Vierzehntes Kapitel.

Einige Erklärungen, – ein menschlicher Appetit,– ein Mittagessen und ein Trinkgeld.

Der Brigadier und ich blieben zurück, die Hauptpunkte des unerwarteten Auftritts zu besprechen.

»Ihr strenges Verlangen nach Beweggründen, mein Lieber,« bemerkte ich, »beschränkt doch gar sehr die Springniedriger politische Moralität, und setzt sie dem gesellschaftlichen Anhaltspunkt-System bei uns gleich.«

»Sie Beide, das ist richtig, haben zur Krücke die persönlichen Interessen; jedoch ist zwischen ihnen der Unterschied der Interessen eines Theils und der des Ganzen.«

»Und könnte ein Theil weniger richtig handeln, als das Ganze in diesem Fall gehandelt hat?« »Sie vergessen, daß sich Springniedrig gerade in diesem Augenblick unter einer moralischen Verfinsterung befindet; ich will nicht damit sagen, daß diese Verfinsterungen nicht so oft vorfallen, aber sie fallen in andern Theilen des Landes so oft vor, wie hier. Wir haben drei große Arten, die Monikin’schen Angelegenheiten zu leiten: durch Einen, durch Wenige, durch Viele – –«

»Ganz dieselbe Eintheilung besteht bei den Menschen,« fiel ich ein.

»Einige unsrer Verbesserungen wirken auch rückwärts, das Zwielicht geht ja dem Lauf der Sonne nicht nur voraus, sondern folgt ihm auch;« entgegnete ganz ruhig der Brigadier. »Wir denken, die Vielen brächten’s am nächsten in Verhindrung des Uebels, wiewohl wir auch diese für gar nicht unbefleckt halten. Gibt man zu, daß die Neigung zum Bösen in diesen drei Systemen gleich ist, (was wir indessen nicht zugeben, da wir der Meinung sind, unseres habe deren am wenigsten), so behauptet man doch, daß die Vielen einer großen Quelle des Drucks und der Ungerechtigkeit entgehen; sie brauchen nämlich nicht die schwierigen Vorkehrungen zu treffen, die die physische Schwäche zu machen gezwungen ist, um sich gegen physische Stärke zu wahren.«

»Das stößt eine sehr vorherrschende Ansicht unter den Menschen um, Sir, die gewöhnlich behaupten, die Tyrannei der Vielen sei die schlimmste von allen.«

»Diese Idee hat sich nur verbreitet, weil der Löwe nicht sich hat abkonterfeien lassen wollen. Da Grausamkeit gewöhnlich im Geleite der Feigheit geht, so ist Unterdrückung, neun Mal unter zehn; das Ergebniß der Schwäche. Es ist natürlich, daß die Wenigen die Vielen fürchten, nicht aber umgekehrt. Sodann werden unter Institutionen, worin die Vielen regieren, gewisse auf natürliche Gerechtigkeit gegründete Grundsätze offen anerkannt, und es ist wirklich selten, daß sie nicht auf die Staatsverhandlungen Einfluß haben. Andrerseits verlangt die Regierung der Wenigen, daß diese selben Wahrheiten entweder entstellt oder ganz unterdrückt werden, und die Folge davon ist Ungerechtigkeit.«

»Aber alle Eure Ansichten über die Vielen und Wenigen angenommen, Brigadier, müßt Ihr doch zugeben, daß hier in Eurem geliebten Springniedrig selbst die Monikins ihre eignen Interessen um Rath fragen, und das heißt doch nach dem Grundprincip des großen europäischen socialen Anhaltpunkt-Systems verfahren.«

Das heißt, die Güter der Welt sollten das Mittel zur politischen Macht sein. An der traurigen Verwirrung, die in diesem Augenblick unter uns herrscht, Sir John, müßt Ihr bemerken, daß wir eben nicht unter den heilsamsten aller politischen Einflüsse stehen. Ich gebe es zu, daß das große Erforderniß der Staatsgesellschaft ist, durch gewisse große moralische Wahrheiten beherrscht zu werden. Die Folgerungen und Korollarien aus diesen Wahrheiten sind Grundsätze, die vom Himmel kommen; nun ist aber nach Monikin’schen Dogmen die Liebe zum Geld von der Erde, irdisch, und bei’m ersten Anblick möchte es nicht ganz sicher sein, solch einen Antrieb als leitendes Princip für einen Monikin anzunehmen, und durch leichte Schlußfolge auch nicht für Viele. Ihr müßt auch bedenken, daß, wenn nur die Reichen Macht haben, beherrschen sie nicht allein ihr Eigenthum, sondern auch das derer, die weniger haben. Euer Grundsatz setzt voraus, daß bei Besorgung seiner eignen Besitzthümer der begüterte Wähler auch Sorge für das haben muß, was der übrigen Gemeinde gehört; aber unsre Erfahrung zeigt, daß ein Monikin ganz außerordentlich für sich Sorge haben und doch sich sehr wenig um seinen Nächsten bekümmern kann.«

»Ihr werft Alles um, Brigadier, ohne etwas besser zu finden.«

»Nur, weil es leicht ist, Alles umzustoßen, und sehr schwer, etwas Besseres zu finden. Aber in Hinsicht des Fundaments der Staatsgesellschaft, bezweifle ich nur, ob es weise, eine Befähigung aufzustellen, die, wie wir Alle wissen, auf schlechtem Grunde beruht. Ich fürchte sehr, Sir John, daß, so lange Monikins Monikins sind, wir nie ganz vollkommen sein werden, und in Hinsicht Eures socialen Anhaltpunkt-Systems mein‘ ich, daß, da die Gesellschaft aus Allen besteht, es nicht übel sein mag, wenn wir hören, was Alle über ihre Leitung zu sagen haben.«

»Vielen Menschen und wohl auch vielen Monikins darf man die Leitung ihrer eignen Angelegenheiten nicht anvertrauen.« »Sehr wahr; aber daraus folgt nicht, daß andre Menschen und andre Monikins deßwegen ihre eignen Interessen aus dem Gesichte verlieren werden, wenn man sie als ihre Stellvertreter hinstellt. Ihr seid lang genug Gesetzgeber gewesen, um einen Begriff zu bekommen, wie schwer es ist, einen eigentlichen und verantwortlichen Stellvertreter zur gehörigen Achtung der Interessen und Wünsche seiner Konstituenten zu bringen, und Thatsachen werden Euch beweisen, wie wenig der wohl an Andre denken wird, der als ihr Herr zu handeln vermeint und nicht als ihr Diener.«

»Das Ergebniß aus allem dem, Brigadier, ist, daß Ihr wenig an Monikin’sche Uneigennützigkeit in irgend einer Gestalt glaubt, daß Ihr meint, Jeder, der Gewalt hat, werde sie mißbrauchen, und so wollt Ihr denn das Anvertraute vertheilen, um auch die Mißbräuche zu theilen; daß ferner die Liebe zum Geld eine irdische Eigenschaft ist, der man für Leitung eines Staats nicht trauen darf, und endlich, daß das sociale Anhaltpunkt-System durch und durch schlecht ist, dieweil es nur ein Princip durchführt, das für sich selbst mangelhaft ist.«

Mein Freund gähnte, als mögte er gerne hiemit die Sache beruhen lassen; ich wünschte ihm guten Morgen und ging die Treppe hinauf, Noah zu suchen, dessen fleischverzehrende Blicke mir beträchtliche Unruhe gemacht hatten. Der Kapitän war aus, und nachdem ich eine oder zwei Stunden nach ihm gesucht hatte, kehrte ich in unsre Wohnung müde und hungrig zurück.

Nicht weit von der Thüre stieß ich auf Richter Volksfreund, der geschoren und niedergeschlagen war, und ich stand stille, ihm ein tröstendes Wort zu sagen, ehe ich die Leiter hinaufstiege. Man konnte nicht anders, wenn man einen Herrn sah, den man in guter Gesellschaft und unter bessern Umständen getroffen, der jetzt jedes Haar von seinem Leibe geschoren, und dessen Fleisch noch blutete von der frischen Amputation, in dessen Miene ferner republikanische Demuth lag, man konnte nicht anders, man mußte ihn trösten wollen. Ich drückte ihm deßwegen mein Beileid so kurz, wie möglich, aus und ermuthigte ihn mit der Hoffnung, er werde bald einen neuen Flaum kommen sehen, enthielt mich jedoch jeder Hinweisung auf seinen Schweif, dessen Verlust, wie ich wußte, unersetzlich war. Zu meinem größten Erstaunen antwortete jedoch der Richter freudig und legte für den Augenblick jeden Anschein von Selbsterniedrigung und Demuth ab.

»Wie ist das?« rief ich, »Ihr seid also nicht unglücklich?«

»Weit gefehlt, Sir John! ich hatte nie mehr Muth und bessere Aussichten in meinem Leben.«

Ich erinnerte mich der außerordentlichen Weise, wie der Brigadier Noah’s Haupt gerettet, und war vollständig entschlossen, nicht über irgend eine Darlegung Monikin’schen Scharfsinns erstaunt zu sein. Doch bat ich um einige Erklärung.

»Es mag Euch seltsam verkommen, Sir John, einen Politiker zu finden, der dem Anschein nach in der Tiefe der Verzweiflung liegt, und doch am Vorabend glorreicher Erhebung steht. So ist’s aber doch mit mir. In Springniedrig gilt Demuth Alles. Der Monikin, der Acht hat, und oft genug wiederholt, daß er der ärmste Teufel ist, gänzlich unfähig zum geringsten Amt im Lande, und sonst auch aus der Staatsgesellschaft gänzlich erstoßen zu werden verdiente, der kann sich mit Recht auf gutem Weg zu den Würden glauben, zu deren Erlangung er sich als den Unwürdigsten erklärt.«

»Dann braucht er also nur zu wählen, und am lautsten gerade für ein solches Amt seine Unfähigkeit auszuschreien.«

»Ihr habt Talente, Sir John, und würdet es weit bringen, wenn Ihr nur bei uns bleiben wolltet,« sagte der Richter zunickend.

»Ich begreife jetzt Euer Verfahren; Ihr seid also weder unglücklich, noch demüthig.«

»Ganz und gar nicht. Für Monikins meiner Art ist es am wichtigsten, eher Alles zu scheinen, als es zu sein. Meine Mitbürger begnügen sich gewöhnlich mit diesem Opfer, und da jetzt das Moralprincip verdunkelt ist, ist nichts leichter.«

»Aber wie kommt’s, Richter, daß Ihr mit Eurer Behendigkeit und Schnelle in allen Sprüngen und Gyrationen dazu gezwungen seid; sollte vielleicht der kleine Umstand mit Eurem Schweif?«

Der Richter lachte mir gerade in’s Gesicht. »Ich sehe, Ihr begreift uns doch immer noch nicht recht. Hier haben wir die Schweife als antirepublikanisch verbannt, da beide Meinungen sich dagegen erhoben, und doch kann auswärts ein Monikin einen tragen eine Meile lang, ohne Gefahr, nur muß er sich, kommt er nach Hause, einer neuen Verstümmlung unterwerfen und schwören, er sei der elendeste Wicht von der Welt. Lobt er dann noch die Hunde und Katzen in Springniedrig, dann, guter Gott! würden sie ihm selbst Hochverrath verzeihen.«

»Ich begreife jetzt Eure Politik, Richter, wenn auch nicht Eure Staatspolitik. Da Springniedrig eine Volksherrschaft ist, müssen nothwendig seine politischen Agenten volksthümlich sein. Da nun die Monikins natürlich an ihren eignen Vortrefflichkeiten sich ergötzen, macht nichts sie so geneigt, Andern zu glauben, als deren Versicherung, sie seien schlechter, als sie.«

Der Richter nickte und lachte.

»Aber noch ein Wort, mein Lieber! Da Ihr die Hunde und Katzen von Springniedrig zu preisen gezwungen seid, so gehört Ihr wohl zu der Schule von Katzenbegünstigern, die sich wegen ihrer Liebe zu diesen Vierfüßlern dadurch rächen, daß sie ihre Mitgeschöpfe wie Ratten benagen.«

Der Richter fuhr auf und schaute um sich, als fürchte er einen Taschendieb. Dann bat er mich ernstlich, seine Stellung zu berücksichtigen, und lispelte mir zu, daß des Volks Sache bei ihm heilig wäre, und er selten von ihm spräche ohne Verbeugung. Seine besondre Vorliebe für die Hunde und Katzen rühre auch von nichts Anderm her, nicht von einem eigenthümlichen Verdienst dieser Thiere, sondern blos daher, weil sie des Volkes Hunde und Katzen wären. In der Furcht, ich könnte noch etwas Unangenehmeres sagen, nahm der Richter eilig Abschied, und ich sah ihn nie wieder. Ich zweifle jedoch nicht, daß zu rechter Zeit sein Haar wieder wuchs, wie er in Gunst, und er bei allen passenden Gelegenheiten Mittel fand, die gehörige Schweiflänge wieder zu erhalten.

Jetzt zog ein Auflauf in den Straßen meine Aufmerksamkeit auf sich; ich näherte mich, und ein Kollege, der sich dort befand, erklärte mir gütigst die Ursache. Einige Springhocher hatten, wie es schien, nach Springniedrig Reisen gemacht, und, nicht zufrieden mit dieser Freiheit, hatten sie auch wirklich Bücher über das, was sie gesehen und auch nicht gesehen, geschrieben. Ueber das Letztre zeigte sich keine der beiden öffentlichen Meinungen sehr gerührt, obgleich viele der Schriftsteller streng über die große Nationalallegorie und die heiligen Rechte der Monikins geurtheilt; aber in Hinsicht des Erstern, des Gesehenen, war große Aufregung. Diese Schriftsteller hatten die Kühnheit, zu sagen, die Springniedriger hätten alle ihre Schweife abgehauen, und die ganze Gemeinde lag wegen so unerhörter Beleidigung in Krämpfen. Es wäre etwas ganz Andres, so etwas zu thun, und etwas Andres, es der Welt in Büchern sagen zu hören. Wenn die Springniedriger keine Schweife hätten, so sei das nur ihre Schuld, die Natur hätte sie ganz wie andre Monikins gebildet. Sie hätten sich nach einem republikanischen Princip abgestumpft, und Niemanden dürften seine Grundsätze auf diese rohe Weise vorgeworfen werden, besonders während einer moralischen Verfinsterung.

Die Vertheiler der Essenz aus den abgehauenen Schweifen drohten Rache, Karrikaturmaler wurden in Bewegung gesetzt, einige grinsten, einige drohten, einige fluchten, aber alle lasen.

Ich verließ den Haufen und ging wieder auf meine Thüre zu, immer über diesen seltsamen Zustand der Gesellschaft nachdenkend, in welchem eine vorbedachte und öffentlich angenommene Eigenthümlichkeit zu einer so ungewöhnlichen Reizbarkeit des Charakters Anlaß geben konnte. Ich wußte wohl, daß sich die Menschen gemeiniglich mehr der natürlichen Unvollkommenheiten schämen, als derer, welche größten Theils von ihnen selbst abhängen; aber dann stehen auch die Menschen, wenigstens nach ihrem eignen Ausspruch, an der Spitze der Schöpfung, und so ist es vernünftig anzunehmen, daß sie auf ihre natürlichen Vorrechte eifersüchtig sind. Der gegenwärtige Fall war aber nicht allgemein und ging nicht mehr blos Springniedrig an, und so konnte ich es mir nur durch die Voraussetzung erklären, daß die Natur in dem Springniedriger Körperbau einige Nerven an den unrechten Ort gesetzt.

Als ich in das Haus trat, begrüßte ein starker Geruch von gebratenem Fleisch meine Nase und erregte eine sehr unphilosophische Lust in meinen Riechnerven, – eine Lust, die auch sehr direkt auf die gastrischen Säfte des Magens zurückwirkte. Auf gut deutsch, ich hatte einen sehr sichtbaren Beweis, daß es nicht genug sei, einen Mann in das Monikinland zu bringen, ihn in’s Parlament zu schicken und eine Woche lang mit Nüssen zu ernähren, um ihn ganz ätherisch zu machen. Ich fand, es sei vergebens, gegen den Stachel zu lecken; der Geruch von dem Braten war stärker, als alles Vorbenannte, und ich gab gerne die Philosophie auf, um mich gänzlich dem Magen zu überlassen. Ich ging alsbald, von einem nicht geistreicheren Sinn geleitet, als der des Jagdhundes ist, in die Küche herab.

Bei’m Oeffnen der Thür unseres Speisesaals begrüßte ein so köstlicher Wohlgeruch die Nase, daß ich gleich einem romantischen Mädchen bei einem Wasserfall dahinschmolz, und, alle höheren, eben erst erlangten Wahrheiten aus dem Gesicht verlierend, fand ich mich der besondern menschlichen Schwäche hingegeben, daß ich, wie man’s gewöhnlich beschreibt, den Mund voll Wasser hatte.

Der Robbenfänger hatte die Monikin’sche Enthaltsamkeit ganz aufgegeben und ergötzte sich auf ganz menschliche Weise. Ein Gericht gebratenen Fleisches stand vor ihm, und seine Augen erglänzten gar sehr, als er sie von mir weg auf sein Essen wandte, so daß es etwas zweifelhaft wurde, ob ich ein willkommener Besuch sein werde. Aber jener ehrliche alte Grundsatz der Seeleute, der sich nie weigert, mit einem alten Tischgenossen zu gleichen Theilen zu theilen, siegte selbst über seine Gefräßigkeit.

»Setzt Euch her, Sir John!« rief der Kapitän, ohne mit Kauen aufzuhören, »und denkt nicht, es seien Knochen. Die Wahrheit zu gestehen, die letztern sind fast so gut, als das Fleisch; ich aß nie einen süßern Bissen.«

Ich wartete eine zweite Einladung nicht ab, das kann mir der Leser glauben, und in weniger, als zehn Minuten war der Tisch so rein, wie von Harpyen angefallen. Da auch dies Werk für eine Erzählung gelten soll, wo der Wahrheit streng nachgekommen wird, muß ich gestehen, daß ich mich keiner Befriedigung irgend eines Gefühls erinnre, das mir halb so viel Lust erzeugte, als dies kurze und eilige Mahl. Ich sehe es jetzt noch als das wirkliche Ideal eines Mittagessens an. Sein Fehler lag in der Quantität, nicht in der Qualität. Ich schaute mich gierig nach mehr um, da erblickte ich ein Antlitz, das mich mit trauernden Vorwürfen anzuschauen schien. Die Wahrheit blitzte in mir auf in einer Fluth schrecklicher Gewissensbisse. Ich stürzte auf Noah wie ein Tiger, ich faßte ihn an der Kehle, ich schrie mit einer Stimme der Verzweiflung:

»Kannibale! was hast du gethan?«

»Laßt mich los, Sir John! Wir lieben nicht diese Spässe in Stonington.«

»Elender! du hast mich zum Theilnehmer deines Verbrechens gemacht. Wir haben den Brigadier Geradaus aufgegessen!«

»Laßt nur los, Sir John! oder Menschen-Natur rebellirt.«

»Ungeheuer! gib dein unheiliges Mahl wieder von dir! Siehst du nicht tausend Vorwürfe in den Augen des unschuldigen Opfers deines unersättlichen Hungers?«

»Laßt los, Sir John, laßt los! so lange wir Freunde sind. Mich kümmert’s nicht, und wenn ich alle Brigadiers in Springniedrig verschlungen. Nur weg!«

»Nicht, bevor du nicht dein gottloses Mahl ausspei’st!«

Noah konnte es nicht länger aushalten, er ergriff nun mich nach dem Wiedervergeltungsrecht bei der Kehle, und ich hatte bald die Gefühle, wie sie Einer haben müßte, dessen Gurgel unter einer Schnüre sich befände. Ich will das Wunder, das jetzt folgte, nicht in’s Einzelne zu beschreiben versuchen. Das Hängen müßte ein wirksames Mittel für mancherlei Täuschungen sein; denn bei mir that der Zwang, unter dem ich lag, wirklich Wunder in sehr kurzer Zeit. Allmählig änderte sich die ganze Scene; erst kam ein Nebel, dann ein Taumel, und endlich, als der Kapitän mich losließ, erschienen die Gegenstände unter ganz neuen Gestalten, und statt in unserer Wohnung in Bivouac befand ich mich in meinem alten Zimmer in der Straße Rivoli zu Paris.

»König!« rief Noah, der mit vor Anstrengung rothem Gesicht vor mir stand, »das ist kein Kinderspiel, und wenn’s noch ein Mal so kommt, werde ich Seile gebrauchen. Was wär’s denn, Sir John, wenn Jemand einen Affen verzehrte?«

Staunen hielt mich stumm. Alles war noch so, wie ich es an dem Morgen verlassen, wo wir nach London auf unsrer Reise nach Springhoch uns aufmachten. Ein Tisch mitten im Zimmer war mit engbeschriebenen Papierbogen bedeckt, welche, bei näherer Untersuchung, dies Manuskript bis an’s letzte Kapitel enthielten. Der Kapitän und ich waren wie gewöhnlich gekleidet, ich à la Parisienne, er à la Stonington. Ein kleines, sehr sinnreich gefertigtes Schiff mit allem Tauwerk lag mit dem Namen Wallroß beschrieben auf dem Boden. Als mein zerstörtes Auge auf dies Fahrzeug fiel, sagte mir Noah, da er nichts weiter zu thun gehabt, als über meine Gesundheit zu wachen, (eine sehr höfliche Bezeichnung für seine Beaufsichtigung meiner Person, wie ich später fand,) so habe er seine Muse zur Erbauung dieses Spielwerks benutzt.

Alles war unerklärlich. Es war wirklich der Geruch von Fleisch noch da; ich hatte noch das besondre Gefühl der Fülle, das wohl auf ein Mittagessen folgt, und eine Schüssel voller Knochen stand mir vor den Augen. Ich nahm einen der letztern, um das genau zu bestimmen. Der Kapitän sagte mir gütigst, daß es das Ueberbleibsel eines Spanferkels sei, das zu erhalten ihn große Mühe gekostet, da die Franzosen, ein solches Schweinchen zu essen, für kaum weniger gefährlich hielten, als das Aufzehren eines Kindes. Ahnungen tauchten in mir auf, und ich sah mich nun nach dem Haupt und vorwurfsvollen Auge des Brigadiers um.

Das Haupt war, wo ich es vorher gesehen; über einen Koffer ragte es hinaus, aber es stand hoch genug, um zu sehen, daß es noch auf seinen Schultern war. Ein zweiter Blick ließ mich das nachdenkende, philosophische Haupt des Dr. Raisono erkennen; er war noch in seiner Husarenjacke und seinem Leibrock, obwohl er, da er zu Hause, mit vollem Recht den dreieckigen Hut mit den schmutzigen Federn bei Seite gelegt.

Ein Geräusch ließ sich im Vorzimmer vernehmen, und ein schnelles Reden in leisem, ernstem Ton folgte. Der Kapitän verschwand und ging zu den Sprechenden. Ich lauschte eifrig, konnte aber nichts von einem Dialekt nach dem Decimalsystem vernehmen. Alsbald öffnete sich die Thür und Dr. Etherington stand vor mir.

Der gute Geistliche betrachtete mich lang und ernst. Thränen erfüllten seine Augen, und beide Hände nach mir ausstreckend, sagte er:

»Kennt Ihr mich, Jack?«

»Euch kennen, Sir, wie sollte ich nicht?«

»Und verzeiht Ihr mir, Lieber?«

»Was, Sir? Sicher muß ich Eure Verzeihung für tausend Thorheiten erbitten.«

»Ach, der Brief, – der unfreundliche, unbedachte Brief!«

»Ich hab‘ seit einem Jahre keinen Brief von Euch erhalten, Sir; der letztere war nichts weniger, als ungütig.«

»Wenn auch Anna schrieb, diktirte ich doch.«

Ich fuhr mit der Hand über die Stirne, und die Wahrheit tagte in mir auf.

»Anna?«

»Sie ist hier, in Paris, unglücklich, sehr unglücklich um Euretwillen!«

Jedes Theilchen von Monikinschaft, das noch in mir geblieben, wich augenblicklich einer Fluth menschlicher Gefühle.

»Laßt mich zu ihr eilen, lieber Sir, jeder Augenblick ist ein Jahrhundert!«

»Nicht jetzt gerade, mein Junge; wir haben viel einander zu sagen, auch ist sie nicht in diesem Hotel. Morgen, wenn ihr beide besser vorbereitet, sollt ihr euch sehen.«

»Fügt bei, euch nie wieder zu trennen, Sir, und ich will geduldig sein, wie ein Lamm.«

»Euch nie wieder zu trennen, hoffe ich sagen zu können.«

Ich fiel meinem ehrwürdigen Führer um den Hals, und fand köstliche Erleichterung von einer schweren Last von Gefühlen in einer Fluth Thränen. Dr. Etherington brachte mich bald in eine ruhigere Gemüthsstimmung. Im Lauf des Tags wurde vieles besprochen und geordnet. Man sagte mir, Kapitän Poke sei eine gute Wärterin gewesen, jedoch auf Robbenfänger-Art, und das Geringste, was ich für ihn thun könnte, sei, ihn kostenfrei nach Stonington zu schicken. Das ward besorgt und der würdige aber absprechende Seemann mit den Mitteln versehen, eine neue »Debby und Dolly« auszurüsten.

»Diese Philosophen sollten wir wohl in eine Akademie bringen,« bemerkte lächelnd der Doktor und deutete auf die Familie der liebenswürdigen Fremdlinge; »da Herr Raisono besonders schon so hohe akademische Titel hat, ist er für gewöhnliche Gesellschaft nicht geschickt.«

»Thut mit ihnen, wie’s Euch gefällt. Ihr, mir mehr als Vater. Laßt jedoch die armen Thiere keinen physischen Mangel leiden.«

»Auf alle ihre Bedürfnisse, physische und moralische, soll Rücksicht genommen werden.«

»Und in ein oder zwei Tagen reisen wir alle in’s Pfarrhaus?«

»Uebermorgen, wenn Ihr stark genug.«

»Und morgen?«

»Wird Euch Anna sehen.«

»Und den Tag darauf?«

»Nein, nicht so schnell, Jack; aber sobald wir Euch hinlänglich uns wiedergegeben glauben, soll sie Euer Geschick für die übrige Zeit Eures Prüfungsstandes mit Euch theilen.«