Achtzehntes Kapitel

Die Stunden verflossen, als sei innerhalb der Stadt nichts vorgefallen, um ihren Lauf zu stören. Den folgenden Morgen gingen die Leute, wie seit vielen Jahren, an ihre verschiedenen Geschäfte oder Vergnügen, und keiner hielt inne, um seinen Nachbarn über das zu befragen, was sich etwa während der Nacht ereignet hätte.

Die Diener schlenderten mit mißtrauischen, vorsichtigen Mienen, kaum wagend, sich gegenseitig ihre geheimen Vermutungen über das Schicksal ihrer Gebieterin zuzuflüstern, um das Wassertor von Donna Violettas Palast. Die Residenz Signore Gradenigos zeigte sich in ihrer gewöhnlichen düstern Größe, während die Behausung Don Camillo Monfortes durch kein Zeichen die schmerzlich getäuschte Hoffnung ihres Herrn verriet. Die »Bella Sorrentina« lag noch im Hafen mit ausgebreitetem Segel über dem Verdeck, und das Schiffsvolk beschäftigte sich nach der gewöhnlichen trägen Weise der Seeleute, wenn nichts Dringenderes zu tun ist, mit Segelausbessern.

Die Lagunen waren mit Fischerbooten übersät, und Reisende kamen an und reisten ab auf den wohlbekannten Kanälen von Fusina und Mestre. Hier verließ ein Abenteurer aus dem Norden die Stadt, ihm schwebte das gefällige Bild der mitangesehenen Feierlichkeiten vor, vermischt mit einigen dunkeln Vermutungen über die den beargwöhnten Staat lenkende Gewalt; dort suchte ein Pächter vom Festlande seine kleine Meierei auf, zufriedengestellt durch das Schaugepränge und die Regatta des vorigen Tages. Kurz, alles erschien wie immer, und die Begebenheiten, die wir erzählten, blieben ein Geheimnis der Mitspielenden und des dabei so beteiligten Senats.

Wie der Tag mehr vorrückte, breitete sich manches Segel aus, und Feluken und Galeotten gingen und kamen, je nachdem der Land- oder Seewind vorherrschend war. Noch faulenzte der kalabrische Seefahrer unter dem Zelte, das sein Verdeck beschattete, oder hielt seine Siesta auf einem Haufen alter, von der Gewalt manch eines glühenden Schirokko zerrissener Segeltücher. Als die Sonne tiefer sank, da glitten die Gondeln der Großen und Müßigen über das Wasser, und nachdem die beiden Plätze durch die Luft des Adriatischen Meeres abgekühlt waren, füllte sich der Broglio mit denen, die das Vorrecht genossen, seine gewölbten Gänge zu durchschreiten. Unter ihnen zeigte sich auch der Herzog von Sant‘ Agata, der, obgleich den Gesetzen der Republik ein Fremdling, wegen seiner erlauchten Abkunft und keineswegs unbegründeten Ansprüche von den Senatoren als ein willkommener Teilnehmer dieser leeren Auszeichnung aufgenommen ward. Er trat zur gewohnten Zeit und mit seiner ihm natürlichen Ruhe in den Broglio, denn er verließ sich auf seinen geheimen Einfluß in Rom, ja zum Teil auf den guten Erfolg seiner Nebenbuhler. Nach reiflicher Überlegung schien es ihm nämlich gewiß, daß, wenn sie die Absicht hegten, ihn festzusetzen, dies schon längst geschehen wäre; ebenso glaubte er, daß es, um persönlichen Unannehmlichkeiten zu entgehen, am besten sein würde, Vertrauen auf eigene Macht zu zeigen. Als er daher am Arm eines hohen Beamten der päpstlichen Gesandtschaft erschien und mit Selbstvertrauen um sich blickte, sah er sich wie immer von jedem, der ihn kannte, auf eine seinem Range und seinen Erwartungen angemessene Weise begrüßt. Dennoch wandelte Don Camillo mit neuen Gefühlen unter den Patriziern der Republik umher. Mehr als einmal glaubte er in den schwankenden Blicken derer, mit denen er sich unterhielt, Zeichen ihrer Kenntnis seiner vereitelten Pläne zu entdecken, und mehr als einmal, wenn er es am wenigsten argwöhnte, sah er sich so aufmerksam betrachtet, als suche man seine künftigen Absichten zu ergründen. Außerdem hätte wohl niemand entdeckt, daß eine Erbin von solcher Wichtigkeit beinahe dem Staat entrissen oder daß ein Mann seiner Frau beraubt worden sei. Die große Verstellungskunst des Staates sowie die Entschlossenheit und Vorsicht des jungen Edeln entzogen alles übrige der Beobachtung.

So verging der Tag; keine einzige Zunge außer denen, die im geheimen flüsterten, machte irgendeine Anspielung auf die Begebenheiten unserer Erzählung.

Eben als die Sonne unterging, schwebte eine Gondel langsam dem Wassertore des herzoglichen Palastes zu. Der Gondoliere landete, band wie gewöhnlich sein Boot an den Treppensteinen fest und trat dann in den Hof. Er trug eine Maske, denn schon war die Stunde der Verkleidung gekommen, und sein einfacher Anzug glich so sehr dem von Leuten seines Standes, daß er eben durch seine Einfachheit alles Erkennen vereitelte. Nach einem vorsichtigen Blick um sich her ging er durch eine geheime Tür in das Gebäude.

Der Palast, in dem die Dogen von Venedig residierten, steht noch jetzt als ein düsteres Denkmal venezianischer Politik da und liefert an und für sich schon einen Beweis des zweideutigen Charakters der Fürsten, die es einst bewohnten. Es umgibt einen weiten, doch dunkeln Hof. Die eine seiner Fassaden macht die Seite der schon oft erwähnten Piazetta aus, die andere stößt an den Kai, zunächst dem Hafen. Die Architektur dieser beiden äußeren Fronten erhebt das Gebäude zum Bemerkenswerten. Ein niedriger Bogengang, der den Broglio bildet, unterstützt eine Reihe massiver, orientalischer Fenster, und über diesen zieht sich wieder eine mit wenigen Öffnungen versehene Mauer, die alle sonst gebräuchlichen Ordnungen der Baukunst umstößt. Die dritte Seite ist fast ganz verdeckt durch die Kathedrale St. Markus‘, und die vierte wird vom Kanal bespült. Auf der andern Seite des Kanals liegt das Staatsgefängnis, durch die so nahe Verbindung der Kraft der Gesetze und der Kraft der Strafe sehr beredt den Charakter der Regierung aussprechend. Die berühmte Seufzerbrücke ist das materielle Band zwischen beiden, wie sie denn auch ein Symbol ihres geistigen Zusammenhangs ist. Letzteres Gebäude steht auch auf dem Kai und ist trotz seiner geringeren Höhe und Weitläufigkeit in Hinsicht architektonischer Schönheit dem andern vorzuziehen, wenngleich der Umfang und die seltsame Bauart des Palastes geeigneter sein mögen, Aufmerksamkeit zu erregen.

Bald erschien der maskierte Gondoliere wieder unter dem Bogen des Wassertors und bestieg schleunigst sein Boot. Nur eines Augenblicks bedurfte er, um über den Kanal zu kommen, am gegenüberliegenden Kai zu landen und in die öffentliche Tür des Gefängnisses einzutreten. Er mußte wohl ein geheimes Mittel besitzen, der Wachsamkeit der verschiedenen Wächter zu genügen, denn Riegel wurden weggeschoben und Schlösser geöffnet, wo er erschien, ohne daß man viel fragte. Auf diese Weise durchschritt er schnell alle äußeren Schranken des Ortes und erreichte den Teil des Gebäudes, der zu einer Familienwohnung eingerichtet schien. Nach den Umgebungen zu urteilen, mußten die Bewohner hier Überfluß und Pracht nicht sehr hoch schätzen, wenngleich es weder an Gerät fehlte noch an der nötigen Bequemlichkeit in den Zimmern, wie es ihrem Stande, dem Klima und jenen Zeiten angemessen war.

Der Gondoliere stieg eine geheime Treppe hinauf und stand nun vor einer Tür, an der keine der Zeichen eines Gefängisses zu sehen waren, die sich so häufig in den anderen Teilen des Gebäudes befanden. Er stand ein wenig still und horchte, dann klopfte er vorsichtig an.

»Wer klopft?« fragte eine liebliche Frauenstimme, indem sich die Klinke bewegte, als wolle man nicht eher öffnen, als bis man überzeugt war, wer draußen sei.

»Gut Freund, Gelsomina«, war die Antwort.

»Ja, wenn man Worten trauen dürfte, so wär hier jedermann ein Freund der Wächter. Ihr müßt Euch nennen oder woanders Antwort holen.«

Der Gondoliere lüftete die Maske, die nicht nur sein Gesicht verhüllt, sondern auch seine Sprache verändert hatte.

»Ich bin es, Gessina«, sagte er, sich ihres vertraulichen Namens bedienend.

Die Riegel rasselten, und die Tür ward schnell geöffnet.

»Das ist wunderbar, daß ich dich nicht erkannte, Carlo«,sagte das Frauenzimmer hastig und mit Einfalt, »doch du verkleidest dich seit kurzem so vielfältig und ahmst so oft fremde Stimmen nach, daß deine eigene Mutter ihren Ohren nicht getraut hätte.«

Der Gondoliere schwieg ein Weilchen, um sich erst zu überzeugen, daß sie allein wären; dann legte er die Maske ab, und die Züge des Bravo erschienen.

»Du weißt, wie nötig die Vorsicht ist, und wirst mich deshalb nicht erkennen.«

»Das nicht, Carlo – aber deine Stimme ist mir so bekannt, und da finde ich es wunderbar, daß du wie ein Fremder sprechen kannst.«

»Hast du etwas für mich?«

Das hübsche Mädchen zauderte, ihm zu antworten.

»Hast du nichts Neues, Gelsomina?« wiederholte der Bravo, ihre unschuldigen Züge eifrig musternd.

»Es ist gut, daß du nicht früher ins Gefängnis gekommen bist. Ich hatte eben Besuch. Du hättest dich wohl nicht gern sehen lassen, Carlo?«

»Du weißt, daß ich gute Gründe habe, maskiert zu kommen. Vielleicht hätte mir dein Besuch gefallen, vielleicht auch mißfallen, wie er nun eben gewesen wäre.«

»Nein, da bist du unrecht«, erwiderte das Mädchen hastig, »es war niemand hier als meine Cousine Annina.«

»Denkst du, daß ich eifersüchtig bin?« sagte der Bravo, mit liebendem Lächeln ihre Hand fassend. »Wär es dein Vetter Pietro, Michele oder Roberto oder irgendein anderer Jüngling aus Venedig gewesen, so hätt ich doch nichts weiter gefürchtet, als erkannt zu werden.«

»Es war aber nur meine Cousine Annina – Annina, die du nie gesehen hast – und ich habe ja keine Vettern Pietro, Michele und Roberto. Wir sind unserer nicht viele. Annina hat einen Bruder, der kommt aber nie her. Es ist in der Tat schon lange her, daß sie ihrem Geschäft soviel Zeit entzieht, um diesen traurigen Ort zu besuchen. Wenige Geschwisterkinder sehen sich so selten wie Annina und ich.«

»Du bist ein gutes Mädchen, Gessina, bist immer bei deiner Mutter zu finden. Hast du nichts Besonderes, was mir wichtig wäre?«

Wieder senkten sich die Augen Gelsominas oder Gessinas, wie sie gewöhnlich genannt ward; indes erhob sie den Blick wieder, bevor er es gewahrte, und fuhr rasch in ihrem Gespräch fort: »Ich fürchte, Annina kehrt wieder, sonst wollte ich gleich mit dir gehen.«

»Ist denn deine Cousine noch hier?« fragte der Bravo unruhig. »Du weißt, ich möchte nicht gern gesehen werden.«

»Fürchte nichts. Sie kann nicht hereinkommen, ohne diese Riegel zu berühren, denn sie ist oben bei meiner bettlägerigen Mutter. Du kannst, wie gewöhnlich, ins innere Zimmer gehen, wenn sie kommt, und ihre müßigen Reden mit anhören, wenn du willst – oder – doch wir haben keine Zeit – denn Annina kommt selten, und ich weiß nicht warum, aber sie scheint die Krankenzimmer nicht zu lieben, indem sie immer nur wenige Minuten bei ihrer Tante verweilt.«

»Du wolltest wohl sagen: Oder ich möchte meinen Gang abkürzen, Gessina?«

»Das wollt ich, Carlo – aber ich bin sicher, daß uns meine ungeduldige Cousine zurückrufen würde.«

»Ich kann warten; ich bin geduldig, wenn ich bei dir bin, teure Gessina.«

»St! – Das ist der Gang meiner Cousine. – Geh hinein.«

Während sie sprach, klingelte es, und der Bravo ging ins innere Zimmer, ein Versteck, dessen er gewohnt schien. Er ließ die Tür ein wenig offen, denn die Dunkelheit der Kammer verbarg ihn hinlänglich. Unterdes öffnete Gelsomina die äußere Tür, um ihren Gast hereinzulassen. Beim ersten Ton der Stimme erkannte Jacopo die listige Tochter des Weinhändlers.

»Du lebst hier so recht bequem, Gelsomina«, rief Annina eintretend und sich wie jemand, der ermüdet ist, auf einen Sessel werfend. »Mit deiner Mutter geht es besser, indes bist du in Wahrheit die Gebieterin des Hauses.«

»Ich wollte, ich war es nicht, Annina, denn ich bin noch zu jung, bei meinem Kummer solchem Geschäft vorzustehen.«

»So unerträglich ist es doch nicht, Gessina, mit siebzehn Jähren Gebieterin des Hauses zu sein! Herrschaft ist süß, Gehorsam unausstehlich.«

»Ich finde keines von beiden so, und ich will die erstere mit Freuden aufgeben, wenn meine arme Mutter erst wieder mir wird die Sorge für das Hauswesen abnehmen können.«

»Das ist recht schön, Gessina, und macht dem guten Beichtvater Ehre. Doch Herrschaft ist den Weibern so teuer wie Freiheit. Du warst gestern nicht unter den Masken auf dem Platz?«

»Ich verkleide mich selten, auch konnte ich meine Mutter nicht verlassen.«

»Was doch wohl heißt, du hättest es gern getan. Du hast auch Ursache, es zu bedauern, denn eine fröhlichere Vermählung mit dem Meere oder eine lustigere Regatta hat Venedig seit deiner Geburt nicht gesehen. Aber die Vermählung konntest du ja aus deinem Fenster mit anschauen.«

»Ich sah die Staatsgaleere mit ihren Reihen von Patriziern auf dem Verdeck nach dem Lido segeln, sonst wenig.«

»Schadet nichts. Du sollst einen ebenso guten Begriff von der Herrlichkeit haben, als wenn du des Dogen Rolle selbst gespielt hättest. Erst kamen die Gardisten, in ihren antiken Anzügen –«

»Das erinnere ich mich oft gesehen zu haben, dies Schauspiel kommt alle Jahre vor.«

»Da hast du recht: Doch nie sah Venedig eine so lebhafte Regatta! Du weißt, den ersten Versuch machen immer die vielruderigen Gondeln, von den geschicktesten Gondolieri geführt. Luigi war auch dabei, und obgleich er den Preis nicht gewann, so verdiente er ihn doch durch die Art, wie er sein Boot regierte. Du kennst doch Luigi?«

»Ich kenne kaum einen Menschen in Venedig, Annina, denn die lange Krankheit meiner Mutter und das unglückliche Amt meines Vaters halten mich immer daheim, wenn andere auf den Kanälen sind.«

»Das ist wahr. Um Bekanntschaften zu machen, bist du nicht gut gestellt. Doch Luigi steht weder an Geschicklichkeit noch an Ruf irgendeinem unter den Gondolieri nach, und er ist bei weitem der fröhlichste Schelm von allen, die je den Fuß auf den Lido gesetzt haben.«

»Er war also wohl der Vorderste im großen Wettlauf?«

»Eigentlich hätte er es sein sollen, aber die Ungeschicklichkeit seiner Leute und einige Unredlichkeiten beim Durchkreuzen brachten ihn in die zweite Reihe. Doch das Wunderbarste von allem war, daß ein alter Fischer namens Antonio mit bloßem Kopf und nackten Beinen mit eintrat in den zweiten Wettlauf und den Preis davontrug; ein Mann von siebzig Jahren und in einem Boote, das nicht besser war als das, womit ich Getränke nach dem Lido führe.«

»Da muß er wohl keine kräftigen Nebenbuhler gehabt haben?«

»Die besten in Venedig, obgleich Luigi, der in dem ersten Wettlauf gewesen, den zweiten nicht mitmachen konnte. Man sagt auch«, fuhr Annina, mit gewohnter Vorsicht um sich schauend, fort, »daß einer, den man kaum in Venedig zu nennen wagt, die Kühnheit gehabt habe, maskiert in der Regatta zu erscheinen, und dennoch gewann der alte Fischer! Du hast doch von Jacopo gehört?«

»Den Namen haben viele.«

»Es trägt ihn jetzt nur einer in Venedig. Alle meinen nur ihn, wenn sie Jacopo sagen.«

»Ich habe wohl von einem Ungeheuer dieses Namens gehört. Gewiß hat er doch nicht gewagt, sich vor den Edeln an solch einem Festtage sehen zu lassen.«

»Gessina, wir leben in einem unbegreiflichen Lande! Der furchtbare Mann geht nach Gefallen auf der Piazza mit so stolzen Schritten einher wie der Doge, und niemand sagt ihm was. Oft schon sah ich ihn bei hellem Tage mit so stolzer Miene an dem Triumphmast oder an der Säule des San Teodoro lehnen, als war er dort hingestellt, um einen Sieg der Republik zu feiern!«

»Vielleicht ist er Herr eines schrecklichen Geheimnisses, von dem sie fürchten, daß er es enthülle.«

»Du kennst Venedig wenig, Kind! Heilige Maria! Ein solch Geheimnis war schon an und für sich ein Todesurteil. Wenn man mit St. Markus zu schaffen hat, so ist es ebenso gefährlich, zuviel zu wissen als zuwenig. Genug, man sagt, Jacopo sei dabeigewesen, dem Dogen gegenüber, Aug in Aug, und die Senatoren schreckend wie ein ungerufenes Gespenst aus der Gruft ihrer Väter. Aber das ist noch nicht alles, als ich heute durch die Lagunen ruderte, sah ich den Leichnam eines jungen Kavaliers aus dem Wasser ziehen, und die dabei waren, sagten, er trüge das Zeichen seiner mörderischen Hand.«

Die furchtsame Gelsomina schauderte.

»Die Herrscher werden diese Nachlässigkeit vor Gott zu verantworten haben«, sagte sie, »wenn sie diesen Elenden länger so frei herumgehen lassen.«

»Der heilige Markus schütze seine Kinder! Man sagt, daß man viele dergleichen Sünden zu verantworten habe – doch den Leichnam sah ich mit meinen eigenen Augen, als ich diesen Morgen in die Kanäle einfuhr.«

»Schliefst du denn auf dem Lido, daß du schon so früh aus warst?«

»Auf dem Lido – ja – nein – ich schlief nicht, du weißt ja, mein Vater hatte einen geschäftigen Tag während des Festes, und ich bin nicht wie du, Gessina, Gebieterin des Hauses, daß ich tun könnte, was ich will. Doch ich stehe hier und plaudere mit dir, und zu Hause tun fleißige Hände not. Hast du das Paket, das ich dir bei meinem letzten Besuch anvertraute?«

»Hier ist es«, antwortete Gelsomina, ein Schubfach öffnend und ihrer Cousine ein dicht eingewickeltes Pack gebend, das, ihr unbewußt, einige verbotene Handelsartikel enthielt und das die andere in ihrer unermüdlichen Geschäftigkeit eine Zeitlang zu verbergen genötigt war. »Ich dachte, du hättest es vergessen, und wollte es dir schon zurücksenden.«

»Gelsomina, wenn du mich liebst, tue nie eine so unüberlegte Handlung! Mein Bruder Giuseppe – du kennst Giuseppe wohl kaum?«

»Für Verwandte kennen wir uns wenig.«

»Das ist gut für dich. Hätte Giuseppe dieses Paket durch irgendeinen Zufall zu sehen bekommen, so würde es dir viele Unruhe verursacht haben.«

»Ich fürchte deinen Bruder nicht noch sonst jemand«, sagte die Tochter des Gefangenenwärters mit der Festigkeit der Unschuld, »dafür, daß ich gefällig gegen eine Verwandte war, könnte er mir doch nichts Böses tun.«

»Du hast recht, allein, mir hätte er vielen Verdruß verursachen können. Heilige Maria! Wenn du wüßtest, welchen Kummer dieser unbedachtsame und mißleitete Junge seiner Familie macht! Bei alledem ist er mein Bruder, und du magst dir das übrige hinzudenken. Leb wohl, gute Gessina, ich hoffe, dein Vater wird dir endlich mal erlauben, die zu besuchen, die dich so sehr lieben.«

»Leb wohl, Annina, du weißt, daß ich gern käme, allein, ich verlasse ja fast meiner Mutter Bett nicht.«

Die listige Tochter des Weinhändlers gab ihrer schuld- und arglosen Verwandten einen Kuß, ließ sich die Tür öffnen und ging.

»Carlo«, rief Gessina mit sanfter Stimme, »du kannst nun herauskommen, jetzt haben wir keinen Besuch weiter zu fürchten.«

Der Bravo erschien, doch mit noch blasseren Wangen als gewöhnlich. Er blickte das liebliche Wesen traurig an, und die verunglückte Anstrengung, ihr unschuldiges Lächeln zu erwidern, gab seinen Gesichtszügen einen gespenstischen Ausdruck

»Annina hat dich wohl ermüdet mit ihrem müßigen Geschwätz von der Regatta und den Mordtaten auf den Kanälen. Du wirst sie wegen der Art, wie sie von Giuseppe sprach, nicht zu hart beurteilen, er verdient es, und wohl noch mehr. Doch ich kenne deine Ungeduld und will dich nicht noch mehr ermüden.«

»Dies Mädchen ist deine Cousine?«

»Ich sagte es dir ja schon, unsere Mütter sind Schwestern.«

»Und ist sie oft hier?«

»Gewiß nicht so oft, als sie wünschte, denn ihre Tante hat ihr Zimmer seit vielen, vielen Monaten nicht verlassen.«

»Du bist eine vortreffliche Tochter, gute Gessina, und möchtest andere ebenso tugendhaft machen, als du selbst bist. – Hast du diese Besuche erwidert?«

»Nie. Mein Vater untersagte es, denn sie sind Weinhändler und nehmen die schwelgenden Gondolieri auf. Aber Annina ist nicht zu tadeln wegen des Gewerbes ihrer Eltern.« »Ohne Zweifel – und das Paket? War es lange in deiner Verwahrung?«

»Einen Monat, Annina ließ es mir hier bei ihrem letzten Besuch, denn sie mußte eilig nach dem Lido. Aber warum diese Fragen? Dir gefällt meine Cousine nicht, weil sie ausgelassen ist und müßige Gespräche liebt, indes hat sie, wie ich denke, ein gutes Herz. Hörtest du, wie sie von dem Bravo Jacopo und von dem letzten Morde sprach?«

»Ich hörte es.«

»Du selbst hättest nicht mehr Abscheu über des Ungeheuers Verbrechen zeigen können. Nein, Annina ist wohl unbesonnen und könnte weniger weltlich gesinnt sein; allein, sie hat, wie wir alle, eine heilige Scheu vor der Sünde. Soll ich dich nach der Zelle führen?«

»Ja, geh voran.«

»Dein redlicher Sinn empört sich über die kalte Niederträchtigkeit des Meuchelmörders. Ich hab viel von seinen Mordtaten gehört und von der Weise, wie die droben mit ihm Nachricht haben. Man sagt allgemein, daß seine List die ihrige übertreffe und daß die Beamten nur auf Beweise warten, um keine Ungerechtigkeit zu begehen.«

»Meinst du, daß der Senat so zartfühlend ist?« fragte der Bravo rauh, machte aber zugleich ein Zeichen zum Fortgehen.

Das Mädchen blickte traurig wie jemand, der das Gewicht dieser Frage begriff, dann drehte sie sich um, öffnete eine geheime Tür und brachte eine kleine Schachtel zum Vorschein.

»Dies ist der Schlüssel, Carlo«, sagte sie, ihm einen in einem gewichtigen Bund zeigend, »und ich bin jetzt der einzige Wächter. So viel haben wir wenigstens ausgerichtet; vielleicht kommt noch die Zeit, wo wir mehr tun können.«

Der Bravo versuchte zu lächeln, er wollte damit andeuten, daß er ihre Güte zu schätzen wisse, allein, es gelang ihm nur, ihr seinen Wunsch weiterzugehen, begreiflich zu machen. Der Hoffnungsstrahl im Auge des gutmütigen Mädchens verwandelte sich in einen Blick des Kummers, und sie gehorchte.