Siebenundzwanzigstes Capitel.
Die große Weihnachtskälte.
Das war ein Moment zum Verzweifeln. Sterben, vor Kälte zu sterben, der Gedanke trat schauerlich vor die Seele; das letzte Stück Kohle brannte mit unheimlichem Knistern; bereits drohte das Feuer auszugehen, und die Temperatur des Saales fiel merklich. Aber Johnson holte nun einige Stücke des neuen Brennmaterials, das ihm die Seethiere geliefert hatten, und füllte damit den Ofen; er fügte Werg zu dem gefrorenen Oel, und bekam bald hinreichende Wärme. Der Geruch dieses Fettes war zwar unausstehlich; aber wie konnte man ihn los werden? Man mußte sich darein ergeben. Johnson gab selbst zu, daß sein Hilfsmittel etwas zu wünschen übrig lasse, und in den Bürgerhäusern Liverpools gar nicht anwendbar wäre.
Und doch, fügte er bei, führt dieser widerliche Geruch vielleicht noch anderes Gute herbei.
– Und was denn? fragte der Zimmermann.
– Ohne Zweifel wird er die Bären dieser Küste herbeilocken, denn sie sind auf diese Dünste erpicht.
– Gut, entgegnete Bell, und muß man denn Bären haben?
– Freund Bell, erwiderte Johnson, auf die Robben dürfen wir nicht mehr rechnen; sie sind für lange Zeit verschwunden; wenn die Bären nicht ihrer Seits zu dem Brennstoff ihren Beitrag liefern, weiß ich nicht, was aus uns werden soll.
– Du hast Recht, Johnson; unser Schicksal ist noch lange nicht gesichert; diese Lage ist zum Erschrecken. Und wenn diese Gattung Brennmaterial uns abgeht, seh‘ ich kein Mittel weiter …
– Es gäbe noch eins! …
– Noch eins? erwiderte Bell.
– Ja, Bell! Wenn es zum Verzweifeln ist… aber nie wird der Kapitän … Und doch, er muß vielleicht darauf kommen.«
Der alte Johnson schüttelte traurig den Kopf, und verfiel in stille Gedanken, woraus Bell ihn nicht reißen wollte. Er wußte, daß diese so mühsam erworbenen Stücke Fett trotz strengster Sparsamkeit nicht für acht Tage reichen würden.
Der Rüstmeister hatte sich nicht geirrt. Die stinkenden Dünste zogen einige Bären herbei; die noch gesunden Männer machten Jagd auf sie; aber diese Thiere sind mit einer merkwürdigen Schnelligkeit begabt, und mit einer Feinheit, woran alle Listen scheitern. Man konnte ihnen nicht mehr nahe kommen, und die geschicktesten Kugeln konnten sie nicht erreichen.
Die Mannschaft der Brigg war ernstlich in Gefahr, vor Kälte zu sterben. Es war unmöglich, achtundvierzig Stunden bei einer solchen Temperatur auszuhalten. Jeder sah mit Schrecken den Zeitpunkt herankommen, da man mit dem letzten Stück Kohle zu Ende sein werde.
Das war nun am 20. December, um drei Uhr Nachmittags, der Fall; das Feuer erlosch; die Matrosen um den Ofen herum sahen sich starr an. Hatteras rührte sich nicht in seiner Ecke; der Doctor ging, wie gewöhnlich, lebhaft hin und her; er wußte nicht mehr, worauf er sinnen sollte.
Die Temperatur fiel im Saal plötzlich auf sieben Grad unter Null (-22° hunderttheilig).
Aber wußte der Doctor nicht mehr, was anzufangen, so wußten es andere. Shandon, kalt und entschlossen, Pen mit zornigem Blick, und einige ihrer Kameraden, die sich noch fortschleppen konnten, traten zu Hatteras.
»Kapitän«, sagte Shandon.
Hatteras, in diese Gedanken verloren, hörte ihn nicht.
»Kapitän«, wiederholte Shandon, und rührte ihn mit der Hand an.
Hatteras richtete sich auf.
»Mein Herr, sagte er.
– Kapitän, wir haben kein Feuer mehr.
– Nun? erwiderte Hatteras.
– Ist Ihre Absicht, daß wir vor Kälte umkommen, fuhr Shandon ironisch fort, so setzen Sie uns gefälligst davon in Kenntniß.
– Meine Absicht, erwiderte Hatteras, geht dahin, daß Jeder seine Schuldigkeit thue bis an’s Ende.
– Es giebt etwas, was noch über die Schuldigkeit geht, Kapitän, nämlich das Recht der Selbsterhaltung. Ich wiederhole Ihnen, daß wir kein Feuer mehr haben, und wenn das so fortgeht, ist in zwei Tagen keiner von uns mehr am Leben!
– Ich habe kein Holz, erwiderte Hatteras dumpf.
– Ei nun! rief Pen mit Nachdruck, wenn man kein Holz mehr hat, holt man sich’s, wo man es findet.«
Hatteras erblaßte vor Zorn.
»Wo meint Ihr? sagte er.
– An Bord, erwiderte unverschämt der Matrose.
– An Bord! wiederholte der Kapitän, mit geballter Faust und funkelnden Augen.
– Allerdings, erwiderte Pen, wenn das Schiff nicht mehr taugt, seine Mannschaft zu tragen, verbrennt man’s.«
Als Pen diesen Satz anfing, ergriff Hatteras ein Beil und schwang es dem Pen über den Kopf.
»Elender!« rief er.
Der Doctor stürzte dazwischen und drängte Pen zurück; das Beil fiel zu Boden. Johnson, Bell, Simpson umgaben ihn, schienen zu seinem Beistand entschlossen.
Aber kläglich jammernde Stimmen hörte man von den Krankenlagern.
»Feuer! Feuer!« riefen die unglücklichen Kranken, denen die Kälte unter ihre Decken drang.
Hatteras sprach, nach einer kleinen Pause, mit ruhigem Ton:
»Wenn wir unser Schiff zerstören, wie kommen wir wieder nach England?
– Mein Herr, erwiderte Johnson, man könnte vielleicht ohne Nachtheil die weniger nutzbaren Theile verbrennen, das Plattbord, die Geländer …
– Es blieben uns immer noch die Schaluppen, fuhr Shandon fort; und dann, wer hinderte uns, ein anderes kleineres aus den Trümmern des alten zu zimmern? …
– Niemals! erwiderte Hatteras.
– Aber … riefen mehrere Matrosen laut …
– Wir haben Weingeist in großer Menge, erwiderte Hatteras, den verbrennt bis zum letzten Tropfen.
– Nun, Weingeist geht an!« erwiderte Johnson, mit geheucheltem Vertrauen.
Und mit breiten Dochten, die man mit dieser Flüssigkeit tränkte und in den Ofen steckte, vermochte man die Temperatur des Saales um einige Grad zu erhöhen.
Während der folgenden Tage schlug der Wind um, das Thermometer stieg wieder; der Schnee wirbelte in minder strenger Luft. Einige der Leute konnten in den nicht so feuchten Tagesstunden das Schiff verlassen; aber Augenleiden und Scorbut hielten die meisten derselben an Bord; zudem waren weder Jagd noch Fischfang möglich.
Übrigens war es nur eine Unterbrechung der argen Kälte, und als am 25. der Wind unversehens wieder umschlug, gefror das Quecksilber abermals; man griff zum Weingeistthermometer, da diese Flüssigkeit bei ärgster Kälte nicht gefriert.
Der Doctor fand mit Schrecken sechsundsechzig Grad unter Null (-54° hunderttheilig), eine Kälte, die kaum jemals Menschen zu bestehen hatten.
Das Eis verbreitete sich in langen trüben Spiegeln auf dem Fußboden; dichter Nebel durchdrang den Saal; die Feuchtigkeit sank als dichter Schnee nieder; man konnte sich nicht mehr sehen; im menschlichen Körper zog sich die Wärme von den äußeren Theilen zurück; Füße und Hände wurden blau; der Kopf war wie mit eisernem Reif umspannt, und der verwirrte Gedanke nahte dem Wahnsinn. Erschreckliches Symptom: die Zunge vermochte nicht mehr ein Wort deutlich hervorzubringen.
Seit dem Tage, da man Hatteras drohte sein Schiff zu verbrennen, trieb er sich Stunden lang auf dem Verdeck herum, dasselbe zu überwachen, zu hüten. Dies Holz war ihm so werth, wie sein eigen Fleisch; hieb man ein Stück davon ab, so schnitt man ihm ein Glied vom Leibe. Mit der Waffe in der Hand hielt er Wache, unempfindlich gegen Kälte, Schnee, Eis; seine Kleider wurden steif, als stecke er in einem Panzer von Granit. Duk verstand ihn, und leistete ihm Gesellschaft mit Bellen und Heulen.
Doch am 25. December, als er in den gemeinschaftlichen Saal hinab kam, nahm der Doctor den Rest seiner Energie zusammen und ging stracks auf ihn zu.
»Hatteras, sprach er, wir kommen um aus Mangel an Feuer.
– Niemals! sagte Hatteras, der wohl wußte, worauf er abzielte.
– Es ist dringend nöthig, fuhr der Doctor leise fort.
– Niemals, fuhr Hatteras mit Nachdruck fort, ich gebe nie meine Einwilligung dazu! Thu man’s wider meinen Willen, wenn man will!«
Damit war Freiheit zu handeln gegeben. Johnson und Bell stürzten auf’s Verdeck. Hatteras hörte das Holz seiner Brigg unter Beilhieben krachen; es traten ihm Thränen in die Augen.
Es war eben Weihnachten, das Familienfest, die Kinderfreude in England um den grünen Baum herum. Hier aber Schmerz, Verzweiflung, Jammer im höchsten Grad, und zum Weihnachtsscheit diese Stücke Holz von dem in eisiger Zone verlorenen Schiff.
Inzwischen kam in Folge des Feuers den Matrosen Empfindung und Geisteskraft wieder; heißer Thee oder Kaffee bewirkten augenblickliches Wohlbehagen, und die Hoffnung haftet so fest im Geist, daß man wieder Hoffnung faßte. Mit solchen Gegensätzen schloß dieses unselige Jahr 1860, dessen vorzeitiger Winter die kühnen Pläne Hatteras‘ vereitelte.
Nun begab sich gerade am 1. Januar 1861 eine ganz unerwartete Entdeckung. Es war etwas weniger kalt; der Doctor hatte seine Studien wieder vorgenommen und las die Berichte Sir Edward Belcher’s über seine Expedition in die Polarmeere. Plötzlich traf er mit Erstaunen auf eine bisher nicht bemerkte Stelle; er las sie wiederholt; sie war nicht mißzuverstehen.
Sir Edward Belcher erzählte, er habe am Ende des Canals der Königin wichtige Spuren eines Aufenthalts von Menschen entdeckt.
»Es sind, sagte er, Reste von Wohnungen, die weit besser sind, als Alles, was man den herumstreifenden Eskimostämmen zuschreiben kann. Ihre Wände stehen fest im tief aufgegrabenen Boden; der mit schönem Kies bedeckte Fußboden im Innern war gepflastert. Gebeine von Rennthieren, Seekühen, Robben sieht man da in Menge. Wir trafen auch Kohlen an.«
Bei diesen letzten Worten kam dem Doctor ein Gedanke; er nahm sein Buch und theilte es Hatteras mit.
»Kohlen! rief dieser aus.
– Ja, Hatteras, Kohlen; das will heißen unsere Rettung.
– Kohlen! an dieser unbewohnten Küste! fuhr Hatteras fort. Nein, das ist nicht möglich!
– Weshalb daran zweifeln, Hatteras? Belcher hätte von so einer Thatsache nicht gesprochen, ohne mit eigenen Augen gesehen zu haben.
– Nun, demnach, Doctor?
– Wir sind keine hundert Meilen von der Küste entfernt, wo Belcher die Kohlen sah! Was will ein Ausflug von hundert Meilen bedeuten? Nichts. Man hat oft über’s Eis hin weit größere Untersuchungsfahrten, und bei ebenso hoher Kälte gemacht. Also wollen wir uns auf den Weg machen, Kapitän!
– Wir wollen hin!« rief Hatteras, der sich schnell entschloß, und mit beweglicher Phantasie sah er darin Aussicht auf Rettung.
Johnson wurde sogleich von diesem Entschluß in Kenntniß gesetzt, und billigte ganz das Vorhaben; er theilte es seinen Kameraden mit; die einen nahmen es beifällig auf, die anderen mit Gleichgültigkeit.
»Kohlen an jenen Küsten! sagte Wall aus seinem Schmerzenslager heraus.
– Lassen wir sie nur gewähren«, erwiderte Shandon geheimnißvoll.
Aber ehe noch die Vorbereitungen zur Reise gemacht wurden, fand Hatteras für gut, die Lage des Forward auf’s Genaueste festzustellen. Die Wichtigkeit dieser Berechnung ist leicht erklärlich, und weshalb man diese Lage mathematisch genau kennen mußte. War man einmal vom Schiff entfernt, so konnte man es ohne sehr genaue Angaben nicht wieder finden.
Hatteras begab sich also auf’s Verdeck, und nahm zu verschiedenen Malen mehrere Mond-Abstände und die Meridianhöhe der hauptsächlichen Sterne auf.
Diese Beobachtungen boten ernstliche Schwierigkeiten dar, denn bei dieser niederen Temperatur wurden die Spiegel der Instrumente von Hatteras‘ Athem mit einer Eisschichte bedeckt.
Doch gelang es ihm, sehr genaue Grundlagen für seine Berechnungen zu bekommen und er kam in den Saal zurück, seine Rechnung anzustellen. Als er damit fertig war, richtete er mit Staunen den Kopf auf, nahm seine Karte, notirte sein Ergebniß und sah den Doctor an.
»Nun? fragte dieser.
– Unter welcher Breite befanden wir uns beim Anfang unsers Winterlagers?
– Unter achtundsiebenzig Grad fünfzig Minuten Breite, und fünfundneunzig Grad fünfunddreißig Minuten Länge, gerade am Kältepol.
– Dann, fügte Hatteras leise bei, treibt unser Eisfeld! Wir befinden uns eben zwei Grad weiter nördlich und weiter nach Westen, wenigstens dreihundert Meilen von Ihrer Kohlenniederlage entfernt!
– Und diese Unglücklichen wissen’s nicht! … rief der Doctor.
– Stille!« sagte Hatteras und hielt den Finger auf seine Lippen.