Zweiunddreißigstes Capitel.
Rückkehr zum Forward.
Gegen sechs Uhr Morgens legte sich der Wind und fegte, nach Norden umspringend, die Wolken vom Himmel. Das Thermometer zeigte dreiunddreißig Grad unter Null (-36° hunderttheilig). Die ersten Strahlen der Dämmerung versilberten nur erst den Horizont, den sie bald vergolden sollten.
Hatteras näherte sich seinen beiden niedergeschlagenen Gefährten und sagte mit schwacher, trauriger Stimme:
»Meine Freunde; mehr als sechzig Meilen trennen uns noch von dem durch Sir Edward Belcher bestimmten Punkte. An Nahrungsmitteln haben wir nur noch das unbedingt Nothwendige, um bis zu unserm Schiffe zurückzugelangen. Jetzt noch weiter gehen hieße uns dem gewissen Tode ausliefern, ohne irgend Jemand Anderm zu nützen. Wir kehren unseren Weg zurück.
– Das ist der rechte Entschluß, Hatteras, sagte darauf der Doctor; wahrlich, ich wäre Ihnen gefolgt, wohin es nur wäre, aber unsere Gesundheit schwindet von Tage zu Tage. Kaum können wir noch einen Fuß vor den andern setzen; ich billige also den Entschluß zur Rückkehr vollkommen.
– Und ist das auch Ihre Ansicht, Bell?
– Ja, Kapitän! erwiderte der Zimmermann.
– Wohlan denn, entschied nun Hatteras, so wollen wir zwei Tage rasten. Das wird nicht zu lange sein. Der Schlitten bedarf umfänglicher Reparaturen; ich bin auch dafür, gleich noch ein Schneehaus zu errichten, um darin unsere Kräfte erst wieder zu sammeln.«
Als man darüber im Reinen war, gingen die drei hurtig an’s Werk; Bell verwandte alle Sorge auf die Festigkeit des Baues, und bald erhob sich eine entsprechende Zuflucht in dem Hohlwege, wo sie den letzten Halt gemacht hatten.
Wie sehr hatte sich Hatteras Zwang anthun müssen, um diese Reise abzubrechen! So viele Mühe, so viele Anstrengung verloren! Ein unnützer Zug, auch noch mit einem Menschenleben erkauft! Und nun die Rückkehr zum Schiffe ohne ein Stückchen Kohle! Was würde aus der Mannschaft werden? Was würde sie ausführen unter Richard Shandon’s Einflüsterungen?
Eifrig betrieb nun Hatteras das Nöthige für die Rückkehr; der Schlitten wurde wieder in Stand gebracht; seine Ladung hatte sich wesentlich vermindert und betrug keine zweihundert Pfund mehr. Man restaurirte nach Kräften die abgenutzte und zerfetzte Kleidung, die vom Schnee durchzogen und von Eis gestärkt war. Neue Moccassins und Schneeschuhe ersetzten die abgelaufenen. Diese Arbeiten nahmen den ganzen 29., bis zum Morgen des 30. Januar in Anspruch; nachher ruhten die Reisenden, so gut es eben ging, und stärkten sich für das Kommende.
Während dieser theils in dem Schneehause, theils auf dem Eise der Schlucht verbrachten sechsunddreißig Stunden, beobachtete der Doctor aufmerksam Duk, der ihm ganz ungewöhnlich erschien; immer lief der Hund herum und schweifte unzählige Male in einem Raum umher, der einen bestimmten Mittelpunkt zu haben schien; diesen bildete eine kleine Erhöhung des Erdbodens, so als wenn dort mehrere Eisschollen übereinander lägen. Duk, der immer diesen Punkt umkreiste, bellte verhalten, wedelte unruhig mit dem Schweife und schien seinen Herrn fragend anzusehen.
Erst wollte der Doctor diese Unruhe von der Anwesenheit der Leiche Simpson’s herleiten, die sie zu begraben noch nicht Zeit gefunden hatten.
Diese traurige Pflicht sollte noch desselben Tages erfüllt werden, da man mit der nächsten Dämmerung aufzubrechen Willens war.
Bell und der Doctor versahen sich mit Hacken und gingen im Grunde des Hohlwegs nach jener durch Duk’s Benehmen auffallend gewordenen Erhöhung, welche so passend schien, die Leiche darin zu bestatten.
Beide entfernten erst die lose Ueberlage von Schnee und bearbeiteten dann die härteren, eisigen Schichten. Beim dritten Schlage schon stieß der Doctor auf einen spröden Körper, der in Stücke sprang. Er suchte etwas davon auf und brachte Scherben von einer Glasflasche an’s Licht.
Bell seinerseits zog einen hart gewordenen Sack hervor, der noch ganz gut erhaltenen Zwieback enthielt.
»Nun? sagte der Doctor erstaunt.
– Was soll das bedeuten?« fragte Bell, der seine Arbeit unterbrach.
Der Doctor rief Hatteras, welcher sogleich hinzukam.
Duk bellte lebhaft und wühlte mit den Pfoten den weichen Schnee weg.
»Sollten wir auf eine Niederlage von Nahrungsmitteln gestoßen sein? sagte der Doctor.
– Das scheint fast so, meinte Bell.
– Fortfahren!« rief Hatteras.
Noch einige Reste von Speisen wurden aufgefunden, und dann ein Gefäß, das noch zu einem Viertel mit Pemmican gefüllt war.
»Das ist hier ein Versteck, sagte Hatteras, dem aber vor uns schon Bären ihren Besuch gemacht haben. Die Vorräthe sind nicht mehr unangetastet.
– Das fürchte ich auch, erwiderte der Doctor, denn …«
Er brachte den Satz nicht zu Ende. Ein Aufschrei Bell’s unterbrach ihn; als dieser einen stärkeren Eisblock wegwälzte, kam ein steifgefrorenes, menschliches Bein zum Vorschein.
»Ein Leichnam! brach der Doctor aus.
– Das ist kein Versteck, sagte Hatteras, sondern ein Grab.«
Der bloßgelegte Cadaver gehörte einem Matrosen von ungefähr dreißig Jahren an; vollkommen gut erhalten trug er noch die gewöhnliche Kleidung der Polarmeerfahrer, und auch der Doctor wagte nicht zu entscheiden, wie lange er wohl schon läge.
Bald darauf grub Bell aber noch einen zweiten Leichnam, den eines Mannes von etwa fünfzig Jahren auf, der noch auf seinem Antlitz die Spuren der Leiden trug, die ihn dahingerafft hatten.
»Das sind keine von anderer Hand begrabenen Körper! rief der Doctor aus, diese Unglücklichen hat der Tod überrascht, so wie wir sie hier finden.
– Sie haben ganz Recht, Herr Clawbonny, bestätigte Bell.
– Grabt weiter! Weiter!« trieb Hatteras. Bell wagte es kaum. Wer konnte wissen, wieviel Leichen wohl noch dieser Hügel barg!?
»Diese Leute sind demselben Unfall zum Opfer gefallen, der uns bedrohte, sagte der Doctor, ihr Schneehaus ist zusammengestürzt. Aber wir wollen nachsehen, ob Einer von ihnen noch athmet.«
Schnell wurde weiter abgeräumt, und Bell förderte auch noch einen dritten Körper heraus, einen Mann von etwa dreißig Jahren, der gar nicht so leichenähnlich aussah, wie die Andern; der Doctor beugte sich über ihn und glaubte noch einige Lebenszeichen wahrzunehmen.
»Er lebt! Er lebt!« rief er erfreut.
Mit Bell’s Hilfe schaffte er den Verunglückten in das Schneehaus, während Hatteras, unbeweglich wie immer, die zusammengestürzte Wohnstätte betrachtete.
Der Doctor entkleidete den Ausgegrabenen vollständig; er fand keine Wunde an ihm; er und Bell rieben ihn dann mit in Weingeist getauchten Bäuschen ab, und bald wurden Anzeichen des wiederkehrenden Lebens sichtbar. Der Unglückliche war aber in einem Zustande vollständiger Erschöpfung, und der Sprache vollkommen beraubt. Am Gaumen klebte seine Zunge wie angefroren. Der Doctor durchsuchte die Taschen in der Kleidung. Sie waren leer; kein Schriftstück fand sich. Er ließ Bell die Frictionen fortsetzen und wandte sich zu Hatteras. Dieser war indeß in das zerstörte Haus hineingestiegen, hatte den Erdboden sorgsam durchsucht und kam eben mit einem halb verbrannten Briefcouvert in der Hand wieder heraus. Auf diesem Papier waren nur noch lesbar die Worte:
. . . . . tamont | ||
. . . . . . orpoise | ||
w-York |
»Altamont! rief der Doctor aus, von dem Schiffe Porpoise! aus New-Jork!
– Ein Amerikaner! sagte Hatteras zusammenfahrend.
– Ich rette ihn! sagte der Doctor, ich gebe mein Wort darauf, und wir werden die Lösung dieses schrecklichen Räthsels finden.«
Er kehrte zu Altamont zurück, während Hatteras nachdenklich zurückblieb. Dank seiner Sorgfalt gelang es dem Doctor, den Erstarrten in’s Leben zurückzurufen, aber noch nicht zur Empfindung; dieser sah nicht, er hörte nicht, er sprach nicht, doch er lebte!
Am andern Morgen ging Hatteras den Doctor an:
»Es ist Zeit, daß wir aufbrechen, sagte er.
– Gewiß, erwiderte dieser, der Schlitten ist jetzt leicht; wir laden diesen Unglücklichen mit auf und führen ihn zum Schiffe.
– Meinetwegen, sagte Hatteras, aber erst noch die Todten begraben.«
Die beiden unbekannten Matrosen wurden wieder unter die Eistrümmer zurückgebracht, und Simpson’s Leiche nahm Altamont’s Stelle ein.
Mit einem stillen Gebete nahmen die drei Gefährten von ihrem hingeschiedenen Genossen Abschied, und um sieben Uhr Morgens traten sie den Rückweg nach dem Schiffe an.
Zwei der Zughunde waren verendet. Duk bot sich fast selbst an, mit zu ziehen, und that es mit dem Bewußtsein und der Entschlossenheit eines echten Grönländers.
Während der zwanzig Tage, vom 31. Januar bis 19. Februar, nahm die Rückreise so ziemlich denselben Verlauf, wie die Herreise. Nur bot das Eis im Februar, dem kältesten Monate, überall eine sichere Oberfläche; die Reisenden litten zwar schwer unter der ausnehmenden Kälte, blieben aber doch von Stürmen verschont.
Am 31. Januar war auch die Sonne zum ersten Male wieder sichtbar geworden; jeden Tag stieg sie weiter über den Horizont herauf. Bell und der Doctor, fast blind und halb hinkend, waren mit ihren Kräften zur Neige, ja der Zimmermann konnte nur noch auf Krücken gestützt wandern.
Altamont blieb bei Leben, aber in völliger Bewußtlosigkeit. Manchmal fürchtete man für ihn, aber umsichtige Pflege sicherte sein Wiederaufkommen. Und dabei hatte der brave Doctor mit sich selbst genug zu thun, denn seine eigene Gesundheit nahm zusehends ab.
Hatteras dachte an den Forward, an seine Brigg! Wie würde er sie wiederfinden? Was würde an Bord Alles geschehen sein? Wird Johnson dem Shandon und seinem Anhange haben widerstehen können? Ist die Kälte sehr arg gewesen? Sollte man das unglückliche Fahrzeug im Ofen geopfert haben? Waren die Masten und der Schiffsraum noch unversehrt?
Solche Gedanken im Kopfe ging Hatteras jetzt voraus, als hätte er seinen Forward schon aus der Ferne sehen wollen.
Am 24. Februar des Morgens blieb er plötzlich stehen, dreihundert Schritte vor ihm stieg ein röthlicher Schein auf, über den sich eine ungeheure Rauchsäule hinwälzte, die sich in den grauen Nebelmassen des Himmels verlor.
»Was bedeutet dieser Rauch? rief er entsetzt.
Das Herz schlug ihm so heftig, als wollt‘ es brechen.
»Da seht doch! Da unten, den Rauch! sagte er zu seinen zwei Genossen, die ihn nun eingeholt hatten, mein Schiff steht in Flammen!
– Aber wir sind noch mehr als drei Meilen davon, meinte Bell, das kann der Forward nicht sein.
– Und doch, er ist es, erwiderte der Doctor, das ist nur Wirkung der Luftspiegelung, der ihn uns so nahe erscheinen läßt.
– Eilen wir schnell!« rief Hatteras, der den beiden Andern vorauslief.
Diese ließen den Schlitten unter Duk’s Leitung und folgten so schnell sie konnten, dem Kapitän nach.
Eine Stunde später bekamen sie das Fahrzeug in Sicht. O schrecklicher Anblick! Mitten im Eise flammte die Brigg hoch auf; die Lohe ergriff schon die Schiffswände und der Südwind trug das Geprassel bis in Hatteras‘ Ohr.
Fünfhundert Schritte weit von ihnen stand ein einzelner Mensch, der verzweiflungsvoll die Hände rang; er stand still da, ohnmächtig gegenüber der Gluth, die den Forward verzehrte.
Er war allein, und dieser Einzige war der alte treue Johnson.
Hatteras rannte auf ihn zu.
»Mein Schiff! Mein Schiff! fragte er mit erregter Stimme.
– Sie sind es! Kapitän! erwiderte Johnson, halt, halt! Keinen Schritt weiter!
– Nun?! fragte Hatteras mit drohender Stimme.
– Die Schurken alle! sagte Johnson, haben vor achtundvierzig Stunden das Schiff verlassen und es vorher in Brand gesteckt!
– Verflucht!« rief Hatteras.
Dann donnerte eine furchtbare Explosion; die Erde zitterte, die Eisberge sanken nieder auf die Fläche und eine Rauchsäule schoß in die Wolken. Der Forward, dessen Pulverkammer in Brand gerathen war, verschwand in einem Flammenmeere.
In diesem Augenblicke erreichten der Doctor und Bell den Kapitän. Dieser, erst in Verzweiflung gesunken, richtete sich plötzlich auf.
»Meine Freunde, sagte er, die Feiglinge haben die Flucht ergriffen! Die Starken werden siegen! Sie, Bell und Johnson haben den Muth! Doctor, Ihnen gehört das Wissen, und ich, ich habe den Glauben und das Vertrauen! Da unten ist der Nordpol! An’s Werk also! An’s Werk!«
Die Genossen Hatteras‘ erstarkten wieder bei diesen männlichen Worten.
Und doch, die Lage dieser vier Menschen und des Halbtodten war furchtbar – verlassen ohne Hilfsmittel, verloren, allein unter dem 84. Grade nördlicher Breite, tief, tief drinnen in dem Reiche des ewigen Eises!
Ende des ersten Bandes.