammedaner in meinem Old England geboren wäre. Aber was machst du für ein Gesicht? Worüber denkst du nach? Solche abwesende und doch stechende Augen habe ich nur dann bei dir gesehen, wenn du über eine Fährte nachdachtest.“

„So? Vielleicht befinde ich mich auch gerade jetzt auf einer Spur, und zwar auf einer außerordentlich interessanten und wichtigen. Sage mir nur eins: Hunter hat von seinen Verhältnissen also kein Wort gesagt. Hat er nicht doch einmal gesprächsweise erwähnt, daß er außer zu diesem Kolarasi zu noch einer Person in Tunis in Beziehung steht?“

„Ja. Er bekommt seine Briefe an einen dortigen Handelsmann nachgeschickt.“

„Kennst du den Namen desselben?“

„Er ist ein Jude, und wenn ich mich nicht irre, so nannte er ihn – hm, wie war doch der Name!“

„Musah Babuam?“

„Ja, richtig; so hieß der Mann! Aber wie kommt es, daß du dich nach solchen Nebendingen erkundigst, nach denen sonst kein Mensch zu fragen pflegt?“

„Weil die Nebendinge mich auf die Hauptsache bringen. Mir scheint, daß Hunter ein Betrüger ist.“

„Ein – Betrüger –?“ fragte Emery im höchsten Grade erstaunt. „Das – ist – ganz – unmöglich!“

„Es ist nicht nur nicht unmöglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich.“

Winnetou hatte bis jetzt kein Wort gesagt, aber, da wir englisch sprachen, alles verstanden. Jetzt meinte er mit der Betonung eines Mannes, der seiner Sache sicher ist:

„Mein Bruder Old Shatterhand ist auf der richtigen Spur. Dieser Small Hunter ist nicht der richtige Small Hunter, sondern ein falscher.“

„Ein falscher?“ fragte Bothwell. „Ihr meint, daß er nicht seinen echten Namen führt?“

„Ja, das meinen wir,“ antwortete ich. „Er heißt Jonathan Melton.“

„Den Namen nanntest du doch vorhin als denjenigen seines Begleiters?“

„Allerdings. Er ist eigentlich der Begleiter dessen, für den er sich ausgiebt.“

„Das sind mir Rätsel. Erkläre dich!“

Später konnte er alles vollständiger hören; jetzt erzählte ich ihm nur soviel, wie, um ihn zu unterrichten, nötig war. Er hörte mir mit sich immer mehr spannender Aufmerksamkeit zu und zeigte sich, als ich fertig war, mit dem, was er gehört hatte, nicht zufrieden; ich mußte ausführlicher sein und ihm alles erzählen, von meiner damaligen Reise in Mexiko an bis auf den heutigen Tag. Als ich geendet hatte, hätte ein anderer seinen Gedanken oder Empfindungen wohl sofort lauten Ausdruck gegeben, er aber saß lange wortlos da und blickte sinnend vor sich nieder. Dann, als er den Kopf hob, sagte er, indem seine Augen glänzten:

„Das wird eine hochinteressante Reise nach Tunis, weil du auf einer prächtigen Fährte bist. Mein Master Hunter ist wirklich kein anderer als Jonathan Melton, der Begleiter.“

„Woraus schließest du das?“

„Das fragst du noch! Ah, du willst meinen Scharfsinn auf die Probe stellen!“

„Und weißt du, wer jener Kolarasi, jener tunesische Hauptmann ist?“

„Thomas Melton, den du vor neun Jahren von Fort Uintah bis nach Fort Edward getrieben hast. Acht Jahre lang ist er in Tunis; es liegt also ein Jahr dazwischen, und das hat für ihn genügt, sich soviel Sprachfertigkeit anzueignen, daß er in das tunesische Militär eintreten konnte. Was meinst du dazu?“

„Ich bin ganz deiner Ansicht.“

„Warum läßt dieser Hunter, den ich kenne, seine Briefe an den Juden adressieren und nicht an den Kolarasi, den er doch kennt?“

„Weil er eben nicht Hunter, sondern Melton ist. Der wirkliche Hunter kennt den Kolarasi nicht; er hat seine Briefe also an einen Geschäftsmann richten lassen, von dem er wußte, daß er ihn in Tunis besuchen müsse. Aber weiter! Warum logiert Hunter in Alexandrien privat und nicht in einem Hotel?“

„Weil er sich nicht sehen lassen, sondern verborgen bleiben will.“

„Und warum ist er nach drei Monaten noch in Ägypten, während man hier die Überzeugung hegt, daß er sich in Tunis befindet?“

„Weil er sich für den echten Hunter ausgiebt, der in Wirklichkeit nach Tunis ist.“

„Nein! Hier in Ägypten hat er sich nicht für diesen ausgeben, sondern verborgen bleiben wollen; daß er deine Bekanntschaft gemacht hat, war von ihm eine Unvorsichtigkeit, welche er wahrscheinlich zu büßen haben wird.“

„Aber warum ist er hier geblieben? Warum hat er den echten Hunter, dessen Reisebegleiter er war, allein nach Tunis gelassen?“

„Das kannst du dir nicht erklären?“

„Wenigstens nicht vollständig.“

„Ich nehme unbedingt an, daß er den Tod des alten Hunter erfahren hat und dadurch auf den Gedanken gekommen ist, den er aber sehr wahrscheinlich schon früher gehabt hat, der Erbe des Verstorbenen zu werden. Das wird ihm durch den Umstand erleichtert, daß er eine außerordentliche Ähnlichkeit mit dem jungen Hunter besitzt und während des langen Beisammenseins mit diesem die Gelegenheit gefunden hat, die Verhältnisse desselben genau zu studieren. Es ist sogar zu denken, daß er sich Mühe gegeben hat, die Handschrift seines Reisegefährten genau nachzuahmen. Auf die Nachricht von dem Tode des Alten hat er den Jungen unter irgend einem Vorwande nach Tunis zu dem Kolarasi oder, um den richtigen Namen zu gebrauchen, zu seinem Vater Thomas Melton geschickt, wo derselbe aus dem Wege geschafft werden, also verschwinden soll. Jetzt fährt er nach, um an die Stelle des Verschwundenen zu treten, nach Amerika zu gehen und das Erbe einzuheimsen. Das sind meine Gedanken, und ich glaube nicht, daß sie mich trügen.“

„Mein Bruder Old Shatterhand hat recht,“ stimmte Winnetou bei.

Und auch Emery meinte:

„So wie du es darstellst, kann ich nicht anders als dir beipflichten. Aber sollte man so teuflische Pläne für möglich halten?“

„Denke an Harry Melton, den ich den Satan nenne und von welchem ich dir erzählt habe. Hat er nicht eben solche und noch schlimmere Pläne erdacht und auch ins Werk gesetzt? Es giebt, Gott sei es geklagt, Menschen, welche nur dem Namen nach Menschen sind, und zu diesen gehören die drei Meltons, Vater, Sohn und Oheim.“

„Ich bin, wie gesagt, ganz deiner Ansicht. Sollte sie die richtige sein, so ist es unsere Pflicht, den jungen Hunter zu retten, wenn das noch möglich ist. Aber wie?“

„Durch schnelles Eingreifen. Wir dürfen uns auf keinen andern, auch nicht auf die Behörde, verlassen, sondern müssen selbst handeln.“

„Also nach Tunis?“

„Ja. Den jungen Melton haben wir schon in Alexandrien in der Hand, und seinen Vater werden wir, denke ich, ebenso leicht bekommen.“

„Aber klug müssen wir sein!“

„Was das betrifft, so meine ich nicht, daß es großer Pfiffigkeit bedarf. Es ist nichts weiter als ein wenig Energie notwendig.“

„Aber ohne Unterstützung der tunesischen Behörde können wir doch nichts thun!“

„Die wird mir gern jeden Gefallen erweisen, den ich mir von ihr erbitte.“

„Ah,“ lächelte er, „du hast wohl mit Mohammed es Sadok Pascha, dem Gebieter von Tunesien, Brüderschaft getrunken?“

„Das nicht. Aber was noch besser ist, ich kenne seinen Herrn der Heerscharen sehr gut.“

„Herr der Heerscharen? Was für ein Titel ist das?“

„Mein Freund Krüger-Bei wird so genannt, weil er der oberste der Leibwache oder Leibscharen ist.“

„Krüger? Das ist doch kein tunesischer, sondern ein deutscher Name!“

„Krüger ist auch ein Deutscher von Geburt. Er hat eine Vergangenheit hinter sich, wie sie kein Romanschreiber sich phantastischer aussinnen könnte. Es ist eben das, was ich so oft behaupte: das Leben ist der fruchtbarste Romanschriftsteller, den es giebt. Von Krüger selbst ist zwar über sein früheres Leben soviel wie nichts zu erfahren, aber ich glaube, daß er aus der Mark Brandenburg stammt und wahrscheinlich Brauerbursche oder so etwas ähnliches gewesen ist. Auf der Wanderschaft nach Frankreich verschlagen, hat er sich in die Fremdenlegion anwerben lassen, ist in Algerien desertiert, über die tunesische Grenze entwichen und dort Sklave geworden. Infolge seiner Anstelligkeit steckte man ihn später unter das Militär; er hielt aus, avancierte, kam zur Leibwache und hat es schließlich bis zum Obersten derselben gebracht. Mohammed es Sadok Pascha schenkt ihm sein ganzes Vertrauen.“

„So ist er also ein guter Soldat?“

„Ein tüchtiger Soldat, ein treuer Beamter und ein guter Mensch. Leider ist er Mohammedaner geworden! Er hängt noch mit großer Liebe an seinem Vaterlande, mag aber von dem einzelnen Deutschen nichts wissen. Mit mir hat er eine Ausnahme gemacht und mir die beiden Male, an denen ich bei ihm war, eine wirkliche herzliche Zuneigung erwiesen.

„Wenn du ihn kennen lernst, wirst du ihn auch achten lernen und doch auch vielen Spaß über ihn haben.“

„Wieso?“

„Er hat die Eigenart, seinen jetzigen Glauben mit seinem früheren zu verquicken, Bibel und Kuran zu verwechseln und dabei allerlei Lächerlichkeiten an den Tag zu fördern. Das größte Meisterstück von ihm aber ist sein Deutsch. Da du der deutschen Sprache mächtig bist, wirst du die helle Freude an ihm erleben. Er hat nur den allernotdürftigsten Schulunterricht genossen und als Brandenburger schon als Kind mit dem Mir und Mich im Streite gestanden. In Frankreich eignete er sich einen kleinen Vorrat von Französisch an, und in Algier und Tunesien lernte er mit der Zeit arabisch sprechen. Da aber sein Sprachtalent bei weitem nicht ausreicht, die drei Sprachen auseinander zu halten und er besonders die Verschiedenheiten des Satzbaues nicht zu begreifen vermag, so leistet er im Syntax geradezu Unglaubliches. Arabisch hört er täglich sprechen und spricht es selber täglich; dies ist der Grund, daß er in dieser Sprache nicht nur die wenigsten Böcke schießt, sondern sich sogar eine außerordentlich bilderreiche, orientalische Ausdrucksweise angewöhnt hat. Deutsch hat er nur in der Jugend, und da auch nur im Dialekte und fehlerhaft gesprochen, später gar nicht mehr; daher ist diese seine Muttersprache am schlechtesten weggekommen. Das giebt ungeheuern Spaß, kann aber unter Umständen, gerade wenn es gilt, kurz und klar zu sprechen, zum Beispiel in der Nähe einer Gefahr, von großem Nachteile sein.“

„Diesen Krüger-Bei oder – hm, wie nanntest du ihn?“

„Herr der Heerscharen. So nennt er sich nämlich auch selbst, arabisch Raijis el Dschijusch. Sobald wir uns an die Behörde zu wenden haben, was höchst wahrscheinlich der Fall sein wird, werde ich mir seine Hilfe erbitten. Ich habe sogar die Absicht, ihn schon vorher aufzusuchen, und bin Überzeugt, daß er sich darüber freuen wird.“

„Willst du ihm vielleicht gleich den vermeintlichen Hunter übergeben?“

„Das wird wohl nicht nötig sein.“

„Vielleicht doch. Wenn dieser Mensch unsere Absichten durchschaut, wird er uns zu entkommen trachten. In diesem Falle müssen wir ihn in das Gefängnis stecken lassen, und zwar so lange, bis wir auch seinen Vater haben.“

„Wir dürfen uns eben nicht durchschauen lassen.“

„Nun, mir traut er keine Feindschaft zu; wie aber, wenn er zufällig errät, wer ihr seid? Man weiß ja, welche Rolle die Zufälle spielen.“

„Es wäre ein wirklich unbegreiflicher Zufall, der ihm verriete, daß wir Winnetou und Old Shatterhand sind!“

„So müßt ihr euch andere Namen geben. Es ist besser, wir wissen das schon jetzt. Je eher wir euch damit nennen, desto sicherer sind wir, uns nicht etwa zu versprechen.“

„Das ist richtig. Was mich betrifft, so möchte ich mich nicht für einen Deutschen ausgeben, denn er weiß gewiß, daß Old Shatterhand ein Deutscher ist.“

„Ja. Willst du vielleicht ein Landsmann von mir sein?“

„Ja, wenn du es erlaubst.“

„Gut! So sei ein Verwandter von mir, ein gewisser Mr. Jones, den ich zufälligerweise hier getroffen habe und der in Tunis Geschäfte hat. Und Winnetou? Für wen geben wir ihn aus?“

„Er wird es sich gefallen lassen müssen, einmal ein Afrikaner zu sein. Geben wir ihn für einen mohammedanischen Somali aus, Ben Asra.“

„Schön! Nur fragt es Sich, ob er nichts dagegen einzuwenden hat.“

Als der Apatsche diese Worte hörte, sagte er:

„Nennt Winnetou wie ihr wollt; er bleibt doch der Häuptling der Apatschen.“

„Das ist richtig,“ antwortete ich; „aber es ist keineswegs gleichgültig, für wen wir dich ausgeben, da du dafür zu sorgen hast, daß man dich auch wirklich für denselben hält. Ich werde dich also unterwegs darüber unterrichten, wer und was ein Somali ist und wie du dich als ein solcher zu benehmen hast. Wir geben an, daß du das Arabische nicht verstehst, was ja auch die Wahrheit ist, aber von Sansibar aus einige Jahre in Indien gewesen bist und dort Englisch gelernt hast. Wann reisen wir von hier ab?“

„Morgen früh,“ antwortete Emery. „Dann kommen wir gerade kurz vor der Zeit an, in welcher mein Mr. Hunter ein Schiff nach Tunis erwartet.“

„Was für eins?“

„Einen französischen Handelsdampfer.“

„Also nicht Messagerie? Das fällt mir auf. Er muß also von Tunis aus sehr wahrscheinlich über diesen Dampfer verständigt worden sein.“

„Das denke ich auch. Vielleicht gelingt es uns, etwas darüber zu erfahren.“

„Aber Winnetou und ich werden uns beim Kapitän desselben zu legitimieren haben!“

„Das überlaß nur mir! Ihr seid unterwegs um eure Papiere gekommen, und ich denke, daß es genügen wird, wenn ich meinen Paß vorzeige und für euch gutsage.“

„Sodann bin ich neugierig, wie Hunter sich legitimieren wird. Der wirkliche und berechtigte Träger dieses Namens hat doch, wenn wir uns überhaupt nicht verrechnet haben, seine Legitimationen jedenfalls mit nach Tunis genommen.“

„Werden sehen. Die Hauptsache ist, daß er keinen Verdacht schöpft. Du bist in Indien gewesen und hast dort Winnetou, also den reichen Somali Ben Asra getroffen. Jetzt geht ihr nach London, wo er Geschäftsbeziehungen anknüpfen will, und verweilt unterwegs kurze Zeit in Tunis, wo du irgend etwas zu thun hast. So ist die Sache. Alles weitere aber müssen wir abwarten.“

Man sieht, daß Emery sich unserer Angelegenheit ganz so annahm, als ob es die seinige sei. Wir saßen noch einige Zeit, und dann trennten wir uns, um uns am nächsten Morgen zur Abreise wieder zu vereinigen.

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