Dreizehntes Kapitel.
Die drei nächsten Tage.
Welche Erbitterung sich Kongres, Carcantes und der Übrigen jetzt bemächtigt hatte, kann man sich ja leicht vorstellen. Gerade in dem Augenblicke, wo sie die Insel für immer verlassen wollten, mußte das an einem unerwarteten Hindernisse scheitern! Und jetzt konnte der Aviso schon binnen vier bis fünf Tagen vor der Einfahrt zur Elgorbucht erscheinen. Wären die Havarien der Goelette weniger schwer gewesen, so hätte Kongre jedenfalls nicht gezaudert, einen andern Ankerplatz aufzusuchen, zum Beispiel den Hafen Sankt-Johann, der an der Rückseite des Kaps ziemlich tief in die Nordküste der Insel einschneidet. Bei dem tatsächlichen Zustande des Fahrzeugs wäre es aber eine unverantwortliche Torheit gewesen, die Fahrt dahin unternehmen zu wollen. Das Schiff wäre untergegangen, ehe es nur die Höhe des Kapausläufers erreichte. Auf dem Teile der Fahrt, der mit vollem Rückenwind hätte zurückgelegt werden müssen, käme das Schiff jedenfalls in starkes Rollen von einer Seite zur andern, und dabei hätte es sich unzweifelhaft mit Wasser gefüllt, mindestens wäre seine Fracht unwiderbringlich verloren gewesen.
Es blieb also nichts weiter übrig, als nach dem Landeinschnitte beim Leuchtturm zurückzukehren, und Kongre tat klug daran, sich dazu zu entschließen.
Die folgende Nacht, wo an Bord kaum jemand schlief, mußte die Mannschaft Wache beziehen, und jede Minute aufmerksam Umschau halten. Wer konnte wissen, ob nicht noch ein neuer Angriff erfolgte?… Ob vielleicht eine zahlreiche, der Bande Kongres überlegene Truppe an einer andern Stelle der Insel gelandet wäre?… Ob die Anwesenheit dieser Räuberrotte nicht schließlich in Buenos-Ayres bekannt geworden wäre und die argentinische Regierung beschlossen hätte, die Übeltäter zu vernichten?
Auf dem Hinterdeck sitzend, besprachen Kongre und Carcante diese Möglichkeiten, wobei eigentlich nur der zweite das Wort führte, da Kongre viel zu sehr in Nachsinnen versunken war, als daß er anders als mit einer kurzen Gegenrede hätte antworten können.
Carcante hatte dabei gleich zu Anfang die Vermutung ausgesprochen, daß nach der Stateninsel Soldaten zur Verfolgung Kongres und seiner Gefährten abgesandt worden wären. Nahm man jedoch an, daß niemand von seiner (Kongres) Landung hier gewußt hätte, so würde eine regelrechte Truppe schwerlich in der Weise, wie es geschehen war, vorgegangen sein. Sie wäre zu einem offnen Angriff übergegangen, oder wenn es an Zeit zu einem solchen fehlte, hätte sie eine Anzahl Boote am Eingange der Bucht zurückgelassen, die der Goelette aufgelauert und sich dieser noch am nämlichen Abend entweder mit offner Gewalt bemächtigt oder sie doch gehindert hätten, ihre Fahrt fortzusetzen. Jedenfalls würde eine Soldatenabteilung sich nicht nach einer Art Scharmützel hinter Erdwällen verkrochen haben, wie die unbekannten Angreifer, deren Vorsicht auf ihre Schwäche schließen ließ. Carcante gab seine erste Vermutung also auf und schloß sich der an, die Vargas ausgesprochen hatte.
»Ja… die, welche die Schüsse abgegeben haben, bezweckten zweifellos nur, die Goelette an der Abfahrt von der Insel zu hindern, und wenn es sich um mehrere handelt, so sind das Leute, die den Schiffbruch der ‚Century‘ überlebt haben. Dann haben sie wahrscheinlich den Turmwärter getroffen und von ihm gehört, daß der Aviso nun bald ankommen müsse. Die benutzte Kanone ist eine Trift, die sie gefunden und aufs Land hinaufgeschafft haben.
– Noch ist der Aviso nicht zur Stelle, sagte Kongre mit vor Wut zitternder Stimme. Ehe er eintrifft, wird die Goelette weit weg sein.«
Wirklich war es, selbst angenommen, daß der Wärter Schiffbrüchige von der ‚Century‘ gefunden hatte, höchst unwahrscheinlich, daß es deren mehr als höchstens zwei bis drei Mann gewesen wären. Wie hätte man glauben können, daß bei einem so gewaltigen Sturm noch mehr hätten ihr Leben retten können? Was vermochte aber eine solche Handvoll Leute gegen eine zahlreiche und wohlbewaffnete Bande auszurichten! Nach Ausbesserung ihrer Schäden würde die Goelette einfach wieder unter Segel gehen, sich dabei aber auf der Fahrt nach dem offnen Meere in der Mitte der Bucht halten. Was vorher einmal möglich gewesen war, würde sich dann nicht wiederholen können.
Alles war also nur eine Frage der Zeit: wie viel Tage würde die Reparatur der neuen Havarie beanspruchen?
Im Laufe der Nacht kam es zu keiner Störung, und am nächsten Tage ging die Mannschaft an die Arbeit.
Zunächst galt es da, die Ladung im Frachtraume, die an der Backbordwand anlag, wegzuschaffen, und es bedurfte nicht weniger als eines halben Tages, die große Menge von Gegenständen auf dem Deck niederzulegen. Eine weitere Entladung machte sich ebensowenig nötig, wie ein Überholen der Goelette auf die Sandbank. Die Kugellöcher befanden sich ein wenig über der Schwimmlinie, und es gelang jedenfalls, sie von einem darunter festgelegten Boote aus ohne besondre Mühe zu verschließen. Freilich kam hierbei viel darauf an, ob von den Geschossen auch die Rippen des Fahrzeugs beschädigt worden waren oder nicht.
Kongre und der Zimmermann begaben sich also in den Frachtraum hinunter und bei einer sorgfältigen Untersuchung fanden sie folgendes:
Die beiden Kugeln hatten nur die Beplankung getroffen und diese fast in gleicher Höhe durchschlagen. Sie fanden sich auch wieder, als man noch einige Frachtstücke entfernte. Die benachbarten Spanten waren davon nur gestreift, in ihrer Haltbarkeit aber nicht beeinträchtigt worden. Die zwei bis drei Fuß voneinander entfernten Löcher hatten so glatte Ränder, als wären sie mit einer Säge herausgeschnitten Sie mußten sich mit Zapfen verschließen lassen, die von mehreren zwischen den Spanten eingeschalteten Holzstücken gehalten werden sollten, während man an der Außenseite noch eine Planke darüber zu legen gedachte.
Alles in allem waren das keine besonders schweren Havarien Sie hatten mit dem guten Zustande des Rumpfes kaum etwas zu tun und sollten jedenfalls in kurzer Zeit ausgebessert sein.
»Wann denn? fragte Kongre.
– Ich werde zuerst die querlaufenden Innenhölzer zurechtmachen, und die würden noch diesen Abend eingesetzt werden können, antwortete Vargas.
– Und die Verschlußzapfen?
– Die fertige ich morgen früh an, so daß wir sie noch am Nachmittag an Ort und Stelle eintreiben können.
– Dann könnten wir am Abend also die Fracht wieder verstauen und übermorgen früh abfahren?
– Jedenfalls,« versicherte der Zimmermann.
Hiernach sollten für die Reparaturen also sechzig Stunden ausreichen, und die Abfahrt der ‚Carcante‘ würde sich nur um zwei Tage verzögern.
Carcante fragte dann Kongre, ob er, am nächsten Morgen oder Nachmittage, nicht gewillt wäre, sich nach dem Kap Sankt-Johann zu begeben…
»Um sich einmal davon zu überzeugen, wie es dort aussieht, sagte er.
– Was sollte das nützen? erwiderte Kongre. Wir wissen ja gar nicht, mit wem wir es dort zu tun bekämen. Wir müßten in größrer Zahl, wenigstens zu zehn bis zwölf Mann, dahin gehen und könnten folglich nur zwei oder drei Mann zur Bewachung der Goelette zurücklassen. Wer weiß aber, was sich während unsrer Abwesenheit ereignen könnte?
– Das ist ja richtig, stimmte ihm Carcante zu, und was würden wir überdies dabei gewinnen? Mögen die Burschen, die auf uns geschossen haben, sich irgendwo anders aufbaumeln lassen! Für uns ist es das Wichtigste, die Insel zu verlassen, und zwar so schnell wie möglich.
– Übermorgen früh schwimmen wir draußen auf dem Meere,« erklärte Kongre mit voller Zuversicht.
Danach war also alle Aussicht vorhanden, daß von dem erst nach mehreren Tagen fälligen Aviso vor der Abfahrt nichts zu sehen sein werde.
Hätten sich Kongre und seine Gefährten übrigens nach dem Kap Sankt-Johann begeben, so würden sie doch keine Spur von Vasquez und John Davis gefunden haben.
Dort war es wie folgt zugegangen:
Der Nachmittag des vorigen Tages hatte beide bis zum Abend beschäftigt, den von John Davis ausgegangenen Vorschlag auszuführen. Der für die Aufstellung der Karonade gewählte Platz lag unmittelbar an der Ecke des Steilufers. Zwischen Felsblöcken, die neben diesem verstreut lagen, konnten Vasquez und John Davis die Lafette bequem aufstellen, eine Arbeit, die leicht auszuführen war. Viele Mühe machte es dagegen, das Geschützrohr ebendahin zu schleppen. Es mußte erst auf dem Ufersande hingezogen, dann aber über eine von Felsenköpfen durchbrochene Strecke befördert werden, wo es nicht mehr weitergezogen werden konnte. Hier blieb nichts andres übrig, als es mit Hebeln immer und immer wieder emporzuheben, was natürlich Zeit und Anstrengung kostete.
So war es fast sechs Uhr geworden, als das Rohr endlich auf seiner Lafette lag und nun nach dem Buchteingange gerichtet werden konnte.
John Davis begann darauf mit der Ladung und steckte eine große Kartusche hinein, die mit einem Bündel trocknen Werges festgestopft wurde, über das endlich die Kugel zu sitzen kam. Dann wurde das Zündloch des Geschützes mit einer Lunte versehen, die nur angezündet zu werden brauchte, zu beliebiger Zeit den Schuß abzugeben.
Da sagte John Davis noch zu Vasquez:
»Ich habe mir reiflich überlegt, was wir zu tun haben. Es kann uns nicht darauf ankommen, die Goelette in den Grund zu bohren. Alle die Schurken darauf würden doch wohl das Ufer erreichen, und wir könnten ihnen vielleicht nicht entgehen. Nein, die Hauptsache bleibt es, die Goelette zur Rückkehr auf den frühern Ankerplatz zu zwingen und sie dort zur Ausbesserung ihrer Beschädigungen einige Tage zurückzuhalten.
– Gewiß, meinte Vasquez, doch ein Kanonenkugelloch kann an einem Vormittag schon wieder verschlossen werden.
– Nein, entgegnete John Davis, in diesem Falle deshalb nicht, weil sie genötigt sein werden, ihre Fracht umzuladen. Das dauert meiner Schätzung nach allein mindestens achtundvierzig Stunden, und heute haben wir den achtundzwanzigsten Februar.
– Wenn der Aviso aber nun erst in einer Woche eintrifft, wendete Vasquez ein, wäre es da nicht besser, auf die Maste und die Takelage als auf den Schiffsrumpf zu schießen?
– Ganz recht, Vasquez; ihres Fock- oder ihres Großmastes beraubt – ich sehe nicht, wie sie dafür Ersatz schaffen könnten – würde die Goelette sehr lange zurückgehalten werden. Leider ist es nur weit schwieriger, einen Mast zu treffen, als einen Schiffsrumpf, und unsre Kugeln dürfen vor allem nicht fehlgehen.
– Ja freilich, antwortete Vasquez, und obendrein werden die Schurken erst mit der Ebbe am Abend abfahren, und dann wird es nicht mehr besonders hell sein. Tut also nur euer Bestes, Davis.«
Nachdem nun alles vorbereitet war, hatten Vasquez und sein Gefährte nur noch zu warten, und so setzten sie sich zur Seite des Geschützes nieder, bereit, Feuer zu geben, sobald die Goelette vorübersegelte.
Der Erfolg dieser Kanonade und der Zustand, in dem die ‚Carcante‘ ihren Ankerplatz wieder aufsuchen mußte, ist dem Leser ja schon bekannt. Vasquez und John Davis verließen die Stelle des Angriffs auch nicht eher, als bis sie das Fahrzeug hatten hinten in der Bucht verschwinden sehen.
Dann gebot ihnen aber die Klugheit, einen Zufluchtsort anderswo auf der Insel zu suchen.
Wie Vasquez sagte, lag ja die Wahrscheinlichkeit nahe, daß Kongre mit einem Teile seiner Leute nach dem Kap Sankt-Johann käme. Vielleicht wollten sie die Verfolgung der unbekannten Angreifer aufnehmen.
Ihr Entschluß war bald gefaßt: sie wollten die Höhle verlassen und an der Küste ein oder zwei Meilen weiterhin ein neues, so gelegenes Versteck suchen, daß sie von ihm aus jedes von Norden kommende Schiff bemerken könnten. Wenn die ›Santa-Fé‹ auftauchte, wollten sie ihr Signale geben, nachdem sie zum Kap Sankt-Johann zurückgeeilt wären. Dann schickte der Kommandant Lafayate jedenfalls ein Boot ab, nahm sie an Bord und er sollte sofort über die Lage der Dinge unterrichtet werden… eine Lage, die nun endlich geklärt werden würde, ob die Goelette nun zu dieser Zeit sich noch in dem kleinen Landeinschnitt befand, oder ob sie – was ja leider möglich war – schon das offne Meer erreicht hatte.
»Gebe Gott, daß ihr das nicht gelingt!« riefen John Davis und Vasquez wiederholt.
Mitten in der Nacht brachen sie auf und nahmen einigen Mundvorrat, ihre Waffen und das noch vorhandne Pulver mit. Sechs Meilen weit auf dem Wege um den Hafen Sankt-Johann folgten sie dem Ufer des Meeres. Nach mehrfachen Nachsuchungen entdeckten sie endlich an der andern Seite dieses Golfs eine Aushöhlung, die geeignet erschien, ihnen bis zur Ankunft des Avisos Schutz zu gewähren.
Gelang es der Goelette, noch vorher abzufahren, so konnten sie ja noch immer nach der früher bewohnten Höhle zurückkehren.
Den ganzen Tag über beobachteten Vasquez und John Davis das Meer vor ihnen. Die ganze Zeit, wo die Flut anstieg, wußten sie, daß die Goelette nicht absegeln konnte, und fühlten sich darüber also beruhigt. Sobald aber der Ebbestrom einsetzte, befiel sie die Furcht, daß die Reparaturen vielleicht schon in der Nacht vollendet worden sein könnten, dann verzögerte Kongre die Abfahrt gewiß nicht länger, nicht um eine Stunde, wenn er glaubte, absegeln zu können. Mußte er nicht besorgen, die ›Santa-Fé‹ erscheinen zu sehen, deren Ankunft John Davis und Vasquez so sehnlich herbeiwünschten?
Gleichzeitig behielten diese Beiden auch das Ufergelände im Auge, doch weder Kongre noch einer seiner Spießgesellen ließ sich blicken.
Wir wissen ja, daß Kongre sich dafür entschieden hatte, keine Zeit mit Nachsuchungen zu verlieren, die wahrscheinlich doch nutzlos wären. Die Arbeit zu beschleunigen, die Reparaturen in möglichst kurzer Zeit ausführen zu lassen, das war seine Hauptaufgabe, die er auch nicht versäumte. Wie der Zimmermann Vargas gesagt hatte, wurde das neue Holzstück am Nachmittag zwischen die Innenhölzer eingefügt. Am nächsten Tage sollten, wie er versprochen hatte, die Zapfen zugearbeitet und in den Löchern befestigt werden.
Vasquez und John Davis wurden also am 1. März durch nichts aus ihrer Ruhe gestört; doch wie unendlich lang erschien ihnen dieser Tag.
Am Abend zogen sie sich, nachdem sie immer nach der Goelette ausgespäht und sich überzeugt hatten, daß diese noch auf ihrem Ankerplatze liegen müsse, in die Höhle zurück, wo sie bald in einen sanften, erquickenden Schlummer fielen, den sie gar sehr brauchten.
Am nächsten Tage waren sie schon mit dem Morgengrauen auf den Füßen.
Ihre ersten Blicke richteten sich hinaus nach dem Meere.
Kein Schiff war in Sicht. Die ›Santa-Fé‹ erschien nicht, und keine Rauchfahne zeigte sich am Horizonte.
Sollte die Goelette nun mit dem Gezeitenwechsel in See stechen? Schon machte sich die Ebbe bemerkbar. Wenn das Räuberschiff sie benutzte, konnte es binnen einer Stunde das Kap Sankt-Johann umsegelt haben…
An eine Wiederholung des gestrigen Handstreichs konnte John Davis gar nicht denken. Kongre würde schon auf seiner Hut sein und einen vom Ufer so entfernten Kurs steuern, daß die Kugeln ihn nicht erreichen konnten.
Es ist wohl leicht verständlich, welche Ungeduld, welche Unruhe John Davis und Vasquez bis zum Ablauf der Ebbe erfüllte. Endlich, gegen sieben Uhr machte sich die Flut bemerkbar… nun konnte Kongre bis zur nächsten Ebbe am Abend nicht abfahren.
Das Wetter war schön, der wieder umgeschlagene Wind wehte jetzt aus Nordosten. Das Meer hatte sich nach dem letzten Sturme wieder geglättet. Die Sonne strahlte glänzend zwischen leichten, hohen Wolken, an die die Brise nicht hinausreichte.
Noch ein nicht enden wollender Tag für Vasquez und John Davis; ebenso wie der gestrige ohne jeden Zwischenfall. Die Bande hatte die kleine Einbuchtung nicht verlassen. Daß sich einer der Raubgesellen am Vor- oder am Nachmittage von da entfernte, hatte wenig Wahrscheinlichkeit für sich.
»Das beweist, daß die Burschen alle bei ihrer Arbeit sind, sagte Vasquez.
– Jawohl, sie beeilen sich damit, antwortete John Davis. Die Kugellöcher werden bald genug geschlossen sein, und dann hält sie nichts mehr zurück.
– Und vielleicht… noch diesen Abend… trotz des späten Eintritts der Ebbe, bemerkte Vasquez. Freilich, diese Bucht ist ihnen ja gründlich bekannt; sie bedürfen keines Feuers zu ihrer Beleuchtung; sind ja schon letzte Nacht tief hineingefahren. Wollen sie in der nächsten Nacht hinaussteuern… ihre Goelette wird sie schon sicher hinaustragen. Ach, welches Unglück, schloß er halb verzweifelt, daß ihr das Räuberschiff nicht entmastet habt?
– Ja, was denkt ihr denn, Vasquez, gab Davis zur Antwort, wir haben doch alles getan, was in unsrer Macht stand. Gott der Herr möge das Übrige tun.
– Wir werden ihm aber helfen!« murmelte Vasquez, der plötzlich einen kühnen Entschluß gefaßt zu haben schien, mehr zwischen den Zähnen vor sich hin.
Eine Beute seiner Gedanken, ging John Davis, die Augen nach Norden gerichtet, auf dem Strande hin und her. Nichts am Horizonte… nichts!
Plötzlich blieb er stehen. Dann trat er an seinen Gefährten heran und sagte: »Hört, Vasquez, wenn wir nun einmal fortgingen, zu sehen, was die da unten machen?
– Nach dem Hintergrunde der Bucht, Davis?
– Ja… da sähen wir doch, ob die Ausbesserung vollendet und die Goelette segelklar ist.
– Und wozu sollte uns das dienen?
– O, zu wissen, wie die Sache steht, Vasquez. Ich brenne vor Ungeduld… ich kann mich nicht mehr beherrschen… mein Verlangen ist stärker als ich!«
Und wahrlich, der Obersteuermann der ‚Century‘ war nicht mehr Herr seiner selbst.
»Wie weit ist es von hier bis zum Leuchtturm, Vasquez? fuhr er fort.
– Höchstens drei Seemeilen, wenn man über die Hügel in gerader Linie nach dem Hintergrunde der Bucht geht.
– Nun denn… so werde ich gehen, Vasquez. Gegen vier Uhr mache ich mich auf den Weg… vor sechs Uhr kann ich am Ziele sein… dort schleiche ich mich vor, so weit wie möglich. Wohl dürfte es noch heller Tag sein… doch mich soll niemand sehen… aber ich… ich werde sehen, was ich brauche!«
Es wäre vergeblich gewesen, John Davis abzureden. Vasquez versuchte es auch gar nicht erst, und als sein Gefährte zu ihm sagte:
»Ihr bleibt inzwischen hier und behaltet das Meer im Auge. Am Abend bin ich zurück. Ich gehe allein!… antwortete er entschlossen.
– Nein, ich begleite euch, Davis. Auch ich werde gar nicht böse darüber sein, einmal wieder in die Nähe des Leuchtturms zu kommen.«
Die Sache war hiermit entschieden und sollte ausgeführt werden.
In den wenigen Stunden, die bis zur Zeit des Aufbruchs noch verlaufen sollten, verblieb Vasquez, der seinen Gefährten auf dem Strande allein ließ, in der Höhle, die ihnen als Zufluchtsort gedient hatte, und nahm hier recht geheimnisvolle Dinge vor. Der Obersteuermann von der ‚Century‘ überraschte ihn einmal dabei, als er im Begriff war, sein großes Messer an einer Felsenkante sorgsam zu schärfen, und ein andermal, als er ein Hemd in Streifen zerriß, aus denen er nachher eine Art Schlinge herstellte.
Auf die an ihn darüber gerichteten Fragen gab Vasquez nur ausweichende Antworten und versicherte, er werde sich, wenn es Abend würde, über sein Verhalten deutlicher aussprechen. John Davis drang auch nicht weiter in ihn.
Um vier Uhr machten sich beide, mit ihren Revolvern bewaffnet, auf den Weg, nachdem sie noch etwas Schiffszwieback und ein Stück Corned-beef gegessen hatten.
Eine enge Schlucht erleichterte ihnen das Ersteigen der Hügel, deren Kamm sie ohne große Anstrengung erreichten.
Vor ihnen dehnte sich hier eine dürre, nur da und dort mit einzelnen Sauerdornbüschen bestandne Hochebene aus… nicht ein einziger Baum so weit das Auge reichte. In Scharen nach Süden fliehend, flogen einige schreiende und kreischende Seevögel über die Einöde hin.
Was die einzuhaltende Richtung, den hintern Teil der Elgorbucht zu erreichen, anging, so ergab diese sich ganz von selbst.
»Dort!« sagte Vasquez und wies dabei nach dem Leuchtturm, der sich etwa in der Entfernung von zwei Meilen erhob.
»Also vorwärts!« antwortete John Davis.
Beide schritten nun schnell dahin. Eine gewisse Vorsicht zu beobachten, hatten sie ja erst nötig, wenn sie dem Landeinschnitte näher kamen. Erst nach einem halbstündigen Gewaltmarsche hielten sie schwer atmend einmal inne, von Müdigkeit verspürten sie aber nichts. Jetzt hatten die Wandrer noch eine halbe Seemeile zurückzulegen, und nun hieß es, etwas vorsichtig sein für den Fall, daß Kongre oder einer seiner Leute, um nach allen Seiten zu spähen, auf der Turmgalerie gewesen wäre. In dieser nur mäßigen Entfernung konnten sie recht gut bemerkt worden sein.
Bei dem hellen Wetter war die Galerie deutlich sichtbar. Darauf befand sich in diesem Augenblicke zwar niemand, Carcante oder einer der andern hielt sich vielleicht aber im Wachzimmer auf, von wo aus man durch die schmalen, nach den Haupthimmelsgegenden gerichteten Fenster die Insel in weitem Umkreise übersehen konnte.
John Davis und Vasquez schlüpften zwischen den hier in chaotischer Unordnung zerstreuten Felsblöcken hin. Sie sprangen schnell von einem zum andern oder krochen sogar weiter, wenn eine größre offne Stelle zu überschreiten war. Auf dem letzten Teile des Weges kamen sie deshalb auch nur langsam vorwärts.
Fast sechs Uhr war es, als sie den Rand der Hügel erreichten, die den Landeinschnitt einrahmten. Jetzt richteten sie die Blicke nach diesem hinunter.
Es war kaum möglich, daß sie hier gesehen werden konnten, wenn nicht einer von der Bande selbst den Hügel erstieg, wo sie sich befanden. Selbst von der Höhe des Leuchtturms aus konnten sie nicht entdeckt werden, so gut waren sie durch die Felsmassen der Umgebung gedeckt.
Da lag die Goelette, in dem Landeinschnitte schwimmend, vor ihnen, Masten und Rahen in bester Ordnung und die sonstige Takelage in tadellosem Zustande. Die Mannschaft war beschäftigt, den Teil der Ladung, der einstweilen auf dem Deck niedergelegt worden war, wieder im Frachtraume unterzubringen. Am Hinterteile schaukelte das von seinem Seile gehaltene Boot, und da es nicht mehr dicht an der Backbordsverplankung anlag, wies das darauf hin, daß die Arbeiten beendigt, die Kugellöcher wieder dicht verschlossen waren.
»Sie sind seeklar, murmelte John Davis, der mit Mühe einen sich ihm aufdrängenden Zornesausdruck zurückhielt.
– Ja, wer weiß, ob sie nicht noch vor dem Eintritt der Ebbe, vielleicht in zwei bis drei Stunden, abzufahren denken.
– Und nichts dagegen tun zu können… nichts!« murrte John Davis.
Der Zimmermann Vargas hatte richtig Wort gehalten; seine Arbeit war schnell und gut beendet worden. Von der Havarie sah man keine Spur mehr, die beiden Tage hatten hingereicht, jede Andeutung daran zu verwischen. Lag die Fracht wieder an Ort und Stelle und waren die Luken geschlossen, so war die ‚Carcante‘ nach allen Seiten fertig, wieder abzufahren.
Inzwischen verflossen die Stunden, die Sonne sank allmählich und verschwand endlich ganz; es wurde Nacht, ohne daß irgend ein Anzeichen darauf hingedeutet hätte, daß die Goelette vielleicht in der nächsten Zeit absegeln sollte. In ihrem Versteck hörten John Davis und Vasquez allerlei Laute, die von der Bucht bis zu ihnen hinauf schallten. Da vernahmen sie lautes Lachen, Geschrei, lästerliche Flüche und das Knarren der Warenpacken, die über das Deck hin geschleift wurden. Gegen zehn Uhr vernahm man deutlich das Zudecken einer Luke. Dann wurde es still.
Voll ängstlicher Spannung warteten Davis und Vasquez noch länger. Die Arbeiten waren beendigt… offenbar kam der Augenblick der Abfahrt heran. Doch nein, die Goelette wiegte sich noch weiter im Hintergrunde des kleinen Einschnitts, der Anker lag noch fest im Grunde und die Segel blieben eingebunden wie bisher. Noch eine weitre Stunde verging. Der Obersteuermann der ‚Century‘ faßte Vasquez an der Hand.
»Die Strömung wechselt, sagte er. Da… da haben wir wieder Flut!
– Sie werden nicht abfahren!
– Heute nicht. Doch morgen?…
– Weder morgen noch jemals, versicherte Vasquez. Kommt mit!« rief er seinem Gefährten zu, während er schon zwischen den Felsblöcken, die sie verborgen hatten, hinaustrat.
Davis folgte Vasquez voller Spannung, als dieser vorsichtig auf den Leuchtturm zuschritt. In kurzer Zeit standen sie am Fuße der Erderhöhung, von der der Turm aufragte. Hier rückte Vasquez nach einigem Nachsuchen einen größern Steinblock, den er ohne große Anstrengung wie um eine Achse drehte, von seiner Stelle.
»Schlüpft da hinein, flüsterte er Davis zu, indem er mit der Hand nach einem Raume unter dem Felsen hinwies. Hier ist ein Versteck, das ich durch Zufall entdeckt habe, als ich beim Leuchtturm tätig war. Da kam mir gleich der Gedanke, daß das einmal von Nutzen werden könnte. Eine Höhle kann man’s ja nicht nennen, es ist nur ein Loch, worin wir zwei nur mit Mühe Platz finden werden. Hier können aber andre tausendmal an unsrer Tür vorübergehen, ohne zu ahnen, daß das Haus bewohnt ist.«
Davis ließ sich auf diese Aufforderung hin in die Aushöhlung hinuntergleiten und Vasquez folgte ihm augenblicklich nach. Aneinandergedrückt, so daß sie sich kaum rühren konnten, sprachen sie gedämpften Tones miteinander.
»Nun hört meinen Plan, begann Vasquez. Ihr werdet mich hier erwarten
– Euch erwarten? fragte Davis verwundert.
– Ja, denn ich… ich werde mich nach der Goelette begeben.
– Wie? Nach der Goelette? wiederholte Davis erstaunt.
– Ich hab‘ es mir vorgenommen, die Schurken nicht abfahren zu lassen,« erklärte Vasquez mit Bestimmtheit.
Dabei brachte er aus seiner Jacke zwei Pakete und ein Messer hervor.
»Hier ist eine Kartusche, fuhr er fort, die ich aus unserm Pulver und einem Stück eines Hemdes hergestellt habe. Aus einem andern Stück des Hemdes und dem noch übrigen Pulver hab‘ ich eine Lunte gemacht… da ist sie. Das Ganze nehme ich auf den Kopf und schwimme bis zur Goelette hin. Dort klettre ich am Steuer hinauf und bohre mit diesem Messer ein Loch in die Beplankung zwischen Steuerruder und Hintersteven. Da hinein stecke ich meine Kartusche, zünde die Lunte an und schwimme sofort zurück. Da… nun kennt ihr meinen Plan, von dessen Ausführung mich nichts in der Welt abhalten wird.
– Vortrefflich ausgedacht! rief Davis voller Begeisterung. Einer solchen Gefahr gegenüber werde ich euch aber nicht allein gehen lassen. Nein, ich begleite euch!
– Wozu? erwiderte Vasquez. Ein Mann kommt besser durch, wenn er allein ist, und einer genügt auch auszuführen, was ich vorhabe.«
Davis mochte noch so dringlich auf seinem Verlangen bestehen, Vasquez blieb doch bei seiner Weigerung. Der Gedanke ging von ihm aus, und er allein wollte ihn auch zur Ausführung bringen. Des Wettstreits müde, mußte Davis wohl oder übel nachgeben.
In der dunkelsten Stunde der Nacht kroch Vasquez, nachdem er sich seiner Kleider entledigt hatte, aus dem Loche und schlich vorsichtig die Seite der kleinen Erhöhung hinunter. Am Ufer angelangt, sprang er ins Wasser und schwamm mit kräftigem Arme auf die Goelette zu, die in der Entfernung einer Kabellänge sanft hin und her schwankte.
Je näher er herankam, desto düstrer und massiger erschien ihm das Fahrzeug. An Bord regte sich nichts, obwohl man dort gewiß Wache hielt. Der Schwimmer unterschied trotz der Finsternis auch bald die Gestalt des Wachpostens. Auf dem Vorderkastell sitzend und die Beine über dem Wasser hinaushängend, pfiff der Matrose leise ein Seemannslied vor sich hin, dessen Melodie bei der Stille der Nacht doch deutlich vernehmbar war.
Vasquez beschrieb einen Bogen und wurde, während er sich dem Stern des Schiffes näherte, desto unsichtbarer, je mehr er in den tiefdunkeln Schatten des Rumpfes kam. Jetzt lag das Steuerruder über ihm. Er packte dessen schlüpfrige Fläche fest mit beiden Händen und es gelang ihm, indem er sich an den Eisenbeschlag klammerte, sich mit übermenschlicher Kraft daran emporzuziehen. Als es ihm gelungen war, rittlings auf die Hacke (den obersten Teil) des Ruders zu gelangen, schloß er die Knie fest daran, wie der Reiter auf seinem Pferde. Da er hiermit die Hände frei bekam, erfaßte er nun den auf seinem Kopfe befestigten Sack, hielt ihn zwischen den Zähnen und holte daraus den Inhalt hervor. Mit dem Messer begann er sofort seine Arbeit. Allmählich wurde das Loch, das er zwischen Ruderhacke und Hintersteven ausgrub, größer und tiefer. Nach einstündiger Bemühung drang das Messer zur Innenseite der Beplankung hindurch. Als die Öffnung groß genug geworden war, steckte Vasquez die Kartusche hinein, befestigte die Lunte daran und suchte im Sacke nach seinem Feuerzeuge.
In diesem Augenblicke verloren seine ermüdeten Knie auf eine Viertelsekunde ihren Halt. Er fühlte, daß er abglitt, und abgleiten, das war gleichbedeutend mit einem Fehlschlag seines Unternehmens. Wurde sein Feuerzeug einmal durchnäßt, so war es für die Folge unbrauchbar. Bei der unwillkürlichen Bewegung, sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen, schwankte der Sack auf seinem Kopfe, und das Messer, das er schon wieder in diesen gesteckt hatte, glitt heraus und fiel hinunter, wodurch das Wasser geräuschvoll aufspritzte.
Das Lied des Wachpostens wurde plötzlich unterbrochen. Vasquez hörte, wie er vom Vorderkastell herabstieg, über das Deck hinging und auf dem Hinterdeck erschien. Sein Schattenbild lag deutlich auf der Fläche des Meeres. Über die Schanzkleidung hinausgebeugt, suchte der Matrose offenbar die Ursache des ungewöhnlichen Geräusches zu erkennen, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Lange blieb er in dieser Lage, während Vasquez, die Knie fest geschlossen und die Nägel in das schlüpfrige Holz fast eingedrückt, seine Kräfte allmählich schwinden fühlte.
Durch die herrschende Stille beruhigt, entfernte sich der Matrose endlich und begann, nach dem Vorderteile zurückgekehrt, sein Lied aufs neue.
Vasquez zog das Feuerzeug aus dem Sacke und schlug mit dem Steine kräftig an den Stahl. Da sprühten einige Funken hervor. Die Lunte fing Feuer und glimmte lautlos weiter.
Sofort ließ sich Vasquez am Ruder hinabgleiten, tauchte wieder ins Wasser und schwamm mit unhörbaren Bewegungen dem Lande zu.
In dem Versteck, wo er allein zurückgeblieben war, war Davis die Zeit unendlich lang geworden. Eine halbe Stunde, dreiviertel, eine ganze Stunde verrann. Davis, der sich nicht mehr bezwingen konnte, kroch aus dem Loche hervor und blickte voller Angst nach dem Wasser hinaus. Was konnte Vasquez zugestoßen sein? Wäre sein Unternehmen vielleicht mißglückt? Jedenfalls konnte er nicht entdeckt worden sein, da sich keinerlei Geräusch hören ließ.
Plötzlich donnerte, von dem Echo der Hügel wiederholt, eine dumpfe Explosion durch die Stille der Nacht, eine Explosion, der ein betäubendes Getrappel von Füßen und ein wildes Geschrei folgte. Wenige Augenblicke später tauchte ein von Wasser und Schlamm triefender Mann auf, der in vollem Laufe näher kam, Davis beiseite schob, dann mit ihm in das Loch schlüpfte und endlich mit dem Steinblocke den Eingang dazu verbarg.
Fast gleichzeitig stürmte aber auch ein Trupp von Männern schreiend vorüber. Wie laut auch deren grobe Schuhe auf den steinigen Boden schlugen, sie übertönten doch nicht die Stimmen der Leute.
»Fest!… Vorwärts! rief einer. Den bekommen wir!
– Ich habe ihn gesehen, wie ich dich vor mir sehe, sagte ein andrer. Er ist allein.
– Und hat keine hundert Meter Vorsprung.
– O, dieser Hallunke! Doch, den fassen wir!«
Der Lärm wurde schwächer und schwieg endlich ganz.
»Es ist also gelungen? sagte Davis leise.
– Jawohl, bestätigte Vasquez.
– Und ihr glaubt, mit vollem Erfolge?
– Das hoffe ich,« erwiderte der Turmwärter.
Beim Tagesanbruche verscheuchte ein Klappern von Hammerschlägen hierüber jeden Zweifel. Da man so emsig an Bord der Goelette arbeitete, mußte diese einen größern Schaden erlitten haben und der tollkühne Versuch des Turmwärters gelungen sein. Welchen Umfang diese Beschädigungen hatten, konnte freilich weder der eine noch der andre wissen.
»Möchten sie nur so schwerer Art sein, die Burschen einen Monat lang in der Bucht zurückzuhalten, rief Davis, ohne daran zu denken, daß in diesem Falle sein Gefährte und er in ihrem Verstecke Hungers gestorben wären.
– Still! Still!« raunte ihm Vasquez, seine Hand ergreifend, zu.
Ein neuer, diesmal schweigender Trupp näherte sich dem Versteck. Vielleicht kamen die Männer von ihrer unfruchtbaren Verfolgung zurück. Jedenfalls sprachen alle, die dazu gehörten, kein einziges Wort.
Man vernahm nichts als das Hämmern der Schuhabsätze auf dem Erdboden. Den ganzen Morgen hörten Vasquez und Davis in gleicher Weise das Vorüberkommen einzelner Gruppen, die gewiß zur Aufspürung des unergreifbaren Attentäters ausgesandt waren. Je weiter die Zeit fortschritt, desto mehr schien diese Verfolgung jedoch zu erlahmen. Schon längere Zeit hatte nichts das Schweigen in der Umgebung unterbrochen, als gegen Mittag drei oder vier Männer kaum zwei Schritte weit vor dem Loche stehen blieben, worin Davis und Vasquez versteckt waren.
»Entschieden ist der nicht zu finden! sagte der eine von ihnen, während er sich auf das Felsstück setzte, das die kleine Aushöhlung bedeckte.
– Ja, es ist wohl besser, wir verzichten darauf, äußerte ein andrer. Unsre Kameraden sind schon an Bord zurückgekehrt.
– Und wir werden dasselbe tun, um so mehr, da der Anschlag des Schuftes doch nicht ganz geglückt ist.«
Vasquez und Davis erschracken hierüber und lauschten womöglich mit noch größrer Spannung.
»Ja, ließ sich ein Vierter vernehmen. Ihr habt doch gesehen, daß er das Steuer hat absprengen wollen.
– Die Seele und das Herz jedes Schiffes.
– Da hätte uns der Kerl, wie man sagt, hübsch lahme Beine gemacht!
– Zum Glück ist seine Kartusche mehr nach Back- und nach Steuerbord hin wirksam gewesen. So beschränkt sich der Schaden auf ein Loch in den Planken und auf einen abgerissnen Eisenbeschlag. Was den Pfosten des Ruders betrifft, ist das Holz kaum angekohlt.
– Das wird im Laufe des heutigen Tages noch alles ausgebessert sein, sagte der, der zuerst gesprochen hatte. Wenn’s erst Abend ist und vor Eintritt der Flut… an das Spill, Jungens! Nachher mag der andre vor Hunger elend umkommen, wenn ihm das so paßt.
– Na, Lopez, hast du denn nun endlich ausgeruht? wurde er durch eine rauhe Stimme rücksichtslos unterbrochen. Was nützt unser Schwatzen? Zurück an Bord!
– Zurück!« sagten auch die drei Andern. während sie schon davongingen.
In dem Versteck, worin sie verborgen waren, sahen Vasquez und Davis, entmutigt durch das eben Gehörte, schweigend einander an. Dem Wärter Vasquez quollen zwei dicke Tränen aus den Augen und glitten an den Lidern hinunter, ohne daß der harte Seemann sich irgendwie bemühte, dieses Zeichen seiner ohnmächtigen Verzweiflung zu verbergen. Da wußte er ja nun, zu welch lächerlichem Erfolge sein heldenhaftes Unternehmen geführt hatte. Höchstens zwei Stunden Verzögerung, das war der ganze Nachteil, den die Räuberbande zu spüren hatte. Noch am nämlichen Abend würde die Goelette nach der Reparatur der Havarien aufs weite Meer hinaussegeln und unter dem Horizont verschwinden.
Der vom Ufer her schallende Lärm von Hammerschlägen bewies, daß Kongre eifrig daran arbeiten ließ, die ‚Carcante‘ wieder in seetüchtigen Zustand setzen zu lassen. Gegen ein viertel sechs Uhr hörte der Lärm, zur großen Beunruhigung der beiden Versteckten, plötzlich auf. Sie schlossen daraus, daß die Arbeit mit dem letzten Hammerschlage beendigt worden sei. Wenige Minuten später bestätigte das Knirschen der durch die Klüsen gezognen Kette diese unwillkommene Vermutung. Kongre ließ den Anker einholen, der Augenblick der Abfahrt war gekommen.
Vasquez konnte sich nicht zurückhalten. Er drehte die Steindecke etwas beiseite und wagte vorsichtig einen Blick nach draußen.
Gegen Westen vergoldete die sinkende Sonne noch die Gipfel der Berge, die die Aussicht nach dieser Seite abschlossen. Jetzt, so nahe der Herbst-Tag- und Nachtgleiche, mußte es aber noch eine Stunde dauern, ehe sie wirklich unterging.
Auf der andern Seite lag die Goelette vorläufig noch immer an ihrem Anker tief hinten in dem kleinen Landeinschnitte. Von den neuen Havarien war daran keine Spur zu sehen. An Bord schien alles in bester Ordnung zu sein. Die, wie Vasquez vermutet hatte, schon lotrecht angespannte Kette verlangte nur noch einen letzten Zug, den Anker im gewünschten Augenblicke aus dem Grunde zu brechen. Jede Vorsicht außer acht lassend, hatte sich der Turmwärter mit halbem Leibe über das Loch hinausgehoben. Hinter ihm drängte sich Davis gegen seine Schulter, und beide starrten, nach Atem ringend, hinaus. Die meisten der Raubgesellen befanden sich schon wieder an Bord, nur einige trotteten noch auf dem Lande umher. Unter diesen erkannte Vasquez deutlich Kongre, der mit Carcante innerhalb der Einfriedigung des Leuchtturms auf und ab ging.
Fünf Minuten später trennten sich die Beiden, und Carcante schritt auf die Tür des Nebengebäudes zu.
»Achtung! sagte Vasquez mit gedämpfter Stimme, der wird jedenfalls auf den Turm hinaufsteigen wollen.«
Beide glitten wieder nach dem Grunde ihres Versteckes zurück.
Wirklich bestieg Carcante den Leuchtturm noch zum letzten Male; die Goelette sollte nun in kürzester Frist abfahren. Er wollte nur noch den Horizont überblicken und nachsehen, ob ein Schiff in Sicht der Insel vorüberkäme.
Übrigens schien eine ruhige Nacht bevorzustehen; der Wind hatte sich am Abend fast ganz gelegt, und das versprach bei Sonnenaufgang schönes Wetter.
Als Carcante die Galerie erreicht hatte, konnten Davis und Vasquez ihn sehr deutlich sehen. Er ging um den Turm herum und richtete sein Fernrohr nach allen Seiten des Horizontes hinaus.
Plötzlich entrang sich seinem Munde ein grauenvoller Aufschrei. Kongre und die andern hatten den Kopf nach ihm gewendet. Mit lauter, für alle vernehmbarer Stimme rief Carcante:
»Der Aviso!… Der Aviso!«