Achtes Buch

Mitja

1. Kusma Samsonow

Dmitri Fjodorowitsch, dem Gruschenka als letzten Gruß hatte bestellen lassen, er möge sein Leben lang an das Stündchen denken, als sie ihn geliebt hatte, war in diesem Augenblick ebenfalls in Unruhe und Sorge, obwohl er nichts von dem wußte, was mit ihr vorgefallen war.

In den letzten zwei Tagen hatte er sich in einem so unbeschreiblichen Zustand befunden, daß er tatsächlich an Gehirnentzündung hätte erkranken können, wie er selbst später sagte. Aljoscha hatte ihn am Vormittag des vorhergehenden Tages nicht finden können, und seinem Bruder Iwan war es am selben Tag nicht gelungen, eine Zusammenkunft in dem Restaurant zustande zu bringen. Die Wirtsleute, bei denen Dmitri wohnte, verheimlichten befehlsgemäß seinen Aufenthaltsort. Er hatte sich während dieser beiden Tage buchstäblich nach allen Seiten gedreht und gewendet, »mit seinem Schicksal kämpfend und bemüht, sich zu retten«, wie er selbst sich später ausdrückte. Er hatte in einer dringenden Angelegenheit sogar für einige Stunden die Stadt verlassen, obwohl es ihm furchtbar war, wenn Gruschenka auch nur eine Minute unbeaufsichtigt zurückblieb. Alles dies wurde später in allen Einzelheiten durch unwiderlegliche Beweise festgestellt; jetzt beschränken wir uns auf die notwendigsten Tatsachen dieser zwei Tage seines Lebens, die der plötzlich über ihn hereinbrechenden schrecklichen Katastrophe vorausgingen.

Zwar hatte ihn Gruschenka eine Stunde lang wirklich und aufrichtig geliebt, doch hatte sie ihn gleichzeitig oftmals grausam und erbarmungslos gequält. Die Hauptsache war, daß er nichts von ihren Absichten zu erraten vermochte; auch mit Freundlichkeit oder Gewalt war aus ihr nichts herauszulocken. Sie hätte sich um keinen Preis zu einer Äußerung bewegen lassen, sondern wäre nur zornig geworden und hätte sich gänzlich von ihm abgewandt: das begriff er damals deutlich. Zugleich vermutete er sehr richtig, daß sie sich selbst in einem inneren Kampf, im Zustand außerordentlicher Unentschlossenheit befand, daß sie sich zu etwas entschließen mußte und sich dennoch nicht entschließen konnte. Daher nahm er schweren Herzens an, daß sie ihn mitsamt seiner Leidenschaft zeitweilig geradezu hassen mußte. So war es vielleicht auch; aber was Gruschenka eigentlich bedrückte, ahnte er doch nicht. Ihn quälte, strenggenommen, nur die Alternative: entweder er, Mitja, oder Fjodor Pawlowitsch. Er war übrigens fest davon überzeugt, daß Fjodor Pawlowitsch ihr die gesetzliche Ehe vorschlagen würde – wenn er es nicht schon getan hatte –, und er glaubte keinen Augenblick, daß der alte Lüstling lediglich mit dreitausend Rubeln zum Ziel zu kommen hoffte. Zu dieser Ansicht war Mitja gelangt, weil er Gruschenka und ihren Charakter kannte. Das war auch der Grund, weshalb er sich mitunter einredete, Gruschenkas Qual und ihre ganze Unentschlossenheit käme nur daher, daß sie nicht wußte, wen von ihnen beiden sie wählen sollte, wer von ihnen für sie wohl vorteilhafter wäre. An eine baldige Rückkehr des »Offiziers« aber, jenes Menschen, dessen Ankunft sie mit solcher Unruhe und Angst erwartete, dachte er in jenen Tagen merkwürdigerweise überhaupt nicht. Zwar hatte sich Gruschenka zu diesem Punkt ihm gegenüber in den letzten Tagen sehr schweigsam gezeigt, doch hatte er aus ihrem eigenen Mund von dem Brief erfahren, den sie vor einem Monat von ihrem früheren Verführer erhalten hatte; er kannte zum Teil sogar den Inhalt dieses Briefes. Gruschenka hatte ihn Mitja damals in einem Moment der Verärgerung gezeigt, aber zu ihrem Erstaunen hatte er diesem Brief fast keinen Wert beigelegt. Und es wäre sehr schwer zu erklären, warum. Vielleicht einfach deswegen, weil er, erregt durch die ganze Ungeheuerlichkeit des Kampfes mit seinem Vater um diese Frau, sich selbst nichts vorstellen konnte, was ihm, wenigstens zu dieser Zeit, gefährlicher hätte werden können. An einen Bewerber, der nach fünfjähriger Abwesenheit plötzlich wieder wie aus einer Kulisse hervorspringt, glaubte er einfach nicht, und schon gar nicht so bald.

Außerdem war in diesem ersten Brief des »Offiziers« von der Ankunft des neuen Nebenbuhlers nur sehr unbestimmt die Rede gewesen; er war nebelhaft und schwülstig gehalten und strotzte von empfindsamen Redensarten. Allerdings hatte Gruschenka ihm damals die letzten Zeilen des Briefes, in denen von der Rückkehr etwas bestimmter gesprochen war, verheimlicht. Überdies erinnerte sich Mitenka später, daß er auf Gruschenkas Gesicht in jenem Augenblick den unbewußten Ausdruck stolzer Verachtung über diese Botschaft aus Sibirien wahrgenommen hatte. Und später hatte sie ihm von allen weiteren Beziehungen zu diesem Nebenbuhler nichts mehr mitgeteilt. Auf diese Weise hatte er den Offizier allmählich ganz vergessen. Er hatte nur das eine im Kopf: Wie sich die Sache auch weiterentwickeln und welche Wendung sie auch nehmen mochte – der endgültige Zusammenstoß mit Fjodor Pawlowitsch stünde unmittelbar und unvermeidlich bevor. Gespannt erwartete er jeden Moment Gruschenkas Entscheidung. Er glaubte, diese müßte plötzlich erfolgen, gleichsam auf höhere Eingebung hin. So meinte er, sie würde auf einmal zu ihm sagen: »Nimm mich hin, ich bin auf ewig die Deine!« – und dann würde alle Not ein Ende haben. Er würde sie nehmen und ans Ende der Welt bringen. Oh, er würde sie sogleich wegbringen, malte er sich aus, so weit wie möglich, wenn nicht bis ans Ende der Welt, so doch irgendwohin an die Grenze Rußlands, wo er sie heiraten und sich inkognito mit ihr niederlassen würde, so daß niemand etwas von ihnen wissen konnte, weder hier noch dort noch sonstwo. Und dann würde sogleich ein neues Leben beginnen! Von diesem anderen, neuartigen, tugendhaften Leben – tugendhaft sollte es unbedingt sein, unbedingt! – phantasierte er fortwährend geradezu hingerissen. Er sehnte sich nach dieser Auferstehung und Erneuerung. Der schmutzige Pfuhl, in dem er nach eigenem Willen versunken war, ekelte ihn zu sehr an; und wie viele in solchen Fällen versprach er sich die beste Wirkung von einer Ortsveränderung: Nur weg von diesen Menschen, nur hinaus aus diesen Verhältnissen, nur fort von diesem verfluchten Ort – dann würde alles eine Wiedergeburt erleben, einen neuen Weg gehen! Daran glaubte er, mit diesen Gedanken quälte er sich ab.

Aber dies alles war nur denkbar im Fall einer positiven Entscheidung der Frage. Es gab aber auch eine andere Entscheidung, auch ein anderer, schrecklicher Ausgang war möglich. Sie konnte plötzlich zu ihm sagen: »Mach, daß du wegkommst! Ich habe mich für Fjodor Pawlowitsch entschieden und werde ihn heiraten! Dich kann ich nicht brauchen! … Und dann …« Mitja wußte nicht, was dann geschehen würde. Bis zur letzten Stunde wußte er es nicht; das muß zu seiner Verteidigung gesagt werden. Bestimmte Absichten hatte er nicht, er plante kein Verbrechen. Er beobachtete bloß, spionierte und quälte sich selbst – aber er bereitete sich doch nur auf den einen, auf den glücklichen Ausgang seines Geschicks vor. Er vertrieb sogar jeden anderen Gedanken.

Hier begann jedoch wiederum die nächste Qual; ein ganz neuer, fremdartiger, ebenso schwieriger, verhängnisvoller Umstand lag als Hindernis vor ihm. Falls sie nämlich zu ihm sagen sollte: »Ich bin die Deine, bring mich von hier fort!« – auf welche Weise konnte er sie dann fortbringen? Wo hatte er die Geldmittel dazu? Gerade zu diesem Zeitpunkt waren alle Einnahmen versiegt, die er bisher jahrelang aus Fjodor Pawlowitschs Zahlungen gehabt hatte. Freilich hatte Gruschenka Geld, doch Mitja legte in dieser Hinsicht auf einmal einen gewaltigen Stolz an den Tag. Er wollte sie auf eigene Kosten fortbringen und aus eigenen Mitteln, nicht aus ihren, ein neues Leben mit ihr beginnen. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, von ihr Geld anzunehmen, und litt unter diesem Gedanken bis zur Unerträglichkeit. Ich will mich über diese Tatsache jetzt nicht ausführlicher auslassen und keine psychologische Untersuchung darüber anstellen; ich vermerke nur, daß seine seelische Verfassung in diesem Augenblick so beschaffen war. Möglich, daß sich das alles indirekt und gewissermaßen unbewußt aus den Gewissensbissen ergab, die er sich wegen des von Katerina Iwanowna erschlichenen Geldes machte. ›Der einen gegenüber habe ich mich wie ein Schuft benommen, und der anderen gegenüber werde ich mich auch wieder als ein Schuft erweisen!‹ dachte er damals, wie er später selber gestand. ›Und wenn Gruschenka das erfährt, wird sie so einen Schuft nicht zum Mann haben wollen … Woher sollte er also dieses verhängnisvolle Geld nehmen? Sonst war vorauszusehen, daß alles in die Brüche ging und nichts zustande kam. Und einzig und allein, weil ich nicht genug Geld habe, welche Schmach!‹

Ich greife vor: Das war es ja eben, daß er vielleicht wußte, wo er dieses Geld erlangen konnte! Genaueres will ich diesmal nicht sagen, später wird alles klarwerden. Jedenfalls bestand gerade darin für ihn das Hauptunglück, und ich will dazu wenn auch nur unklar, noch folgendes sagen: Um ein Recht zu haben, dieses irgendwo liegende Geld zu nehmen, mußte er vorher Katerina Iwanowna die dreitausend Rubel zurückerstatten. ›Sonst bin ich ein Taschendieb, ein Schuft, und ich will mein neues Leben nicht als Schuft beginnen!‹ sagte sich Mitja und beschloß, notfalls die ganze Welt auf den Kopf zu stellen, aber Katerina Iwanowna diese dreitausend Rubel um jeden Preis zurückzugeben. Der Schlußprozeß dieser Entscheidung vollzog sich bei ihm während des letzten Zusammenseins mit Aljoscha, vor zwei Tagen, am Abend, nachdem Gruschenka Katerina Iwanowna beleidigt und Mitja sich selbst als Schuft bezeichnet und seinen Bruder gebeten hatte, Katerina Iwanowna dies zu bestellen, falls ihr das ein Trost sein konnte. In jener Nacht nach der Trennung von seinem Bruder hatte er sich in seiner Raserei gesagt, es sei für ihn sogar besser, jemand totzuschlagen und zu berauben, als Katja die geschuldete Summe nicht zurückzugeben. ›Lieber will ich vor dem Ermordeten und Beraubten und vor allen Menschen als Mörder und Dieb dastehen und nach Sibirien wandern, als daß Katja berechtigt sein soll zu sagen, ich hätte sie betrogen und ihr Geld gestohlen und sei mitsamt diesem Geld mit Gruschenka geflohen, um ein tugendhaftes Leben zu beginnen!‹ Und Mitja konnte sich zeitweilig wirklich vorstellen, daß er mit einer Gehirnentzündung enden werde. Doch einstweilen kämpfte er …

Merkwürdig, eigentlich schien ihm nun, angesichts einer solchen Entscheidung, nichts zu bleiben als zu verzweifeln: Woher plötzlich so eine Summe nehmen, noch dazu, wenn man so arm ist wie er? Und doch hoffte er die ganze Zeit bis zum Schluß, es könnte ihm irgendwie, notfalls mit Hilfe des Himmels, gelingen, die dreitausend Rubel zu beschaffen. Aber so geht es eben Leuten, die wie Dmitri Fjodorowitsch ihr ganzes Leben nur verstanden haben, das ihnen durch Erbschaft zugefallene Geld nutzlos zu verschwenden, und die keinen Begriff davon haben, wie Geld erworben wird. Ein Wirbelwind von Phantastereien hatte sich in seinem Kopf erhoben und alle seine Gedanken verwirrt, nachdem er sich vor zwei Tagen von Aljoscha getrennt hatte; er begann mit dem absonderlichsten Unternehmen – vielleicht scheinen solchen Menschen gerade in derartigen Lebenslagen die unmöglichsten, phantastischsten Unternehmungen am ehesten möglich.

Er beschloß, dem Kaufmann Samsonow, Gruschenkas Beschützer, einen »Plan« vorzulegen und sich dafür gleich die benötigte Geldsumme geben zu lassen. An seinem Plan zweifelte er in kommerzieller Hinsicht nicht im geringsten; zweifelhaft war ihm nur, wie Samsonow selbst sein Unternehmen ansehen würde, falls er Lust bekommen sollte, es eben nicht nur von der kommerziellen Seite zu betrachten. Mitja kannte diesen Kaufmann zwar von Angesicht, war jedoch nicht mit ihm bekannt und hatte mit ihm noch kein Wort gesprochen. Aber seltsamerweise hatte sich bei ihm die Überzeugung gebildet, und zwar schon seit längerer Zeit, dieser alte, schon vom Tode gezeichnete Wüstling würde sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt vielleicht gar nicht widersetzen, wenn Gruschenka ihr Leben irgendwie anständig gestalten und einen verläßlichen Menschen heiraten wollte, er würde es sogar selbst wünschen und gegebenenfalls selbst dazu beitragen. Ferner glaubte Mitja, sei es auf Grund irgendwelcher Gerüchte oder irgendwelcher Äußerungen Gruschenkas, der Alte würde ihn für Gruschenka Fjodor Pawlowitsch vielleicht vorziehen.

Vielleicht erscheint diese Spekulation auf Hilfe, diese Absicht, die Braut sozusagen aus den Händen ihres Beschützers zu empfangen, vielen Lesern zu unfein und skrupellos. Demgegenüber kann ich nur sagen, daß Mitja Gruschenkas Vergangenheit schon als abgeschlossen betrachtete. Er betrachtete sie mit grenzenlosem Mitleid und glaubte mit allem Feuer seiner Leidenschaft, sobald Gruschenka einmal erklärte, daß sie ihn liebe und ihn heiraten wolle, würde es sofort eine ganz neue Gruschenka geben und mit ihr auch einen ganz neuen Dmitri Fjodorowitsch, frei von allen Lastern und nur mit Tugenden ausgestattet; sie würden einander alles vergeben und zusammen ein neues Leben anfangen. Und was Kusma Samsonow betraf, so war er der Ansicht, dieser habe zwar erheblich in Gruschenkas früheres, abgetanes Leben eingegriffen, sie aber habe ihn nie geliebt, und vor allem sei er ebenfalls schon »vergangen« und erledigt und jetzt gewissermaßen als nicht existent zu betrachten. Außerdem konnte Mitja ihn nicht mehr als Mann ansehen, wo doch jeder in der Stadt wußte, daß er nur noch eine hinfällige Ruine war und zu Gruschenka sozusagen nur noch väterliche Beziehungen unterhielt, und dies schon lange, fast schon seit einem Jahr. Jedenfalls bewies Mitja dabei eine große Naivität: Bei all seinen Lastern war er doch ein sehr naiver Mensch. In seiner Naivität glaubte er unter anderem allen Ernstes, der alte Kusma, im Begriff, in eine andere Welt einzugehen, fühle aufrichtige Reue wegen seines früheren Verhältnisses zu Gruschenka, und sie habe jetzt keinen ergebeneren Beschützer und Freund als diesen bereits unschädlich gewordenen alten Mann.

Am Tag nach seinem Gespräch mit Aljoscha, nach dem Mitja die ganze Nacht fast nicht geschlafen hatte, erschien er gegen zehn Uhr vormittags in Samsonows Haus und ließ sich melden. Dieses Haus, alt, finster, geräumig, hatte zwei Stockwerke und auf dem Hof einen Seitenflügel, mit mehreren Nebengebäuden. Im unteren Stockwerk wohnten zwei verheiratete Söhne Samsonows mit ihren Familien, eine sehr alte Schwester von ihm und eine unverheiratete Tochter. Im Seitenflügel waren seine beiden Gehilfen untergebracht, von denen der eine ebenfalls eine große Familie hatte. Die Kinder Samsonows wie auch seine Gehilfen waren in ihren Wohnungen sehr eingeengt, denn das obere Stockwerk des Hauses benutzte der Alte allein, und er ließ nicht einmal seine Tochter bei sich wohnen, die ihn pflegte und trotz der Atembeschwerden, an denen sie schon lange litt, von unten zu ihm hinauflaufen mußte, sooft er sie rief. Dieses Obergeschoß bestand aus einer Menge von Paradezimmern, die nach Art der damaligen Kaufmannswohnungen mit langweiligen Reihen plumper Mahagonisessel und -stühle, kristallenen Kronleuchtern und trüb gewordenen Spiegeln an den Fensterpfeilern ausgestattet waren. Alle diese Zimmer standen leer und waren unbewohnt, da der kranke Alte nur in seinem abgelegenen kleinen Schlafzimmer hauste, bedient von einer alten Magd, die ihr Haar in einem Kopftuch trug, und einem Burschen, der sich stets im Vorzimmer aufhielt und dort auf einer Truhe schlief. Gehen konnte der alte Mann wegen seiner geschwollenen Beine kaum noch. Er erhob sich nur selten aus seinem Ledersessel; die alte Magd faßte ihn dann unterm Arm und führte ihn ein- oder zweimal im Zimmer umher.

Als ihm der »Hauptmann« gemeldet wurde, befahl er sogleich, ihn abzuweisen. Doch Mitja bestand auf seiner Absicht und ließ sich noch einmal melden. Kusma Kusmitsch befragte den Burschen eingehend: wie der Herr aussehe, ob er auch nicht betrunken sei, ob er auch keinen Krakeel mache. Es wurde ihm geantwortet, er sei nüchtern, wolle aber nicht weggehen. Der Alte befahl wieder, ihn abzuweisen. Da schrieb Mitja, der das alles vorhergesehen und für diesen Fall absichtlich Papier und Bleistift mitgenommen hatte, mit großen, deutlichen Buchstaben auf ein Stück Papier: »In einer sehr dringenden Angelegenheit, die Agrafena Alexandrowna nah berührt!« Das schickte er dem Alten hinein. Nach einigem Überlegen befahl der dem Burschen, den Besucher in den Saal zu führen; die alte Magd schickte er aber mit dem Auftrag an seinen jüngsten Sohn nach unten, er möchte sogleich nach oben kommen. Dieser jüngste Sohn, ein Mann von gewaltigem Wuchs und außergewöhnlicher Körperkraft, der keinen Bart trug und sich nach deutscher Art kleidete, während Samsonow selbst in einem Kaftan ging und einen Vollbart trug, erschien sofort, denn wie alle zitterte er vor dem Vater. Der Alte hatte den jungen Mann nicht etwa aus Furcht vor dem »Hauptmann« rufen lassen – er war von Natur keineswegs ängstlich –, sondern nur so für alle Fälle, mehr um einen Zeugen zu haben.

Schließlich erschien der Alte im Saal, begleitet von seinem Sohn, der ihn untergefaßt hatte, und dem Burschen. Es ist anzunehmen, daß er unter anderem ziemlich neugierig war. Der Saal, in dem Mitja wartete, war gewaltig groß und sehr düster; er rief unwillkürlich eine trübe, gedrückte Stimmung hervor, mit den zwei Fensterreihen, den Galerien, den »marmorierten« Wänden und den drei riesigen Kristallkronleuchtern in Überzügen.

Mitja saß auf einem Stuhl an der Eingangstür und erwartete in nervöser Ungeduld sein Schicksal. Als der Alte am gegenüberliegenden Eingang erschien, dreißig Schritte von Mitja entfernt, sprang er sofort auf und ging ihm mit festen, langen Militärschritten entgegen. Mitja war anständig gekleidet: zugeknöpfter Oberrock, den Zylinderhut in der Hand, schwarze Handschuhe – genauso wie vor zwei Tagen in der Zelle des Starez, bei der Familienzusammenkunft mit Fjodor Pawlowitsch und den Brüdern. Der Alte erwartete ihn stehend, mit würdevoller, ernster Miene, und Mitja fühlte sofort, daß er ihn von Kopf bis Fuß musterte. Auch fiel ihm Kusma Kusmitschs Gesicht auf, das in der letzten Zeit außerordentlich angeschwollen war: Die an sich schon dicke Unterlippe glich jetzt einem herabhängenden Fladen. Würdevoll und schweigend verbeugte er sich vor dem Gast und bot ihm einen Lehnsessel neben dem Sofa an; er selbst setzte sich, auf den Arm seines Sohnes gestützt und schmerzlich ächzend, Mitja gegenüber auf das Sofa. Und Mitja verspürte beim Anblick dieser schmerzlichen Anstrengungen sogleich Reue und feine Scham, weil er, ein unbedeutender Mensch, eine so würdige Persönlichkeit belästigte.

»Was steht Ihnen zu Diensten, mein Herr?« fragte der Alte endlich langsam, deutlich und ernst, aber höflich.

Mitja fuhr zusammen, schien aufspringen zu wollen, setzte sich aber gleich wieder hin. Dann begann er sofort zu sprechen: laut, schnell, nervös, mit lebhaften Handbewegungen und sichtlich aufgeregt. Zweifellos war dieser Mensch am Rande der Verzweiflung angelangt, er sah sich schon verloren und suchte einen letzten Ausweg, bereit, sich sofort ins Wasser zu stürzen, falls auch der fehlschlug.

Dies alles durchschaute der alte Samsonow wahrscheinlich in einem Augenblick, obgleich sein Gesicht unbeweglich und kalt blieb wie das eines Götzenbildes.

»Der hochverehrte Kusma Kusmitsch hat gewiß schon wiederholt von meinen Streitigkeiten mit meinem Vater Fjodor Pawlowitsch Karamasow gehört, der mich meines mütterlichen Erbes beraubt hat … weil ja die ganze Stadt voll davon ist … Denn hier schwatzen alle Leute von Dingen, die sie nichts angehen … Und außerdem konnten Sie auch durch Gruschenka davon erfahren haben … Pardon, durch Agrafena Alexandrowna, durch die von mit hochverehrte, hochgeachtete Agrafena Alexandrowna …

So begann Mitja, stockte aber schon nach den ersten Worten. Wir werden seine ganze Rede nicht wörtlich anführen, sondern nur den Inhalt angeben. Die Sache sei die, daß er, Mitja, schon vor drei Monaten ausdrücklich einen Rechtsanwalt in der Gouvernementsstadt um Rat gefragt habe, »einen berühmten Rechtsanwalt, Pawel Pawlowitsch Korneplodow, Sie haben sicher von ihm gehört, Kusma Kusmitsch? Eine breite Stirn, ein fast staatsmännischer Geist … Er kennt Sie ebenfalls, er äußerte sich über Sie sehr achtungsvoll …« Hier blieb Mitja zum zweitenmal stecken. Durch solches Mißgeschick ließ er sich jedoch nicht aufhalten: Er ging ohne Zögern über vieles hinweg und strebte immer nur vorwärts. Dieser Korneplodow also habe ihn eingehend befragt und die Dokumente durchgesehen, die er, Mitja, ihm habe vorlegen können; über diese Dokumente drückte sich Mitja besonders unklar aus, an dieser Stelle hatte er es besonders eilig. Dann habe er sich dahingehend geäußert, daß man wegen des Dorfes Tschermaschnja, welches rechtmäßig ihm, Mitja, als Erbteil gehöre, tatsächlich einen Prozeß anstrengen und damit dem schändlichen Alten einen gehörigen Hieb versetzen könne … Denn nicht alle Türen sind verschlossen, und die Advokaten wissen schon, wo man durchkommen kann. Kurz, man könne sogar auf sechstausend Rubel Nachzahlung von Fjodor Pawlowitsch hoffen; ja auf siebentausend, da Tschermaschnja immerhin nicht weniger als fünfundzwanzigtausend Rubel wert sei, das heißt gewiß achtundzwanzigtausend.«

»Dreißigtausend, dreißigtausend, Kusma Kusmitsch! Und denken Sie, ich habe noch nicht einmal siebzehntausend von diesem hartherzigen Menschen bekommen! Ich habe die Sache damals fallen gelassen, denn ich verstehe mich nicht auf das Gerichtswesen. Doch als ich hierherkam, wurde ich starr vor Staunen: Er wollte eine Gegenklage gegen mich einreichen!« Hier geriet Mitja wieder in Verwirrung und ging wieder über dies und jenes kurz hinweg. »Wären also nicht vielleicht Sie geneigt, hochverehrter Kusma Kusmitsch, alle Ansprüche, die ich an diesen Unmenschen habe, zu übernehmen und mir dafür lumpige dreitausend Rubel zu geben? Sie können ja in keinem Fall etwas verlieren, darauf gebe ich Ihnen mein heiliges Ehrenwort! Sie können vielmehr sechs- oder siebentausend für die dreitausend gewinnen. Die Hauptsache ist, daß wir die Sache gleich heute abschließen. Ich will Ihnen bei einem Notar, oder wo Sie sonst … Kurz, ich bin zu allem bereit! Ich übergebe Ihnen alle Dokumente, die Sie verlangen, ich unterschreibe alles. Und wir sollten dieses Schriftstück sogleich fertigstellen, wenn es irgend möglich ist, noch heute vormittag … Sie könnten mir diese dreitausend Rubel auszahlen … Denn welcher Kapitalist in diesem Städtchen könnte sich mit Ihnen messen? Und Sie würden mich damit retten … Kurzum, Sie würden mein armes Haupt für ein edles Werk retten, für ein erhabenes Werk, kann man sagen! Ich hege nämlich die edelsten Gefühle für eine gewisse Person, die Sie genau kennen und für die Sie väterlich sorgen. Wenn nicht väterlich, wäre ich nicht gekommen. Und man kann sagen, hier stoßen drei Personen mit den Stirnen zusammen – denn das Schicksal ist ein grausames Wesen, Kusma Kusmitsch! Das ist die Realität, Kusma Kusmitsch, die Realität! Und da man Sie schon lange ausschließen muß, bleiben noch zwei Stirnen übrig. Ich habe das vielleicht nicht sehr geschickt ausgedrückt, aber ich bin eben kein Literat. Das heißt, die eine Stirn ist meine eigene und die andere die dieses Unmenschen. Also wählen Sie: entweder ich oder der Unmensch! Alles liegt jetzt in Ihrer Hand – drei Schicksale und zwei Lose … Verzeihen Sie, ich habe mich verheddert, aber Sie verstehen mich schon … Ich sehe es an Ihren geschätzten Augen, daß Sie mich verstanden haben. Und wenn Sie mich nicht verstanden haben, gehe ich noch heute ins Wasser – so steht die Sache!«

Mit diesen Worten brach Mitja seine sinnlose Rede ab, sprang von seinem Platz auf und erwartete die Antwort auf seinen dummen Vorschlag. Bei seinem letzten Satz hatte er plötzlich gefühlt, daß alles hoffnungslos verloren war, und besonders, daß er furchtbaren Unsinn zusammengeschwatzt hatte.

›Merkwürdig: während ich herging, erschien mir alles gut, doch jetzt ist es der, reine Unsinn!‹ Dieser Gedanke ging dem Hoffnungslosen plötzlich durch den Kopf.

Die ganze Zeit, während Mitja redete, hatte der Alte dagesessen, ohne sich zu rühren, und ihn mit eisiger Miene beobachtet. Nachdem Kusma Kusmitsch ihn ungefähr eine Minute hatte warten lassen, sagte er endlich im Tonfall entschiedenster Absage. »Entschuldigen Sie, mit solchen Sachen geben wir uns nicht ab.«

Mitja spürte auf einmal, wie ihm die Beine schwach wurden.

»Was soll ich denn nun anfangen, Kusma Kusmitsch?« murmelte er mit einem matten, gezwungenen Lächeln. »Ich bin jetzt verloren, sagen Sie doch selbst.«

»Entschuldigen Sie …«

Mitja stand noch immer da und blickte starr vor sich hin. Plötzlich bemerkte er, daß sich im Gesicht des Alten etwas bewegte, und er fuhr zusammen.

»Sehen Sie, mein Herr … Uns sind solche Sachen – unbequem«, sagte der Alte langsam. »Da hat man mit den Gerichten und Advokaten zu tun, eine höchst unerquickliche Geschichte! Aber wenn Sie wollen, da ist ein Mann, an den könnten Sie sich wenden …«

»Mein Gott, wer ist es denn? Sie geben mich dem Leben wieder, Kusma Kusmitsch!« stammelte Mitja.

»Er ist kein Hiesiger, dieser Mann, und er ist jetzt auch nicht hier. Er stammt aus dem Bauernstand und handelt mit Holz, sein Name ist Ljagawy. Mit Fjodor Pawlowitsch feilscht er schon ein Jahr um Ihren Wald in Tschermaschnja; sie können über den Preis nicht einig werden, vielleicht haben Sie davon gehört. Jetzt ist er gerade wieder hingefahren. Er wohnt zur Zeit bei dem Popen von Iljinskoje, das werden etwa zwölf Werst von der Station Wolowja sein, im Dorf Iljinskoje. Er hat in dieser Angelegenheit, das heißt wegen des Waldes, auch an mich geschrieben und mich um Rat gefragt. Fjodor Pawlowitsch will selbst zu ihm fahren. Wenn Sie also Fjodor Pawlowitsch zuvorkommen und diesem Ljagawy dasselbe vorschlagen wie mir, dann würde er vielleicht …«

»Ein genialer Gedanke!« unterbrach ihn Mitja entzückt. »Das muß ihm wie gerufen kommen, haargenau wie gerufen! Er feilscht um den Wald, ihm wird zuviel abverlangt, und nun bekommt er gleich noch ein Dokument über den Besitz selbst, hahaha!« Und Mitja brach in ein kurzes, hölzernes Lachen aus, das so unerwartet kam, daß sogar Samsonow mit dem Kopf zuckte.

»Wie kann ich Ihnen dafür danken, Kusma Kusmitsch?« rief Mitja begeistert.

»Kein Anlaß«, erwiderte Samsonow und neigte den Kopf.

»Aber Sie wissen nicht, daß Sie mich gerettet haben! Oh, eine Ahnung führte mich zu Ihnen! Also, hin zu diesem Popen!«

»Kein Grund zum Dank, Herr.«

»Ich eile, ich fliege, ich habe sträflicherweise Ihren Gesundheitszustand außer acht gelassen. Ich werde Ihnen das mein Leben lang nicht vergessen, das sage ich Ihnen als echter Russe, Kusma Kusmitsch! Als echter R-russe!«

»Schön, schön!«

Mitja wollte die Hand des Alten ergreifen und sie schütteln, doch ein boshafter Ausdruck blitzte in dessen Augen auf. Mitja zog seine Hand zurück, machte sich aber sofort selbst Vorwürfe wegen seines Mißtrauens. ›Er ist müde!‹ sagte er sich. »Für sie! Für sie, Kusma Kusmitsch! Sie verstehen, daß es nur für sie ist!« schrie er plötzlich durch den ganzen Saal, verbeugte sich, wandte sich kurz um und eilte mit denselben schnellen, langen Schritten zum Ausgang, ohne sich noch einmal umzudrehen.

›Alles war schon verloren, und da hat mich mein Schutzengel gerettet!‹ ging es ihm durch den Kopf. ›Wenn ein Geschäftsmann wie dieser Alte (ein edeldenkender alter Mann, und was hat er für eine würdige Haltung!) – wenn er mir diesen Weg gezeigt hat, dann ist die Sache natürlich so gut wie gewonnen. Ich will sofort hineilen. Vor Anbruch der Nacht bin ich zurück, nun, meinetwegen auch erst in der Nacht, aber die Sache wird zum guten Ende gebracht! Es ist doch nicht denkbar, daß sich der Alte über mich lustig gemacht hat?‹

So dachte Mitja, als er nach Hause ging, und allerdings konnten sich seinem Geist auch nur zwei Möglichkeiten darbieten: Entweder war das ein vernünftiger Rat von einem Praktiker, der sich auf Geschäfte verstand und auch diesen Ljagawy kannte, ein sonderbarer Name übrigens – oder der Alte hatte sich über ihn lustig gemacht! Leider war der letztere Gedanke der richtige. Später, sehr viel später, als die ganze Katastrophe schon geschehen war, gestand der alte Samsonow selbst lachend, den »Hauptmann« damals zum besten gehalten zu haben. Er war ein boshafter, kalter, spottlustiger Mensch, der überdies krankhafte Antipathien hatte. War es die begeisterte Miene des »Hauptmanns« oder war es die dumme Zuversicht dieses »Schlemmers und Verschwenders«, er, Samsonow, müßte auf solchen Unsinn wie diesen »Plan« hereinfallen, oder war es ein eifersüchtiges Gefühl Gruschenkas wegen, um derentwillen dieser »Galgenstrick« mit seiner unsinnigen Bitte zu ihm gekommen war – ich weiß nicht, was eigentlich auf den Alten gewirkt hatte. In dem Augenblick jedenfalls, als Mitja vor ihm stand und fühlte, daß ihm die Beine schwach wurden, als er halb von Sinnen rief, daß er verloren sei – in dem Augenblick hatte sich der Alte voll grenzenloser Bosheit vorgenommen, ihn anzuführen.

Als Mitja hinausgegangen war, wandte sich Kusma Kusmitsch, blaß vor Zorn, an seinen Sohn und befahl, dafür zu sorgen, daß dieser Lumpenkerl nie wieder hereingelassen würde, nicht einmal auf den Hof, sonst … Er sprach seine Drohung nicht zu Ende aus, doch selbst sein Sohn, der ihn oft zornig gesehen hatte, fuhr vor Schreck zusammen. Noch eine Stunde danach zitterte der Alte vor Wut am ganzen Körper, und gegen Abend wurde er krank und schickte nach seinem Arzt.

2. Ljagawy

Mitja mußte also sofort losfahren, Geld für Pferde besaß er jedoch nicht; das heißt, er besaß zwei Zwanzigkopekenstücke: Das war alles, was ihm aus den Jahren früheren Wohlstandes geblieben war. Aber er hatte zu Hause noch eine alte silberne Uhr liegen, die schon längst nicht mehr ging. Die trug er zu einem jüdischen Uhrmacher, der in der Ladenstraße einen kleinen Laden hatte, und erhielt dafür sechs Rubel. »Auch das hatte ich nicht erwartet!« rief Mitja entzückt – er befand sich noch immer in einem Zustand der Begeisterung –, nahm die sechs Rubel und lief nach Hause. Dort vermehrte er diese Summe noch, indem er sich drei Rubel von seinen Wirtsleuten borgte, die sie ihm gern gaben, obwohl es ihr letztes Geld war – so sehr mochten sie ihn. Mitja entdeckte ihnen ohne Umschweife, daß sich jetzt sein Schicksal entscheiden müsse, und erzählte ihnen, selbstverständlich nur flüchtig, fast seinen ganzen »Plan«, den er soeben dem alten Samsonow vorgetragen hatte, danach dessen Antwort, seine Hoffnungen für die Zukunft und so weiter und so fort. Seine Wirtsleute waren auch früher schon in viele seiner Geheimnisse eingeweiht worden und betrachteten ihn daher als ihresgleichen und nicht als einen stolzen gnädigen Herrn.

Nachdem Mitja auf diese Weise neun Rubel zusammengebracht hatte, ließ er Postpferde holen, um nach Wolowja zu fahren. Aber dadurch wurde eine Tatsache offenkundig, die sich dann im Gedächtnis der Betreffenden einprägte: daß nämlich Mitja am Tag vor einem bestimmten Ereignis, und zwar gegen Mittag, keine Kopeke besaß, daß er, um sich Geld zu verschaffen, seine Uhr verkaufte und sich drei Rubel von seinen Wirtsleuten borgte, und das alles in Gegenwart von Zeugen … Ich notiere diese Tatsache im voraus; später wird klar werden, warum.

Während Mitja nach Wolowja jagte, strahlte sein Gesicht zwar in dem freudigen Vorgefühl, daß er nun endlich »alle diese Angelegenheiten« glücklich erledigen würde, dennoch quälte ihn auch die Unruhe: Was geschieht in seiner Abwesenheit mit Gruschenka? Ob sie sich nicht vielleicht gerade heute entschließt, zu Fjodor Pawlowitsch zu gehen? Das war auch der Grund, weshalb er ihr von seiner Abreise nichts mitgeteilt und seinen Wirtsleuten aufgetragen hatte, niemandem zu sagen, wo er geblieben war. ›Ich muß unbedingt heute abend wieder zurück sein!‹ sagte er sich wiederholt, während er auf dem Bauernwagen durchgerüttelt wurde. ›Und diesen Ljagawy muß ich womöglich auch gleich mitschleppen, damit wir dieses Schriftstück fertigstellen.‹ So dachte Mitja sorgenvoll; doch war es seinen Gedanken leider nicht beschieden, »plan«gemäß verwirklicht zu werden.

Erstens kam er von der Station Wolowja aus später, als er gerechnet hatte, ans Ziel. Es stellte sich heraus, daß der Landweg nicht zwölf, sondern achtzehn Werst lang war. Zweitens traf er den Popen von Iljinskoje nicht zu Hause an; dieser hatte sich in ein Nachbardorf begeben. Ehe Mitja mit den schon erschöpften Pferden in diesem Nachbardorf angelangt war und ihn dort ausfindig gemacht hatte, war schon beinahe die Nacht angebrochen. Der Pope, ein schüchternes, freundliches Männchen, erklärte ihm, dieser Ljagawy habe zwar ursprünglich bei ihm logieren wollen, befinde sich aber jetzt in Suchoi Posjolok und werde dort in dem Häuschen eines Waldhüters übernachten, weil er auch dort wegen eines Waldes verhandle. Auf Mitjas dringende Bitte, ihn sogleich zu Ljagawy zu führen und »ihn dadurch sozusagen zu retten«, erklärte sich der Pope nach anfänglichem Zaudern bereit, ihn nach Suchoi Posjolok zu begleiten, weil er offenbar eine starke Neugier verspürte; aber leider riet er, zu Fuß zu gehen, da es nur »ein ganz klein wenig über eine Werst« sei. Mitja willigte selbstverständlich ein und lief mit seinen großen Schritten so drauflos, daß der arme Pope beinahe rennen mußte. Er war ein noch nicht alter und sehr vorsichtiger Mann. Mitja sprach auch mit ihm sofort über seine »Pläne« und verlangte in hitzigem, nervösem Ton ständig Ratschläge bezüglich Ljagawys. Der Pope hörte aufmerksam zu, gab allerdings kaum einen Rat. Auf Mitjas Fragen antwortete er ausweichend: »Ich weiß nicht … Ach, das weiß ich nicht … Woher sollte ich das wohl wissen?«, und so weiter. Als Mitja von seinen Erbschaftsstreitigkeiten mit dem Vater redete, wurde der Pope sogar ängstlich, weil er zu Fjodor Pawlowitsch in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis stand.

Übrigens fragte er erstaunt, warum Mitja diesen handeltreibenden Bauern Gorstkin immer Ljagawy nenne, und erklärte ihm, Ljagawy sei nur sein Spitzname; Gorstkin fühle sich durch diesen Namen sehr gekränkt, und man müsse ihn unbedingt Gorstkin nennen. »Sonst werden Sie bei ihm nichts erreichen, und er wird Sie nicht einmal anhören!«schloß der Pope.

Mitja wunderte sich ein wenig, habe doch Samsonow selbst den Betreffenden so genannt. Als der Pope das hörte, brach er dieses Gespräch sofort ab, obgleich er Dmitri Fjodorowitsch seine Vermutung lieber gleich hätte mitteilen sollen: daß Samsonow, wenn er ihn zu diesem Bauern geschickt und den dabei Ljagawy genannt habe, sich wohl lustig machen wollte und daß da etwas nicht in Ordnung zu sein scheine.

Mitja hatte jedoch keine Zeit, sich »bei solchen Kleinigkeiten« aufzuhalten. Er schritt eilig aus, und erst als er in Suchoi Posjolok angekommen war, merkte er, daß sie nicht eine Werst und nicht anderthalb Werst gegangen waren, sondern mindestens drei. Das ärgerte ihn, aber er beherrschte sich.

Sie kamen zu dem Häuschen. Der Waldhüter, ein Bekannter des Popen, bewohnte die eine Hälfte des Häuschens; in der anderen, der »guten Stube«, jenseits des Flurs, hatte sich Gorstkin einquartiert. Sie traten in diese gute Stube ein und zündeten ein Talglicht an. Die Stube war überheizt. Auf einem Tisch aus Fichtenholz standen ein erloschener Samowar, ein Präsentierteller mit Tassen, eine ausgetrunkene Flasche Rum und eine nicht ganz ausgetrunkene Flasche Branntwein; Reste eines Weißbrotes lagen auch umher. Der Gast selbst hatte sich auf einer Bank ausgestreckt, den zusammengeballten Rock statt eines Kissens unter dem Kopf, und schnarchte gewaltig. Mitja war zunächst unentschlossen, doch dann sagte er in seiner Unruhe: »Natürlich muß ich ihn wecken, meine Angelegenheit ist höchst wichtig. Ich habe mich so beeilt und muß heute noch zurück. » Der Pope und der Waldhüter standen da, ohne ihre Meinung auszusprechen. Mitja trat zu dem Schlafenden und versuchte ihn zu wecken. Er versuchte es mit aller Energie, der Schläfer wachte nicht auf. »Er ist betrunken!« rief Mitja. »Was soll ich machen, o Gott, was soll ich machen?« Und er machte sich in seiner Ungeduld daran, ihm den Kopf zu schütteln, ihn hochzuheben und ihn auf die Bank zu setzen; dennoch erreichte er nach langen Bemühungen nur, daß dieser anfing, sinnlos zu brüllen und laute, aber unverständliche Flüche auszustoßen.

»Es wäre doch besser, wenn Sie warteten«, sagte der Pope endlich. »Es ist offenbar nichts mit ihm anzufangen.«

»Er hat den ganzen Tag getrunken«, bemerkte der Waldhüter.

»O Gott!« rief Mitja. »Wenn Sie wüßten, wie dringend ich mit ihm sprechen muß und in welcher Verzweiflung ich mich befinde!«

»Nein, wirklich, Sie warten besser bis zum Morgen«, sagte der Pope noch einmal.

»Bis zum Morgen? Ich bitte Sie, das ist unmöglich!«

Und erneut bemühte er sich verzweifelt, den Betrunkenen zu wecken, ließ jedoch sogleich wieder von diesem Versuch ab, als er die völlige Nutzlosigkeit seiner Bemühungen einsah. Der Pope schwieg, der verschlafene Waldhüter machte ein finsteres Gesicht.

»Was für furchtbare Tragödien spielt die Realität mit den Menschen!« sagte Mitja in heller Verzweiflung. Der Schweiß trat ihm ins Gesicht. Der Pope nutzte diesen Moment und setzte ihm sehr vernünftig auseinander, daß Gorstkin, selbst wenn es gelänge, ihn zu wecken, in seiner Betrunkenheit doch nicht imstande wäre, ein Gespräch zu führen. »Sie haben doch eine wichtige Angelegenheit, da wird es schon richtiger sein, es bis zum Morgen zu lassen.«

Mitja breitete verzweifelt die Arme aus und fügte sich.

»Ich werde in dieser Stube bleiben, Väterchen, das Licht brennen lassen und versuchen, ob ich einen geeigneten Augenblick erhaschen kann. Sowie er aufwacht, werde ich anfangen … Das Licht, werde ich dir bezahlen«, wandte er sich an den Waldhüter. »Und das Nachtquartier ebenfalls – du sollst Dmitri Karamasow in guter Erinnerung behalten. Ich weiß nur nicht, was mit Ihnen wird, Väterchen? Wo werden Sie sich denn hinlegen?«

»Ich werde nach Hause zurückkehren. Mit seiner kleinen Stute. »Er deutete auf den Waldhüter. »So leben Sie wohl! Ich wünsche Ihnen, daß Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigen.«

So geschah es denn auch. Der Pope fuhr mit der Stute weg, froh, daß er endlich losgekommen war; und doch schüttelte er nachdenklich den Kopf und überlegte, ob er nicht gleich morgen früh Fjodor Pawlowitsch über dieses merkwürdige Ereignis benachrichtigen sollte. Sonst erfährt er es womöglich von anderer Seite, wird ärgerlich und stellt seine Spenden ein! Der Waldhüter kratzte sich im Nacken und begab sich schweigend in seine Stube. Mitja aber setzte sich auf eine Bank, um, wie er sich ausgedrückt hatte, einen geeigneten Augenblick zu erwischen. Ein tiefer Kummer lagerte sich wie schwerer Nebel auf seine Seele. Er saß da und grübelte, war aber nicht imstande, etwas klar zu überlegen. Das Licht brannte herunter, ein Heimchen zirpte, in der überheizten Stube wurde die Luft unerträglich dunstig. Plötzlich trat ihm ein Garten vor Augen, ein Gang hinter dem Garten, beim Vater öffnet sich geheimnisvoll eine Tür, und durch die Tür läuft Gruschenka hinein … Er sprang von der Bank auf.

»Eine Tragödie!« sagte er zähneknirschend, trat unbewußt zu dem Schlafenden hin und sah ihm ins Gesicht.

Es war ein magerer, noch nicht alter Bauer, mit einem länglichen Gesicht, rötlichem, lockigem Haar, mit einem langen, dünnen, rötlichen Bärtchen. Bekleidet war er mit einem Kattunhemd und einer schwarzen Weste, aus deren Tasche die Kette einer Uhr herausschaute. Mitja betrachtete dieses Gesicht mit furchtbarem Haß, und aus einem nicht recht verständlichen Grund war ihm vor allem der Umstand verhaßt, daß der Schläfer lockiges Haar hatte. Besonders war es für ihn unerträglich beleidigend, daß er, Mitja, der so vieles geopfert und so vieles im Stich gelassen hatte, mit seiner dringenden Angelegenheit nun so erschöpft hier stand, während dieser Faulpelz, von dem jetzt sein ganzes Schicksal abhing, schnarchte, als ob gar nichts los wäre. »O Ironie des Schicksals!« rief Mitja aus und machte sich noch einmal daran, den betrunkenen Bauern zu wecken. Und zwar tat er das, nun gänzlich den Kopf verlierend, in einem richtigen Anfall von Wut; er riß ihn, stieß ihn, schlug ihn sogar. Doch nachdem er sich etwa fünf Minuten lang wiederum vergeblich abgemüht hatte, kehrte er in ohnmächtiger Verzweiflung zu seiner Bank zurück und setzte sich hin.

»Zu dumm!« rief er aus. »Und wie ehrlos das alles ist!« fügte er noch hinzu. Der Kopf begann ihm furchtbar weh zu tun. ›Soll ich aufgeben und zurückfahren?‹ überlegte er. ›Nein, nun will ich auch bis zum Morgen bleiben. Jetzt bleibe ich erst recht, jetzt erst recht! Wozu wäre ich sonst überhaupt hergekommen? Und es ist auch kein Fuhrwerk da, mit dem ich fahren könnte! Wie soll ich jetzt von hier wegkommen? O diese absurde Lage!‹

Sein Kopfschmerz wurde immer schlimmer. Er saß da, ohne sich zu rühren, und merkte nicht, wie er im Sitzen einschlief. Er mußte zwei Stunden oder noch etwas länger geschlafen haben, als er von einem unerträglichen Kopfschmerz erwachte, so unerträglich, daß er hätte schreien mögen. In den Schläfen hämmerte das Blut, der Scheitel tat ihm weh, noch längere Zeit nach dem Aufwachen konnte er nicht recht zu sich kommen und begreifen, was eigentlich mit ihm vorgegangen war. Endlich merkte er, daß sich in der überheizten Stube ein furchtbarer Kohlendunst befand und daß er davon vielleicht hätte sterben können. Der betrunkene Bauer aber lag immer noch da und schnarchte; das Licht war nahe daran auszugehen. Mitja schrie auf und eilte schwankend durch den Flur in die Stube des Waldhüters. Der erwachte schnell; als er hörte, daß in der anderen Stube Kohlendunst war, ging er zwar, das Erforderliche zu tun, nahm die Tatsache jedoch so seltsam gleichmütig hin, daß Mitja sich wunderte und gekränkt fühlte.

»Wenn er nun gestorben wäre, was dann?« schrie Mitja ihn zornig an.

Tür, Fenster und Ofenröhre wurden geöffnet. Mitja schleppte aus dem Flur einen Eimer Wasser herbei und befeuchtete zuerst sich selbst den Kopf; dann tauchte er einen Lappen ins Wasser und legte ihn dem schlafenden Ljagawy auf den Kopf. Der Waldhüter aber behandelte den ganzen Vorfall weiterhin mit Geringschätzung und sagte, nachdem er das Fenster geöffnet hatte, mürrisch: »Na, nun wird’s wohl gut sein!« Und ging wieder schlafen; eine Blechlaterne, die er noch angezündet hatte, ließ er Mitja zurück. Mitja mühte sich mit dem Betrunkenen, der vom Kohlendunst halb vergiftet war, noch ungefähr eine halbe Stunde lang ab, indem er ihm fortwährend den Kopf naß machte, und nahm sich ernstlich vor, die ganze Nacht nicht mehr zu schlafen. Ermattet setzte er sich nur für einen Augenblick hin, um sich zu erholen, schloß jedoch die Augen, streckte sich sofort unbewußt auf der Bank aus und schlief im nächsten Moment wie ein Toter.

Er erwachte erst sehr spät. Es war schon ungefähr neun Uhr morgens.

Die Sonne schien hell in die beiden kleinen Fenster.

Der kraushaarige Bauer saß auf der Bank und hatte bereits sein ärmelloses Wams angezogen. Vor ihm stand ein zurechtgemachter Samowar und eine neue Flasche Branntwein. Die von gestern war schon ausgetrunken und die neue schon wieder über die Hälfte geleert. Mitja sprang auf und erriet sofort, daß der verdammte Bauer erneut betrunken war, schwer betrunken, kaum zu ernüchtern. Er musterte ihn etwa eine Minute lang mit großen Augen. Der Bauer sah ihn schweigend mit einer schlauen beleidigenden Ruhe an, ja sogar mit geringschätzigem Hochmut, wie es Mitja vorkam. Er stürzte auf ihn los.

»ErIauben Sie, sehen Sie … ich … Sie haben es sicher schon von dem Waldhüter gehört. Ich bin Leutnant Dmitri Karamasow, ein Sohn des alten Karamasow, mit dem Sie wegen des Waldes verhandeln.«

»Du lügst!« erwiderte der Bauer mit ruhiger, fester Stimme.

»Wieso lüge ich? Sie kennen doch Fjodor Pawlowitsch?«

»Ich kenne deinen Fjodor Pawlowitsch nicht«, sagte der Bauer und bewegte schwerfällig die Zunge.

»Sie stehen aber doch mit ihm in Verhandlung wegen des Waldes! Wachen Sie doch auf, sammeln Sie Ihre Gedanken! Der Pope Pawel aus Iljinskoje bat mich hierher begleitet … Sie haben doch an Samsonow geschrieben, und er hat mich zu Ihnen geschickt …«

Mitja rang mühsam nach Luft.

»Du lügst!« versetzte Ljagawy wieder.

»Aber ich bitte Sie, die Sache ist kein Scherz! Sie sind vielleicht betrunken, aber Sie können doch reden und verstehen … Sonst … sonst verstehe ich gar nichts mehr!«

»Du bist ein Färber!«

»Aber ich bitte Sie, ich bin Karamasow, Dmitri Karamasow. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen … einen vorteilhaften Vorschlag … einen sehr vorteilhaften Vorschlag … gerade wegen des Waldes.«

Der Bauer strich sich bedächtig den Bart.

»Nein, du hast eine Lieferung übernommen und dich dabei als Schuft erwiesen. Du bist ein Schuft!«

»Ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren!« rief Mitja und rang verzweifelt die Hände.

Der Bauer strich sich immerzu den Bart und kniff plötzlich listig die Augen zusammen.

»Nein, weißt du, was du mir zeigen kannst? Zeig mir doch mal ein Gesetz, nach dem es erlaubt ist, Gemeinheiten zu begehen hörst du? Du bist ein Schuft, verstehst du mich?«

Mitja trat mit finsterer Miene von ihm weg, und auf einmal hatte er das Gefühl, als ob ihn »etwas vor die Stirn stieß«, wie er es selbst später ausdrückte. In einem einzigen Augenblick vollzog sich so etwas wie eine Erleuchtung in seinem Geist. »Es ging mir ein Licht auf, und ich verstand alles. »Er stand erstarrt da und konnte nicht begreifen, wie er, ein kluger Mensch, sich auf so eine Dummheit einlassen konnte: sich in eine derart abenteuerliche Unternehmung zu stürzen und sich nun schon fast einen Tag lang mit diesem Ljagawy abzuplagen und ihm den Kopf zu benetzen! Dieser Mensch ist betrunken, blödsinnig betrunken, der wird noch eine ganze Woche in einem fort trinken – worauf soll ich noch warten? Wie aber, wenn Samsonow mich absichtlich hierhergeschickt hat? Wie aber, wenn sie … O Gott, was habe ich da angerichtet!‹

Der Bauer saß da, beobachtete ihn und lächelte.

Unter anderen Umständen hätte Mitja diesen dummen Menschen vielleicht vor Wut totgeschlagen, doch jetzt war er selbst so schwach geworden wie ein kleines Kind. Leise trat er zur Bank, nahm seinen Mantel, zog ihn schweigend an und ging hinaus.

In der anderen Stube fand er den Waldhüter nicht, es war niemand da. Er zog fünfzig Kopeken kleines Geld aus der Tasche und legte sie auf den Tisch: für das Nachtquartier, für die Beleuchtung und für die Störung. Als er das Haus verließ, sah er ringsum nur Wald und nichts weiter. Er ging aufs Geratewohl los, ohne sich auch nur zu erinnern, nach welcher Seite er sich wenden mußte, nach rechts oder nach links: Als er am vorigen Tag mit dem Popen hergekommen war, hatte er nicht auf den Weg geachtet. In seiner Seele gab es keine Spur von Rachsucht gegen irgendwen, nicht einmal gegen Samsonow. Er lief einen schmalen Waldpfad entlang, gedankenlos und verstört, »mit wirrem Kopf«, und kümmerte sich gar nicht um die Richtung. Jedes Kind hätte ihn jetzt bezwingen können, so kraftlos an Seele und Leib war er auf einmal geworden. Er arbeitete sich aber doch irgendwie aus dem Wald heraus: Unvermittelt breiteten sich vor ihm unübersehbar weite kahle, abgeerntete Felder aus. »Welch eine Verzweiflung, welch ein Tod ringsum!« sagte er ein paarmal vor sich hin, während er weiter und weiter lief.

Ein Wagen half ihm schließlich aus seiner Notlage: Ein Fuhrmann beförderte einen alten Kaufmann. Mitja fragte sie nach dem Weg, da stellte sich heraus, daß sie ebenfalls nach Wolowja fuhren. Sie verhandelten mit Mitja über den Preis und ließen ihn einsteigen. Nach drei Stunden waren sie am Ziel.

Auf der Station Wolowja bestellte Mitja unverzüglich Postpferde in die Stadt, verspürte aber auf einmal einen unmenschlichen Hunger. Während die Pferde angespannt wurden, machte man ihm einen Eierkuchen. Er aß ihn sofort auf, aß ein großes Stück Brot, aß auch noch eine Wurst und trank drei Gläser Schnaps. Nachdem er sich so gestärkt hatte, faßte er wieder Mut: Es wurde wieder heller in seiner Seele. Unterwegs konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen; er trieb den Kutscher ständig an und faßte plötzlich einen neuen, diesmal »definitiven« Plan, wie er sich noch bis zum Abend dieses Tags das »verdammte Geld« verschaffen wollte. ›Wenn man so bedenkt, daß um dieser lumpigen dreitausend Rubel willen ein Mensch zugrunde gehen soll!‹ dachte er verächtlich. ›Noch heute werde ich die Sache zur Entscheidung bringen!‹ Und wäre nicht der unaufhörliche Gedanke an Gruschenka gewesen, die bange Unruhe, ob mit ihr auch nichts passiert war, dann wäre er vielleicht wieder ganz vergnügt gewesen. Aber der Gedanke an sie drang alle Augenblicke wie ein spitzes Messer in seine Seele …

Endlich kamen sie an, und Mitja eilte sogleich zu Gruschenka.

3. Die Goldbergwerke

Eben jenen Besuch Mitjas hatte Gruschenka Rakitin gegenüber mit solcher Angst erwähnt. Sie hatte damals ihre »Stafette« erwartet; erfreut darüber, daß Mitja weder am vorigen noch an diesem Tag gekommen war, hatte sie gehofft, er würde mit Gottes Hilfe vor ihrer Abreise überhaupt nicht mehr kommen – da hatte er sie plötzlich überfallen. Das Weitere ist uns bereits bekannt: Um ihn loszuwerden, hatte sie ihn überredet, sie zu Kusma Samsonow zu begleiten, den sie dringend aufsuchen müsse, »um Geld zu zählen«; Mitja hatte sie hingebracht, und sie hatte ihm beim Abschied das Versprechen abgenommen, sie um Mitternacht abzuholen und wieder nach Hause zu begleiten. Mitja war diese Zeiteinteilung nicht unwillkommen. ›Wenn sie bei Kusma sitzt‹, hatte er sich gesagt, ›geht sie nicht zu Fjodor Pawlowitsch – vorausgesetzt, daß sie nicht lügt!‹ Aber nach seiner Ansicht hatte sie nicht gelogen. Er war nämlich eifersüchtig auf ganz bestimmte Weise. Wenn er von der Geliebten getrennt war, dachte er sich Gott weiß was für Schrecknisse aus, was ihr alles passierte und wie sie ihm untreu war; wenn er jedoch wieder zu ihr kam, halbtot vor Aufregung und fest überzeugt, daß sie ihm in der Zwischenzeit untreu geworden war, lebte er beim ersten Blick auf ihr lachendes, heiteres, freundliches Gesicht wieder auf, warf sofort jeden Verdacht von sich und schalt sich selbst freudig beschämt wegen seiner Eifersucht. Als er Gruschenka zu Kusma gebracht hatte, eilte er zu sich nach Hause. Oh, er hatte heute noch so viel zu tun! Doch wenigstens war ihm das Herz leichter geworden. ›Ich muß nur noch so schnell wie möglich von Smerdjakow erfahren, ob gestern abend nichts passiert ist, ob sie nicht am Ende bei Fjodor Pawlowitsch war, pfui Teufel!‹ ging ihm durch den Kopf. Er war also noch nicht in seiner Wohnung angelangt, als die Eifersucht in seinem unruhigen Herzen schon wieder zu bohren begann.

Eifersucht … »Othello ist nicht eifersüchtig, er ist vertrauensvoll«, hat Puschkin gesagt, und diese Bemerkung zeugt von der außerordentlichen Geistestiefe unseres großen Dichters. OthelIos Seele ist einfach zermalmt, seine gesamte Weltsicht getrübt, weil sein Ideal zugrunde gegangen ist. Aber Othello wird sich nicht verstecken, wird nicht spionieren: er ist vertrauensvoll. Vielmehr mußte er erst dazu gebracht, darauf gestoßen, mit großer Mühe in Brand gesteckt werden, damit er überhaupt an Untreue dachte. Anders der wirklich Eifersüchtige. Unmöglich, sich den ganzen moralischen Tiefstand vorzustellen, mit dem sich ein Eifersüchtiger ohne alle Gewissensbisse abzufinden vermag. Nicht daß sie lauter gemeine, schmutzige Seelen wären – im Gegenteil: Man kann sich auch mit edler Gesinnung, mit reiner, opferfreudiger Liebe unter dem Tisch verstecken, die gemeinsten Menschen kaufen und sich mit dem häßlichen Schmutz der Spionage befreunden. Othello hätte zwar verzeihen, sich aber um keinen Preis mit der Untreue aussöhnen können, obgleich seine Seele harmlos und unschuldig war wie die eines Kindes. Nicht so bei dem wirklich Eifersüchtigen: Es ist schwer sich vorzustellen, was mancher Eifersüchtige alles verzeihen kann und womit er sich abzufinden und auszusöhnen vermag! Gerade die Eifersüchtigen verzeihen am ehesten, und das wissen auch alle Frauen. Der Eifersüchtige ist fähig, außerordentlich schnell zu verzeihen – selbstverständlich nachdem er zuvor eine furchtbare Szene gemacht hat; er verzeiht zum Beispiel Untreue, die beinahe schon erwiesen ist; Umarmungen und Küsse, die er selbst gesehen hat, wenn er beispielsweise gleichzeitig irgendwie zu der Überzeugung gelangen kann, daß dies »zum letztenmal« gewesen ist, daß sein Nebenbuhler von dieser Stunde an verschwinden oder daß er selbst die Geliebte an einen Ort bringen wird, wohin der Nebenbuhler niemals kommt. Natürlich dauert diese Aussöhnung nur eine Stunde; denn mag auch der Nebenbuhler tatsächlich verschwunden sein – der Eifersüchtige wird gleich morgen einen neuen ausfindig machen und auf ihn eifersüchtig sein. Man könnte meinen: Was ist schon eine Liebe wert, die so angestrengt bewacht werden muß? Aber gerade das werden Eifersüchtige nie begreifen – und dabei gibt es unter ihnen sogar Leute von edler Gesinnung. Beachtenswert ist auch noch folgendes. Wenn solche Leute von edler Gesinnung in irgendeiner Rumpelkammer stehen und horchen, spüren sie zwar deutlich die ganze Schmach, in die sie sich selbst freiwillig hineinbegeben haben, doch empfinden sie niemals Gewissensbisse, zumindest nicht in dem Moment, da sie in dieser Rumpelkammer stehen.

Bei Mitja verschwand alle Eifersucht jedesmal, wenn er Gruschenka erblickte; für einen Augenblick wurde er dann vertrauensvoll und verachtete sich sogar selbst wegen seiner häßlichen Regungen. Daraus war jedoch nur zu sehen, daß in seiner Liebe zu dieser Frau etwas weit Höheres lag, als er selbst glaubte: nicht nur Leidenschaft, nicht nur Bewunderung der »Körperkonturen«, von denen er Aljoscha gegenüber gesprochen hatte. Doch sobald Gruschenka verschwunden war, begann er sie wieder zu verdächtigen, daß sie die gemeinste, hinterlistigste Untreue begehe. Gewissensbisse aber empfand er dabei nicht.

So stieg denn jetzt erneut Eifersucht in seinem Herzen auf. Zunächst jedoch mußte er sich beeilen. Er mußte sich wenigstens ein klein bißchen Geld leihweise verschaffen. Die neun Rubel waren fast völlig für die Fahrt draufgegangen, und ganz ohne Geld kann man bekanntlich nicht einen Schritt tun. Aber er hatte sich vorhin zugleich mit seinem neuen Plan auch überlegt, wo er sich etwas Geld leihen konnte. Er besaß ein Paar gute Duellpistolen mit Patronen, und wenn er sie bisher noch nicht versetzt hatte, so deshalb, weil er sie mehr liebte als alles, was ihm sonst gehörte. In dem Restaurant »Zur Residenz« hatte er schon vor längerer Zeit einen jungen Beamten flüchtig kennengelernt und in dem Restaurant erfahren, daß dieser unverheiratete, wohlhabende Beamte eine besondere Leidenschaft für Waffen hatte, daß er Pistolen, Revolver und Dolche zusammenkaufte, zu Hause an den Wänden aufhängte, seinen Bekannten zeigte, damit prahlte und sich vorzüglich darauf verstand, das System eines Revolvers zu erklären, wie er geladen und gesichert wird und so weiter. Ohne sich lange zu besinnen, begab sich Mitja sogleich zu ihm und machte ihm den Vorschlag, die Pistolen als Pfand für ein Darlehen von zehn Rubeln anzunehmen. Der Beamte, dem die Pistolen sehr gefielen, redete ihm zu, sie ihm ganz zu verkaufen. Doch Mitja willigte nicht ein, und so lieh ihm jener die zehn Rubel, wobei er erklärte, daß er unter keinen Umständen Zinsen nehmen werde. Sie trennten sich als Freunde.

Mitja hatte es eilig; er wollte in seine Laube hinter Fjodor Pawlowitschs Grundstück, um so schnell wie möglich Smerdjakow herauszurufen. Auf diese Weise ergab es sich abermals, daß er nur drei oder vier Stunden vor einem gewissen Ereignis, von dem ich später reden werde, nicht eine Kopeke besessen und für zehn Rubel einen ihm sehr lieben Gegenstand verpfändet hatte, während man drei Stunden danach plötzlich Tausende in seinen Händen erblickte. Aber ich greife schon wieder vor.

Bei Marja Kondratjewna, der Nachbarin von Fjodor Pawlowitsch, erwartete ihn eine Nachricht, die ihn sehr bestürzte: die Nachricht von Smerdjakows Krankheit, von seinem Sturz in den Keller, dann von seinem epileptischen Anfall, der Ankunft des Arztes und den fürsorglichen Bemühungen Fjodor Pawlowitschs. Mit Interesse erfuhr er auch von der Abreise seines Bruders Iwan Fjodorowitsch am Morgen nach Moskau. ›Er muß demnach vor mir durch Wolowja gekommen sein?‹ überlegte Dmitri Fjodorowitsch.

Das mit Smerdjakow beunruhigte ihn hingegen tief: Was soll jetzt bloß werden? Wer wird Wache halten, wer wird mir Nachricht geben? Hastig begann er die Frauen auszufragen, ob sie gestern abend etwas bemerkt hätten. Diese begriffen sehr wohl, worauf seine Fragen abzielten, und beruhigten ihn vollständig: Niemand sei dagewesen, Iwan Fjodorowitsch habe die Nacht dort verbracht, alles sei »in bester Ordnung«. Mitja überlegte. Zweifellos mußte auch heute Wache gehalten werden, aber wo: hier oder an Samsonows Tor? Er entschied, hier und dort, je nach den Umständen, doch zunächst, zunächst … Die Sache war die, daß er jetzt die Ausführung des »Planes« von vorhin vor sich hatte, des neuen, richtigen Planes, den er sich auf dem Wagen ausgedacht hatte und dessen Ausführung sich nicht mehr aufschieben ließ. Mitja beschloß, dieser Sache eine Stunde zu opfern. ›In einer Stunde werde ich alles erledigt und alles erfahren haben, und dann werde ich erst zu Samsonows Haus eilen und mich erkundigen, ob Gruschenka da ist. Danach kehre ich sofort hierher zurück und bleibe bis elf Uhr hier. Nachher gehe ich dann wieder zu Samsonow, um sie nach Hause zu begleiten.‹ So disponierte er.

Er eilte nach Hause, wusch und frisierte sich, säuberte seinen Anzug, kleidete sich an und begab sich zu Frau Chochlakowa. Das war, leider, der Ort, wo er seinen »Plan« ausführen wollte; er hatte beschlossen, sich von dieser Dame dreitausend Rubel zu borgen. Und was die Hauptsache war: auf einmal, ganz plötzlich, war eine ungewöhnliche Zuversicht über ihn gekommen, sie werde es ihm nicht abschlagen. Vielleicht werden sich die Leser wundern, warum er, wenn er so eine Zuversicht hegte, nicht von vornherein zu ihr, sozusagen zu einer Angehörigen seiner eigenen Gesellschaft, gegangen war, sondern sich an Samsonow gewandt hatte, an einen Menschen aus einer fremden Schicht, mit dem er nicht einmal richtig reden konnte. Der Grund war, daß er mit Frau Chochlakowa in der letzten Zeit fast ganz auseinandergekommen und mit ihr auch früher nur wenig bekannt gewesen war; außerdem wußte er, daß sie selbst ihn nicht leiden konnte. Diese Dame haßte ihn von Anfang an einfach deswegen, weil er Katerina Iwanownas Bräutigam war, während bei ihr plötzlich der Wunsch entstanden war, Katerina Iwanowna möchte sich von ihm abwenden und lieber »den liebenswürdigen, gebildeten Kavalier Iwan Fjodorowitsch heiraten, der so gute Manieren besitzt«. Sie haßte nämlich Mitjas Manieren. Er hatte sich sogar über sie lustig gemacht und einmal von ihr gesagt, diese Dame sei ebenso lebhaft und impulsiv wie ungebildet. Und da war ihm nun an diesem Vormittag auf dem Wagen wie eine Erleuchtung der klare Gedanke gekommen: ›Wenn sie gegen meine Heirat mit Katerina Iwanowna ist, und zwar mit solcher Entschiedenheit‹ – er wußte, daß sie dabei fast hysterische Anfälle bekam –, ›warum sollte sie mir diese dreitausend Rubel abschlagen, die ich eben gerade benötige, um Katja zu verlassen und für immer von hier wegzugehen? Wenn sich diese verwöhnten vornehmen Damen einen derartigen Wunsch einmal in den Kopf gesetzt haben, so scheuen sie kein Opfer, um ihren Willen durchzusetzen. Außerdem ist sie reich!‹ dachte Mitja.

Was nun speziell den »Plan« anlangte, so war er derselbe wie der frühere, das heißt, er bot die Abtretung seiner Rechte auf Tschermaschnja an. Doch diesmal wollte er das nicht als kaufmännisches Geschäft behandeln wie tags zuvor bei Samsonow, er wollte diese Dame nicht mit der Möglichkeit locken, für die dreitausend Rubel die doppelte Summe, sechs- oder siebentausend Rubel, einzustreichen; diese Abtretung sollte einfach eine anständige Garantie für die Schulden bilden. Mitja geriet geradezu in Begeisterung, während er diesen seinen neuen Gedanken ausspann, aber so erging es ihm immer, bei allen seinen Unternehmungen, bei allen seinen plötzlichen Entschlüssen. Jedem neuen Gedanken gab er sich mit größter Leidenschaft hin. Dennoch fühlte er, wie ihm ein Angstschauer über den Rücken lief, als er die Stufen zu Frau Chochlakowas Haustür hinaufstieg: Erst in dieser Sekunde wurde ihm mit mathematischer Sicherheit bewußt, daß dies seine letzte Hoffnung war und daß ihm, wenn auch dieser Versuch fehlschlug, nichts auf der Welt blieb, als »um der dreitausend Rubel willen jemand totzuschlagen und auszurauben, weiter nichts …« Es war halb acht, als er klingelte.

Anfangs schien ihm das Glück zu lächeln. Als er gemeldet worden war, ließ ihn Frau Chochlakowa sofort bitten, näher zu treten. ›Als ob sie mich erwartet hat‹, dachte Mitja. Und kaum war er in den Salon geführt worden, eilte auch schon die Hausfrau herein und erklärte ihm ohne weitere Umschweife, daß sie ihn erwartet habe.

»Ich habe Sie erwartet, ich habe Sie erwartet! Eigentlich konnte ich ja nicht annehmen, daß Sie zu mir kommen würden, aber trotzdem habe ich Sie erwartet, bewundern Sie meinen Instinkt, Dmitri Fjodorowitsch, ich war den ganzen Vormittag überzeugt, daß Sie heute kommen würden.«

»Das ist wirklich erstaunlich, gnädige Frau«, antwortete Mitja, während er sich schwerfällig setzte. »Aber … ich bin in einer überaus wichtigen Angelegenheit gekommen … Das heißt in der allerallerwichtigsten Angelegenheit für mich, gnädige Frau, für mich allein … Und ich beeile mich …«

»Ich weiß, daß Sie in einer sehr wichtigen Angelegenheit gekommen sind, Dmitri Fjodorowitsch. Dabei handelt es sich nicht um irgendwelche Ahnungen oder um veralteten Wunderglauben – haben Sie von dem Starez Sossima gehört? –, sondern um mathematische Notwendigkeit. Sie mußten kommen nach allem, was sich mit Katerina Iwanowna zugetragen hat. Sie mußten, mußten mit mathematischer Notwendigkeit …«

»Das ist die Realität des wirklichen Lebens, gnädige Frau, das ist es! Erlauben Sie, mir nun, daß ich Ihnen auseinandersetze …«

»Das ist es, Dmitri Fjodorowitsch, die Realität! Ich bin jetzt durchaus für die Realität. Was die Wunder anlangt, so habe ich eine recht schmerzliche Lektion bekommen. Sie haben gehört, daß der Starez Sossima gestorben ist?«

»Nein, gnädige Frau, ich höre es zum erstenmal«, antwortete Mitja ein wenig erstaunt. Er mußte unwillkürlich an Aljoscha denken.

»Heute nacht, und stellen Sie sich vor …«

»Gnädige Frau«, unterbrach sie Mitja. »Ich stelle mir weiter nichts vor, als daß ich mich in der verzweifeltsten Lage befinde und daß alles kaputtgeht – und ich in erster Linie, wenn Sie mir nicht helfen. Verzeihen Sie die Trivialität meiner Ausdrücke, aber ich bin erregt, ich fiebere …«

»Ich weiß, daß Sie fiebern. Ich weiß alles. Sie können sich auch in keinem anderen Seelenzustand befinden, und alles, was Sie sagen wollen, weiß ich im voraus. Ich habe mein Augenmerk schon längst auf Ihr Geschick gerichtet, Dmitri Fjodorowitsch! Ich beobachte es und studiere es … Oh, glauben Sie mir, ich bin ein erfahrener Seelenarzt, Dmitri Fjodorowitsch!«

»Gnädige Frau, wenn Sie ein erfahrener Arzt sind, bin ich dafür ein erfahrener Kranker«, erwiderte Mitja, der sich krampfhaft Mühe gab, liebenswürdig zu reden. »Und ich fühle im voraus, daß Sie, wenn Sie schon mein Geschick so beobachten, mir auch in meinem Verderben beistehen werden. Doch gestatten Sie mir zu diesem Zweck endlich, Ihnen den Plan darzulegen, mit dem ich hier zu erscheinen gewagt habe. Und das, was ich von Ihnen erhoffe … Ich bin gekommen, gnädige Frau …«

»Legen Sie ihn mir nicht dar, das kommt erst in zweiter Linie. Was die Hilfe betrifft, so sind Sie nicht der erste, dem ich helfe, Dmitri Fjodorowitsch. Sie haben wahrscheinlich von meiner Cousine Frau Belmjossowa gehört, ihr Mann war ruiniert, ging kaputt, wie Sie sich so charakteristisch ausdrückten, Dmitri Fjodorowitsch, und was glauben Sie? Ich wies ihn auf die Pferdezucht hin, und jetzt geht es ihm glänzend. Haben Sie eine Ahnung von Pferdezucht, Dmitri Fjodorowitsch?«

»Nicht im geringsten, gnädige Frau, nein, gnädige Frau, nicht im geringsten!« rief Mitja in nervöser Ungeduld und tat sogar, als wollte er aufstehen. »Ich bitte Sie nur inständig, gnädige Frau, mich anzuhören! Lassen Sie mich zwei Minuten ungestört reden, damit ich Ihnen alles auseinandersetzen kann, das ganze Projekt, mit dem ich gekommen bin … Meine Zeit ist knapp bemessen, ich habe es furchtbar eilig!« rief Mitja aufgeregt, da er merkte, daß sie wieder anfangen wollte zu reden; er hoffte, sie zu überschreien. »Ich bin in heller Verzweiflung gekommen, in höchstgradiger Verzweiflung, um Sie zu bitten, mir dreitausend Rubel zu leihen, gegen ein sicheres, ganz sicheres Pfand, gnädige Frau, gegen absolute Sicherheit! Gestatten Sie nur, daß ich Ihnen auseinandersetze …«

»Das können Sie alles später tun, später!« entgegnete Frau Chochlakowa mit einer abwehrenden Handbewegung. »Alles, was Sie sagen können, weiß ich im voraus, wie ich Ihnen schon gesagt habe. Sie bitten um eine gewisse Summe, Sie brauchen dreitausend Rubel, ich aber werde Ihnen mehr geben, unermeßlich viel mehr, ich werde Sie retten, Dmitri Fjodorowitsch, doch dazu ist nötig, daß Sie mit gehorchen!«

Mitja sprang beglückt auf.

»Gnädige Frau, wollen Sie wirklich so gütig sein?« rief er. »O Gott, Sie haben mich gerettet! Sie retten einen Menschen vor dem Tod, vor der Pistole, gnädige Frau… Meine lebenslängliche Dankbarkeit …«

»Ich werde Ihnen unendlich viel mehr geben als dreitausend Rubel«, rief Frau Chochlakowa und blickte Mitja mit strahlendem Lächeln an.

»Unendlich viel mehr? Aber so viel brauche ich gar nicht! Unaufschiebbar dringend brauche ich nur diese verhängnisvollen dreitausend Rubel, und ich bin meinerseits gekommen, um Ihnen mit meiner unendlichen Dankbarkeit volle Sicherheit für diese Summe zu geben. Und nun möchte ich Ihnen den Plan vorlegen, den ich …«

»Genug, Dmitri Fjodorowitsch! Was ich gesagt habe, werde ich auch tun«, unterbrach ihn Frau Chochlakowa mit dem schamhaften Triumphgefühl einer Wohltäterin. »Ich habe versprochen Sie zu retten, und ich werde Sie retten. Ich werde Sie retten wie ich Belmjossow gerettet habe. Wie denken Sie über die Goldbergwerke, Dmitri Fjodorowitsch?«.

»Über die Goldbergwerke, gnädige Frau? Ich habe überhaupt nie daran gedacht!«

»Dafür habe ich für Sie daran gedacht! Ich habe daran gedacht und alles überlegt! Ich beobachte Sie in dieser Absicht

schon einen Monat lang. An die hundertmal habe ich Sie angesehen, wenn Sie vorübergingen, und mir dabei immer wieder gesagt: Das ist ein energischer Mann, der gehört in die Goldbergwerke! Ich habe sogar Ihren Gang studiert und bin zu der Überzeugung gelangt, dieser Mann wird viel Gold finden!«

»Aus meinem Gang haben Sie das geschlossen, gnädige Frau?« fragte Mitja lächelnd.

»Gewiß, auch aus dem Gang. Wollen Sie etwa bestreiten, daß man aus dem Gang den Charakter erkennen kann, Dmitri Fjodorowitsch? Die Naturwissenschaft bestätigt das ebenfalls. Oh, ich bin jetzt Realistin, Dmitri Fjodorowitsch. Ich bin ab heute, nach dieser Geschichte im Kloster, die mich so angegriffen hat, Realistin und will mich einer praktischen Tätigkeit widmen. Ich hin geheilt! ›Genug!‹ wie Turgenew sagt.«

»Und diese dreitausend Rubel, die Sie mir so großmütig zu leihen versprachen, gnädige Frau?«

»Die werden Ihnen nicht entgehen, Dmitri Fjodorowitsch!« unterbrach ihn Frau Chochlakowa. »Diese dreitausend Rubel haben Sie schon so gut wie in der Tasche, nicht nur dreitausend, sondern drei Millionen, Dmitri Fjodorowitsch, und zwar in ganz kurzer Zeit! Ich werde Ihnen Ihre Bestimmung sagen: Sie werden in den Bergwerken Gold finden, werden Millionen erwerben, zurückkehren und eine großartige Tätigkeit entfalten. Sie werden auch uns fördern und uns zum Guten hinführen. Muß man denn alles den Juden überlassen? Sie werden Gebäude errichten und allerlei Unternehmungen ins Leben rufen. Sie werdenden Armen helfen, und diese werden Sie segnen. Jetzt ist das Jahrhundert der Eisenbahnen, Dmitri Fjodorowitsch. Sie werden eine bekannte Persönlichkeit, werden dem Finanzministerium unentbehrlich, das sich jetzt in solcher Not befindet. Der Fall unseres Papierrubels raubt mir den Schlaf, Dmiti Fjodorowitsch, von dieser Seite kennt man mich wenig …«

»Gnädige Frau, gnädige Frau«, unterbrach Dmitri Fjodorowitsch sie wieder in einer unruhigen Vorahnung. »Ich werde Ihren Rat, Ihren klugen Rat gewiß befolgen, gnädige Frau, mich vielleicht dorthin begeben … in diese Goldbergwerke … Und ich werde noch einmal zu Ihnen kommen, um mit Ihnen darüber zu sprechen … Sogar noch viele Male … Aber jetzt, diese dreitausend Rubel, die Sie so großmütig … Oh, dieses Geld wird mit aus der Not helfen, und wenn es heute möglich ist … Das heißt, sehen Sie, ich habe jetzt keine Stunde Zeit mehr, auch nicht eine Stunde…«

»Genug, Dmitri Fjodorowitsch, genug!« unterbrach ihn Frau Chochlakowa hartnäckig. »Eine Frage. Werden Sie in die Goldbergwerke fahren oder nicht? Sind Sie dazu fest entschlossen? Antworten Sie mathematisch genau!«

»Ich werde hinfahren, gnädige Frau, später … Ich werde fahren, wohin Sie wollen, gnädige Frau … Aber jetzt …«

»Warten Sie einen Augenblick!« rief Frau Chochlakowa, sprang auf, eilte zu ihrem prächtigen Schreibtisch mit den zahllosen Schubfächern und begann, ein Schubfach nach dem anderen herauszuziehen, wobei sie in großer Hast etwas suchte.

›Die dreitausend!‹ dachte Mitja, und sein Herz stand fast still. ›Und das sofort, ohne alle Papiere, ohne ein Schriftstück … Oh, das ist vornehm und anständig! Eine prächtige Frau, wenn sie nur nicht so geschwätzig wäre …‹

»Da!« rief Frau Chochlakowa erfreut und kehrte zu Mitja zurück. »Da ist das, was ich suchte!«

Es war ein winziges silbernes Heiligenbild an einem Schnürchen, wie man es manchmal mit dem Kreuz auf der Brust trägt.

»Das ist aus Kiew, Dmitri Fjodorowitsch«, fuhr sie andächtig fort. »Von den Reliquien der Märtyrerin Warwara. Gestatten Sie, daß ich es Ihnen selbst um den Hals hänge und Sie damit für ein neues Leben und für neue Taten segne.«

Und sie hängte ihm das Heiligenbildchen wirklich um den Hals und versuchte, es an die richtige Stelle zu bringen. Mitja bückte sich in großer Verlegenheit, half ihr dabei und schob endlich das Bildchen durch die Krawatte und den Hemdkragen auf die Brust.

»So, jetzt können Sie fahren!« sagte Frau Chochlakowa und setzte sich triumphierend wieder auf ihren Platz.

»Gnädige Frau, ich bin gerührt … Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll für so viel Teilnahme! Aber … Wenn Sie wüßten, wie kostbar jetzt meine Zeit ist! … Die Summe, die ich so sehnsüchtig von Ihrer Großmut erwarte … Oh, gnädige Frau, wenn Sie schon so gütig und großmütig zu mir sind«, rief Mitja plötzlich in feuriger Begeisterung, »erlauben Sie mir, Ihnen zu gestehen … Was Sie sicher schon längst wissen… Daß ich hier eine Frau liebe … Ich bin Katja untreu geworden … Ich wollte sagen, Katerina Iwanowna … Oh, ich habe mich ihr gegenüber grausam und ehrlos benommen, aber ich habe eben eine andere liebgewonnen … Ein weibliches Wesen, gnädige Frau, das Sie vielleicht verachten, weil Sie bereits alles wissen, von dem ich jedoch auf keinen Fall lassen kann, auf keinen Fall, und darum brauche ich diese dreitausend …«

»Machen Sie sich von allem los, Dmitri Fjodorowitsch!« unterbrach ihn Frau Chochlakowa sehr entschieden. »Machen Sie sich von allem los, und besonders von den Frauen! Ihr Ziel sind die Goldbergwerke, Frauen dorthin mitzunehmen ist sinnlos. Später, wenn Sie als reicher, berühmter Mann zurückkehren, werden Sie in den höchsten Gesellschaftskreisen eine Freundin für Ihr Herz finden. Das wird ein modernes Mädchen sein, mit guten Kenntnissen und ohne veraltete Anschauungen. Zu jenem Zeitpunkt wird auch die gerade erst beginnende Frauenbewegung weiter sein, die neue Frau wird auf den Plan treten …«

»Gnädige Frau, das ist es nicht, was ich …«, begann Dmitri Fjodorowitsch und legte die Hände flehend zusammen.

»Doch, das ist es gerade, was Sie nötig haben, Dmitri Fjodorowitsch, ohne es selbst zu wissen. Ich stehe der jetzigen Frauenbewegung keineswegs ablehnend gegenüber, Dmitri Fjodorowitsch. Die Entwicklung der Frau und sogar die politische Betätigung der Frau in der allernächsten Zukunft, das ist mein Ideal. Ich habe selbst eine Tochter, Dmitri Fjodorowitsch, und von dieser Seite kennt man mich wenig. Ich habe aus diesem Anlaß an den Schriftsteller Saltykow-Stschedrin geschrieben. Diesem Schriftsteller verdanke ich so viel Weisheit über die Berufung der Frau, daß ich ihm voriges Jahr einen anonymen Brief geschickt habe, der nur zwei Zeilen enthielt: ›Ich umarme und küsse Sie, mein Schriftsteller, im Namen der modernen Frau! Fahren Sie so fort!‹ Unterschrift: ›Eine Mutter.‹ Ich hatte eigentlich unterzeichnen wollen: ›Eine moderne Mutter‹ und schwankte, doch ich blieb bei ›eine Mutter‹, Darin liegt mehr sittliche Schönheit, Dmitri Fjodorowitsch – das Wort ›modern‹ hätte ihn an den Titel der Zeitschrift ›Sowremennik‹ erinnern können, was ihm im Hinblick auf die heutige Zensur sicher unangenehm gewesen wäre … Mein Gott, was haben Sie?«

»Gnädige Frau!« rief Mitja flehend. »Sie bringen mich zum Weinen, gnädige Frau, wenn Sie aufschieben, was Sie so großmütig …«

»Weinen Sie nur, Dmitri Fjodorowitsch, weinen Sie nur! Das sind schöne Gefühle … Ihnen steht ein herrlicher Weg bevor! Die Tränen werden Ihnen das Herz erleichtern, später werden Sie zurückkehren und sich freuen. Kommen Sie direkt aus Sibirien zu mir und freuen Sie sich mit mir …«

»Aber erlauben Sie mir doch endlich«, brüllte Mitja plötzlich. »Zum letztenmal flehe ich Sie an: Sagen Sie mir, kann ich die versprochene Summe von Ihnen heute noch bekommen? Wenn nicht, wann darf ich dann kommen, um sie in Empfang zu nehmen?«

»Was für eine Summe, Dmitri Fjodorowitsch?«

»Die dreitausend, die Sie mir versprochen haben … Die Sie so großmütig …«

»Dreitausend? Sie meinen dreitausend Rubel? Aber nein doch, dreitausend Rubel habe ich gar nicht«, erwiderte Frau Chochlakowa mit einer Art von ruhiger Verwunderung. Mitja wurde ganz starr.

»Aber Sie sagten doch eben erst … Sie sagten … Sie gebrauchten sogar den Ausdruck, ich hätte sie schon so gut wie in der Tasche.«

»Nein, da haben Sie mich falsch verstanden, Dmitri Fjodorowitsch. Ich sprach von den Goldbergwerken … Gewiß habe ich Ihnen mehr, unendlich viel mehr versprochen als dreitausend Rubel, jetzt erinnere ich mich, doch ich dachte dabei nur an die Goldbergwerke.«

»Und das Geld? Und die dreitausend?« schrie Dmitri Fjodorowitsch wie ein Verrückter.«

»Oh, wenn Sie Geld gemeint haben – das habe ich nicht. Ich habe jetzt gar kein Geld, Dmitri Fjodorowitsch, ich liege gerade im Kampf mit meinem Verwalter und habe mir vor kurzem selbst fünfhundert Rubel von Miussow geborgt. Nein, nein, Geld habe ich nicht. Und wissen Sie, Dmitri Fjodorowitsch, selbst wenn ich welches hätte, würde ich es Ihnen nicht geben. Erstens borge ich niemandem. Jemandem borgen bedeutet sich mit ihm verfeinden. Und speziell Ihnen würde ich nichts geben. Weil ich Sie gern habe, würde ich Ihnen nichts geben! Um Sie zu retten, würde ich Ihnen nichts geben! Denn was Sie brauchen, ist nur das eine: die Goldbergwerke, die Goldbergwerke und nochmals die Goldbergwerke!«

»Zum Teufel!« brüllte Mitja und schlug aus voller Kraft mit der Faust auf den Tisch.

»Um Gottes willen!« schrie Frau Chochlakowa erschrocken und flüchtete ans andere Ende des Salons.

Mitja spuckte aus und ging mit schnellen Schritten aus dem Zimmer, aus dem Haus, hinaus auf die Straße, in die Dunkelheit. Er ging wie geistesgestört und schlug sich auf die Brust, auf dieselbe Stelle, auf die er sich zwei Tage vorher geschlagen hatte, als er zum letztenmal mit Aljoscha zusammen gewesen war. Was dieses Schlagen an die Brust, an diese Stelle, bedeutete und worauf er damit hinweisen wollte, das war einstweilen noch ein Geheimnis, das niemand in der Welt kannte und das er damals nicht einmal seinem Bruder Aljoscha enthüllt hatte. Aber in diesem Geheimnis lag für ihn mehr als Schande: darin lag Untergang und Selbstmord. Dazu hatte er sich bereits entschlossen, wenn ihm nicht gelingen sollte, sich die dreitausend Rubel zu verschaffen, sie an Katerina Iwanowna zurückzuzahlen und dadurch von seiner Brust, von jener Stelle der Brust, die Schande zu nehmen, die sein Gewissen so bedrückte. Alles dies wird dem Leser im folgenden klarwerden; jetzt jedenfalls, nachdem seine letzte Hoffnung geschwunden war, brach dieser körperlich starke Mensch, kaum einige Schritte von Frau Chochlakowas Haus entfernt, plötzlich wie ein kleines Kind in Tränen aus. Er lief und wischte sich selbstvergessen mit der Faust die Tränen ab. So gelangte er auf den Marktplatz und fühlte auf einmal, wie er mit dem Körper gegen etwas stieß. Er hörte das kreischende Geschrei einer alten Frau, die er beinahe umgeworfen hätte.

»Herrgott, hast mich fast getötet! Bist du vielleicht blind, du Lumpenkerl!«

»Ach, Sie sind das?« rief Mitja, als er im Dunkeln die Alte erkannt hatte. Es war die alte Dienerin Kusma Samsonows, an die er sich von seinem Besuch am vorigen Tag noch gut erinnern konnte.

»Und wer sind Sie, Väterchen?« fragte die Alte in verändertem Ton. »Ich kann Sie im Dunkeln nicht erkennen.«

»Sie wohnen bei Kusma Kusmitsch und stehen da im Dienst?«

»Jawohl, Väterchen. Ich wollte eben nur rasch zu Prochorytsch laufen. Aber ich kann Sie noch gar nicht erkennen.«

»Sagen Sie mal, Mütterchen, ist Agrafena Alexandrowna jetzt bei Ihnen?« fragte Mitja, außer sich vor Ungeduld. »Ich habe sie vorhin selbst hinbegleitet.«

»Sie, war da, Väterchen. Sie kam, blieb ein Weilchen da und ging wieder weg.«

»Wie? Sie ist wieder weggegangen?« schrie Mitja. »Wann ist sie weggegangen?«

»Sie ist sehr bald wieder weggegangen, sie hat nur ein Augenblickchen bei uns gesessen. Sie hat dem alten Kusma Kusmitsch ein Märchen erzählt, hat ihn zum Lachen gebracht und ist dann wieder weggelaufen.«

»Du lügst, Kanaille!« brüllte Mitja.

»Herr du mein Gott!« schrie die Alte, doch Mitja war schon verschwunden.

Er lief so schnell er konnte zum Haus der Frau Morosowa. Das war zu der Zeit, als Gruschenka nach Mokroje gefahren war; seit ihrer Abfahrt war noch keine Viertelstunde vergangen.

Fenja saß mit ihrer Großmutter, der Köchin Matjrona, in der Küche, als plötzlich der »Hauptmann« hereinstürzte. Bei seinem Anblick schrie Fenja laut auf.

»Du schreist?« brüllte Mitja. »Wo ist sie?«

Und bevor die vor Schreck erstarrte Fenja antworten konnte, warf er sich ihr zu Füßen.

»Fenja, um unseres Herrn Jesu Christi willen, sag mir, wo ist sie?«

»Väterchen, ich weiß nichts! Täubchen Dmitri Fjodorowitsch, ich weiß nichts! Und wenn Sie mich totschlagen, ich weiß nichts!« schwor Fenja. »Sie sind ja selbst vorhin mit ihr weggegangen …«

»Sie ist zurückgekommen!«

»Täubchen, sie ist nicht gekommen! Ich schwöre bei Gott, sie ist nicht gekommen!«

»Du lügst!« schrie Mitja. »Schon an deinem Schreck merke ich, wo sie ist!«

Er stürzte hinaus.

Fenja war froh, daß sie so leicht davongekommen war; sie wußte allerdings sehr wohl, daß er nur keine Zeit gehabt hatte, sonst wäre es ihr vielleicht schlimm ergangen. Doch im Davonlaufen überraschte Mitja Fenja und die alte Matrjona durch eine unerwartete Handlung: Auf dem Tisch stand ein Mörser aus Messing und darin ein Stößel, ein kleiner Messingstößel, kaum eine Spanne lang. Als Mitja schon mit der einen Hand die Tür geöffnet hatte, nahm er plötzlich rasch mit der anderen Hand den Stößel aus dem Mörser, steckte ihn sich in die Seitentasche und war verschwunden.

»O Gott, er will einen totschlagen!« rief Fenja und schlug die Hände zusammen.

4. In der Dunkelheit

Wohin lief er? Fest steht: Wo sollte sie sein, wenn nicht bei Fjodor Pawlowitsch? Von Samsonow ist sie geradewegs zu ihm gelaufen, jetzt ist alles klar! Die ganze Intrige, der ganze Betrug liegt auf der Hand! … Dieser Gedanke raste ihm wie ein Wirbelwind durch den Kopf. Zu Marja Kondratjewna auf den Hof wollte er nicht erst laufen. Das hat keinen Zweck, absolut keinen Zweck … Nicht der geringste Alarm darf entstehen … Die würde es sofort weitersagen … Marja Kondratjewna gehört offenbar mit zu der Verschwörung, Smerdjakow ebenfalls, alle sind bestochen! In seinem Kopf entstand ein anderer Plan. Er eilte durch eine Seitengasse in großem Bogen um Fjodor Pawlowitschs Haus herum, lief durch die Dmitrowskajastraße, dann über eine kleine Brücke und gelangte auf diese Weise direkt in die menschenleere, unbewohnte Seitengasse hinter den Häusern, die auf der einen Seite von dem Flechtzaun des benachbarten Gemüsegartens und auf der anderen von dem hohen Plankenzaun um Fjodor Pawlowitschs Garten begrenzt wurde. Dort suchte er sich eine Stelle aus, und zwar offenbar dieselbe, wo einstmals auch Lisaweta, die Stinkende, über den Zaun gestiegen sein sollte. ›Wenn die hinübersteigen konnte‹, ging es ihm, Gott weiß warum, durch den Kopf, ›weshalb sollte ich nicht hinüberkommen?‹ Und wirklich, er sprang hoch und schaffte es gleich beim erstenmal, den oberen Rand des Zaunes mit der Hand zu fassen; danach zog er sich energisch hinauf und setzte sich rittlings auf den Zaun. Nicht weit von dort stand im Garten das Badehäuschen; auch waren vom Zaun aus die erleuchteten Fenster des Hauses zu sehen. ›Es stimmt, beim Alten im Schlafzimmer ist Licht, sie ist da!‹ Und er sprang vom Zaun in den Garten. Obwohl er wußte, daß Grigori krank war und Smerdjakow vielleicht ebenfalls, daß ihn also niemand hören konnte, versteckte er sich doch instinktiv, stand regungslos an einer Stelle und horchte. Aber überall herrschte totes Schweigen; auch die Luft war, wie absichtlich, ganz ruhig, nicht der leiseste Windhauch regte sich.

»Und ringsum flüstert nur die Stille … » Dieser Vers fiel ihm aus irgendeinem Grund ein. ›Wenn bloß keiner gehört hat, wie ich herübergesprungen bin! Wie es scheint, hat es wirklich keiner gehört … ›Nachdem er ein Weilchen regungslos gestanden hatte, ging er leise durch den Garten. Es dauerte lange, da er immer wieder hinter Bäumen und Büschen Deckung suchte, bemüht, jeden Schritt unhörbar zu machen, und nach jedem Schritt lauschte. Nach etwa fünf Minuten war er an eines der erleuchteten Fenster gelangt. Er erinnerte sich, daß dort, dicht unter den Fenstern, einige große, dichte Holunder- und Schneeballsträuche standen. Die Tür vom Haus in den Garten, an der linken Seite der Rückwand des Hauses, war geschlossen. Darauf achtete er im Vorbeigehen absichtlich genau. Endlich hatte er die Sträucher erreicht und versteckte sich hinter ihnen. Er atmete unhörbar. ›Ich muß hier warten!‹ dachte er. Wenn sie meine Schritte gehört haben und jetzt horchen, so sollen sie glauben, daß sie sich geirrt haben … Wenn ich nur nicht husten oder niesen muß!‹

Er wartete etwa zwei Minuten lang; sein Herz schlug furchtbar, und zeitweilig glaubte er zu ersticken. ›Nein, das Herzklopfen wird nicht aufhören‹, dachte er. ›Ich kann nicht länger warten!‹ Er stand hinter einem Strauch im Schatten; die vordere Hälfte des Strauches war vom Fenster her erleuchtet. »Das ist ein Schneeballstrauch, wie rot die Beeren sind!« flüsterte er vor sich hin, ohne zu wissen, warum. Leise, mit unhörbaren Schritten, trat er ans Fenster und stellte sich auf die Zehenspitzen. Fjodor Pawlowitschs Schlafzimmer lag vor Ihm wie auf der flachen Hand. Es war ein kleines Zimmer, durch einen roten Wandschirm, einen »chinesischen Schirm«, wie ihn Fjodor Pawlowitsch nannte, quergeteilt. ›Da ist der chinesische Schirm!‹ schoß es Mitja durch den Kopf. Und da hinter dem Schirm ist Gruschenka!‹ Er betrachtete Fjodor Pawlowitsch. Der trug seinen neuen, gestreiften, seidenen Schlafrock – und die seidene Schnur mit Quasten –, den Mitja noch nie an ihm gesehen hatte. Aus dem Brustaufschlag sah saubere, elegante Wäsche hervor, ein feines Hemd aus holländischem Leinen mit goldenen Knöpfen. Um den Kopf hatte Fjodor Pawlowitsch den roten Verband, den schon Aljoscha an ihm gesehen hatte. ›Er hat sich fein gemacht‹, dachte Mitja. Fjodor Pawlowitsch stand nahe am Fenster, offensichtlich in Gedanken versunken; plötzlich hob er den Kopf und horchte einen Augenblick. Da er jedoch nichts hörte, trat er an den Tisch, goß sich aus einer Karaffe ein halbes Gläschen Kognak ein und trank es aus. Dann seufzte er tief, stand wieder ein Weilchen still, trat zerstreut an den Spiegel am Fensterpfeiler, schob mit der rechten Hand den roten Verband ein wenig nach oben und betrachtete seine blauen Flecke und die Schorfe, die noch nicht verschwunden waren. ›Er ist allein!‹ dachte Mitja. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er allein … Fjodor Pawlowitsch trat vom Spiegel zurück, wandte sich plötzlich dem Fenster zu und blickte hinaus. Mitja sprang sofort zurück in den Schatten.

›Sie ist vielleicht hinter dem Schirm, möglicherweise schläft sie schon?‹ Dieser Gedanke versetzte ihm einen Stich ins Herz. Fjodor Pawlowitsch trat vom Fenster zurück. ›Er hält nach ihr Ausschau, also ist sie nicht bei ihm – welchen Grund hätte er sonst, in die Dunkelheit zu starren? Offenbar verzehrt ihn die Ungeduld … ›Mitja sprang sogleich wieder ans Fenster und schaute von neuem hinein. Der Alte saß jetzt an einem Tischchen, sichtlich in gedrückter Stimmung. Endlich stützte er den rechten Ellenbogen auf den Tisch und legte die Handfläche an die Backe. Mitja beobachtete ihn mit größter Spannung.

›Er ist allein, er ist allein!‹ sagte er sich wieder. ›Wenn sie da wäre, würde er ein anderes Gesicht machen!‹ Merkwürdig: in seinem Herzen regte sich auf einmal ein sinnloser, absonderlicher Ärger darüber, daß sie nicht da war. ›Nein, nicht darüber, daß sie nicht da ist‹, gab sich Mitja, der sich sofort über sein Gefühl klarzuwerden suchte, selbst Antwort. ›Eher darüber, daß ich beim besten Willen nicht zuverlässig herausbekommen kann, ob sie da ist oder nicht.‹ Mitja erinnerte sich später, daß sein Geist in jenem Augenblick völlig klar gewesen war, daß er sich alles bis in die geringste Einzelheit deutlich vorgestellt und jeden Umstand bemerkt hatte. Aber der Mißmut darüber, daß er nichts Bestimmtes wußte und infolgedessen auch keinen Entschluß fassen konnte, wuchs in seinem Herzen mit maßloser Schnelligkeit. Ist sie nun eigentlich hier oder nicht?‹ fragte er sich voller Wut. Und plötzlich faßte er einen Entschluß, streckte die Hand aus und klopfte leise an den Fensterrahmen. Er klopfte das Signal, das der Alte mit Smerdjakow verabredet hatte: die beiden ersten Male langsam und dann dreimal schneller – das Signal, welches bedeutete, Gruschenka ist gekommen! Der Alte fuhr zusammen, hob den Kopf, sprang auf und stürzte ans Fenster. Mitja sprang in den Schatten zurück. Fjodor Pawlowitsch öffnete das Fenster und steckte den Kopf hinaus.

»Gruschenka, du? Bist du es?« sagte er flüsternd, mit zitternder Stimme. »Wo bist du, meine Teure? Mein Engelchen, wo bist du?«

Er war schrecklich aufgeregt und atmete nur mühsam.

›Er ist allein!‹ sagte sich Mitja mit Bestimmtheit.

»Wo bist du denn?« rief der Alte wieder, streckte den Kopf noch weiter heraus, mitsamt den Schultern, und sah sich nach allen Seiten um. »Komm doch her! Ich habe ein kleines Geschenk für dich zurechtgemacht. Komm, ich will es dir zeigen!«

›Er meint das Kuvert mit den dreitausend Rubeln!‹ sagte sich Mitja.

»Wo bist du denn? Bist du etwa an der Tür? Warte, gleich werde ich aufmachen …«

Und der Alte kroch beinahe aus dem Fenster, indem er sich bemühte, nach rechts zur Gartentür zu sehen und in der Dunkelheit zu unterscheiden, ob da jemand stand. Noch eine Sekunde, und er wäre hingelaufen, um die Tür aufzuschließen, ohne Gruschenkas Antwort abzuwarten. Mitja sah ihn von der Seite und rührte sich nicht. Das ganze widerwärtige Profil des Alten, das herabhängende Doppelkinn, die gekrümmte Nase, die in wollüstiger Erwartung lächelnden Lippen, all das wurde vom Licht der Lampe, das schräg von links aus dem Zimmer fiel, hell beleuchtet. Eine rasende Wut loderte plötzlich in Mitjas Herzen auf: ›Da ist er, mein Nebenbuhler, der böse Dämon meines Lebens!‹ Das war ein Anfall jener plötzlichen, rachsüchtigen, rasenden Wut, von der er, wie in einer Vorahnung, in dem Gespräch mit Aljoscha vor vier Tagen in der Laube gesprochen und auf Aljoschas Frage: »Wie kannst du nur sagen, du würdest den Vater töten?« geantwortet hatte.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, hatte er gesagt, »vielleicht ermorde ich ihn nicht, aber vielleicht tue ich es. Ich fürchte, er wird mir plötzlich verhaßt sein durch sein Gesicht in jenem Augenblick. Ich hasse sein Doppelkinn, seine Nase, seine Augen, sein schamloses Lachen. Ich empfinde einen physischen Ekel vor ihm. Das ist es, was ich befürchte: Dann werde ich mich nicht beherrschen können!«

Der physische Ekel wuchs unerträglich. Mitja wußte nicht mehr, was er tat, und zog plötzlich den Messingstößel aus der Tasche …

›Gott muß mich damals behütet haben‹, sagte Mitja später, zur selben Zeit erwachte auf seinem Lager der kranke Grigori Wassiljewitsch. Am Abend dieses Tages hatte er sich der Kur unterzogen, von der Smerdjakow Iwan Fjodorowitsch berichtet hatte; er hatte sich mit einem geheimnisvollen starken Branntweinaufguß eingerieben, den Rest zu einem bestimmten Gebet, das seine Gattin flüsterte, ausgetrunken und sich dann schlafen gelegt. Marfa Ignatjewna hatte ebenfalls ein wenig von dem Branntwein genossen und war, da sie Alkohol nicht gewöhnt war, an der Seite ihres Mannes in einen todähnlichen Schlaf gesunken. Aber da erwachte Grigori auf einmal ganz unerwartet in der Nacht, überlegte einen Augenblick und richtete sich im Bett auf, obgleich er sofort wieder einen starken Schmerz im Kreuz spürte. Dann überlegte er noch ein wenig, stand auf und kleidete sich rasch an. Vielleicht hatte er Gewissensbisse, daß er schlief, während das Haus »in so einer gefährlichen Zeit« ohne Wächter war. Smerdjakow lag, von seinem epileptischen Anfall entkräftet, in der Kammer nebenan, ohne sich zu rühren. Marfa Ignatjewna bewegte sich nicht. ›Das Weib ist schwach geworden!‹ dachte Grigori Wassiljewitsch bei ihrem Anblick und trat ächzend auf die Stufen vor der Haustür hinaus. Allerdings wollte er sich nur von dort aus umsehen, da er sich nicht imstande fühlte zu gehen; der Schmerz im Kreuz und im rechten Bein war unerträglich. Aber da fiel ihm ein, daß er das Pförtchen zum Garten am Abend nicht zugeschlossen hatte. Er war peinlich gewissenhaft und hielt aufs strengste an der einmal eingeführten Ordnung und an langjährigen Gewohnheiten fest. Hinkend und schmerzverkrümmt stieg er die Stufen hinab und wandte sich dem Garten zu. Und richtig: die Pforte stand weit offen. Mechanisch ging er in den Garten hinein; vielleicht schwante ihm etwas, vielleicht hatte er irgendeinen Laut gehört; doch als er nach links schaute, erblickte er das geöffnete Fenster, wo jetzt niemand mehr heraussah.

›Warum ist das Fenster offen? Es ist doch jetzt nicht Sommer!‹ dachte Grigori.

Und plötzlich gewahrte er undeutlich vor sich im Garten etwas Außergewöhnliches. Ungefähr vierzig Schritte vor ihm schien in der Dunkelheit ein Mensch zu laufen; sehr schnell bewegte sich da ein Schatten.

»Herrgott!« sagte Grigori und lief los, seine Kreuzschmerzen vergessend, um dem Laufenden den Weg abzuschneiden.

Er schlug einen kürzeren Weg ein, da ihm der Garten offensichtlich besser bekannt war als dem Flüchtenden. Der aber lief zum Badehäuschen, dann um dieses herum und stürzte auf den Zaun zu. Grigori folgte ihm, ohne ihn aus den Augen zu verlieren und ohne an sich selbst zu denken. Er kam gerade in dem Augenblick zum Zaun, als der Flüchtling schon hinaufstieg. Außer sich vor Wut brüllte Grigori los, stürzte zu ihm hin und klammerte sich mit beiden Händen an sein Bein.

Richtig, seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen, er erkannte ihn. Er war es, »der entsetzliche Vatermörder«!

»Vatermörder! schrie der Alte, daß es weithin zu hören war. Mehr konnte er nicht schreien. Wie vom Blitz getroffen, fiel er plötzlich zu Boden. Mitja sprang wieder in den Garten und beugte sich über ihn. In der Hand hatte Mitja den Messingstößel; er schleuderte ihn mechanisch von sich ins Gras. Der Stößel fiel zwei Schritte neben Grigori nieder, aber nicht ins Gras, sondern auf den Weg, auf die sichtbarste Stelle. Einige Sekunden betrachtete Mitja den Alten: Sein Kopf war ganz voll Blut. Mitja streckte die Hand aus und begann ihn zu betasten. Er erinnerte sich später deutlich, daß ihm in jenem Moment sehr daran gelegen war, »genau zu konstatieren«, ob er dem Alten den Schädel zerschmettert oder ihn nur »betäubt« hatte. Das Blut strömte heftig und übergoß mit heißem Strahl Mitjas zitternde Finger. Er erinnerte sich später auch, daß er sein reines weißes Taschentuch, das er sich extra für den Besuch Frau Chochlakowa eingesteckt hatte, aus der Tasche zog und es dem Alten an den Kopf hielt in dem sinnlosen Bemühen, ihm das Blut von der Stirn und vom Gesicht abzuwischen. Aber auch das Tuch war augenblicklich von Blut durchtränkt.

›Herrgott, wozu tue ich das?‹ fragte sich Mitja, plötzlich zur Besinnung kommend. Wenn ich ihm den Schädel eingeschlagen habe, wie soll ich das jetzt feststellen? Und es ist ja jetzt auch ganz gleich! Habe ich ihn totgeschlagen, so habe ich ihn eben totgeschlagen …‹ »Der Alte ist mir in die Quere gekommen soll er nun daliegen!« sagte er laut, stürzte plötzlich zum Zaun, sprang hinüber in die Seitengasse und lief fort.

Das blutdurchtränkte Taschentuch hielt er zusammengeballt in der rechten Faust und steckte es im Laufen in die hintere Rocktasche. Er lief Hals über Kopf, und mehrere der wenigen Passanten, die ihm in der Dunkelheit auf den Straßen der Stadt begegneten, erinnerten sich später, in jener Nacht einen wie irr laufenden Menschen gesehen zu haben. Er rannte wieder zum Haus der Frau Morosowa. Gleich nachdem Mitja vorhin gegangen war, hatte Fenja den Hausknecht Nasar Iwanowitsch »um Christi willen« gebeten, »den Hauptmann nicht mehr hereinzulassen, weder heute noch morgen«. Nasar Iwanowitsch hatte es ihr versprochen; unglücklicherweise aber war er plötzlich zur gnädigen Frau gerufen worden und hatte seinem Neffen, einem etwa zwanzigjährigen, erst unlängst vom Lande gekommenen Burschen, aufgetragen, auf dem Hof Wache zu halten; dabei hatte er jedoch vergessen, ihm wegen des Hauptmanns anzuweisen. Als Mitja am Tor ankam, klopfte er. Der Bursche erkannte ihn sofort; Mitja hatte ihm oft Trinkgeld gegeben. Er ließ ihn unverzüglich ein und teilte ihm vergnügt lächelnd im voraus mit, Agrafena Alexandrowna sei jetzt nicht zu Hause.

»Wo ist sie denn, Prochor?« fragte Mitja und blieb jäh stehen.

»Sie ist weggefahren, vor ungefähr zwei Stunden, mit Timofej. Nach Mokroje.«

»Wieso denn das?« schrie Mitja.

»Das weiß ich nicht. Zu einem Offizier, glaube ich. Jemand hat sie rufen lassen. Von dort ist auch ein Wagen geschickt worden …«

Mitja ließ ihn stehen und lief wie wahnsinnig zu Fenja hinein.

5. Ein plötzlicher Entschluß

Fenja saß mit ihrer Großmutter in der Küche; sie waren gerade dabei, sich schlafen zu legen. Im Vertrauen auf Nasar Iwanowitsch hatten sie wieder nicht von innen abgeschlossen. Mitja kam herein, stürzte sich auf Fenja und packte sie fest an der Kehle.

»Jetzt sprich, wo ist sie, mit wem ist sie jetzt in Mokroje!« brüllte er wütend.

Die beiden Frauen kreischten auf.

»Ich werde es sagen, Täubchen Dmitri Fjodorowitsch! Ich werde gleich alles sagen, nichts werde ich verheimlichen!« schrie die zu Tode erschrockene Fenja hastig. »Sie ist zu einem Offizier nach Mokroje gefahren.«

»Zu was für einem Offizier?« brüllte Mitja.

»Zu ihrem früheren Offizier, zu ihrem früheren, zu dem, der sie vor fünf Jahren sitzenließ«, sagte Fenja mit derselben Eilfertigkeit.

Dmitri Fjodorowitsch nahm die Hände von ihrer Kehle. Leichenblaß, unfähig zu reden, stand er vor ihr; doch war an seinen Augen zu sehen, daß er alles mit einemmal verstanden, alles bis ins letzte erraten hatte. Die arme Fenja war in dieser Sekunde freilich nicht imstande, zu beobachten, ob er es verstanden hatte oder nicht. Sie blieb in der Haltung, in der sie auf dem Schlafkasten gesessen hatte, als er hereingestürzt kam; sie zitterte am ganzen Körper und hielt beide Hände von sich gestreckt, als wolle sie sich schützen. Mit angstvollen, geweiteten Augen starrte sie ihn an, ohne sich zu rühren. Hinzu kam noch, daß Mitjas Hände mit Blut befleckt waren. Unterwegs beim Laufen hatte er seine Stirn mit ihnen berührt, um sich den Schweiß abzuwischen, so daß auch auf der Stirn und auf der rechten Backe rote Flecke von verschmiertem Blut zurückgeblieben waren. Fenja war nahe daran, einen Weinkrampf zu bekommen; die alte Köchin war aufgesprungen und blickte ihn fast bewußtlos an. Dmitri Fjodorowitsch stand eine lange Zeit regungslos da und ließ sich dann plötzlich mechanisch neben Fenja auf einen Stuhl fallen.

Er saß da, ohne eigentlich zu denken; er befand sich vor Schreck eher in einem Starrkrampf. Aber ihm war alles sonnenklar: Dieser Offizier … Er hatte über ihn Bescheid gewußt, ganz genau, aus Gruschenkas eigenem Mund; er hatte gewußt, daß er vor einem Monat einen Brief geschickt hatte. Also einen ganzen Monat hatte dieses Spiel gedauert, und man hatte es vor ihm geheimgehalten, bis dieser neue Mann jetzt wirklich gekommen war – und er hatte mit keinem Gedanken an ihn gedacht! Wie war das nur möglich, daß er nicht an ihn gedacht hatte? Warum hatte er diesen Offizier damals so vollständig vergessen, kaum daß er von ihm gehört hatte? Das war eine Frage, die wie ein Ungeheuer vor ihm stand. Und er betrachtete dieses Ungeheuer voller Angst, und die Glieder waren ihm kalt geworden vor Schreck.

Plötzlich aber begann er leise und sanft mit Fenja zu sprechen, wie ein stilles, freundliches Kind, als habe er ganz vergessen, daß er sie soeben erschreckt, beleidigt und gequält hatte. Er begann, sie auszufragen, und zwar mit einer außerordentlichen, für seine Lage sogar erstaunlichen Genauigkeit. Fenja sah zwar scheu auf seine blutigen Hände, antwortete ihm jedoch ebenfalls mit erstaunlicher Bereitwilligkeit und Eile auf jede Frage. Sie schien es sogar eilig zu haben, ihm die ganze »wahrhaftige Wahrheit« auseinanderzusetzen. Allmählich begann sie ihm beinahe freudig alle Einzelheiten darzulegen, und zwar durchaus nicht in der Absicht, ihn zu quälen, sondern als wollte sie ihm nach besten Kräften und von Herzen einen Dienst erweisen. Eingehend erzählte sie ihm auch den gesamten Verlauf des heutigen Tages: vom Besuch Rakitins und Aljoschas; wie sie, Fenja, auf der Lauer gestanden habe; wie das gnädige Fräulein weggefahren sei; wie sie Aljoscha aus dem Fenster einen Gruß an ihn, Mitenka, aufgetragen habe, und er solle sein Leben lang daran denken, daß sie ihn ein Stündchen geliebt habe. Als Mitja von diesem Gruß hörte, lächelte er plötzlich, und eine helle Röte trat auf sein blasses Gesicht. In diesem Augenblick sagte Fenja, ohne sich im geringsten wegen ihrer Neugier zu fürchten: »Aber wie sehen denn Ihre Hände aus, Dmitri Fjodorowitsch? Die sind ja ganz voll Blut!«

»Ja«, antwortete Mitja mechanisch, warf einen zerstreuten Blick auf seine Hände und vergaß sie und Fenjas Frage sofort wieder. Er versank wieder in Schweigen. Seitdem er hereingestürzt war, waren schon etwa zwanzig Minuten vergangen. Sein Schreck von vorhin war verflogen; offenbar hatte sich jetzt eine unbeugsame Entschlossenheit seiner bemächtigt. Er erhob sich auf einmal von seinem Platz und lächelte gedankenversunken.

»Gnädiger Herr, was ist denn bloß mit Ihnen geschehen?« fragte Fenja und zeigte wieder auf seine Hände. Sie sagte das mitfühlend, als sei sie dasjenige Wesen, das ihm jetzt in seinem Kummer am nächsten stände.

Mitja blickte wieder auf seine Hände.

»Das ist Blut, Fenja«, sagte er und sah sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. »Das ist Menschenblut … Und warum ist es vergossen worden? O Gott, Fenja! Da ist ein Zaun…« Er schaute sie an, als wollte er ihr ein Rätsel aufgeben. »Ein hoher Zaun, schrecklich anzusehen … Aber morgen, bei Tagesanbruch, wenn die Sonne in die Höhe fliegt, dann wird Mitenka über diesen Zaun springen … Du verstehst nicht, was das für ein Zaun ist, Fenja. … Nun, das schadet nichts … Ganz gleich, morgen wirst du es hören und alles verstehen … Und jetzt lebe wohl! Ich werde nicht stören, ich werde beiseite treten, ich werde es fertigbringen, beiseite zu treten. Lebe du nur, du meine Freude! Du hast mich ein Stündchen geliebt – so erinnere denn auch du dich dein Leben lang an Mitenka Karamasow … Sie nannte mich ja immer Mitenka, erinnerst du dich?«

Mit diesen Worten verließ er plötzlich die Küche. Fenja aber erschrak über sein Weggehen fast noch mehr als vorher, als er hereingekommen war und sich auf sie gestürzt hatte.

Genau zehn Minuten später betrat Dmitri Fjodorowitsch die Wohnung des jungen Beamten Pjotr Iljitsch Perchotin, bei dem er vor kurzem seine Pistolen versetzt hatte. Es war schon halb neun, und Pjotr Iljitsch, der zu Hause Tee getrunken hatte, war soeben wieder beim Ankleiden, um ins Restaurant »Zur Residenz« zu gehen und dort Billard zu spielen. Mitja traf ihn noch gerade vor dem Weggehen an. Als der Beamte ihn und sein blutbeflecktes Gesicht erblickte, schrie er laut auf.

»Herrgott! Was ist denn mit Ihnen geschehen?«

»Ich bin gekommen«, antwortete Mitja hastig, »um mir meine Pistolen wiederzuholen und Ihnen Ihr Geld zu bringen. Vielen Dank! Ich habe es sehr eilig, Pjotr Iljitsch. Bitte, machen Sie recht schnell!«

Pjotr Iljitsch staunte immer mehr. Er sah auf einmal in Mitjas Hand ein Päckchen Papiergeld; die Hauptsache aber war, daß Mitja dieses Päckchen hielt und mit ihm hereinkam, wie kein Mensch Geld hält und mit Geld hereinkommt: alle Banknoten trug er wie zur Schau in der rechten Hand, die er steif vor sich her hielt. Pjotr Iljitschs junger Diener, der Mitja im Vorzimmer empfangen hatte, sagte später aus, er sei so, mit dem Geld in der Hand, auch ins Vorzimmer hereingekommen, er mußte es also auch schon auf der Straße so vor sich her getragen haben. Es waren lauter regenbogenfarbene Hundertrubelscheine, die er in seinen blutbefleckten Fingern hielt. Als Pjotr Iljitsch später von interessierten Personen befragt wurde, wie viel Geld es gewesen sei, erklärte er, das habe sich damals nach dem Augenschein schwer beurteilen lassen, vielleicht zweitausend Rubel, vielleicht dreitausend; jedenfalls sei es ein großes, »kompaktes« Päckchen gewesen. »Dmitri Fjodorowitsch selbst«, sagte der Beamte später ebenfalls aus, »machte den Eindruck, als sei er nicht bei Sinnen. Er war jedoch nicht betrunken, sondern befand sich in einer gewissen Verzückung, er war sehr zerstreut, zugleich aber auch in sich gekehrt, als ob er über etwas nachdächte und sich klarzuwerden suchte, aber zu keinem Entschluß kommen könnte. Er hatte es sehr eilig, antwortete kurz und in seltsamem Ton; und manchmal schien er ganz und gar nicht traurig, sondern eher vergnügt zu sein.«

»Was ist denn mit Ihnen los? Was ist Ihnen denn passiert?« rief Pjotr Iljitsch wieder und betrachtete scheu seinen Gast. »Wie haben Sie sich denn so blutig gemacht? Sind Sie gefallen? Sehen Sie nur!«

Er faßte ihn am Ellenbogen und stellte ihn vor den Spiegel.

Als Mitja sein blutbeflecktes Gesicht sah, zuckte er zusammen und runzelte ärgerlich die Augenbrauen.

»Pfui Teufel! Das fehlte noch!« murmelte er zornig, nahm schnell die Banknoten aus der rechten Hand in die linke und zog mit einer krampfhaften Bewegung sein Taschentuch aus der Tasche. Aber auch das Tuch war ganz voll Blut, denn mit ihm hatte er Grigori den Kopf und das Gesicht abgewischt, fast kein einziges Fleckchen war weiß geblieben, und das Tuch war nicht nur getrocknet, sondern hatte sich zu einem Ballen verhärtet und wollte sich nicht auseinanderfalten lassen.

Mitja schleuderte es wütend auf den Fußboden.

»Zum Teufel! Haben Sie nicht irgendeinen Lappen, damit ich mich abwischen kann?«

»Also haben Sie sich nur beschmiert und sind gar nicht verwundet? Dann waschen Sie sich doch lieber!« antwortete Pjotr Iljitsch. »Da ist der Waschtisch, ich werde Ihnen behilflich sein.«

»Der Waschtisch? Ja, das ist gut … Aber wo soll ich denn hiermit hin?« fragte er, deutete dabei in seltsamer Ratlosigkeit auf sein Päckchen Hundertrubelscheine und blickte Pjotr Iljitsch fragend an, als ob der zu entscheiden hätte, wo Mitja sein eigenes Geld lassen sollte.

»Stecken Sie es doch in die Tasche, oder legen Sie es hier auf den Tisch, es wird nicht fortkommen.«

»In die Tasche? Ja, in die Tasche. Das ist gut … Ach, wissen Sie, das ist ja alles dummes Zeug!« rief er, als streifte er auf einmal seine Zerstreutheit ab. »Sehen Sie, wir wollen erst dieses Geschäft erledigen. Das mit den Pistolen, meine ich. Geben Sie sie mir zurück, da ist Ihr Geld. . . Ich brauche sie sehr, sehr dringend … Und ich habe nicht eine Minute Zeit …«

Er nahm den obersten Hundertrubelschein von dem Päckchen und reichte ihn dem Beamten.

»Aber ich werde nicht herausgeben können«, bemerkte der. »Haben Sie kein kleineres Geld?«

»Nein«, antwortete Mitja, wobei er wieder das Päckchen ansah. Dann blätterte er mit den Fingern die obersten zwei oder drei Scheine durch, als ob er seinem eigenen Wort nicht traute. »Nein, alles dieselbe Sorte«, fügte er hinzu und blickte wieder Pjotr Iljitsch fragend an.

»Woher sind Sie denn so reich geworden?« fragte der Beamte. »Warten Sie, ich werde meinen Burschen zu den Plotnikows schicken. Die schließen ihr Geschäft erst spät und werden wohl wechseln können. He, Mischa!« rief er ins Vorzimmer.

»Zum Laden von Plotnikow – das ist ja herrlich!« rief Mitja. Ein neuer Gedanke schien ihn erleuchtet zu haben. »Mischa!«

sagte er zu dem Burschen. »Weißt du was, lauf doch mal zu Plotnikows und sag, Dmitri Fjodorowitsch läßt grüßen und kommt gleich selber hin. Und noch etwas. Sie sollen, bis ich dort bin, Champagner bereitstellen, so etwa drei Dutzend Flaschen, und sie so einpacken wie damals, als ich nach Mokroje gefahren bin … Ich habe damals vier Dutzend bei ihnen genommen«, sagte er auf einmal zu Pjotr Iljitsch. Und wieder an den Burschen gewandt: »Sie wissen schon Bescheid, sei unbesorgt, Mischa. Weiter. Ich möchte auch Käse haben und Straßburger Pasteten und geräucherte Schnäpel und Schinken und Kaviar – na, kurz alles, was sie haben, ungefähr für hundert oder hundertzwanzig Rubel, wie voriges Mal … Und sie sollen auch die Süßigkeiten nicht vergessen, Konfekt und Birnen und zwei oder drei oder vier Wassermelonen … Nein, Wassermelonen, da reicht eine, aber Schokolade, Kandiszucker, Montpensier, Sahnebonbons – na, alles, was sie mir damals für Mokroje eingepackt haben. Mit dem Champagner soll es ungefähr dreihundert Rubel kosten … Behalte alles richtig, Mischa, wenn du Mischa bist … Er heißt doch Mischa?« wandte er sich wieder an Pjotr Iljitsch.

»Halt, halt!« unterbrach ihn Pjotr Iljitsch, der ihn beunruhigt anhörte und ansah. »Es ist schon besser, wenn Sie selbst hingehen und alles sagen; er wird es durcheinanderbringen!«

»Er wird es durcheinanderbringen, ja, das sehe ich. Ach, Mischa, ich wollte dir schon einen Kuß geben für dieses Bestellung. Wenn du nichts durcheinanderbringst, bekommst du zehn Rubel, mach schnell! Champagner, das ist die Hauptsache, und Kognak auch, und Rotwein und Weißwein auch, alles wie damals … Sie wissen schon, wie es damals war.«

»Aber hören Sie doch!« unterbrach ihn Pjotr Iljitsch, der nun schon ungeduldig wurde. »Ich sage, er soll nur zum Wechseln hinlaufen und bestellen, sie möchten den Laden nicht zumachen. Und dann gehen Sie hin und geben Ihre Aufträge! Geben Sie Ihre Banknote her … Und nun marsch, Mischa! Lauf, was du kannst!«

Pjotr Iljitsch hatte seinen Burschen offenbar absichtlich schnell weggeschickt, denn dieser hatte die ganze Zeit vor Mitja gestanden und mit weit aufgerissenen Augen dessen blutiges Gesicht und die blutbefleckten Hände mit dem Geldpäckchen in den zitternden Fingern angestarrt und wahrscheinlich nur wenig von dem begriffen, was ihm Mitja auftrug.

»Na, jetzt kommen Sie, waschen Sie sich!« sagte Pjotr Iljitsch mürrisch. »Legen Sie das Geld auf den Tisch. Oder stecken Sie es in die Tasche! So ist es gut, kommen Sie! Aber ziehen Sie doch den Rock aus!«

Er half ihm beim Ausziehen des Rockes und schrie auf einmal wieder auf. »Sehen Sie nur, auch Ihr Rock ist blutig!«

»Das … das ist nicht der Rock. Nur hier am Ärmel ein bißchen. Und nur da, wo das Taschentuch gesteckt hat. Das Blut ist aus der Tasche durchgesickert. Ich habe mich bei Fenja auf die Tasche mit dem Tuch gesetzt, und da ist das Blut durchgesickert«, erläuterte Mitja mit erstaunlicher Zutraulichkeit.

Pjotr Iljitsch hörte mit finsterer Miene zu.

»Da haben Sie aber Pech gehabt. Sie haben sich wohl mit jemand geprügelt?« brummte er.

Die Prozedur des Waschens begann. Pjotr Iljitsch hielt die Kanne und goß Mitja Wasser auf die Hände. Mitja hatte es sehr eilig und seifte sich die Hände schlecht ein. Die Hände zitterten ihm, wie Pjotr Iljitsch sich später erinnerte. Pjotr Iljitsch schlug ihm sogleich vor, sich besser einzuseifen und kräftiger abzureiben. Er gewann in diesem Augenblick über Mitja die Oberhand, und das wurde mit der Zeit immer deutlicher. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, der junge Mann war durchaus nicht schüchtern.

»Sehen Sie nur, Sie haben sich unter den Nägeln nicht eingeseift. So, jetzt reiben Sie sich das Gesicht ab, sehen Sie da, an der Schläfe, am Ohr … Wollen Sie etwa in diesem Hemd fahren? Wohin fahren Sie eigentlich? Sehen Sie nur, am rechten Ärmel ist die ganze Manschette blutig!«

»Ja, sie ist blutig«, bemerkte Mitja, während er die Manschette betrachtete.

»Wechseln Sie doch die Wäsche!«

»Ich habe keine Zeit. Aber wissen Sie was, ich werde …«, fuhr Mitja mit derselben Zutraulichkeit fort; dabei trocknete er sich bereits Gesicht und Hände ab und zog sich den Rock an. »Ich werde das untere Ende des Ärmels umschlagen, dann wird es unter dem Rock nicht zu sehen sein … Sehen Sie, so!«

»Jetzt sagen Sie mir endlich, wie Ihnen das passiert ist! Haben Sie sich mit jemand geschlagen, ja? Vielleicht wieder im Restaurant wie damals? Haben Sie wieder etwas mit dem Stabskapitän gehabt? Haben Sie ihn wieder geprügelt und am Bart gezogen?« fragte Pjotr Iljitsch vorwurfsvoll. »Wen haben Sie denn sonst noch geprügelt … oder am Ende gar getötet?«

»Unsinn!« versetzte Mitja.

»Wieso Unsinn?«

»Das brauchen Sie nicht zu wissen«, erwiderte Mitja und lächelte plötzlich. »Ich habe eben auf dem Marktplatz eine alte Frau totgedrückt.«

»Totgedrückt? Eine alte Frau?«

»Einen alten Mann!« schrie Mitja und lachte Pjotr Iljitsch so laut ins Gesicht, als ob der taub wäre.

»Hol‘ Sie der Teufel, einen alten Mann, eine alte Frau … Haben Sie wirklich jemand totgeschlagen?«

»Wir haben uns wieder versöhnt. Wir sind aneinandergeraten und haben uns wieder versöhnt. Auf der Stelle. Wir sind als Freunde auseinandergegangen. Ein Dummkopf … Er hat mir verziehen … Jetzt hat er mir gewiß verziehen … Wenn er aufgestanden wäre, hätte er mir gewiß nicht verziehen«, fügte Mitja plötzlich hinzu und zwinkerte dazu mit den Augen. »Ach wissen Sie, hol‘ ihn der Teufel! Hören Sie mal, Pjotr Iljitsch! Zum Teufel, das brauchen Sie nicht zu wissen! In diesem Augenblick will ich es nicht sagen!« schloß Mitja kurz und entschieden.

»Ich frage ja nur deswegen, weil es Ihre besondere Vorliebe ist, sich mit jedem anzulegen. So wie damals aus ganz unbedeutendem Anlaß mit diesem Stabskapitän … Sie haben sich geprügelt und fahren nun zu einem Trinkgelage – da sieht man Ihren ganzen Charakter! Drei Dutzend Flaschen Champagner wozu denn so viel?«

»Bravo! Geben Sie nun die Pistolen her! Bei Gott, ich habe keine Zeit. Ich würde gern ein bißchen mit dir schwatzen, Täubchen, aber ich habe keine Zeit. Und es ist auch gar nicht nötig! Es ist zu spät, um noch lange zu schwatzen. Halt, wo ist das Geld geblieben, wo habe ich es gelassen?« rief er und begann in den Taschen zu wühlen.

»Auf den Tisch haben Sie es gelegt … Sie selbst. Da liegt es ja. Haben Sie das vergessen? Wahrhaftig, Sie achten das Geld nicht höher als Unrat oder Wasser. Da sind Ihre Pistolen. Sonderbar, vorhin haben Sie sie für zehn Rubel als Pfand gegeben, und jetzt haben Sie auf einmal Tausende in Händen. Es sind doch wohl zwei- oder dreitausend?«

»Seien Sie unbesorgt, dreitausend«, erwiderte Mitja lachend und steckte das Geld in die Hosentasche.

»So werden Sie es verlieren. Sie besitzen wohl Goldbergwerke wie?«

»Goldbergwerke? Jawohl, Goldbergwerke!« schrie Mitja aus voller Kehle und brach in schallendes Gelächter aus. »Wollen Sie in die Goldbergwerke, Perchotin? Dann wird Ihnen eine Dame von hier dreitausend Rubel geben, damit Sie nur hinfahren. Mir hat sie sie gegeben – so sehr liebt sie die Goldbergwerke! Kennen Sie Frau Chochlakowa?«

»Nein, ich bin nicht mit ihr bekannt, aber ich habe von ihr gehört und sie gesehen. Hat die Ihnen wirklich die dreitausend Rubel gegeben? So einfach gegeben?« fragte Pjotr Iljitsch mit ungläubiger Miene.

»Gehen Sie doch morgen, wenn die Sonne in die Höhe fliegt, wenn der ewig junge Phöbus, Gott lobend und preisend, in die Höhe fliegt, zu Frau Chochlakowa, und fragen Sie sie selbst, ob sie mir dreitausend Rubel gegeben hat oder nicht. Fragen Sie sie doch!«

»Ich kenne Ihre Beziehungen nicht … Wenn Sie es so bestimmt sagen, wird sie die Ihnen schon gegeben haben … Sie aber … Kaum haben Sie das Geld in die Pfoten bekommen, fahren Sie statt nach Sibirien mit den ganzen dreitausend zu einem Gelage … Wohin fahren Sie jetzt eigentlich, he?«

»Nach Mokroje.«

»Nach Mokroje? Aber es ist doch Nacht!«

»Wanja war einst stolz und reich, jetzt ist er dem Bettler gleich«, sagte Mitja plötzlich.

»Wieso einem Bettler gleich? Wenn man so viele Tausende hat, ist man nicht einem Bettler gleich.«

»Ich rede nicht von den Tausenden. Zum Teufel mit den Tausenden! Ich rede vom Charakter der Weiber:

Denn das Weib ist falscher Art,
und die Arge liebt das Neue.

Ich bin mit Odysseus einverstanden, der sagt das irgendwo bei Schiller.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Bin ich etwa betrunken?«

»Nein, nicht betrunken, schlimmer als das.«

»Ich bin seelisch betrunken, Pjotr Iljitsch, seelisch betrunken! Aber genug davon, genug!«

»Was machen Sie denn da? Wollen Sie die Pistole laden?«

»Ja, das will ich.«

Mitja hatte in der Tat den Pistolenkasten geöffnet, er machte das Pulverhorn auf, schüttete sorgfältig die Ladung hinein und drückte sie fest. Darauf nahm er eine Kugel und hielt sie zwischen zwei Fingern, vor sich nahe an die Kerze, bevor er sie in den Lauf schob.

»Warum betrachten Sie denn die Kugel so?« fragte Pjotr Iljitsch, der mit Neugier und Unruhe Mitjas Bewegungen verfolgte.

»Nur so ein Einfall. Wenn du vorhättest, dir diese Kugel ins Gehirn zu jagen, würdest du sie dir dann beim Laden der Pistole genauer ansehen oder nicht?«

»Was für einen Sinn sollte das haben?«

»Sie wird in mein Gehirn eindringen – daher ist es interessant zu erfahren, wie sie beschaffen ist … Übrigens ist das Unsinn, bloß ein dummer Gedanke … So, fertig«, fügte er hinzu, nachdem er die Kugel hineingeschoben und mit Werg festgestopft hatte. »Lieber Pjotr Iljitsch, das ist ja alles nur Unsinn! Wenn du wüßtest, was für ein schrecklicher Unsinn! Bitte, gib mir jetzt ein Stückchen Papier!«

»Da ist welches.«

»Nein, glattes, reines, um darauf zu schreiben. So, schön!«

Mitja nahm eine Feder vom Tisch, schrieb schnell zwei Zeilen auf das Papier, faltete es vierfach zusammen und steckte es in seine Westentasche. Die Pistolen legte er in den Kasten, schloß ihn mit einem Schlüsselchen zu und nahm ihn in die Hand. Darauf blickte er Pjotr Iljitsch an und lächelte lange nachdenklich.

»Jetzt wollen wir gehen!« sagte er.

»Wohin denn? Nein, warten Sie … Am Ende wollen Sie sich die Kugel selbst ins Gehirn jagen?« sagte Pjotr Iljitsch beunruhigt.

»Unsinn! Ich will leben, ich liebe das Leben! Das sollst du wissen! Ich liebe den goldlockigen Phöbus und sein flammendes Licht … Lieber Pjotr Iljitsch, verstehst du, beiseite zu treten?«

»Beiseite zu treten, was soll das heißen?«

»Jemandem den Weg freigeben. Einem geliebten Wesen und einem verhaßten Menschen den Weg freigeben. Und zwar muß man den Weg so freigeben, daß einem auch der verhaßte Mensch lieb wird! Und man muß zu ihnen sagen: Gott sei mit euch, bitte, geht vorbei, ich aber …«

»Sie aber?«

»Genug, wir wollen gehen!«

»Mein Gott, ich werde jemand sagen, man soll Sie nicht dahin lassen. Was wollen Sie denn jetzt in Mokroje?«

»Eine Frau ist dort. Eine Frau, laß dir das genug sein, Pjotr Iljitsch. Basta!«

»Hören Sie mal, wenn Sie auch ein wilder Geselle sind, so haben Sie mir doch immer gefallen … deshalb mache ich mir jetzt Sorgen um Sie.«

»Ich danke dir, Bruder. Ich bin ein wilder Geselle, sagst du. Jawohl, die wilden Gesellen. Ich wiederhole nur das eine: die wilden Gesellen! Ah, da ist ja Mischa, ich hatte gar nicht mehr an ihn gedacht.«

Mischa kam eilig mit einem Päckchen eingewechselten Geldes herein und meldete, bei den Plotnikows seien alle in Bewegung und schleppten Flaschen und Fisch und Tee zusammen; gleich werde alles bereit sein. Mitja nahm einen Zehnrubelschein und reichte ihn Pjotr Iljitsch; einen zweiten warf er Mischa hin.

»Nein, tun Sie das nicht!« rief Pjotr Iljitsch. Bei mir zu Hause, das lasse ich nicht zu, das ist üble Verwöhnung! Stecken Sie Ihr Geld ein! Sehen Sie, hier stecken Sie es hin … Wozu wollen Sie es aus dem Fenster werfen? Morgen brauchen Sie es doch und kommen wieder zu mir zehn Rubel borgen. Warum stecken Sie denn alles in die Seitentasche? Sie werden es noch verlieren!«

»Hör mal, lieber Mensch, wollen wir nicht zusammen nach Mokroje fahren?«

»Was soll ich denn da?«

»Hör mal, wenn es dir recht ist, mache ich gleich eine Flasche auf, und wir trinken auf das Leben! Ich möchte trinken, und ganz besonders mit dir trinken! Ich habe noch nie mit dir getrunken, wie?«

»Meinetwegen, im Restaurant können wir das ja tun. Gehen wir hin, ich wollte sowieso gerade hingehen.«

»In ein Restaurant zu gehen, dazu habe ich keine Zeit. Aber wir könnten es bei den Plotnikows im Laden tun, im Hinterzimmer. Wenn es dir recht ist, werde ich dir gleich ein Rätsel aufgeben.«

»Gib es auf.«

Mitja zog ein Zettelchen aus der Westentasche, faltete es auseinander und zeigte es dem Beamten. Auf dem Zettel stand mit deutlicher, großer Schrift: »Ich richte mich zur Strafe für mein ganzes Leben! Ich ahnde mein ganzes Leben!«

»Wirklich, ich muß es jemand sagen! Ich werde gehen und es anzeigen«, sagte Pjotr Iljitsch, als er den Zettel gelesen hatte.

»Da wirst du zu spät kommen, mein Täubchen! Los, wir wollen trinken! Vorwärts!«

Der Laden der Plotnikows lag nur wenige Häuser von Pjotr Iljitschs Wohnung entfernt, an der Straßenecke. Dies war das größte Delikatessengeschäft in unserer Stadt; es gehörte reichen Kaufleuten und war sehr gut eingerichtet. Es war dort alles zu haben, wie in den Geschäften der Residenz, alle möglichen guten Dinge: Wein (»Abzug der Gebrüder Jelissejew«). Früchte, Zigarren, Tee, Zucker, Kaffee und so weiter. Drei Gehilfen waren immer im Laden, zwei Laufburschen immer unterwegs. Obgleich unsere Gegend verarmt war, viele Gutsbesitzer weggezogen waren und der Handel am Boden lag, blühte dieses feine Geschäft doch wie früher, ja sogar von Jahr zu Jahr mehr. Für solche Dinge gab es allezeit Käufer. Mitja wurde im Laden mit Ungeduld erwartet. Man erinnerte sich noch sehr gut, wie er vor drei, vier Wochen auf dieselbe Weise alle möglichen Waren für mehrere hundert Rubel ausgesucht und bar bezahlt hatte – auf Borg hätte man ihm allerdings auch nichts gegeben – und wie er, ebenso wie jetzt, ein ganzes Päckchen Hundertrubelscheine in der Hand gehabt und das Geld unbedacht ausgegeben hatte, ohne zu handeln und zu überlegen, wozu er so viele Waren überhaupt brauchte. In der ganzen Stadt erzählte man später, er sei damals mit Gruschenka nach Mokroje gefahren, habe in einer Nacht und an dem folgenden Tag auf einen Schlag dreitausend Rubel vergeudet und sei von dem Gelage ohne eine Kopeke zurückgekehrt. Es hieß, er habe eine ganze Zigeunerhorde, die sich damals bei uns herumtrieb, mitgenommen, und die habe ihm in den zwei Tagen – betrunken wie er war – eine Unmenge Geld abgenommen und eine Unmenge teuren Wein getrunken. Man spottete über Mitja, er habe in Mokroje dumme Bauern mit Champagner betrunken gemacht und Bauernmädchen und Bauernfrauen mit Konfekt und Straßburger Pasteten gefüttert. Man lachte auch, und zwar besonders im Restaurant – allerdings nur hinter seinem Rücken, denn ihm ins Gesicht zu lachen, war etwas gefährlich –, über Mitjas eigenes offenherziges Geständnis, daß er von Gruschenka für diese ganze »Eskapade« keine andere Belohnung erhalten habe als die Erlaubnis, ihr Füßchen zu küssen; weiter habe sie ihm nichts gestattet.

Als Mitja und Pjotr Iljitsch zum Laden kamen, fanden sie am Eingang schon eine fahrbereite Troika vor, mit einem Wagen, der mit einem Teppich bedeckt war, mit Schellen und Glöckchen und dem Kutscher Andrej, der auf Mitja wartete. Im Laden war eine Kiste bereits mit Waren vollgepackt, und man wartete nur auf Mitja, um sie zuzumachen und auf den Wagen zu laden.

Pjotr Iljitsch war erstaunt.

»Wo hast du denn so schnell eine Troika herbekommen?« fragte er Mitja.

»Als ich zu dir lief, traf ich diesen Andrej und befahl ihm, direkt hierherzufahren. Es ist keine Zeit zu verlieren! Das vorige Mal fuhr ich mit Timofej, aber Timofej ist diesmal vor mir mit einer Zauberin davongefahren … Andrej, werden wir sehr viel später ankommen als sie?«

»Höchstens eine Stunde sind die früher da als wir, und auch das kaum! Kaum eine Stunde!« antwortete Andrej eilig. »Ich habe Timofej beim Anspannen geholfen – ich weiß, wie der fährt. Wir fahren anders als die, Dmitri Fjodorowitsch! Die können mit uns nicht mithalten. Keine Stunde kommen die früher an!« sagte Andrej eifrig. Er war noch nicht alt, ein magerer Bursche mit rötlichem Haar, in einem ärmellosen Wams, den Schoßrock über dem linken Arm.

»Fünfzig Rubel Trinkgeld, wenn wir nur eine Stunde später ankommen!«

»Nur eine Stunde, das garantiere ich Ihnen, Dmitri Fjodorowitsch! Ach was, keine halbe Stunde sind die früher da, geschweige denn eine Stunde!«

Mitja entwickelte zwar eine große Geschäftigkeit im Anordnen, doch was er da sagte und befahl, kam alles etwas sonderbar heraus, abgehackt und ungeordnet. Er fing etwas an und vergaß, es zu beenden. Pjotr Iljitsch hielt es für nötig, einzugreifen und sich der Sache anzunehmen.

»Für vierhundert Rubel, nicht unter vierhundert Rubel! Es soll genauso sein wie damals!« kommandierte Mitja. »Vier Dutzend Flaschen Champagner, nicht eine Flasche weniger!«

»Wozu brauchst du denn so viel? Was hat das für einen Sinn? Halt!« schrie Pjotr Iljitsch. »Was ist das für eine Kiste? Was ist da drin? Sind hier wirklich für vierhundert Rubel Waren drin?«

Die geschäftigen Gehilfen setzten ihm sofort mit den liebenswürdigsten Ausdrücken auseinander, in dieser ersten Kiste befände sich nur ein halbes Dutzend Flaschen Champagner und »alle übrigen für den Anfang erforderlichen Dinge«: Imbiß, Konfekt, Montpensier und so weiter; der »Hauptbedarf« jedoch werde erst noch eingepackt und solle dann wie beim vorigen Mal gesondert geliefert werden, auf einem besonderen dreispännigen Wagen; er werde zur rechten Zeit eintreffen, höchstens eine Stunde nach Dmitri Fjodorowitsch.

»Nicht mehr als eine Stunde später, ja nicht später! Und packt recht viel Montpensier und Sahnebonbons ein, das mögen die jungen Mädchen gern!« befahl Mitja eifrig und nachdrücklich.

»Sahnebonbons – von mir aus. Aber wozu brauchst du vier Dutzend Flaschen Champagner? Ein Dutzend reicht doch!« rief Pjotr Iljitsch, nun schon beinahe ärgerlich.

Er fing an zu feilschen, verlangte die Rechnung und wollte sich gar nicht beruhigen. Er rettete allerdings nur hundert Rubel. Man einigte sich schließlich, daß die gelieferte Ware nicht mehr als dreihundert Rubel kosten sollte.

»Ach, hol‘ euch der Teufel!« rief Pjotr Iljitsch, als käme er auf einmal zur Besinnung. »Was geht mich diese ganze Geschichte an? Wirf dein Geld doch weg, wenn du es so mühelos bekommen hast!«

»Hierher, du Knauser, hierher! Ärgere dich nicht!« sagte Mitja und zog ihn in das Zimmer hinter dem Laden. »Paß auf, man wird uns gleich eine Flasche herbringen, die wollen wir uns zu Gemüte führen. Ach, Pjotr Iljitsch, fahr doch mit! Du bist so ein lieber Mensch, solche Menschen habe ich gern.«

Mitja setzte sich auf einen kleinen Rohrstuhl, an ein winziges Tischchen, das mit einer schmutzigen Serviette bedeckt war. Pjotr Iljitsch nahm ihm gegenüber Platz, und der Champagner kam auch sofort. Der Gehilfe fragte noch, ob die Herren nicht Austern wünschten: »Prima Qualität, soeben eingetroffen.«

»Zum Teufel mit den Austern! Ich esse keine. Und wir brauchen weiter nichts!« rief Pjotr Iljitsch bissig.

»Zum Austernessen haben wir keine Zeit«, bemerkte Mitja. »Und ich habe auch keinen Appetit darauf … Weißt du, lieber Freund«, sagte er auf einmal mit echter Empfindung, »ich habe diese ganze Unordnung nie leiden können.«

»Wer kann die denn überhaupt leiden? Drei Dutzend Flaschen Champagner für die Bauern, ich bitte dich! Das ist ja empörend!«

»Davon rede ich nicht. Ich rede von einer höheren Art Ordnung. In mir ist keine Ordnung, keine höhere Ordnung. Aber … Das alles ist abgeschlossen; darüber zu trauern ist nutzlos. Es ist zu spät, zum Teufel! Mein ganzes Leben war Unordnung, und schaffen muß man Ordnung. Ein Wortspiel, nicht?«

»Das ist kein Wortspiel, sondern sinnloses Gerede!«

»Ruhm dem Höchsten, der die Welten
all erfüllt und meine Brust!

Dieses Verschen hat sich einmal meiner Seele entrungen. Es ist eigentlich kein Vers, sondern eine Träne … Ich habe ihn selbst gemacht … Aber nicht damals, als ich den Stabskapitän am Bart gezogen habe …«

»Wie kommst du plötzlich auf den?«

»Wie ich plötzlich auf den komme? Unsinn! Alles nimmt ein Ende, alles wird ausgeglichen. Strich drunter – und das Fazit.«

»Wahrhaftig, ich muß immer an deine Pistolen denken.«

»Auch die Pistolen sind Unsinn! Trink und phantasiere nicht! Ich liebe das Leben, ich liebe es bereits so übermäßig, daß es geradezu scheußlich ist. Genug! Auf das Leben, Täubchen, laß uns auf das Leben trinken; ich bringe einen Toast auf das Leben aus! Warum bin ich mit mir zufrieden? Ich bin ein gemeiner Mensch, aber ich bin mit mir zufrieden. Zwar quält es mich, daß ich ein gemeiner Mensch bin, aber ich bin mit mir zufrieden. Ich segne die Schöpfung, ich bin auf der Stelle bereit, Gott und seine Schöpfung zu segnen, aber … Man muß ein übelriechendes Insekt vernichten, damit es nicht umherkriecht und anderen Wesen das Leben verdirbt … Laß uns auf das Leben trinken, lieber Bruder! Was kann kostbarer sein als das Leben? Nichts, nichts! Auf das Leben und auf die Königin der Königinnen!«

»Trinken wir auf das Leben und meinetwegen auch auf deine Königin!«

Jeder trank ein Glas. Mitja war hingerissen und redete allerlei durcheinander; dennoch war ihm eine gewisse Traurigkeit anzumerken, als ob eine unüberwindliche Sorge auf ihm lastete.

»Mischa … Dein Mischa ist gekommen … Mischa, Täubchen, komm mal her und trink dieses Glas aus! Auf den morgigen goldlockigen Phöbus …«

»Warum gibst du ihm das?« rief Pjotr Iljitsch gereizt.

»Erlaube es doch, ist ja nichts dabei! Ich möchte es gern.«

Mischa trank das Glas aus, verbeugte sich und lief wieder weg.

»Er wird lange daran denken«, bemerkte Mitja. »Ich liebe das Weib, das Weib! Was ist das Weib? Die Königin der Erde! Mir ist traurig zumute, Pjotr Iljitsch, traurig. Erinnerst du dich an Hamlet: ›Es ist mir so traurig zumute, Horatio, so traurig … Ach, armer Yorick!‹ Ich bin vielleicht dieser arme Yorick. Jetzt bin ich Yorick, später jedoch ein Schädel.«

Pjotr Iljitsch hörte zu und schwieg. Auch Mitja war ein Weilchen still.

»Was ist das für ein Hündchen?« fragte er auf einmal zerstreut den Gehilfen, als er in einer Ecke einen hübschen kleinen Bologneserhund mit schwarzen Augen bemerkte.

»Das ist das Hündchen von Warwara Alexejewna, der Hausherrin«, antwortete der Gehilfe. »Sie hat es vorhin mitgebracht und hier vergessen. Wir werden es ihr zurückbringen müssen.«

»Ich habe schon einmal so einen Hund gesehen, beim Regiment …«, sagte Mitja nachdenklich. »Nur hatte der ein gebrochenes Hinterbein … Apropos, Pjotr Iljitsch, ich wollte dich fragen: Hast du in deinem Leben mal was gestohlen?«

»Was ist das für eine Frage?«

»Nun, ich frage nur so. Jemand anderem aus der Tasche, fremdes Eigentum? Ich rede nicht von der Staatskasse, die Staatskasse bestehlt ihr alle, und du natürlich auch …«

»Scher dich zum Teufel!«

»Ich rede von fremdem Eigentum. Direkt aus der Tasche, aus dem Geldbeutel, verstehst du?«

»Ich habe einmal meiner Mutter ein Zwanzigkopekenstück gestohlen, als ich neun Jahre alt war. Ich nahm es vom Tisch und hielt es in der zusammengedrückten Hand.«

»Und dann?«

»Weiter nichts. Ich behielt es drei Tage lang, dann schämte ich mich, gestand es und gab es zurück.«

»Nun, und dann?«

»Natürlich bekam ich Prügel. Aber warum fragst du danach? Hast du etwa selbst gestohlen?«

»Ja, ich habe gestohlen«, antwortete Mitja und zwinkerte schlau mit den Augen.

»Was hast du denn gestohlen?« erkundigte sich Pjotr Iljitsch neugierig.

»Meiner Mutter ein Zwanzigkopekenstück, ich war neun Jahre alt, nach drei Tagen gab ich es zurück.«

Nach diesen Worten erhob sich Mitja plötzlich von seinem Platz.

»Dmitri Fjodorowitsch, täten wir nicht gut daran, uns zu beeilen?« rief auf einmal Andrej an der Ladentür.

»Ist alles bereit? Dann wollen wir gehen!« versetzte Mitja, der zusammengefahren war. »Noch ein letztes Wort … Und gebt Andrej schnell noch ein Glas Schnaps auf den Weg! Und ein Glas Kognak, außer dem Schnaps! »Er deutete auf den Pistolenkasten. »Diesen Kasten stellt mir unter den Sitz! Leb wohl, Pjotr Iljitsch! Gedenke meiner nicht im Bösen!«

»Aber du kommst doch morgen zurück?«

»Unbedingt.«

»Belieben Sie jetzt die Rechnung zu begleichen?« fragte ein hinzueilender Gehilfe.

»Ja, richtig, die Rechnung! Gewiß!«

Er holte wieder das Päckchen Banknoten aus der Tasche, nahm drei Hundertrubelscheine, warf sie auf den Ladentisch und verließ eilig den Laden. Man begleitete ihn unter Verbeugungen, höflichen Worten und guten Wünschen hinaus. Andrej räusperte sich nach dem Kognak und sprang auf den Bock. Gerade wollte Mitja einsteigen, als völlig unerwartet Fenja außer Atem angelaufen kam. Sie faltete laut schreiend die Hände vor ihm und fiel ihm zu Füßen.

»Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, Täubchen, bringen Sie das gnädige Fräulein nicht um! Ich, ich bin es ja gewesen, die Ihnen alles erzählt hat! … Und bringen Sie auch ihn nicht um, er ist ja ihr Früherer! Jetzt will er Agrafena Alexandrowna heiraten, dazu ist er aus Sibirien zurückgekommen … Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch, vernichten Sie ein fremdes Leben nicht!«

»Aha, so steht das! Na, du wirst ja jetzt etwas Schönes anrichten!« murmelte Pjotr Iljitsch vor sich hin. »Jetzt ist alles klar, wie sollte man das jetzt nicht verstehen? Dmitri Fjodorowitsch, gib mir sofort die Pistolen zurück, wenn du ein vernünftiger Mensch sein willst!« rief er Mitja laut zu. »Hörst du, Dmitri?«

»Die Pistolen? Warte, mein Täubchen, ich werde sie unterwegs ins Wasser werfen«, antwortete Mitja. »Steh auf, Fenja, lieg nicht vor mir auf den Knien! Mitja wird niemanden umbringen. Dieser dumme Mensch wird künftig niemanden mehr umbringen. Noch eins, Fenja«, rief er ihr zu, als er sich bereits gesetzt hatte, »Ich bin vorhin grob zu dir gewesen. Verzeih mir das und sei mir nicht böse, verzeih mir schlechtem Menschen … Wenn du es mir aber nicht verzeihst, dann ist es auch egal! Denn jetzt ist schon alles egal! Vorwärts, Andrej! Fahr so schnell du kannst!«

Andrej trieb die Pferde an, das Glöckchen klingelte.

»Lebe wohl, Pjotr Iljitsch! Dir gilt meine letzte Träne!«

›Betrunken ist er nicht, aber was für einen Unsinn schwatzt er zusammen!‹ dachte Pjotr Iljitsch, als er allein zurückgeblieben war. Er hatte eigentlich noch dableiben und zusehen wollen, wie die übrigen Waren auf den zweiten Wagen verladen wurden, denn er argwöhnte, daß man Mitja übers Ohr hauen würde. Doch auf einmal ärgerte er sich über sich selbst, spuckte aus und begab sich in sein Restaurant, um dort Billard zu spielen.

›Ein Dummkopf ist er, wenn auch ein guter Junge!‹ brummte er unterwegs in Gedanken vor sich hin. Von diesem Offizier, Gruschenkas Verflossenem, habe ich gehört. Na, wenn der gekommen ist, dann … Pfui Teufel, diese Pistolen! Aber bin ich etwa sein Hüter? Soll er mit ihnen machen, was er will! Es wird überhaupt nichts geschehen. Das sind Maulhelden, weiter nichts. Sie betrinken sich und prügeln sich, sie prügeln sich und versöhnen sich. Tatkräftige Menschen sind sie nicht. Was will das schon besagen: »Ich trete beiseite, ich bestrafe mich selbst!« Gar nichts wird geschehen! Tausendmal hat er im Restaurant mit solchen hochtrabenden Ausdrücken um sich geworfen, wenn er betrunken war. Jetzt war er nun allerdings nicht betrunken. »Seelisch betrunken« – solche Phrasen lieben sie, die Schufte. Bin ich sein Hüter, wie? Er muß sich jedenfalls geprügelt haben, seine ganze Visage war ja voll Blut. Aber mit wem? Das werde ich im Restaurant erfahren. Auch sein Taschentuch war voll Blut … Pfui Teufel, das ist bei mir auf dem Fußboden liegengeblieben … Doch was schert mich das?‹

In der verdrießlichsten Stimmung kam er in das Restaurant und begann sogleich eine Partie. Die Partie heiterte ihn wieder auf. Er spielte eine zweite und begann dabei einem seiner Partner zu erzählen, Dmitri Karamasow habe wieder Geld, an die dreitausend Rubel, wie er selbst gesehen habe, und er sei wieder nach Mokroje gefahren, zu einem Gelage mit Gruschenka. Die Zuhörer nahmen das mit größerem Interesse auf, als er erwartet hatte. Und alle sprachen darüber sonderbar ernst, ohne zu lachen. Sie unterbrachen sogar ihr Spiel.

»Dreitausend Rubel? Wo will er denn dreitausend Rubel herhaben?« Sie fragten ihn weiter aus. Die Nachricht über Frau Chochlakowa wurde mit starken Zweifeln aufgenommen.

»Er wird doch nicht den Alten beraubt haben? Na, das wäre vielleicht …«

»Dreitausend Rubel? Da stimmt was nicht!«

»Er hat sich laut gerühmt, er würde seinen Vater totschlagen, das haben hier alle gehört. Ausgerechnet von dreitausend Rubeln hat er gesprochen …«

Pjotr Iljitsch hörte das mit an und antwortete auf weitere Fragen nur trocken und wortkarg. Von dem Blut, das Mitja im Gesicht und an den Händen gehabt hatte, sagte er keine Silbe, obgleich er, als er auf dem Weg ins Restaurant war, beabsichtigt hatte, auch dies zu erzählen. Man begann die dritte Partie, und das Gespräch über Mitja verstummte allmählich. Als die dritte Partie dann zu Ende war, mochte Pjotr Iljitsch nicht weiterspielen, legte das Queue beiseite und verließ das Restaurant, ohne dort zu Abend zu essen, wie er eigentlich vorgehabt hatte. Auf dem Marktplatz angelangt, blieb er unentschlossen stehen und mußte sogar über sich selbst staunen. Er erinnerte sich plötzlich, daß er zuerst zum Haus von Fjodor Pawlowitsch hatte gehen wollen, um sich zu erkundigen, ob dort etwas vorgefallen war. Doch er sagte sich: ›Soll ich wegen einer Dummheit in einem fremdem Haus die Leute aufwecken und einen Skandal hervorrufen? Zum Teufel, bin ich etwa ihr Hüter?‹

In höchst verdrießlicher Stimmung schlug er den direkten Weg zu seiner Wohnung ein; da fiel ihm plötzlich Fenja ein. ›Zum Teufel, die hätte ich vorhin ausfragen sollen‹, dachte er ärgerlich. ›Dann wüßte ich jetzt alles.‹ Und auf einmal wuchs in ihm ein so ungeduldiges, hartnäckiges Verlangen, mit ihr zu reden und sich bei ihr zu erkundigen, daß er auf halbem Weg zum Haus von Frau Morosowa abbog, wo Gruschenka wohnte. Er klopfte ans Tor, der laute Schall, der durch die Stille der Nacht hallte, schien ihn jedoch jäh zu ernüchtern und zu ärgern. ›Auch hier werde ich einen Skandal anrichten!‹ dachte er, peinlich berührt, doch statt nun endgültig zu gehen, begann er auf einmal, abermals zu klopfen, und zwar aus Leibeskräften. Der Lärm schallte durch die ganze Straße. »Wollen mal sehen, ob ich sie nicht doch wachklopfe!« murmelte er. Mit jedem Schlag wurde er wütender, steigerte aber zugleich die Wucht seiner Schläge.

6. Ich komme selbst!

Dmitri Fjodorowitsch flog inzwischen die Landstraße dahin. Bis Mokroje waren es etwas über zwanzig Werst, doch Andrej jagte sein Dreigespann dermaßen, daß sie in fünf viertel Stunden am Ziel sein konnten. Die schnelle Fahrt schien auf Mitja erfrischend zu wirken. Die Luft war rein und ziemlich kalt, an dem klaren Himmel glänzten große Sterne. Es war dieselbe Nacht und vielleicht sogar dieselbe Stunde, da Aljoscha auf die Erde niedersank und in Verzückung schwor, sie sein Leben lang zu lieben. Aber es sah wirr, sehr wirr in Mitja aus, und obgleich vieles seine Seele quälte, strebte in diesem Moment doch sein ganzes Wesen unwiderstehlich nur zu ihr, seiner Königin, zu der er hineilte, um sie zum letztenmal zu sehen. Ich will nur das eine sagen: Sein Herz sträubte sich gegen diese Entscheidung auch nicht einen Augenblick. Man wird mir vielleicht nicht glauben, wenn ich behaupte, daß dieser von Natur aus eifersüchtige Mensch gegenüber diesem neuen Nebenbuhler, diesem Offizier, nicht die geringste Eifersucht empfand. Auf jeden anderen wäre er sofort eifersüchtig gewesen und hätte vielleicht seine Hände erneut mit Blut befleckt; doch ihm, »ihrem Früheren« gegenüber, empfand er jetzt, während er auf seiner Troika dahinflog, keinerlei Eifersucht, nicht einmal ein feindliches Gefühl – allerdings hatte er ihn noch nicht gesehen. ›Da kann es keinen Zweifel geben: sie sind im Recht. Das ist ihre erste Liebe, die sie in den ganzen fünf Jahren nicht vergessen hat, also hat sie in diesen fünf Jahren nur ihn geliebt. Ich aber, warum habe ich mich dazwischengedrängt? Was spiele ich dabei für eine Rolle? Was habe ich damit zu schaffen? Tritt beiseite, Mitja, gib den Weg frei! Und was will ich jetzt überhaupt noch? Jetzt ist auch ohne den Offizier alles zu Ende! Auch wenn er gar nicht erschienen wäre, würde alles zu Ende sein …‹

Etwa mit diesen Worten hätte er seine Gefühle ausdrücken können, wenn er überhaupt einer Überlegung fähig gewesen wäre. Aber er war damals nicht mehr imstande zu überlegen. Sein jetziger Entschluß war ohne jedes Überlegen in einem Nu entstanden, war ihm schon bei Fenja, bei ihren ersten Worten, vom Gefühl eingegeben und in seinem ganzen Umfang, mit allen Folgen von ihm akzeptiert worden.

Und trotzdem, obwohl er seinen Entschluß gefaßt hatte, sah es wirr in seiner Seele aus, so wirr, daß er schwer darunter litt: Auch der Entschluß hatte ihm nicht zur Ruhe verholfen. Gar zu vieles lag hinter ihm und quälte ihn. Und in manchen Augenblicken kam ihm seltsam vor: Er hatte ja eigenhändig sein Urteil auf ein Blatt Papier geschrieben: »Ich richte mich«, und dieses Papier steckte fix und fertig in seiner Tasche, und die Pistole war schon geladen, und er hatte schon beschlossen, wie er am nächsten Tag den ersten feurigen Strahl des »goldlockigen Phöbus« begrüßen wollte – und dennoch konnte er sich mit der Vergangenheit, mit allem, was hinter ihm lag und ihn quälte, nicht abfinden! Das fühlte er wie eine Marter, dieser Gedanke haftete fest in seiner Seele und brachte ihn zur Verzweiflung. Es gab auf dieser Fahrt einen Augenblick, wo er auf einmal Lust bekam, Andrej halten zu lassen, aus dem Wagen zu springen, seine geladene Pistole hervorzuholen und alles zu beenden, ohne erst auf den Tagesanbruch zu warten. Aber dieser Augenblick flog vorüber wie ein Funke. Und auch die Troika flog dahin, und je näher er dem Ziel kam, desto stärker nahm wieder der Gedanke an sie, an sie allein, ihm den Atem und verjagte alle übrigen furchtbaren Gespenster aus seinem Herzen. Oh, sehen wollte er sie, wenn auch nur flüchtig, wenn auch nur von weitem! ›Sie ist jetzt mit ihm zusammen – nun, da werde ich eben sehen, wie sie jetzt mit ihm zusammen ist, mit ihrem früheren Geliebten, weiter will ich ja auch nichts.‹ Noch nie war seine Brust von einer so starken Liebe zu dieser Frau erfüllt, die für sein Schicksal so verhängnisvoll geworden war! Ein neues, starkes Gefühl wuchs in ihm, ein Gefühl, das er noch nie kennengelernt hatte, das ihm selbst unerwartet kam: Zärtlichkeit, daß er hätte zu ihr beten, vor ihr vergehen mögen. »Und ich werde auch vergehen!« sagte er auf einmal in einem Anfall hysterischer Begeisterung.

Schon fast eine Stunde jagten sie dahin. Mitja schwieg, und Andrej, der sonst ein redseliger Bursche war, hatte ebenfalls noch kein Wort gesagt, als scheute er sich, ein Gespräch anzufangen; er trieb nur munter seine braunen Gäule an, sein mageres, aber feuriges Dreigespann. Da rief Mitja auf einmal in schrecklicher Unruhe: »Andrej! Und wenn sie nun schon schlafen?«

Das war ihm plötzlich eingefallen; bis dahin hatte er diese Möglichkeit gar nicht bedacht.

»Sehr wahrscheinlich, daß sie sich schon hingelegt haben, Dmitri Fjodorowitsch.«

Mitja zog schmerzlich die Brauen zusammen. Wie? Er kommt herbeigejagt … Mit solchen Gefühlen … Und sie schlafen? Und auch sie schläft vielleicht dort? … Zorn überkam ihn.

»Treib die Pferde an, Andrej! Fahr zu, Andrej! Schneller!« schrie er außer sich.

»Aber vielleicht haben sie sich auch noch nicht hingelegt«, meinte Andrej nach kurzem Schweigen. »Timofej hat vorhin erzählt, sie sind dort viele …«

»Auf der Station?«

»Nein, nicht auf der Station, bei den Plastunows, in dem privaten Gasthaus.«

»Ich weiß. Hör mal, du sagst, es sind viele dort? Was sind denn das für welche?« bestürmte ihn Mitja, den die unerwartete Nachricht furchtbar aufregte.

»Timofej sagt, lauter Herren. Zwei aus der Stadt, was für welche, weiß ich auch nicht, aber Timofej sagt, zwei hiesige. Und dann noch zwei, wohl Fremde. Aber vielleicht ist auch sonst noch jemand da, genauer habe ich ihn nicht gefragt. Er sagt, sie sind dabei, Karten zu spielen.«

»Karten zu spielen?«

»Da schlafen sie vielleicht auch noch nicht, wenn sie Karten spielen. Man muß bedenken, daß es jetzt kaum elf ist, nicht später.«

»Fahr zu, Andrej, fahr zu!« rief Mitja wieder nervös.

»Ich möchte Sie etwas fragen, gnädiger Herr«, begann Andrej nach kurzem Schweigen von neuem. »Ich fürchte nur, Sie könnten es mir übelnehmen, gnädiger Herr.«

»Was hast du?«

»Vorhin ist Fedossja Markowna Ihnen zu Füßen gefallen und hat Sie angefleht, Sie möchten Ihr gnädiges Fräulein nicht umbringen, und noch jemand anders auch nicht … Sehen Sie, gnädiger Herr, ich fahre Sie nun dahin … Verzeihen Sie, gnädiger Herr. Ich frage nur so aus Gewissensbissen … Vielleicht ist es dumm, was ich gesagt habe.«

Mitja packte ihn plötzlich von hinten bei den Schultern. »Du bist doch Kutscher, nicht wahr?« fragte er in großer Erregung.

»Das bin ich…«

»Weißt du, daß man den Weg freigeben muß? Darf etwa ein Kutscher sagen: ›Ich gebe den Weg nicht frei! Und wenn ich auch einen überfahre, ich fahre!‹ Nein, Kutscher, niemand sollst du überfahren! Man darf keinen Menschen überfahren, man darf den Menschen nicht das Leben zerstören, und wenn du einem das Leben zerstört hast, dann bestraf dich … Und wenn du ein Leben vernichtet hast, dann richte dich und geh weg!«

Alles das entfuhr ihm beinahe unbewußt, wie in einem nervösen Anfall. Andrej wunderte sich zwar über den Herrn, setzte jedoch das Gespräch fort.

»Das ist richtig, Väterchen Dmitri Fjodorowitsch, da haben Sie recht, daß man keinen Menschen überfahren darf! Auch quälen darf man keinen Menschen, ebensowenig wie eine andere Kreatur, denn jede Kreatur ist von Gott geschaffen. Sehen Sie zum Beispiel das Pferd … Manch einer quält es ohne Grund, sogar mancher Kutscher … So einer kennt kein Maß, er peinigt das Tier ohne Grund, geradezu ohne Grund peinigt er es …«

»Muß er in die Hölle?« unterbrach ihn Mitja auf einmal und brach unerwartet in ein kurzes Lachen aus. »Andrej, du schlichte Seele …« Er faßte ihn wieder kräftig bei den Schultern. »Sag, wird Dmitri Fjodorowitsch Karamasow in die Hölle kommen oder nicht? Wie denkst du darüber?«

»Das weiß ich nicht, Täubchen, das hängt von Ihnen ab, weil Sie unserer Ansicht nach … Sehen Sie, gnädiger Herr, als Gottes Sohn ans Kreuz geschlagen und gestorben war, stieg Er vom Kreuz herab und ging geradewegs in die Hölle und befreite alle Sünder, die dort gemartert wurden. Und die Hölle stöhnte darüber, denn sie meinte, daß nun niemand mehr zu ihr kommen würde, kein Sünder. Und da sagte der Herr zur Hölle:,Stöhne nicht, Hölle; es werden von nun an allerlei Würdenträger, Regenten, Oberrichter und Reiche zu dir kommen, und du wirst so voll sein, wie du warst, in alle Ewigkeit, bis ich wiederkommen werde!‹ So war das, so hat der Herr gesprochen …«

»Eine Volkslegende! Herrlich! Gib dem linken Pferd eins, Andrej!«

»Das ist nun schon so, gnädiger Herr … für wen die Hölle eben bestimmt ist …« Andrej versetzte dem linken Pferd einen Hieb. »Aber nach unserer Ansicht sind Sie wie ein kleines Kind, dafür halten wir Sie … Und wenn Sie auch jähzornig sind, gnädiger Herr, das ist ja wohl richtig – Gott wird Ihnen doch für Ihre Gutherzigkeit vergeben.«

»Und du, vergibst du mir, Andrej?«

»Was habe ich Ihnen zu vergeben? Sie haben mir ja nichts zuleide getan.«

»Nein, ich meine für alle, jetzt gleich, hier auf der Landstraße, vergibst du mir für alle? Rede, du schlichte, einfache Seele!«

»Ach, gnädiger Herr! Man bekommt richtig Angst, wenn man Sie fährt, so sonderbare Reden führen Sie …«

Doch Mitja hörte nicht auf ihn. Er betete verzückt und flüsterte in wilder Erregung vor sich hin: »Herr, nimm mich hin in meiner ganzen Schlechtigkeit, aber richte mich nicht! Laß mich vorüber ohne dein Gericht … Richte mich nicht, denn ich habe mich selbst gerichtet. Richte mich nicht, denn ich liebe dich, Herr! Ich bin ein gemeiner Mensch, aber ich liebe dich! Und wenn du mich in die Hölle schickst, werde ich dich auch dort lieben! Ich werde dort schreien, daß ich dich in alle Ewigkeit liebe … Aber laß mich bis zum Ende lieben … Hier, jetzt bis zum Ende lieben, nur noch fünf Stunden, bis zum ersten feurigen Strahl deiner Sonne … Denn ich liebe die Königin meiner Seele. Ich liebe sie, und ich kann nicht anders, als sie lieben. Du siehst mich so, wie ich bin. Ich werde hinkommen und vor ihr niederfallen. ›Du hast recht daran getan‹, werde ich sagen, ›daß du an mir vorübergegangen bist … Lebe wohl und vergiß dein Opfer! Beunruhige dich nicht mehr um meinetwillen!‹«

»Mokroje!« rief Andrej und deutete mit der Peitsche nach vorn.

Aus dem dämmrigen Dunkel der Nacht trat eine feste, schwarze Masse von Gebäuden hervor, die sich über einer gewaltigen Fläche ausbreiteten. Das Dorf Mokroje zählte zweitausend Seelen; um diese Stunde schlief jedoch schon alles, nur hier und da schimmerten spärliche Lichter durch die Dunkelheit.

»Fahr schnell, Andrej, noch schneller! Sie sollen merken, daß ich angefahren komme!« rief Mitja wie im Fieber.

»Sie schlafen nicht!« sagte Andrej und wies mit der Peitsche auf das Gasthaus von Plastunow, das gleich am Eingang des Dorfes lag und in welchem die sechs Fenster zur Straße sämtlich hell erleuchtet waren.

»Sie schlafen nicht!« wiederholte Mitja erfreut. »Mach tüchtigen Lärm, Andrej, fahr Galopp, laß die Schellen laut klingeln, fahr mit Gepolter vor! Alle sollen wissen, daß ich gekommen bin! Ich komme! Ich komme selbst!« brüllte Mitja wie ein Verrückter.

Andrej trieb die ohnehin abgehetzten Pferde in Galopp, fuhr wirklich mit lautem Gepolter an der hohen Freitreppe vor der Haustür vor und hielt seine dampfenden, atemlosen Pferde an. Mitja sprang aus dem Wagen, und der Wirt, der schon hatte schlafen gehen wollen, schaute neugierig von der Freitreppe herab, wer da wohl so wild vorgefahren kam.

»Trifon Borissowitsch«, bist du es?«

Der Wirt beugte sich vor, blickte genauer hin, lief dann Hals über Kopf die Freitreppe herunter und stürzte mit unterwürfigem Entzücken auf den Gast los.

»Väterchen Dmitri Fjodorowitsch! Sehe ich Sie wieder?«

Dieser Trifon Borissowitsch war ein stämmiger, mittelgroßer, gesunder Mann bäuerlicher Herkunft. Sein etwas dickes Gesicht hatte einen strengen, unerbittlichen Ausdruck, vor allem den Bauern von Mokroje gegenüber, aber er hatte die Fähigkeit, schnell die unterwürfigste Miene aufzusetzen, sobald er einen Vorteil für sich witterte. Er trug russische Kleidung: ein Hemd mit schrägem Kragen und ein ärmelloses Wams. Er besaß ein erhebliches Kapital, trachtete jedoch unermüdlich danach, eine größere Rolle zu spielen. Mehr als die Hälfte der Bauern befand sich in seinen Krallen; sie waren ihm alle tief verschuldet. Er pachtete von den Gutsbesitzern Land, kaufte auch selbst welches, und die Bauern mußten ihm dieses Land bearbeiten wegen ihrer Schulden, aus denen sie doch nie herauskommen konnten. Er war Witwer und hatte vier erwachsene Töchter; eine von ihnen war schon verwitwet, wohnte mit ihren beiden kleinen Kindern bei ihm und arbeitete für ihn wie eine Tagelöhnerin. Die zweite Tochter war trotz ihrer bäuerlichen Herkunft mit einem Beamten verheiratet, der sich vom kleinen Schreiber hinaufgedient hatte; in einem Zimmer des Gasthauses konnte man an der Wand unter den Familienphotographien kleinsten Formates auch die Photographie dieses Beamten in seiner Uniform mit Achselklappen sehen. Die beiden jüngsten Töchter zogen bei Kirchweihfesten, oder wenn sie irgendwohin zu Besuch gingen, himmelblaue oder grüne Kleider an, die nach der neuesten Mode gearbeitet waren, hinten eng anliegend und mit langer Schleppe; am nächsten Morgen aber standen sie wie alle Tage früh auf, fegten mit Reisigbesen die Stuben, trugen aus den Gästezimmern das schmutzige Wasser hinaus und brachten dort wieder alles in Ordnung. Obwohl Trifon Borissowitsch schon Tausende erworben hatte, nahm er doch sehr gern einen prassenden Gast aus; und da er sich erinnerte, daß er vor einem knappen Monat von Dmitri Fjodorowitsch bei seiner Prasserei mit Gruschenka im Verlauf von vierundzwanzig Stunden über zweihundert, wenn nicht dreihundert Rubel profitiert hatte, empfing er ihn jetzt freudig und eifrig: Schon an der Art, wie Mitja vorgefahren kam, witterte er neue Beute.

»Väterchen Dmitri Fjodorowitsch! Sehen wir Sie auch einmal wieder?«

»Halt, Trifon Borissowitsch«, begann Mitja. »Zuallererst das Wichtigste! Wo ist sie?«

»Agrafena Alexandrowna?« fragte der Wirt, der sofort begriff, und sah dem aufgeregten Mitja scharf ins Gesicht. »Die ist auch hier … Sie ist anwesend …«

»Mit wem? Mit wem?«

»Es sind durchreisende Gäste … Der eine ist ein Beamter, nach seiner Aussprache zu urteilen wahrscheinlich ein Pole. Er hat auch von hier den Wagen geschickt, um sie herholen zu lassen. Der ändere ist ein Freund oder Reisegefährte von ihm, wer kann das unterscheiden? Sie sind ja alle in Zivil …«

»Wie ist es? Haben sie ein Gelage veranstaltet? Sind sie reich?«

»Die und ein Gelage veranstalten! Das sind kleine Leute, Dmitri Fjodorowitsch.«

»So, kleine Leute? Na, und die anderen?«

»Die sind aus der Stadt, zwei Herren … Sie sind auf der Rückfahrt von Tscherni, und da sind sie hiergeblieben. Der eine, ein junger Mann, muß ein Verwandter von Herrn Miussow sein, ich habe nur vergessen, wie er heißt … Und den anderen kennen Sie auch, wie ich annehmen muß. Es ist der Gutsbesitzer Maximow; er sagt, er hat auf einer Pilgerfahrt unser Kloster besucht, und jetzt fährt er mit diesem jungen Verwandten von Herrn Miussow …«

»Das sind alle?«

»Jawohl.«

»Halt, Trifon Borissowitsch, schweig! Sag mir jetzt die Hauptsache! Was macht sie? Wie geht es ihr?«

»Nun, sie ist vorhin angekommen und sitzt jetzt bei ihnen.«

»Ist sie vergnügt? Lacht sie?«

»Nein, ich glaube, sie lacht nicht viel … Sie sitzt sogar recht gelangweilt da. Sie hat dem jungen Mann das Haar gescheitelt.«

»Dem Polen, dem Offizier?«

»Nein, der ist ja gar nicht jung, und Offizier ist er auch nicht. Nein, gnädiger Herr, dem nicht, sondern diesem Neffen von Herrn Miussow, dem jungen Mann … Ich habe bloß seinen Namen vergessen.«

»Kalganow?«

»Ganz richtig, Kalganow.«

»Gut, ich werde es mir selbst ansehen. Spielen sie Karten?«

»Sie haben gespielt, haben aber aufgehört. Sie haben Tee getrunken, und der Beamte hat sich Likör geben lassen.«

»Halt, Trifon Borissowitsch! Halt, mein Lieber, ich werde es mir selbst ansehen. Jetzt antworte auf die wichtigste Frage! Sind Zigeuner da?«

»Von Zigeunern hört man jetzt überhaupt nichts, Dmitri Fjodorowitsch; die Obrigkeit hat sie vertrieben, aber Juden sind hier, die spielen Zymbal und Geige, in Roshdestwenskaja. Die könnte man rufen lassen. Die würden kommen.«

»Laß sie rufen, laß sie unbedingt rufen!« rief Mitja. »Aber Mädchen kann man doch beschaffen? Wie damals, besonders Marja und Stepanida und Arina? Zweihundert Rubel für, den Chor!«

»Für so eine Summe schaffe ich Ihnen das ganze Dorf her, auch wenn sie sich jetzt schon schlafen gelegt haben. Aber verdienen denn die Bauern und die Mädchen hier so viel Freundlichkeit, Dmitri Fjodorowitsch? Wie können Sie nur für so ein gemeines, ungebildetes Volk eine solche Summe aussetzen! Zigarren rauchen, das paßt nicht zu unseren Bauern, und doch haben Sie ihnen Zigarren gegeben. Diese Kerle stinken ja schauderhaft. Und die Mädchen, die sind, wie sie sind, eine Lausebande. Ich werde Ihnen meine Töchter herbringen, umsonst, nicht für diesen hohen Preis. Sie haben sich eben erst schlafen gelegt; ich werde ihnen mit dem Fuß einen Stoß in den Rücken geben und ihnen befehlen, für Sie zu singen … Den Bauern haben Sie neulich Champagner zu trinken gegeben, o weh, o weh!«

Trifon Borissowitsch hatte eigentlich keinen Anlaß, Mitja sein Bedauern auszusprechen: Er hatte ihm damals selbst ein halbes Dutzend Flaschen Champagner entwendet und unter dem Tisch einen Hundertrubelschein aufgehoben, in der Faust zusammengedrückt und dann natürlich auch behalten.

»Trifon Borissowitsch, ich habe damals Tausende durchgebracht. Erinnerst du dich?«

»Das haben Sie getan, Täubchen, wie sollte ich mich daran nicht erinnern? An die dreitausend Rubel haben Sie bei uns gelassen.«

»Na, siehst du, mit der Absicht bin ich auch jetzt gekommen.« Er zog sein Päckchen Banknoten heraus und hielt es dem Wirt dicht unter die Nase.

»Jetzt hör zu und merk es dir gut. In einer Stunde treffen der Wein, der Imbiß, die Pasteten und das Konfekt ein; laß alles gleich nach oben bringen. Die Kiste, die da bei Andrej auf dem Wagen steht, soll ebenfalls gleich nach oben gebracht und aufgemacht werden. Und dann laß sofort Champagner präsentieren … Aber die Hauptsache sind die Mädchen, die Mädchen! Und Marja muß unbedingt dabeisein …«

Er drehte sich nach dem Wagen um und zog seinen Pistolenkasten unter dem Sitz hervor.

»Nun deine Bezahlung, Andrej! Da hast du fünfzehn Rubel für die Troika, und da fünfzig Rubel Trinkgeld … Für deine Bereitwilligkeit, für deine Liebe … Vergiß den Herrn Karamasow nicht!«

»Ich habe Angst, gnädiger Herr!« erwiderte Andrej besorgt. »Geben Sie mir fünf Rubel Trinkgeld, wenn Sie schon so freundlich sein wollen, mehr möchte ich nicht annehmen. Trifon Borissowitsch ist Zeuge. Verzeihen Sie mir, wenn ich dummes Zeug rede …«

»Wovor hast du denn Angst?« fragte Mitja und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Na, hol‘ dich der Teufel, wenn du es nicht anders willst!« rief er dann und warf ihm fünf Rubel hin. »Und jetzt, Trifon Borissowitsch, führ mich leise dorthin, und laß mich zunächst alles aus einem Versteck sehen, so daß sie mich nicht bemerken. Wo sind sie denn? Im blauen Zimmer?«

Trifon Borissowitsch sah Mitja furchtsam an, tat jedoch sofort gehorsam, was von ihm verlangt wurde. Er führte ihn vorsichtig auf den Flur, ging selbst in das erste große Zimmer neben dem, in welchem die Gäste saßen, und trug die Kerze aus dem Zimmer. Darauf führte er Mitja möglichst leise herein und wies ihm einen Platz in einer Ecke im Dunkeln an, von wo er die Gesellschaft ungehindert beobachten konnte, ohne seinerseits gesehen zu werden. Aber Mitja beobachtete nicht lange, und er war auch gar nicht imstande, deutlich zu sehen: Er hatte Gruschenka erblickt, und sein Herz begann heftig zu schlagen, und es wurde ihm trübe vor Augen. Sie saß an einer Schmalseite des Tisches in einem Lehnstuhl; neben ihr, auf dem Sofa, saß der hübsche junge Kalganow. Sie hielt ihn an der Hand und schien zu lachen; doch der sagte, ohne sie anzusehen, irgend etwas laut und offenbar verärgert zu Maximow, der Gruschenka gegenüber am anderen Ende des Tisches saß. Auf dem Sofa saß außer Kalganow noch »er«, und neben dem Sofa, auf einem Stuhl an der Wand, ein anderer Unbekannter. Der auf dem Sofa rauchte, nachlässig hingestreckt, eine Pfeife, und Mitja glaubte flüchtig zu sehen, daß er ein ziemlich korpulenter, vermutlich kleiner Mann mit breitem Gesicht war und daß er sich über irgend etwas ärgerte. Sein Kamerad, der andere Unbekannte, war dagegen, wie Mitja schien, ungewöhnlich groß, mehr konnte Mitja nicht unterscheiden. Ihm stockte der Atem. Nicht eine Minute hielt er es auf seinem Posten aus; dann stellte er den Kasten auf die Kommode und ging geradewegs in das blaue Zimmer zu der Gesellschaft. Ihm war ganz kalt geworden, und sein Herz drohte stehenzubleiben.

Gruschenka schrie auf, sie hatte ihn zuerst bemerkt.

7. Der Frühere und Unbestreitbare

Mitja trat mit seinen raschen, langen Schritten an den Tisch. »Meine Herren«, begann er laut, fast schreiend, aber stockend. »Ich … ich will nichts! Keine Angst!« rief er. »Ich will ja nichts, nichts.« Er wandte sich plötzlich an Gruschenka, die sich aus ihrem Lehnstuhl zu Kalganow hinübergebeugt hatte und sich fest an dessen Hand klammerte. »Ich … Ich bin auch hergekommen. Ich bleibe bis morgen früh. Meine Herren, darf ein Durchreisender … mit Ihnen bis zum Morgen zusammen sein? Nur bis zum Morgen, zum letztenmal, in diesem Zimmer hier?«

Bei den letzten Worten wandte er sich an den korpulenten Herrn auf dem Sofa, der Pfeife rauchte. Dieser nahm würdevoll die Pfeife aus dem Mund und sagte streng: »Panie, wir sind hier eine Privatgesellschaft. Es sind noch andere Zimmer da.«

»Ach, Sie sind es, Dmitri Fjodorowitsch! Wozu fragen Sie erst?« rief auf einmal Kalganow. »Setzen Sie sich zu uns! Guten Abend!«

»Guten Abend, mein Teuerster … Mein Wertester! Ich habe Sie immer geschätzt …«, rief Mitja erfreut und eifrig und streckte ihm sofort über den Tisch die Hand hin.

»Au, wie fest Sie zugedrückt haben! Sie haben mir ja fast die Finger zerbrochen!« rief Kalganow lachend.

»So drückt er einem immer die Hand, das macht er immer so!« sagte Gruschenka mit einem allerdings noch schüchternen Lächeln, sie schien Mitjas Miene entnommen zu haben, daß er keinen Streit wollte, und betrachtete ihn nun mit starker Neugier und immer noch mit einer gewissen Unruhe. Er hatte etwas an sich, was sie überraschte, und überhaupt hatte sie nicht erwartet, daß er jetzt hereinkommen und so reden würde.

»Guten Abend!« sagte von links auch der Gutsbesitzer Maximow in süßlichem Ton.

Mitja stürzte auch zu ihm hin. »Guten Abend! Sind Sie auch hier? Wie freue ich mich, daß auch Sie hier sind! Meine Herren, meine Herren, ich …« Er wandte sich von neuem an den Herrn mit der Pfeife, den er hier offenbar für die Hauptperson hielt. »Ich bin hergeeilt … Ich wollte meinen letzten Tag und meine letzte Stunde in diesem Zimmer verleben. In diesem Zimmer, in dem ich früher einmal meine Königin angebetet habe! Verzeihen Sie, Panie« rief er außer sich. »Ich bin hierher geeilt und habe mir geschworen … Oh, seien Sie unbesorgt, das ist meine letzte Nacht! Lassen Sie uns zur Feier des Friedensschlusses trinken, Panie! Man wird gleich Wein bringen … Ich habe das hier mitgebracht.« Er zog sein Päckchen Banknoten aus der Tasche. »Erlauben Sie, Panie! Ich möchte Musik haben, Fröhlichkeit und Lärm … Alles wie voriges Mal … Aber der Wurm, der unnütze Wurm wird über die Erde kriechen und nicht mehr sein! In meiner letzten Nacht will ich mich an den Tag meiner Freude erinnern!«

Er konnte kaum noch atmen; er wollte vieles, vieles sagen, doch nur seltsame Ausrufe kamen aus seinem Mund. Der Pan sah regungslos ihn und das Päckchen Banknoten und dann Gruschenka an und war offenbar ratlos vor Verwunderung.

»Wenn meine Krolowa erlaubt …«, begann er.

»Ach was, Krolowa! Das soll wohl Königin heißen, nicht wahr?« unterbrach ihn Gruschenka. »Ihr kommt mir komisch vor, wie ihr alle sprecht. Setz dich hin, Mitja, was redest du da? Bitte, erschreck uns nicht! Du wirst uns doch nicht erschrecken, wie? Wenn du das nicht vorhast, freue ich mich über dein Kommen …«

»Ich, ich euch erschrecken?« rief Mitja und warf beide Arme in die Höhe. »Oh, geht vorbei, geht vorüber, ich werde euch nicht stören!« Und unerwartet für alle – und sicherlich auch für sich selbst – warf er sich auf einen Stuhl und brach in Tränen aus, wobei er den Kopf zur gegenüberliegenden Wand drehte und die Rückenlehne des Stuhls mit seinen Armen fest umschlang, als wollte er ihn herzlich umarmen.

»Na, so etwas, so was! Was bist du für ein Mensch!« rief Gruschenka vorwurfsvoll. »Genauso ist er einmal zu mir gekommen. Er fing an zu reden, und ich verstand kein Wort davon. Und einmal hat er genauso losgeweint, jetzt ist es das zweitemal. Schämen solltest du dich! Warum weinst du denn? Und wenn es noch einen Grund dafür gäbe!« fügte sie plötzlich rätselhaft hinzu und legte in diese Worte einen besonderen, gereizten Nachdruck.

»Ich … Ich will nicht weinen … Na, laßt es euch wohl ergehen!« Bei diesen Worten drehte er sich jäh auf dem Stuhl herum und lachte plötzlich los, aber nicht wie sonst hölzern und abgehackt, es war ein unhörbares, langes, nervöses Lachen, das seinen ganzen Körper erschütterte.

»Jetzt wieder das! So sei doch vergnügt, sei doch vergnügt!« redete Gruschenka ihm zu. »Ich freue mich sehr, daß du gekommen bist, sehr freue ich mich, Mitja, hörst du das? Ich will, daß er bei uns sitzt«, wandte sie sich gebieterisch an alle, obgleich ihre Worte offenbar nur dem Mann auf dem Sofa galten. »Ich will es, ich will es! Und wenn er weggeht, gehe ich auch weg! So steht die Sache!« fügte sie hinzu, und ihre Augen funkelten.

»Was meine Königin befiehlt, ist Gesetz!« sagte der Pan und küßte ihr galant die Hand. »Ich bitte den Herrn, sich unserer Gesellschaft anzuschließen!« wandte er sich liebenswürdig an Mitja.

Mitja sprang wieder auf, und es hatte durchaus den Anschein, als wollte er noch eine exaltierte Rede halten; doch es kam anders.

»Trinken wir, Panie!« rief er kurz statt einer Rede. Alle lachten.

»O Gott, und ich dachte, er will wieder reden!« rief Gruschenka nervös. »Hörst du, Mitja«, fügte sie nachdrücklich hinzu, »spring nicht mehr hoch! Aber daß du Champagner mitgebracht hast, ist prächtig. Ich selbst will welchen trinken! Likör kann ich nicht leiden. Das Allerbeste aber ist, daß du selber gekommen bist, sonst ist es hier zu langweilig … Du bist wohl gekommen, um wieder flott zu leben? Aber steck doch das Geld in die Tasche! Wo hast du denn so viel her?«

Mitja, der noch immer die zusammengeknüllten Banknoten in der Hand hielt, was bereits alle, besonders die beiden Polen aufmerksam gemacht hatte, schob sie, verlegen errötend, schnell in die Tasche. In diesem Augenblick brachte der Wirt auf einem Präsentierteller eine Flasche Champagner und Gläser. Mitja ergriff die Flasche, war aber so fassungslos, daß er nicht wußte, was er damit tun sollte. Kalganow nahm sie ihm aus der Hand und goß an seiner Statt ein.

»Noch eine Flasche« bring noch eine Flasche!« rief Mitja dem Wirt zu. Obwohl er den Polen vorher so feierlich eingeladen hatte, mit ihm zur Feier des Friedensschlusses zu trinken, vergaß er nun, mit ihm anzustoßen, und trank sein ganzes Glas allein aus, ohne auf jemand zu warten. Sein ganzes Gesicht hatte sich plötzlich verändert. An Stelle des feierlichen, tragischen Ausdrucks zeigte sich jetzt eine kindliche Weichheit. Er schien auf einmal ganz sanft und demütig geworden zu sein. Er blickte alle schüchtern und froh an, oft nervös kichernd, mit der dankbaren Miene eines Hündchens, das etwas begangen hat und nun wieder hereingelassen worden ist und gestreichelt wird. Er schien alles vergessen zu haben und schaute mit einem entzückten kindlichen Lächeln um sich; immer wenn er Gruschenka anblickte, lachte er. Er rückte seinen Stuhl ganz dicht an ihren Lehnsessel. Allmählich sah er auch die beiden Polen genauer an, obgleich er sich noch nicht viele Gedanken über sie machte. Der Herr auf dem Sofa fiel ihm auf durch seine würdevolle Haltung, durch seine polnische Aussprache und besonders durch seine Pfeife. ›Na, was ist schon dabei? Es ist gar nicht schlecht, daß er Pfeife raucht‹, überlegte Mitja. Auch das etwas aufgedunsene Gesicht dieses etwa vierzigjährigen Herrn mit dem kleinen Näschen, unter dem ein sehr dünner, an den Enden gezwirbelter, frech aussehender gefärbter Schnurrbart saß, erweckte bei Mitja einstweilen keinerlei Bedenken. Selbst die minderwertige, offensichtlich in Sibirien hergestellte Perücke des Polen mit dem an den Schläfen dumm nach vorn gekämmten Haar machte auf Mitja weiter keinen unangenehmen Eindruck. ›Wenn man eine Perücke trägt, muß es wohl so sein?‹ meditierte er in seiner glückseligen Stimmung. Der andere, der jüngere Pole, der an der Wand saß, und dem allgemeinen Gespräch mit herausfordernden Blicken und schweigender Geringschätzung zuhörte, überraschte Mitja nur durch seinen sehr hohen Wuchs, der in starkem Mißverhältnis zu dem Herrn auf dem Sofa stand. ›Wenn der aufsteht, muß er baumlang sein!‹ dachte Mitja flüchtig. Auch ging ihm der Gedanke durch den Kopf, daß dieser hochgewachsene Herr wahrscheinlich ein Freund oder Helfershelfer oder eine Art Leibwächter des Herrn auf dem Sofa sein müßte und daß der kleine Herr mit der Pfeife dem hochgewachsenen Herrn gewiß zu befehlen hätte. Aber auch das erschien Mitja in seiner Zufriedenheit gut und tadellos. Im Herzen des kleinen Hündchens war jede Rivalität erstorben. Gruschenka und den rätselhaften Ton mancher ihrer Bemerkungen begriff er noch nicht; er merkte nur – und bei dieser Wahrnehmung erbebte sein Herz –, daß sie zu ihm freundlich war, daß sie ihm »verziehen« hatte und ihn neben sich sitzen ließ. Er war außer sich vor Freude, als er sie aus ihrem Glas Champagner nippen sah. Das Schweigen der Gesellschaft schien ihn jedoch plötzlich zu überraschen, und er ließ seine Augen herumgehen, als ob er etwas erwartete. ›Warum sitzen wir denn so still? Warum fangen Sie nichts an, meine Herrschaften?‹ schien sein lächelnder Blick zu fragen.

»Der da schwatzt immerzu Unsinn, und wir haben immerzu darüber gelacht«, sagte auf einmal Kalganow und zeigte dabei auf Maximow, als hätte er Mitjas Blick verstanden.

Mitja sah eifrig Kalganow und dann gleich Maximow an. »Er schwatzt Unsinn?« fragte er mit seinem kurzen, hölzernen Lachen, denn er freute sich sofort über irgend etwas. »Haha!«

»Ja, stellen Sie sich vor, er behauptet, unsere gesamte Kavallerie hätte in den zwanziger Jahren Polinnen geheiratet! Das ist doch ein schrecklicher Unsinn, nicht wahr?«

»Polinnen?« fiel Mitja wieder ein, jetzt schon völlig hingerissen.

»Denken Sie sich, ich schleppe ihn schon vier Tage lang mit mir«, fuhr er fort, indem er wie aus Faulheit die Worte ein wenig in die Länge zog, doch kam das ganz natürlich heraus, ohne Geckenhaftigkeit. »Seit Ihr Bruder ihn damals vom Wagen zurückstieß und er ein Ende wegflog, erinnern Sie sich? Dadurch erregte er mein lebhaftes Interesse, und ich nahm ihn mit auf mein Gut. Aber er schwatzt jetzt immer Unsinn, so daß man sich seiner schämen muß. Ich werde ihn wieder zurückbringen …«

Kalganow durchschaute Mitjas Beziehungen zu Gruschenka und erriet auch, wie sie zu dem Polen stand; doch das interessierte ihn nicht sonderlich. Ihn interessierte am meisten Maximow. Er war mit ihm nur zufällig hierhergeraten und war den beiden Polen hier im Gasthaus zum erstenmal in seinem Leben begegnet. Gruschenka kannte er schon von früher und war sogar einmal mit jemand bei ihr gewesen; damals hatte er ihr nicht gefallen. Hier nun sah sie ihn sehr freundlich an, vor Mitjas Ankunft hatte sie ihn sogar geliebkost, aber er war dagegen eigentümlich unempfindlich geblieben. Er war ein junger Mann um die zwanzig, elegant gekleidet, mit einem sehr netten, bleichen Gesichtchen und sehr schönem, dunkelblondem Haar; in dem bleichen Gesichtchen waren ein Paar prachtvolle, hellblaue Augen mit einem klugen, bisweilen sogar tiefen, über sein Alter reifen Ausdruck, obwohl der junge Mann dann wieder wie ein Kind redete und schaute und sich dessen gar nicht schämte, sondern es sogar selbst eingestand. Überhaupt war er sehr eigenartig, ja launenhaft, allerdings stets freundlich. Mitunter hatte sein Gesicht einen Anflug von Starrheit und Eigensinn; er sah einen an und hörte wohl auch zu, doch schien er sich stur mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. Mal benahm er sich lässig, mal regte er sich auf, und das oft aus nichtigem Anlaß.

»Der Pan hat noch keine polnische Dame gesehen und redet Dinge, die unmöglich sind«, bemerkte der Herr mit der Pfeife über Maximow.

Er konnte ganz gut russisch sprechen, verunstaltete aber die russischen Worte, deren er sich bediente, durch polnische Aussprache.

»Aber ich bin ja mit einer Polin verheiratet gewesen«, gab Maximow kichernd zur Antwort.

»Na, haben Sie etwa bei der Kavallerie gedient? Sie erzählten das doch von der Kavallerie. Waren Sie etwa Kavallerist?« mischte sich sofort Kalganow ein.

»Ja, freilich, ist er denn Kavallerist gewesen? Haha!« rief Mitja, der eifrig zugehört hatte und seinen fragenden Blick zu jedem, der sprach, hatte wandern lassen, als erwartete er von jedem Gott weiß was zu hören.

»Nein, sehen Sie«, wandte sich Maximow an ihn. »Ich rede davon, daß diese polnischen Fräulein … Hübsch sind sie ja, wenn sie mit unseren Ulanen eine Mazurka zu Ende getanzt haben … Wenn so eine mit einem unserer Ulanen eine Mazurka zu Ende getanzt hat, hüpft sie ihm auch gleich auf den Schoß wie ein Kätzchen, wie ein weißes Kätzchen … Und der Herr Vater und die Frau Mutter sehen es und erlauben es … Und der Ulan geht dann am nächsten Tag hin und macht ihr einen Heiratsantrag … Jawohl, und macht ihr einen Heiratsantrag, hihi!« kicherte Maximow.

»Der Herr ist ein Strolch!« brummte auf einmal der lange Herr auf dem Stuhl und schlug die Beine übereinander. Mitja sah ihn an; seine Aufmerksamkeit erregten jedoch nur ein Paar gewaltige Schmierstiefel mit dicken, schmutzigen Sohlen. Überhaupt waren die Anzüge der beiden Polen ziemlich unsauber.

»Was heißt hier Strolch? Was hat er hier zu schimpfen?« rief Gruschenka ärgerlich.

»Pani Agrippina, der Herr hat in Polen Bauernmädchen gesehen, aber keine vornehmen Damen«, bemerkte der Herr mit der Pfeife, zu Gruschenka gewandt.

»Wie kannst du dich um so was überhaupt kümmern?« warf der lange Herr auf dem Stuhl kurz und verächtlich ein.

»Auch das noch! So lassen Sie ihn doch reden! Wenn Leute reden wollen, wozu soll man sie stören? Mit solchen Leuten zusammen sein macht Spaß!« bemerkte Gruschenka in scharfem Ton.

»Ich störe niemand, Pani«, sagte der Herr mit der Perücke mit einem langen Blick auf Gruschenka bedeutsam; dann schwieg er würdevoll und begann wieder an seiner Pfeife zu ziehen.

»Aber nein, nein, was der polnische Herr da eben gesagt hat, ist ganz richtig«, ereiferte sich nun wieder Kalganow, als ob es sich um wer weiß wie wichtige Dinge gehandelt hätte. »Er ist ja gar nicht in Polen gewesen, wie kann er da über Polen reden? Sie haben doch gar nicht in Polen geheiratet, wie?«

»Nein, im Gouvernement Smolensk. Nur hatte sie ein Ulan schon vorher aus Polen, aus dem eigentlichen Polen, mitgebracht, das heißt meine künftige Gattin und ihre Frau Mutter und ihre Tante und noch eine Verwandte mit einem erwachsenen Sohn … Und der trat sie mir ab. Es war ein Leutnant, ein sehr hübscher junger Mann. Anfangs hatte er sie selbst heiraten wollen, aber er tat es dann doch nicht, weil es sich herausstellte, daß sie lahm war …«

»Da haben Sie also eine Lahme geheiratet?« rief Kalganow.

»Allerdings. Die beiden hatten mich damals ein bißchen hinters Licht geführt. Ich dachte, sie hätte so einen hüpfenden Gang … Sie hüpfte immer, und ich dachte, aus Munterkeit …«

»Aus Freude darüber, daß sie Ihre Frau werden sollte?« rief Kalganow mit kindlich heller Stimme.

»Jawohl, aus Freude. Aber es ergab sich, daß das eine ganz andere Ursache hatte. Später, gleich am Abend nach der Trauung, gestand sie es mir und bat mich sehr gefühlvoll um Verzeihung. Sie sagte, sie sei als Kind einmal über eine Pfütze gesprungen und habe sich dabei den Fuß beschädigt, hihi!«

Kalganow brach in ein lautes echtes Kinderlachen aus und fiel fast auf das Sofa. Auch Gruschenka lachte. Mitja befand sich auf dem Gipfel der Glückseligkeit.

»Wissen Sie, wissen Sie, jetzt sagt er aber die Wahrheit, jetzt lügt er nicht«, rief Kalganow, zu Mitja gewandt. »Wissen Sie, er ist zweimal verheiratet gewesen; was er da erzählt hat, bezieht sich auf seine erste Frau. Seine zweite Frau ist ihm nämlich davongelaufen und lebt heute noch, wissen Sie das?«

»Na, so etwas!« rief Mitja und sah mit größtem Erstaunen zu Maximow.

»Ja, sie ist mir davongelaufen, diese Unannehmlichkeit ist mir passiert«, bestätigte Maximow bescheiden. »Mit so einem Monsieur. Aber die Hauptsache war, sie hatte gleich von vornherein mein ganzes Gut auf ihren Namen umschreiben lassen. ›Du bist ein gebildeter Mann‹, hatte sie zu mir gesagt, ›du wirst auch so dein Brot finden können.‹ Dadurch brachte sie mich in die Tinte. Ein verehrter Bischof hat einmal zu mir gesagt: ›Deine erste Frau war lahm und die zweite gar zu leichtfüßig.‹ Hihi!«

»Hören Sie nur, hören Sie nur!« rief Kalganow richtiggehend begeistert. »Wenn er auch schwindelt, und er schwindelt oft, so tut er es doch einzig und allein, um allen ein Vergnügen zu bereiten, das ist nicht gemein, das ist nicht gemein! Wissen Sie, manchmal mag ich ihn recht gern. Er ist gemein; aber er ist es von Natur, nicht? Wie denken Sie darüber? Ein anderer handelt gemein zu irgendwelchem Zweck, um dadurch einen Vorteil zu erlangen, aber er tut es ganz einfach, weil das seine Natur ist … Stellen Sie sich zum Beispiel vor, gestern hat er sich mit mir auf dem ganzen Weg gestritten und behauptet, Gogol habe in den ›Toten Seelen‹ etwas über ihn geschrieben. Sie erinnern sich wohl, da kommt ein Gutsbesitzer Maximow vor, den Nosdrjow auspeitschen ließ, wofür er auch gerichtlich belangt wurde, ›weil er in betrunkenem Zustand dem Gutsbesitzer Maximow eine tätliche Beleidigung durch Auspeitschen mit Ruten zugefügt hatte‹ – na. Sie werden sich wohl an die Stelle erinnern! Und stellen Sie sich vor, nun behauptet er, das sei er gewesen, er sei ausgepeitscht worden! Na, ist das überhaupt möglich? Tschitschikow hat seine Reise spätestens in den zwanziger Jahren gemacht, so daß die Zeitrechnung absolut nicht stimmt. Unser Maximow konnte damals nicht ausgepeitscht werden. Das war doch nicht möglich, nicht wahr?«

Es war schwer zu sagen, warum Kalganow sich so ereiferte, aber das war bei ihm echt. Auch Mitja, interessierte sich sehr für diese Frage.

»Und wenn er nun doch einmal ausgepeitscht worden ist!« rief er lachend.

»Nicht eigentlich ausgepeitscht, bloß so«, warf Maximow ein.

»Was heißt das, ›bloß so?‹ Sind Sie ausgepeitscht worden oder nicht?«

»Wie spät?« wandte sich der Herr mit der Pfeife mit gelangweilter Miene auf polnisch an den hochgewachsenen Herrn auf dem Stuhl.

Dieser zuckte mit den Schultern, sie hatten beide keine Uhren.

»Warum soll man sich denn nicht unterhalten? Laßt doch auch andere Leute reden! Wenn ihr euch langweilt, brauchen doch andere Leute noch nicht den Mund zu halten!« empörte sich Gruschenka wieder; sie suchte offenbar absichtlich Streit.

Mitja ging eine derartige Vermutung jetzt zum erstenmal durch den Kopf.

Der Pole antwortete schon mit deutlicher Gereiztheit. »Pani, ich habe keinen Einspruch erhoben, ich habe überhaupt nichts gesagt.«

»Na, dann also gut. Erzähle weiter!« rief Gruschenka Maximow zu. »Warum seid ihr alle so still geworden?«

»Da ist eigentlich nichts weiter zu erzählen, es sind ja alles nur Dummheiten«, nahm Maximow, sich ein wenig zierend, aber mit sichtlichem Vergnügen das Wort. »Aber auch bei Gogol ist das alles nur allegorisch gemeint, wie er denn auch alle Familiennamen geändert hat. Nosdrjow zum Beispiel hieß eigentlich nicht Nosdrjow, sondern Nossow, und Kuwschinnikow – da ist nun schon gar keine Ähnlichkeit mehr, er hieß Schkwornew. Aber Fenardi hieß wirklich Fenardi, nur war er kein Italiener, sondern ein Russe namens Petrow, und Mamsell Fenardi war ein allerliebstes Wesen, und ihre Beinchen im Trikot sahen allerliebst aus, und dazu das kurze, mit Flitter besetzte Röckchen, und da drehte sie sich nun herum, nur nicht vier Stunden lang, sondern bloß vier Minuten … Und bezauberte alle …«

»Und warum bist du ausgepeitscht worden? Warum eigentlich?« rief Kalganow.

»Wegen Piron«, antwortete Maximow.

»Was ist das für ein Piron?« rief Mitja.

»Der bekannte französische Schriftsteller Piron. Wir tranken damals alle Wein in großer Gesellschaft, in einem Restaurant, eben auf dem bewußten Jahrmarkt. Sie forderten mich auf, etwas zu sagen, und da begann ich zuerst Epigramme zu zitieren: ›Bist du das, Boileau? Was trägst du für einen komischen chapeau?‹ Boileau antwortet, er wolle auf einen Maskenball gehen, das heißt zum Baden, hihi, und das bezogen sie auf sich. Da trug ich so schnell wie möglich ein anderes Epigramm vor, ein bissiges, das jedem Gebildeten bekannt ist:

›Wenn du als Sappho dich, als Phaon mich verkündest,
bedaur‘ ich, daß du nicht den Weg zum Meere findest.‹

Sie fühlten sich noch mehr beleidigt und beschimpften mich in unanständiger Weise, und da erzählte ich nun, um meine Situation zu verbessern, zu meinem Unglück eine sehr gebildete Anekdote über Piron. wie er nicht in die Academie Francaise aufgenommen wurde und, um sich zu rächen, für seinen Grabstein folgende Inschrift verfaßte:

Ci-git Piron qui ne fut rien,
pas meme academicien.

Und da haben sie mich ausgepeitscht.« »Aber weswegen denn, weswegen?«

»Wegen meiner Bildung. Gründe, aus denen man jemand auspeitschen kann, gibt es wie Sand am Meer«, schloß Maximow in sanftem, lehrhaftem Ton.

»Genug, das ist alles widerwärtig, ich will das nicht mehr hören! Ich hatte gedacht, es würde etwas Lustiges kommen«, sagte Gruschenka auf einmal heftig.

Mitja fuhr zusammen und hörte sofort auf zu lachen. Der lange Pole erhob sich von seinem Platz, und mit der hochmütigen Miene eines Menschen, der sich in einer niedrigerstehenden Gesellschaft langweilt, fing er an, mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Seht mal an, nun fängt der auch noch an herumzulaufen!« bemerkte Gruschenka verächtlich.

Mitja wurde unruhig; er hatte außerdem wahrgenommen, daß der Herr auf dem Sofa ihn gereizt musterte.

»Panie!« rief Mitja. »Lassen Sie uns trinken, Panie! Auch mit dem anderen Pan möchte ich trinken. Trinken wir, Panowie!« Im Nu hatte er drei Gläser geholt und Champagner eingegossen … »Auf Polen, Panowie! Ich trinke auf Ihr Polen, auf das Polenland!« rief Mitja.

»Das ist mir sehr angenehm, Panie. Trinken wir!« sagte der Herr auf dem Sofa würdevoll und wohlwollend auf polnisch und nahm sein Glas.

»Auch der andere Pan, ich weiß seinen Namen nicht … Hören Sie, Hochedler, nehmen Sie Ihr Glas!« rief Mitja geschäftig.

»Pan Wroblewski«, half der Herr auf dem Sofa ein.

Pan Wroblewski trat mit schaukelndem Gang an den Tisch und ergriff stehend sein Glas.

»Auf Polen, Panowie! Hurra!« rief Mitja und erhob sein Glas.

Alle drei tranken aus. Mitja ergriff die Flasche und goß die drei Gläser wieder voll.

»Jetzt auf Rußland, Panowie! Und wir wollen Brüderschaft trinken!«

»Gieß uns auch ein!« sagte Gruschenka. »Auf Rußland will ich auch trinken.«

»Ich auch«, sagte Kalganow.

»Und ich ebenfalls … Auf das liebe Rußland, auf das alte Großmütterchen!« schloß sich Maximow kichernd an.

»Alle, alle!« schrie Mitja. »Wirt, bring noch mehr Flaschen!«

Es wurden drei Flaschen geholt, die von den von Mitja mitgebrachten noch übrig waren.

»Auf Rußland, hurra!« rief er wieder.

Alle außer den beiden Polen tranken aus, auch Gruschenka trank ihr ganzes Glas auf einen Zug aus. Die Polen aber rührten ihre Gläser nicht an.

»Aber was machen, Sie Panowie?« rief Mitja. »Also so sind Sie?«

Pan Wroblewski nahm sein Glas, erhob es und sagte mit schalIender Stimme: »Auf Rußland in den Grenzen vor siebzehnhundertzweiundsiebzig!«

»Richtig so!« rief der andere Pan auf polnisch, und beide leerten ihre Gläser in einem Zug.

»Dummköpfe sind Sie, Panowie!« entfuhr es Mitja unwillkürlich.

»Pa-nie?!« riefen die beiden Polen drohend und nahmen wie Kampfhähne Mitja gegenüber eine herausfordernde Haltung ein. Besonders aufgeregt war Pan Wroblewski.

»Darf man denn sein Land nicht lieben?« schrie er auf polnisch.

»Still! Ich will keinen Streit haben!« rief Gruschenka gebieterisch und stampfte mit dem Fuß auf.

Ihr Gesicht brannte, ihre Augen funkelten; das soeben ausgetrunkene Glas wirkte. Mitja bekam einen furchtbaren Schreck.

»Panowie, verzeihen Sie! Ich bin daran schuld, ich werde es nicht wieder tun. Wroblewski, Pan Wroblewski, ich werde es nicht wieder tun!«

»So sei doch still und setz dich hin, du Dummkopf!« fuhr ihn Gruschenka ärgerlich an.

Alle setzten sich, verstummten, sahen einander an.

»Meine Herren, ich bin an allem schuld!« begann Mitja wieder, der Gruschenkas Ausruf nicht begriffen hatte.

»Nun, warum sitzen wir denn so still da? Womit wollen wir uns unterhalten, damit es wieder lustig wird?«

»Ach ja, es ist in der Tat entsetzlich langweilig« murmelte Kalganow lässig.

»Wir sollten ein bißchen Karten spielen wie vorhin …«, schlug Maximow kichernd vor.

»Spielen? Herrlich!« rief Mitja ein. »Wenn nur die Panowie …«

»Es ist schon spät, Panie!« erwiderte der Herr auf dem Sofa unlustig.

»Das ist richtig!« stimmte ihm Pan Wroblewski zu.

»Immer ist es ihnen zu spät, immer können sie irgendwas nicht!« rief Gruschenka. Sie kreischte fast, so ärgerlich war sie. »Sie selbst sitzen gelangweilt da, also sollen sich die anderen auch langweilen. Bevor du kamst, Mitja, haben sie nur immer geschwiegen und schiefe Gesichter gezogen …«

»Meine Göttin!« rief der Herr auf dem Sofa. »Was du sagst, soll geschehen. Ich sehe, daß du verstimmt bist, und das macht mich traurig. Ich bin bereit, Panie!« schloß er, zu Mitja gewandt.

»Fangen Sie an, Panie!« versetzte Mitja, zog seine Banknoten aus der Tasche und legte zwei Hundertrubelscheine auf den Tisch. »Ich will viel an Sie verlieren. Nehmen Sie die Karten, und halten Sie die Bank!«

»Die Karten soll der Wirt geben, Panie!« sagte der kleine Herr ernst und nachdrücklich.

»Das ist das korrekteste Verfahren«, stimmte Pan WrobIewski zu.

»Der Wirt? Nun gut, ich verstehe, soll der Wirt sie geben, da haben Sie recht, Panowie … Karten!« befahl Mitja dem Wirt.

Der Wirt brachte ein noch nicht entsiegeltes Spiel Karten und teilte Mitja mit, die Mädchen kämen schon zusammen, und die Juden mit den Zymbals würden wahrscheinlich auch bald zur Stelle sein, nur die Troika mit den Waren sei noch nicht gekommen.

Mitja sprang vom Tisch auf und lief ins Nachbarzimmer, um sogleich das Nötige anzuordnen. Von den Mädchen waren bisher jedoch nur drei gekommen, und Marja war auch noch nicht da. Mitja wußte selbst nicht recht, wozu er hinausgelaufen war; er befahl nur, das Konfekt auszupacken und Kandiszucker und Sahnebonbons an die Mädchen auszuteilen.

»Und für Andrej Schnaps!« befahl er hastig. »Ich habe Andrej gekränkt!«

In diesem Augenblick berührte ihn Maximow, der ihm nachgelaufen war, plötzlich an der Schulter.

»Geben Sie mir fünf Rubel«, flüsterte er. »Ich möchte auch mein Glück versuchen, hihi!«

»Herrlich, wunderschön! Nehmen Sie zehn, da!«

»Er zog wieder alle Banknoten aus der Tasche und suchte einen Zehnrubelschein heraus.

»Wenn Sie verlieren, kommen Sie ruhig wieder, kommen Sie ruhig wieder!«

»Schön!« flüsterte Maximow erfreut und lief in das andere Zimmer zurück.

Auch Mitja kehrte sogleich zurück und entschuldigte sich, daß er auf sich hatte warten lassen. Die Polen hatten sich bereits gesetzt und das Spiel Karten entsiegelt. Sie machten jetzt weit höflichere, beinahe freundliche Gesichter. Der Herr auf dem Sofa steckte sich eine neue Pfeife an und machte sich bereit, die Bank zu halten; auf seinem Gesicht prägte sich sogar eine gewisse Feierlichkeit aus.

»Auf Ihre Plätze, Panowie!« rief Pan Wroblewski.

»Nein, ich werde nicht mehr spielen«, versetzte Kalganow. »Ich habe vorhin schon fünfzig Rubel an Sie verloren.«

»Der Herr hat Unglück gehabt, der Herr kann wieder Glück haben«, bemerkte der Herr auf dem Sofa.

»Wieviel ist in der Bank? Kann man va banque spielen?« fragte Mitja eifrig.

»Zu dienen, Panie. Vielleicht hundert Rubel, vielleicht zweihundert, soviel wie Sie setzen wollen.«

»Eine Million!« rief Mitja lachend.

»Vielleicht hat der Pan Hauptmann die Geschichte von Pan Podwysocki gehört?«

»Was ist das für ein Podwysocki?«

»In Warschau kann jeder va banque spielen. Podwysocki kommt herein, sieht in der Bank tausend Gulden liegen und sagt: ›Va banque!‹ Der Bankhalter erwidert: ›Panie Podwysocki, setzen Sie bar oder na honor?‹ – ›Na honor, Panie‹, antwortete Podwysocki. ›Um so besser, Panie.‹ Der Bankhalter zieht die Taille ab, Podwysocki gewinnt und will sich die tausend Gulden nehmen. ›Warten Sie, Panie‹, sagt der Bankhalter, zieht einen Schubkasten auf und gibt ihm eine Million. ›Nehmen Sie, Panie, das ist Ihr Gewinn.‹ Die Bank hatte eine Million betragen. ›Das habe ich nicht gewußt‹, sagt der Bankhalter, ›Sie haben na honor gespielt, und wir ebenfalls na honor.‹ Podwysocki nahm die Million.«

»Die Geschichte ist nicht wahr«, sagte Kalganow.

»Panie Kalganow« in besserer Gesellschaft spricht man nicht so.«

»Na, so ein polnischer Spieler wird einem ausgerechnet eine Million aushändigen!« rief Mitja, besann sich aber sofort: »Verzeihen Sie, Panie, ich habe mich erneut vergangen! Er wird die Million aushändigen, – na honor, auf polnisches Ehrenwort! Sehen Sie, wie ich polnisch sprechen kann, hahaha! Hier, ich setze zehn Rubel, auf den Buben.«

»Und ich ein Rubelchen auf das Dämchen, auf das hübsche Coeurdämchen, auf das Fräuleinchen, hihi!« kicherte Maximow, schob seine Dame heraus, rückte ganz dicht an den Tisch, als wollte er heimlich spielen, und schlug hastig ein Kreuz unter dem Tisch.

Mitja gewann. Auch das Rubelchen gewann.

»Ecke!« rief Mitja.

»Und ich setze wieder ein Rubelchen. Ich bin ein Simplespieler, ein kleiner, ganz kleiner Simplespieler«, murmelte Maximow glückselig; er freute sich schrecklich darüber, daß sein Rubelchen gewonnen hatte.

»Geschlagen!« rief Mitja. »Die Sieben auf paix!«

Er wurde auch auf paix geschlagen.

»Hören Sie auf!« sagte Kalganow.

»Auf paix, auf paix!« rief Mitja, seine Einsätze verdoppelnd; doch alles, was er auf paix setzte, wurde geschlagen. Und die Rubelchen gewannen.

»Auf paix!« brüllte Mitja wütend.

»Sie haben zweihundert Rubel verloren, Panie. Wollen Sie noch zweihundert setzen?« erkundigte sich der Herr auf dem Sofa.

»Wie? Zweihundert habe ich schon verloren? Also noch zweihundert! Die ganzen zweihundert auf paix!« Er holte Geld aus der Tasche und wollte die ganzen zweihundert Rubel auf die Dame werfen, als Kalganow plötzlich die Karte mit der Hand zudeckte.

»Genug!« rief er mit seiner hellen Stimme.

»Was soll das heißen?« rief Mitja und sah ihn starr an.

»Genug! Ich will nicht, daß Sie weiterspielen. Sie sollen nicht mehr spielen.«

»Warum?«

»Darum. Spucken Sie auf die ganze Geschichte und gehen Sie weg! Ich lasse Sie nicht weiterspielen!«

Mitja blickte ihn erstaunt an.

»Hör auf, Mitja. Er hat vielleicht recht, du hast sowieso schon viel verloren«, sagte Gruschenka; ihre Stimme hatte dabei einen seltsamen Klang.

Die beiden Polen standen plötzlich mit beleidigter Miene auf.

»Machen Sie Scherz, Panie?« sagte der kleine Herr und blickte Kalganow streng an.

»Wie können Sie sich erdreisten, das zu tun?« brüllte auch Pan Wroblewski Kalganow an.

»Untersteht euch nicht, hier herumzuschreien! Untersteht euch nicht!« rief Gruschenka. »Ihr Truthähne!«

Mitja ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern; plötzlich frappierte ihn etwas in Gruschenkas Gesicht, und ein ganz neuer Gedanke tauchte in seinem Kopf auf, ein seltsamer, neuer Gedanke!

»Pani Agrippina«, begann der kleine Pole, ganz rot vor Zorn, als Mitja zu ihm trat und ihm auf die Schulter klopfte.

»Hochedler, auf zwei Worte!«

»Was steht zu Diensten, Panie?«

»Bitte in jenes Zimmer, ich möchte Ihnen nur zwei Wörtchen sagen. Schöne, sehr gute Wörtchen, Sie werden zufrieden sein.«

Der kleine Pole wunderte sich und blickte Mitja mißtrauisch an. Doch erklärte er sich sogleich einverstanden, allerdings nur unter der Bedingung, daß auch Pan Wroblewski mitkommen durfte.

»Ist das Ihr Leibwächter? Nun meinetwegen, auch er wird dabei benötigt! Sogar unbedingt!« rief Mitja. »Vorwärts, Panowie!«

»Wo wollt ihr hin?« fragte Gruschenka beunruhigt. »Wir kommen sofort zurück«, antwortete Mitja.

Eine unerwartete, kühne Unternehmungslust leuchtete in seinem Gesicht; das war jetzt ein ganz anderes Gesicht als vorhin. Er führte die Polen in das rechts gelegene Zimmer, nicht in das große, wo sich der Chor der Mädchen versammelte und der Tisch gedeckt wurde, sondern in eine Schlafstube, in der Truhen und Kästen und zwei Betten standen, jedes mit einem ganzen Berg von Kissen in Baumwollbezügen. In einer Ecke brannte auf einem kleinen Brettertisch ein Licht.

Der kleine Pole und Mitja setzten sich einander gegenüber an dieses Tischchen, und der baumlange Pan Wroblewski stellte sich, die Hände auf dem Rücken, neben sie. Die Polen machten ernste Gesichter, waren aber offenbar sehr neugierig.

»Womit kann ich dem Herrn dienen?« fragte der kleine Pole unsicher.

»Das will ich Ihnen sagen, Panie. Ich werde nicht viele Worte machen. Hier ist Geld für Sie …« Er zog seine Banknoten heraus. »Wenn Sie dreitausend Rubel wollen – bitte – nehmen Sie sie, und reisen Sie damit, wohin Sie wollen!«

Der Pole schaute Mitja mit weitgeöffneten Augen prüfend an.

»Dreitausend Rubel, Panie?«

Er wechselte einen Blick mit Wroblewski.

»Dreitausend, Panowie, dreitausend! Hören Sie, Panie. Ich sehe, daß Sie ein verständiger Mensch sind. Nehmen Sie die dreitausend Rubel, und scheren Sie sich zu allen Teufeln! Und nehmen Sie auch Ihren Wroblewski mit! Hören Sie? Aber sofort, augenblicklich, verstehen Sie, Panie? Für immer, ja? Hier durch diese Tür werden Sie hinausgehen. Was haben Sie mitgebracht, einen Überzieher, einen Pelz? Ich werde Ihnen die Sachen bringen. Und gleich wird eine Troika für Sie angespannt, und dann leben Sie wohl, Panie! Na?«

Mitja erwartete zuversichtlich eine bejahende Antwort. Er zweifelte nicht daran.

Ein Ausdruck fester Entschlossenheit schimmerte auf dem Gesicht des kleinen Polen auf.

»Und wie steht es mit dem Geld, Panie?«

»Mit dem Geld? Hören Sie zu, Panie. Fünfhundert Rubel gebe ich Ihnen sofort, für den Wagen und als Anzahlung. Und zweitausendfünfhundert bekommen Sie morgen in der Stadt. Mein Ehrenwort darauf! Sie werden da sein – und wenn ich sie aus der Erde holen müßte!« rief Mitja.

Die Polen sahen einander wieder an. Das Gesicht des Kleinen veränderte sich zum schlechteren.

»Siebenhundert, siebenhundert, nicht fünfhundert! Gleich, in die Hand!« sagte Mitja zulegend; er fühlte, daß die Sache schiefging. »Was ist, Panie? Trauen Sie mir nicht? Ich kann Ihnen doch nicht die ganzen dreitausend mit einemmal geben. Wenn ich das täte, würden Sie gleich morgen wieder zu ihr zurückkehren … Und ich habe auch jetzt nicht die ganzen dreitausend bei mir. Sie liegen bei mir zu Hause«, stammelte Mitja, mit jedem Wort ängstlicher und mutloser. »Bei Gott, sie liegen da gut verwahrt …«

Augenblicklich drückte sich ein Gefühl außerordentlicher eigener Würde auf dem Gesicht des kleinen Polen aus. »Wünschen Sie sonst noch etwas?« fragte er ironisch. »Pfui! O pfui!« Er spuckte aus.

Auch Pan Wroblewski spuckte aus.

»Sie verschmähen mein Angebot doch nur deshalb, Panie«, sagte Mitja in heller Verzweiflung, da er einsah, daß alles aus war, »weil Sie von Gruschenka noch mehr herauspressen wollen. Gauner sind Sie alle beide, daß Sie es wissen!«

»Ich bin aufs tiefste beleidigt!« rief der kleine Pole auf polnisch.

Vor Zorn krebsrot im Gesicht, verließ er mit schnellen Schritten das Zimmer, als ob er nichts weiter hören wollte.

Ihm folgte mit seinem schaukelnden Gang auch Wroblewski. Hinter ihnen ging Mitja, verwirrt und bestürzt. Er fürchtete sich vor Gruschenka; er ahnte, daß der Pole sogleich ein großes Geschrei erheben würde. Das geschah denn auch. Der kleine Pole trat in das blaue Zimmer und stellte sich in theatralischer Haltung vor Gruschenka hin.

»Pani Agrippina, ich bin aufs tiefste beleidigt!« begann er auf polnisch, doch Gruschenka schien plötzlich alle Geduld zu verlieren, als hätte jemand ihre wundeste Stelle berührt.

»Sprich russisch, kein Wort polnisch will ich mehr hören!« schrie sie ihn an. »Du hast doch früher russisch gesprochen, hast du es in den fünf Jahren etwa vergessen?«

Sie war vor Zorn ganz rot geworden.

»Pani Agrippina …«

»Ich heiße Agrafena, ich heiße Gruschenka! Sprich russisch, oder ich will dich gar nicht hören!«

Der Pole, in seinem Ehrgefühl tief verletzt, atmete nur mühsam und sagte, das Russische radebrechend, schnell und stolz: »Pani Agrafena, ich bin hergekommen, um das Alte zu vergessen und zu verzeihen, um zu vergessen, was vor dem heutigen Tag gewesen ist …«

»Was redest du von Verzeihen? Du bist hergekommen, um mir zu verzeihen?« unterbrach ihn Gruschenka und sprang auf.

»Ganz richtig, Pani. Ich bin nicht kleinlich, ich bin großzügig. Aber ich war erstaunt, als ich deine Liebhaber sah. Pan Mitja hat mir soeben dreitausend Rubel angeboten, damit ich abreise. Ich habe ihm ins Gesicht gespuckt.«

»Wie? Er hat dir Geld für mich angeboten?« schrie Gruschenka in grenzenloser Erregung. »Ist das wahr, Mitja? Wie hast du das wagen können? Bin ich denn käuflich?«

»Panie, Panie!« brüllte Mitja. »Sie ist rein, strahlend rein, und ich bin nie ihr Geliebter gewesen! Da haben Sie gelogen …«

»Wie kannst du dich erdreisten, mich ihm gegenüber zu verteidigen?« schrie Gruschenka. »Nicht aus Tugendhaftigkeit bin ich rein gewesen, auch nicht, weil ich mich vor Kusma gefürchtet habe, sondern damit ich ihm gegenüber stolz sein konnte und das Recht hatte, ihn einen Schurken zu nennen, sobald ich ihm wieder begegnen würde. Hat er das Geld von dir wirklich nicht angenommen?«

»Doch! Er hat es angenommen, er hat es angenommen« rief Mitja. »Nur wollte er die ganzen dreitausend auf einmal haben, und ich bot ihm nur eine Anzahlung von siebenhundert.«

»Nun, das ist verständlich. Er hatte ja gehört, daß ich, Geld habe! Und darum ist er gekommen, um mich zu heiraten!«

»Pani Agrippina!« rief der Pole. »Ich bin ein Kavalier, ich bin rin Edelmann, ich bin kein Strolch. Ich bin gekommen, um dich zu meiner Gemahlin zu machen, aber ich sehe eine neue Pani vor mir, nicht die frühere, sondern eine eigensinnige und schamlose Pani.«

»So scher dich doch dahin, wo du hergekommen bist! Ich werde dich gleich wegjagen lassen, und man wird dich wegjagen!« rief Gruschenka außer sich. »Eine Verrückte bin ich gewesen, daß ich mich fünf Jahre lang gequält habe! Aber ich habe mich überhaupt nicht um seinetwillen gequält! Aus Zorn habe ich mich gequält! Und er ist es ja überhaupt nicht! War er damals etwa so ein Mann wie dieser jetzt? Der hier könnte der Vater von dem Früheren sein! Wo hast du dir denn diese Perücke machen lassen? Der andere war ein Falke, der hier ist ein Enterich. Der andere lachte und sang mir Lieder … Und ich, ich habe fünf Jahre lang Tränen vergossen! Ich verdammte Idiotin, ich niedriges, schamloses Geschöpf!«

Sie sank in ihren Lehnstuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

In diesem Augenblick ertönte im Nachbarzimmer links der Chor der Mädchen von Mokroje, die sich nun endlich versammelt hatten; sie sangen ein keckes Tanzlied.

»Das ist ja ein wahres Sodom!« schrie auf einmal Pan Wroblewski. »Wirt, jag das unverschämte Pack hinaus!«

Der Wirt, der schon lange neugierig durch die Tür sah, da er das Geschrei gehört und geahnt hatte, daß die Gäste in Streit geraten waren, erschien sogleich im Zimmer.

»Was schreist du so und reißt das Maul auf?« wandte er sich mit erstaunlicher Unhöflichkeit an Wroblewski.

»Du Rindvieh!« brüllte Pan Wroblewski.

»Ich ein Rindvieh? Und mit was für Karten hast du eben gespielt? Ich hatte dir ein neues Spiel gegeben, das hast du versteckt! Du hast mit falschen Karten gespielt! Ich kann dich für die falschen Karten nach Sibirien bringen, weißt du das? Denn das ist dasselbe wie falsches Geld …«

Und er trat ans Sofa, steckte die Finger zwischen Lehne und Sitzpolster und zog ein unentsiegeltes Spiel Karten heraus.

»Da ist mein Spiel, es ist noch gar nicht aufgemacht!« Er hob es hoch und zeigte es herum. »Ich habe gesehen, wie er mein Spiel in die Ritze steckte und seins dafür unterschob … Ein Betrüger bist du, und kein Pan!«

»Und ich habe gesehen, wie der andere Pan zweimal gemogelt hat!« rief Kalganow.

»Pfui Teufel, welche Schande!« rief Gruschenka und schlug die Hände zusammen. »Mein Gott, was für ein Mensch ist das geworden!«

»Ich hatte mir das schon gedacht!« rief Mitja. Aber er hatte das noch nicht ganz ausgesprochen, da wandte sich Pan Wroblewski verwirrt und wütend an Gruschenka, drohte ihr mit der Faust und schrie sie an:

»Öffentliche Hure!« Sofort stürzte sich Mitja auf ihn, umfaßte ihn mit den Armen, hob ihn in die Luft und trug ihn aus dem Saal in das Zimmer rechts, wo er eben erst mit den beiden gewesen war.

»Ich habe ihn da auf den Fußboden gelegt!« meldete er, als er, vor Aufregung keuchend, sogleich zurückkehrte. »Die Kanaille wollte sich noch wehren, doch keine Sorge, der kommt nicht wieder herein!«

Er machte den einen Türflügel zu, hielt den anderen weit offen und rief dem kleinen Polen zu: »Hochedler, belieben Sie nicht, ebenfalls dorthin zu gehen? Bitte sehr!«

»Väterchen, Dmitri Fjodorowitsch!« rief Trifon Borissowitsch. »Nehmen Sie ihnen doch das Geld ab, das Sie verloren haben! Das ist ja dasselbe, wie wenn sie es Ihnen gestohlen hätten!«

»Ich will meine fünfzig Rubel nicht wieder haben«, erklärte Kalganow.

»Und auch ich meine zweihundert nicht!« rief Mitja. »Unter keinen Umständen – soll er sie zu seinem Trost behalten.«

»Bravo, Mitja! Du bist ein Prachtmensch, Mitja!« rief Gruschenka; aus ihrer Stimme sprach noch die starke Empörung.

Der kleine Pole, der vor Wut dunkelrot geworden war, ohne aber im geringsten von seiner würdevollen Haltung einzubüßen, ging zur Tür, blieb dann jedoch stehen und sagte zu Gruschenka: »Pani, wenn du mit mir kommen willst, so komm! Wenn nicht, dann lebe wohl!«

Und mit großartiger Miene, schnaufend vor Empörung und verletztem Ehrgefühl, ging er hinaus. Er war ein Mann von festem Charakter; selbst nach allem, was vorhergegangen war, hatte er die Hoffnung noch nicht aufgegeben, die Pani würde mit ihm kommen – so hoch schätzte er sich ein. Mitja schlug die Tür hinter ihm zu.

»Schließen Sie die beiden doch ein!« sagte Kalganow. Aber man hörte, wie der Schlüssel von der anderen Seite gedreht wurde; sie hatten sich selbst eingeschlossen.

»Bravo!« rief Gruschenka wieder boshaft und mitleidlos. »Bravo! Da gehören sie auch hin!«

8. Im Fieberwahn

Nun begann eine Art Orgie, ein Gelage für jedermann. Gruschenka war die erste, die sich Wein geben ließ. »Ich will trinken, total betrinken will ich mich! Es soll sein wie voriges Mal, erinnerst du dich, Mitja? Erinnerst du dich, wie wir uns damals hier kennengelernt haben?« Mitja selbst war wie im Fieber und ahnte »sein Glück«. Gruschenka jagte ihn übrigens fortwährend von sich fort: »Geh, sei lustig! Sag ihnen, sie sollen tanzen, alle sollen lustig sein! Tanzen sollen Tisch und Bänke und der Ofen und die Schränke! Wie damals, wie damals!« rief sie. Sie war sehr erregt. Und Mitja lief, um alles anzuordnen. Der Chor hatte sich im Nebenzimmer versammelt. Das Zimmer, in dem sie bis dahin gesessen hatten, war zu eng, da es durch einen Kattunvorhang geteilt war; hinter dem Vorhang stand ein riesiges Bett mit einem dicken Federbett und mit einem Berg von Kissen in Baumwollbezügen. Betten standen nämlich in allen vier »guten Stuben« dieses Hauses. Gruschenka hatte direkt in der Tür Platz genommen; Mitja hatte ihr den Lehnstuhl dorthin getragen: Hier hatte sie auch »damals«, während ihres ersten Gelages, gesessen und dem Gesang zugehört und dem Tanz zugesehen. Die Mädchen, die sich jetzt versammelt hatten, waren dieselben wie damals. Die Juden mit den Geigen und Zithern hatten sich ebenfalls eingefunden, und endlich war auch der sehnlich erwartete dreispännige Wagen mit den Weinen und den Lebensmitteln eingetroffen. Mitja war in geschäftiger Bewegung. Auch Unbeteiligte kamen herein, um zuzuschauen, Bauern und Bauersfrauen, die sich zwar schon schlafen gelegt hatten, aber wieder aufgestanden waren, weil sie eine reiche Bewirtung witterten wie vor einem Monat. Mitja begrüßte und umarmte alle, die er kannte und an deren Gesichter er sich erinnerte, öffnete Flaschen und goß jedem ein, der ihm in die Nähe kam. Auf Champagner waren eigentlich nur die jungen Mädchen versessen; den Bauern sagten Rum und Kognak und besonders der heiße Punsch mehr zu. Mitja ordnete an, für alle Mädchen Schokolade zu kochen und drei Samoware die ganze Nacht über in Betrieb zu lassen, damit jeder Ankömmling Tee und Punsch bekommen konnte: Ein jeder sollte bewirtet werden. Kurz, es begann ein ausschweifendes, sinnloses Treiben; Mitja fühlte sich dabei in seinem Element, und je sinnloser es wurde, um so lebhafter und munterer wurde er. Hätte ihn irgendein Bauer in jenen Augenblicken um Geld gebeten, hätte er sogleich sein ganzes Päckchen Banknoten herausgezogen und nach rechts und links Geld verteilt, ohne zu zählen. Wahrscheinlich aus diesem Grund hielt sich der Wirt Trifon Borissowitsch fast wie eine Klette in seiner Nähe; er schien in dieser Nacht gänzlich auf Schlaf verzichten zu wollen, trank nur wenig, nur ein einziges Glas Punsch, und wachte auf seine Weise sorgsam über Mitjas Interessen. Sooft er es für nötig erachtete, hielt er ihn in knechtisch-freundlicher Manier zurück, redete auf ihn ein, ließ nicht zu, daß er wie »damals« die Bauern mit Zigarren und Rheinwein bewirtete oder ihnen womöglich Geld gab, und war sehr empört darüber, daß die jungen Mädchen Likör tranken und Konfekt aßen. »Es ist ja nur eine Lausebande, Dmitri Fjodorowitsch«, sagte er. »Ich gebe jeder von hinten einen Stoß mit dem Knie und befehle ihr dann noch, sich das als eine Ehre anzurechnen – von der Sorte sind die!« Mitja kam noch einmal auf Andrej zurück und befahl, ihm Punsch zu schicken. »Ich habe ihn vorhin gekränkt«, sagte er noch einmal mit matter, gerührter Stimme. Kalganow wollte eigentlich nicht trinken, und der Mädchenchor mißfiel ihm anfangs sehr; doch nachdem er noch ein paar Gläser Champagner getrunken hatte, wurde er sehr vergnügt, wanderte durch die Zimmer, lachte und lobte alles und alle, die Lieder wie die Musik. Maximow, glückselig und angeheitert, wich nicht von seiner Seite. Gruschenka, die ebenfalls langsam berauscht wurde, sagte zu Mitja, auf Kalganow deutend: »Was ist er doch für ein lieber, prächtiger Junge!« Und Mitja lief hin, um Kalganow und Maximow zu küssen. Oh, er ahnte vieles, wenn sie ihm auch noch nichts Bestimmtes gesagt hatte, sondern sich sogar eher absichtlich zurückhielt, etwas zu sagen, und ihm nur ab und zu einen freundlichen, aber heißen Blick zuwarf. Endlich nahm sie ihn plötzlich fest bei der Hand und zog ihn mit Gewalt zu sich heran. Sie saß in diesem Augenblick in ihrem Lehnstuhl an der Tür.

»Wie konntest du nur vorhin mit so einer Absicht hereinkommen? Wie ist das nur möglich? Ich habe so einen Schreck bekommen! Wie konntest du mich nur an ihn abtreten wollen! Hast du das wirklich gewollt?«

»Ich wollte dein Glück nicht zerstören!« stammelte Mitja glückselig. Aber sie bedurfte seiner Antwort gar nicht.

»Na, nun geh … Sei lustig!« Mit diesen Worten schickte sie ihn wieder weg. »Und weine nicht, ich werde dich wieder rufen.«

Er ging, und sie beschäftigte sich wieder damit, den Liedern zuzuhören und dem Tanz zuzusehen, folgte ihm dabei jedoch mit den Blicken, wo immer er war. Nach einer Viertelstunde rief sie ihn wieder, und er kam wieder sofort.

»So, setz dich jetzt zu mir und erzähle, wie du erfahren hast, daß ich hierhergefahren bin. Von wem hast du es zuerst gehört?«

Und Mitja begann zu erzählen, unzusammenhängend, ohne Ordnung, mit Feuer; eigenartig war, daß er dabei häufig die Augenbrauen zusammenzog und verstummte.

»Warum machst du denn so ein finsteres Gesicht?« fragte sie »Was hast du?«

»Ach, nichts … Ich habe dort jemand krank zurückgelassen. Wenn ich wüßte, daß er wieder gesund wird – ich würde zehn Jahre meines Lebens darum geben!«

»Nun, Gott helfe ihm, wenn er krank ist! Also du wolltest dich morgen wirklich erschießen? Und warum, du Dummkopf! Aber ich liebe gerade solche unvernünftigen Menschen wie dich«, flüsterte sie ihm mit etwas schwer gewordener Zunge zu. »Also du bist für mich zu allem fähig? Ja? Und du hast dich wirklich morgen erschießen wollen, du kleiner Dummkopf! Nein, warte noch ein Weilchen … morgen sage ich dir vielleicht ein Wörtchen … Heute noch nicht, aber morgen … Oder möchtest du es heute hören? Nein, heute will ich nicht … So, nun geh, geh jetzt, sei lustig!«

Einmal jedoch, als sie ihn zu sich rief, schien sie bekümmert und besorgt zu sein.

»Warum bist du so traurig? Ich sehe, daß du traurig bist … Nein, ich sehe es ganz genau!« fügte sie hinzu und sah ihm scharf in die Augen. »Wenn du auch die Bauern abküßt und herumschreist, ich sehe, was ich sehe. Aber nicht doch, sei lustig! Ich bin lustig, und du sollst auch lustig sein … Ich liebe hier jemand: Rate mal, wen? Ach, sieh mal, mein Junge ist eingeschlafen, er ist betrunken, der liebe Kerl!«

Sie meinte Kalganow. Der war tatsächlich betrunken und, auf dem Sofa sitzend, einen Augenblick eingeschlafen – doch nicht nur infolge der Trunkenheit. Ihm war aus irgendwelchem Grund traurig zumute, oder wie er sagte: er langweilte sich. Stark verstimmt hatten ihn zuletzt auch die von den Mädchen gesungenen Lieder, die mit der Zeit immer ausgelassener und unzüchtiger geworden waren. Ebenso war es mit den Tänzen: Zwei Mädchen hatten sich als Bären verkleidet, und die kecke Stepanida spielte mit einem Stock in der Hand den Bärenführer und führte die beiden vor. »Lustiger, Marja!« rief sie. »Sonst bekommst du den Stock!« Die Bären fielen schließlich unter dem lauten Gelächter des dichtgedrängt stehenden Publikums in einer sehr unanständigen Weise zu Boden. »Na, sollen sie, sollen sie doch!« hatte Gruschenka ruhig gesagt. »Warum sollen sich die Leute nicht freuen, wenn einmal ein Tag zum Lustigsein kommt. Kalganow aber hatte ein Gesicht gemacht, als hätte er sich beschmutzt. »Eine Schweinerei ist das alles, diese ganze Volkstümlichkeit!« hatte er bemerkt und war beiseite gegangen. Sein besonderes Mißfallen hatte aber ein »neues« Liedchen zu einer munteren Tanzweise erregt, das davon handelte, wie Angehörige verschiedener Stände um die Liebe der Mädchen werben.

Fragt ein Adelsherr die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Doch die Mädchen sind der Ansicht, daß man so einen Herrn nicht lieben kann.

Hoher Herr wird kräftig schlagen,
und das mag ich nicht ertragen.

Dann kommt ein Zigeuner:

Ein Zigeuner fragt die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Aber auch einen Zigeuner können sie nicht lieben.

Der Zigeuner, der wird stehlen,
mag ihn nicht zum Liebsten wählen.

So kommen noch viele mit der gleichen Frage, auch ein Soldat:

Ein Soldat fragt die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Auch der Soldat wird geringschätzig abgewiesen.

Der Tornister auf dem Rücken,
wird sehr drücken, wenn …

Hier folgte ein zensurwidriger Vers, der allerdings ganz unbefangen vorgetragen wurde und bei den Zuhörern wahre Begeisterungsstürme auslöste.

Die Sache endete schließlich mit dem Kaufmann.

Reicher Kaufmann fragt die Mädchen,
ob sie ihn wohl lieben täten.

Und es zeigte sich, daß sie den sehr gern lieben würden:

Kaufmann wird viel Rubel raffen,
mir ein schönes Leben schaffen.

Kalganow war darüber richtig wütend geworden. »Das ist ja ein ganz modernes Lied!« hatte er laut bemerkt. »Wer nur so etwas verfaßt? Es fehlte nur noch, daß ein Eisenbahnaktionär oder ein Jude kommt und die Mädchen fragt – die würden gewiß alle übrigen aus dem Feld schlagen.« Und er hatte beinahe beleidigt hinzugefügt, daß er sich nun langweile, hatte sich aufs Sofa gesetzt und war eingeschlummert. Sein hübsches Gesichtchen war noch ein wenig blasser geworden und seitwärts auf das Sofapolster gesunken.

»Sieh nur, wie hübsch er ist«, sagte Gruschenka zu Mitja. »Ich habe ihn vorhin gekämmt, sein Haar ist wie Flachs und so dicht …« Sie beugte sich gerührt über ihn und küßte ihn auf die Stirn.

Kalganow schlug die Augen auf, blickte sie an, richtete sich auf und fragte mit dem Ausdruck höchster Besorgnis: »Wo ist Maximow?«

»Also um den macht er sich Sorgen!« sagte Gruschenka lachend. »Sitz doch ein Weilchen mit mir zusammen! Mitja, lauf und hole seinen Maximow!«

Es stellte sich heraus, daß Maximow keinen Augenblick mehr von den Mädchen wich. Nur ab und zu goß er sich ein Gläschen Likör ein, und Schokolade hatte er schon zwei Tassen getrunken. Sein Gesicht war dunkelrot geworden, die Nase blaurot; seine Augen hatten einen feuchten, süßlichen Schimmer bekommen. Er kam herbeigelaufen und erklärte, er wolle sogleich nach einer besonderen Melodei die Sabotiere tanzen.

»Man hat mich ja, als ich noch klein war, alle diese feinen Gesellschaftstänze gelehrt.«

»Geh du mit ihm, Mitja, ich werde von hier aus zusehen.«

»Ich auch, ich werde auch hingehen und zusehen!« rief Kalganow und lehnte so in der naivsten Weise Gruschenkas Angebot ab.

Es begaben sich also alle hin, um zuzusehen. Maximow führte seinen Tanz wirklich aus, erregte damit aber bei niemand, außer hei Mitja, sonderliches Entzücken. Der ganze Tanz bestand aus besonderen Sprüngen, wobei die Füße seitwärts gedreht wurden, mit den Sohlen nach oben; bei jedem Sprung schlug sich Maximow mit der flachen Hand auf eine Sohle. Kalganow fand keinen Gefallen daran; Mitja hingegen umarmte und küßte den Tänzer sogar.

»Vielen, vielen Dank! Vielleicht bist du erschöpft? Möchtest du ein Stückchen Konfekt, ja? Oder willst du vielleicht eine Zigarre?«

»Eine Zigarette.«

»Möchtest du etwas trinken?«

»Ich werde einen kleinen Likör trinken … Haben Sie kein Schokoladenkonfekt?«

»Da auf dem Tisch ist ja eine ganze Fuhre davon. Such dir etwas aus, du Taubenseele!«

»Nein, ich möchte welches mit Vanille … Für alte Männer … Hihi!«

»Nein, Bruder, diese besondere Sorte ist nicht da.«

»Hören Sie mal …« Der Alte beugte sich ganz dicht an Mitjas Ohr. »Sehen Sie dieses Mädchen da? Die Marjuschka, hihi! Ich möchte gern, wenn es möglich wäre, durch Ihre Güte mit ihr bekannt werden …«

»Nun sieh mal einer an, was du für Wünsche hast! Nein, Bruder, du redest Unsinn.«

»Ich tu‘ ja niemand was zuleide damit«, flüsterte Maximow wehmütig.

»Na schön. Hier wird zwar nur gesungen und getanzt, aber zum Teufel, warte ein Weilchen … Vorläufig iß und trink und sei lustig! Brauchst du Geld?«

»Wenn ich vielleicht nachher etwas bekommen könnte?« erwiderte Maximow lächelnd.

»Gut, gut …«

Mitja hatte einen glühend heißen Kopf. Er ging auf den Flur hinaus und von da aus auf die obere Galerie, die sich auch innen, auf der Hofseite, an einem Teil des Gebäudes hinzog. Die frische Luft belebte ihn. Er stand allein, in der Dunkelheit, und griff sich plötzlich mit beiden Händen an den Kopf. Seine zerstreuten Gedanken und alle seine Empfindungen flossen auf einmal zusammen, und alles wurde klar und hell. Aber es war eine furchtbare, entsetzliche Helligkeit! ›Wenn ich mich nun einmal erschießen will, welcher Zeitpunkt könnte geeigneter sein als der jetzige?‹ ging es ihm durch den Kopf. Ich sollte die Pistole holen und hier in diesem schmutzigen, dunklen Winkel allem ein Ende machen …‹ Fast eine Minute lang stand er unentschlossen da. Vorhin, als er im Wagen hierherjagte, hatte hinter ihm die Schande gestanden, der begangene Diebstahl und dieses Blut, dieses Blut! Doch da wäre es ihm noch leichter gefallen, sich das Leben zu nehmen, oh, viel leichter! Es war ja schon alles ausgewesen: er hatte sie verloren, hatte sie dem anderen abgetreten, sie war für ihn untergegangen, verschwunden – oh, da war es leichter für ihn, das Todesurteil über sich zu fällen; wenigstens erschien es als unvermeidlich, als notwendig: wozu sollte er noch auf der Welt bleiben? Aber jetzt – stand die Sache etwa jetzt noch so wie vorhin? Jetzt war wenigstens ein Gespenst, ein Schreckbild beseitigt: dieser »Frühere« war verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das furchtbare Gespenst hatte sich auf einmal in ein kleines, komisches Menschlein verwandelt, war ins Schlafzimmer geschickt und eingeschlossen worden. Daß es jemals zurückkehren würde, war nicht zu erwarten. Sie schämte sich, und er sah es ihr schon jetzt an den Augen an, wen sie liebte. Ach, gerade jetzt verlangte ihn zu leben, zu leben … Und doch durfte er nicht weiter leben, er durfte nicht – oh, was für eine furchtbare Lage!

›O Gott, mach den bitte wieder lebendig, den ich am Zaun niedergeschlagen habe! Laß diesen schrecklichen Kelch an mir vorübergehen? O Herr, du hast ja bereits für solche Sünder wie mich Wunder getan! Aber wie, wenn der alte Mann am Leben ist? Oh, dann werde ich die Schmach der übrigen Schande tilgen! Ich werde das gestohlene Geld zurückerstatten! Ich werde es zurückgeben, und wenn ich es aus der Erde hervorholen müßte … Es wird keine Spur der Schande übrigbleiben – nur in meinem Herzen wird sie lebenslänglich bohren! Aber nein, nein … O diese unmöglichen, kleinmütigen Gedanken! O diese unselige Lage!‹

Und doch war es ihm, als ob ihm ein heller Hoffnungsstrahl in der Dunkelheit aufleuchtete. Er verließ hastig seine Ecke, um zurückzueilen – zu ihr, wieder zu ihr, die für immer seine Königin war! Wiegt nicht eine einzige Stunde, eine einzige Minute ihrer Liebe das ganze übrige Leben auf, auch wenn es in den Qualen der Schande zugebracht wird? Diese ungestüme Frage ließ sein Herz erzittern. ›Zu ihr will ich, zu ihr allein, sie sehen, sie hören, an nichts denken, alles vergessen, wenn auch nur für diese Nacht, für eine Stunde, für einen Augenblick!‹ Vor dem Eingang zum Flur, noch auf der Galerie, stieß er mit dem Wirt Trifon Borissowitsch zusammen. Dieser machte auf ihn einen finsteren und besorgten Eindruck; wie es schien, kam er ihn suchen.

»Was gibt es, Trifon Borissowitsch? Suchst du mich?«

»Nein, Sie nicht«, erwiderte der Wirt offenbar erschrocken. »Warum sollte ich Sie suchen? Aber … Wo waren Sie denn?«

»Warum machst du so ein trübsinniges Gesicht? Bist du ärgerlich? Warte nur, du wirst bald schlafen gehen können … Wie spät ist es?«

»Es wird drei Uhr sein, oder sogar noch später.«

»Wir wollen Schluß machen!«

»Aber ich bitte Sie, das hat ja nichts zu sagen. Solange es Ihnen beliebt …«

›Was hat er nur?‹ dachte Mitja flüchtig und lief in das Zimmer, wo die Mädchen tanzten. Aber sie war nicht dort. In dem blauen Zimmer war sie auch nicht, dort schlief nur Kalganow auf dem Sofa. Mitja blickte hinter den Vorhang – da war sie. Sie saß in einer Ecke auf einem Kasten, hatte Arme und Kopf auf das danebenstehende Bett gelegt und weinte bitterlich, wobei sie sich nach Kräften zu beherrschen suchte und ihre Stimme unterdrückte, um nicht gehört zu werden. Als sie Mitja sah, winkte sie ihn zu sich heran, und als er bei ihr war, ergriff sie fest seine Hand.

»Mitja, Mitja, ich habe ihn ja geliebt!« begann sie flüsternd. »Ich habe ihn geliebt, die ganzen fünf Jahre, die ganze Zeit. Habe ich ihn geliebt oder nur meinen Zorn? Nein, ihn selbst! Ihn selbst! Ich lüge ja, wenn ich sage, daß ich nur meinen Zorn geliebt habe und nicht ihn! Mitja, ich war damals erst siebzehn Jahre alt, er war so freundlich zu mir, so heiter, Lieder hat er mir vorgesungen. Oder ist er mir damals nur so erschienen, weil ich noch ein dummes kleines Mädchen war? Aber jetzt, o Gott, jetzt ist er ein anderer, ein ganz anderer. Auch das Gesicht ist anders, völlig anders… Ich habe ihn gar nicht wiedererkannt. Ich fuhr mit Timofej hierher und dachte immerzu, während der ganzen Fahrt: Wie werde ich ihm entgegentreten, was werde ich sagen, wie werden wir einander ansehen? Meine Seele wollte vergehen, und da hat er mich wie aus einem Kübel mit Schmutz übergossen. Wie ein Schulmeister redet er, alles ist gelehrt und würdevoll, er empfing mich so feierlich, ich war ganz verblüfft. Ich konnte kein Wort herausbringen. Ich dachte anfangs, vielleicht geniert er sich vor seinem langen Begleiter. Ich saß da und sah die beiden an und dachte: Warum kann ich denn jetzt gar nicht mehr mit ihm reden? Weißt du, seine Frau hat ihn verdorben, die, die er heiratete, nachdem er mich im Stich gelassen hatte … Die hat ihn so umgewandelt. Ach, Mitja, diese Schmach! Oh, ich schäme mich, Mitja, ich schäme mich meines ganzen Lebens! Verflucht, verflucht sollen diese fünf Jahre sein, verflucht!« Und sie brach wieder in Tränen aus, ließ aber Mitjas Hand nicht los, sie hielt sie fest in ihrer.

»Mitja, Täubchen, warte, geh nicht fort, ich will dir ein einziges Wörtchen sagen«, flüsterte sie und hob auf einmal das Gesicht zu ihm auf. »Sag mir doch, wen liebe ich? Ich liebe hier einen einzigen Menschen. Wer ist dieser Mensch? Das sollst du mir sagen.« Auf ihrem vom Weinen geschwollenen Gesicht erstrahlte ein Lächeln, ihre Augen glänzten im Halbdunkel. »Vorhin kam ein Falke herein, da bekam mein Herz einen süßen Schreck. ›Du Närrin, das ist doch der, den du liebst!‹ flüsterte mein Herz. Du bist hereingekommen und hast alles erleuchtet. ›Aber was fürchtet er nur?‹ dachte ich. Denn du hattest Furcht, große Furcht, du warst nicht imstande zu sprechen. ›Er wird sich doch nicht vor denen hier fürchten?‹ dachte ich – als oh du vor jemand Angst haben könntest. ›Vor mir fürchtet er sich!‹ dachte ich. Nur vor mir … Fenja hat dir großem Dummkopf ja sicher erzählt, daß ich deinem Bruder Aljoscha aus dem Fenster zugerufen habe, ich hätte Mitenka ein Stündchen geliebt, doch jetzt sei ich weggefahren, um einen anderen zu lieben … Mitja, Mitja, wie konnte ich bloß glauben, daß ich nach dir einen anderen lieben würde! Verzeihst du mir, Mitja? Verzeihst du mir oder nicht? Liebst du mich? Liebst du mich?«

Sie sprang auf und faßte ihn mit beiden Händen an den Schultern. Mitja, stumm vor Entzücken, sah ihr in die Augen, in das lächelnde Gesicht, dann umarmte er sie fest und begann sie feurig zu küssen.

»Und verzeihst du, daß ich dich gequält habe? Ich habe ja euch alle aus Bosheit gequält. Ich habe den alten Mann aus Bosheit absichtlich um den Verstand gebracht … Erinnerst du dich, wie du einmal bei mir etwas getrunken und das Glas zerschlagen hast?« Daran habe ich gedacht und heute mein Glas ebenfalls zerschlagen; ich hatte auf mein unwürdiges Herz getrunken … Mitja, du mein Falke, warum küßt du mich nicht? Einmal hat er mich geküßt und sich losgerissen, sieht und hört bloß zu … Was hast du denn davon, daß du mir zuhörst? Küß mich, küß mich fester … Siehst du, so! Wenn man liebt, muß man auch ordentlich lieben! Deine Sklavin werde ich jetzt sein, deine Sklavin fürs ganze Leben. Es ist süß, Sklavin zu sein! Küß mich! Schlag mich, quäl mich, tu mit mir, was du willst … Oh, du müßtest mich geradezu foltern … Halt! Warte, später, so will ich nicht …« Sie stieß ihn plötzlich zurück. »Geh weg, Mitja! Ich will jetzt Wein trinken, betrinken will ich mich, und sobald ich betrunken bin, will ich tanzen! Ja, das will ich!«

Sie riß sich von ihm los und lief vor den Vorhang. Mitja folgte ihr wie trunken. ›Mag jetzt geschehen, was da will – für eine Minute Seligkeit gebe ich die ganze Welt hin!‹ Dieser Gedanke huschte ihm durch den Kopf. Gruschenka trank wirklich noch ein Glas Champagner auf einen Zug aus und war augenblicklich betrunken. Sie setzte sich mit glückseligem Lächeln in den Lehnstuhl, auf ihren früheren Platz. Ihre Wangen glühten, ihre Lippen brannten, die funkelnden Augen wurden trübe, ihr leidenschaftlicher Blick bekam etwas Lockendes. Sogar Kalganow spürte die Wirkung dieses Blickes und trat zu ihr.

»Hast du gemerkt, daß ich dich vorhin geküßt habe, als du schliefst?« fragte sie ihn lallend. »Ich bin jetzt betrunken, so ist das … Und du bist nicht betrunken? Warum trinkt denn Mitja nicht? Warum trinkst du nicht, Mitja? Ich habe getrunken, und du trinkst nicht …«

»Ich bin betrunken! Ich bin auch so schon betrunken … Von dir bin ich trunken, aber jetzt will ich mich auch an Wein betrinken.«

Er trank noch ein Glas, und – das kam ihm selber seltsam vor – von diesem letzten Glas erst wurde er betrunken, urplötzlich betrunken, während er bis dahin nüchtern gewesen war, wie er sich selbst erinnerte. Von diesem Augenblick an drehte sich alles um ihn im Kreis, als ob er Fieber hätte. Er ging umher, lachte, redete mit allen, und das alles gewissermaßen unbewußt. Nur ein einziges unveränderliches, brennendes Gefühl war alle Augenblicke spürbar, »wie eine glühende Kohle in der Seele«: daran erinnerte er sich später. Er trat zu ihr, setzte sich neben sie, sah sie an und hörte, was sie sagte … Sie aber war furchtbar redselig geworden, rief alle zu sich, winkte auf einmal ein Mädchen aus dem Chor heran, küßte sie und schickte sie wieder weg, oder segnete sie manchmal, indem sie mit der Hand ein Kreuz schlug. Vielleicht brach sie im nächsten Moment in Tränen aus. Viel Spaß machte ihr »das alte Männchen«, wie sie Maximow nannte. Er kam alle Augenblicke hergelaufen, um ihr die Hände »und jedes Fingerchen« zu küssen; zuletzt tanzte er noch einen Tanz nach einem alten Tanzlied, das er selbst sang. Besonders feurig hüpfte er zu dem Refrain:

Das Schweinchen grunzte chru-chru-chru,
das Kälbchen blökte mu-mu-mu,
das Entchen machte qua-qua-qua,
das Gänschen machte ga-ga-ga,
im Flur ein kleines Hühnchen lief,
das put-put, put-put, put-put rief.
Ja, so rief es,
ja, so lief es …

»Gib ihm etwas, Mitja«, sagte Gruschenka. »Schenk ihm etwas, er ist ja arm. Ach, die Armen, die das Schicksal zurückgesetzt hat … Weißt du, Mitja, ich werde in ein Kloster gehen. Nein, wirklich, das werde ich einmal tun. Aljoscha hat mir heute Worte gesagt, die fürs ganze Leben in meiner Seele haften werden … Ja … Aber heute wollen wir tanzen. Morgen will ich ins Kloster gehen, aber heute wollen wir tanzen. Ich will ausgelassen sein, ihr lieben Leute – was ist schon dabei? Gott wird es verzeihen. Wenn ich Gott wäre, würde ich allen Menschen verzeihen! ›Meine lieben Sünder!‹ würde ich sagen. ›Von heute an verzeihe ich euch allen!‹ Ich aber werde gehen und alle Menschen um Verzeihung bitten. ›Verzeiht, ihr guten Leute!‹ werde ich sagen. ›Ein dummes Weib – jawohl, das bin ich. Eine Bestie bin ich, ja, so ist es!‹ Aber ich will beten. Ich habe eine Zwiebel verschenkt. Eine Sünderin wie ich möchte beten! Mitja, laß sie tanzen, hindere sie nicht! Alle Menschen in der Welt sind gut, ohne Ausnahme. Es ist schön auf der Welt. Wenn wir auch böse sind – es ist doch schön auf der Welt. Wir sind böse und gut … Nein, sagt mir doch, ich möchte euch etwas fragen, kommt alle her, ich frage euch, beantwortet mir alle die eine Frage: Warum bin ich so gut? Ich bin ja doch gut, ich bin sehr gut … Nun also, warum bin ich so gut?« So lallte Gruschenka, die immer betrunkener wurde; schließlich erklärte sie geradezu, sie wolle jetzt selber tanzen. Sie stand aus ihrem Lehnstuhl auf, taumelte. »Mitja, gib mir keinen Wein mehr! Und wenn ich dich auch darum bitte – gib mir keinen! Der Wein beruhigt nicht. Alles dreht sich im Kreis, auch der Ofen, alles dreht sich im Kreis. Ich will tanzen. Alle sollen zusehen, wie ich tanze … Wie gut und schön ich tanze …«

Es war ihr mit dieser Absicht Ernst. Sie zog ihr kleines weißes Batisttaschentuch heraus und faßte es mit der rechten Hand an einem Zipfel, um es beim Tanz zu schwenken. Mitja ordnete geschäftig alles Nötige an; die Mädchen verstummten und machten sich bereit, auf den ersten Wink im Chor ein Tanzlied anzustimmen. Maximow kreischte vor Entzücken, als er hörte, daß Gruschenka selbst tanzen wollte. Er hüpfte vor ihr her und sang dazu:

»Seht, mein hübsches Schweinchen
mit den schlanken Beinchen
und dem Ringelschwänzchen,
macht ein schönes Tänzchen.«

Doch Gruschenka jagte ihn mit dem Taschentuch fort.

»Pst! Mitja! Warum kommen sie nicht? Alle sollen kommen und zusehen. Ruf auch die Eingeschlossenen … Warum hast du sie eingeschlossen? Sag ihnen, daß ich tanzen werde! Sie sollen auch sehen, wie ich tanze …«

Mitja ging mit den weit ausholenden Schritten eines Betrunkenen zu der verschlossenen Tür, hinter der sich die Polen befanden, und pochte mit der Faust dagegen.

»Heda, ihr! Ihr Podwysockis! Kommt heraus, sie will tanzen und läßt euch rufen!«

»Strolch!« schrie einer der beiden als Antwort.

»Und du bist ein subalterner Strolch! Ein jämmerlicher kleiner Schuft bist du, nun weißt du es!«

»Sie sollten lieber aufhören, sich über Polen lustig zu machen«, bemerkte Kalganow tadelnd; er hatte selbst mehr getrunken, als er vertragen konnte.

»Sei still, Knabe! Wenn ich ihn einen Schuft nenne, dann beschimpfe ich doch nicht ganz Polen. Ein einzelner Strolch macht nicht Polen aus. Schweig, lieber Junge, und iß ein Stückchen Konfekt!«

»Ach, ihr. Als ob ihr keine Menschen seid! Warum wollt ihr euch nicht vertragen?« sagte Gruschenka und trat vor, um zu tanzen.

Der Chor stimmte lauthals das Tanzlied »Ach du Heim, mein trautes Heim« an. Gruschenka warf den Kopf zurück, öffnete etwas die Lippen, lächelte, begann das Tuch zu schwenken und stand plötzlich, auf einem Fleck hin und her schwankend, ratlos mitten im Zimmer.

»Ich bin so schwach …«, sagte sie mit gequälter Stimme. »Verzeiht mir, ich bin so schwach, ich kann nicht … Ich bitte um Entschuldigung …«

Sie verbeugte sich vor dem Chor und machte dann nach allen Seiten Verbeugungen. »Ich bitte um Entschuldigung … Verzeiht.«

»Sie hat ein bißchen getrunken, das gnädige Fräulein … Sie hat ein bißchen getrunken, das hübsche gnädige Fräulein«, hörte man sagen.

»Sie hat sich betrunken«, erklärte Maximow kichernd den Mädchen.

»Mitja, führ mich weg … Nimm mich, Mitja«, bat Gruschenka kraftlos.

Mitja stürzte zu ihr, nahm sie auf die Arme und lief mit seiner kostbaren Beute hinter den Vorhang. ›Na, jetzt werde ich besser gehen!‹ dachte Kalganow, verließ das blaue Zimmer und machte beide Türflügel hinter sich zu. Doch das lärmende

Gelage im Saal dauerte an und wurde immer lauter und wilder. Mitja legte Gruschenka aufs Bett und sog sich mit einem Kuß an ihren Lippen fest.

»Rühr mich nicht an!« stammelte sie flehend. »Rühr mich nicht an, ehe ich nicht dir gehöre … Ich habe gesagt, daß ich dir gehören will, aber rühr mich jetzt nicht an … Schone mich … Während die beiden nebenan sind, geht es nicht. Er ist hier. Es hier zu tun, jetzt, das wäre gemein …«

»Ich gehorche! Ich verjage diesen Gedanken … Ich bin andächtig gestimmt!« murmelte Mitja. »Ja, hier wäre es gemein, verachtungswürdig!«

Und ohne sie aus seinen Armen zu lassen, kniete er neben dem Bett auf dem Fußboden nieder.

»Ich weiß, du bist zwar wie ein wildes Tier, aber du hast eine edle Gesinnung«, sagte Gruschenka mit schwerer Zunge. »Es muß in Ehren geschehen … Künftig wird es in Ehren geschehen … Und auch wir müssen ehrenhaft sein, nicht so wie die wilden Tiere, sondern gut … Bring mich fort, bring mich weit fort, hörst du? Ich will nicht hierbleiben, ich will weit, weit fort …«

»Ja, ja, unbedingt!« rief Mitja und preßte sie an sich. »Ich werde dich fortbringen, wir werden davoneilen. Oh, mein ganzes Leben würde ich für ein einziges Jahr hingeben, wenn ich nur wüßte, was mit diesem Blut ist!«

»Mit welchem Blut?« fragte Gruschenka verständnislos.

»Ach, nichts weiter!« antwortete Mitja zähneknirschend. »Gruscha, du willst, daß alles ehrenhaft ist – aber ich bin ein Dieb. Ich habe Katka Geld gestohlen…. Schmach und Schande!«

»Katka? Dem Fräulein? Nein, du hast es nicht gestohlen. Gib es ihr zurück, nimm es von mir! Warum machst du deshalb so ein Geschrei? Jetzt gehört dir alles, was ich habe. Was hat Geld für uns zu bedeuten? Wir vergeuden es ja ohnehin … Wir sind gerade die Richtigen, um vernünftig damit umzugehen! Wir beide sollten am besten hingehen und einen Acker pflügen. Mit diesen meinen Händen will ich die Erde aufscharren. Arbeiten muß man, hörst du? Aljoscha hat es gesagt. Ich werde nicht deine Geliebte sein, ich werde dir treu sein, ich werde deine Sklavin sein, ich werde für dich arbeiten. Wir werden zu dem Fräulein hingehen und uns beide vor ihr verneigen mit der Bitte, uns zu verzeihen, und werden dann von hier fortziehen. Und wenn sie uns nicht verzeiht, werden wir eben so fortziehen. Das Geld bring ihr wieder, aber liebe mich! Sie darfst du nicht lieben. Liebe sie nicht länger! Wenn du dich jedoch in sie verliebst, werde ich sie erwürgen … Ihr beide Augen mit einer Nadel ausstechen …«

»Dich liebe ich, dich allein! Auch in Sibirien werde ich dich lieben …«

»Was sollen wir in Sibirien? Aber gut, auch in Sibirien, wenn du willst, ganz gleich … Wir werden arbeiten … In Sibirien liegt Schnee. Ich fahre gern im Schlitten durch den Schnee … Und das Pferd muß ein Glöckchen haben … Hörst du, ein Glöckchen klingelt … Wo klingelt da ein Glöckchen? Es kommen Leute, jetzt klingelt es nicht mehr …«

Sie schloß kraftlos die Augen und schien im nächsten Moment einzuschlafen. Tatsächlich hatte ein Glöckchen in einiger Entfernung geklingelt und dann plötzlich geschwiegen. Mitja legte seinen Kopf an ihre Brust. Er hatte nicht bemerkt, wie das Glöckchen aufgehört hatte zu klingeln; er bemerkte gleichfalls nicht, daß auch die Lieder plötzlich verstummten und statt der Lieder und des Lärms im ganzen Haus auf einmal Totenstille herrschte. Gruschenka öffnete die Augen.

»Was ist das? Habe ich geschlafen? Ja … Das Glöckchen … Ich habe geschlafen und geträumt, ich fuhr im Schlitten über den Schnee … Das Glöckchen klingelte, und ich träumte vor mich hin … Mit einem lieben Menschen fuhr ich, mit dir. Und weil, weit weg ging die Fahrt. Ich umarmte und küßte dich, ich schmiegte mich an dich; ich fror, aber der Schnee glänzte so schön … Weißt du, wie es ist, wenn nachts der Schnee glänzt und der Mond scheint? Mir war, als wäre ich gar nicht auf der Erde … Da wachte ich auf … Aber mein Geliebter ist bei mir, wie schön …«

»Ja, bei dir«, murmelte Mitja und küßte ihr Kleid, ihre Brust, ihre Hände. Und auf einmal kam ihm etwas seltsam vor: Sie schien starr vor sich hin zu blicken, aber nicht zu ihm, nicht in sein Gesicht, sondern über seinen Kopf hinweg, unverwandt und seltsam regungslos. Auf ihrem Gesicht prägte sich Verwunderung, ja beinahe Schrecken aus.

»Mitja, wer guckt da zu uns herüber?« flüsterte sie plötzlich.

Mitja drehte sich um und sah, daß tatsächlich jemand den Vorhang auseinandergeschoben hatte und sie offenbar beobachtete. Und es schien auch nicht bloß einer zu sein … Er sprang auf und trat schnell auf die Gestalt zu.

»Kommen Sie hierher, bitte! Kommen Sie hierher zu uns!« sagte eine Stimme zu ihm, nicht laut, aber fest und nachdrücklich.

Mitja trat hinter dem Vorhang hervor und erstarrte. Das ganze Zimmer war voller Menschen; doch es waren nicht die von vorhin, sondern ganz andere … Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und er zuckte zusammen. Er erkannte alle diese Personen augenblicklich. Dieser hochgewachsene, beleibte Alte im Paletot, mit Uniformmütze und Kokarde, das war der Bezirkshauptmann Michail Makarowitsch. Und dieser schwindsüchtige Geck, der immer so blankgeputzte Stiefel trägt, das war der Gehilfe des Staatsanwalts. Er hat eine Uhr, die vierhundert Rubel gekostet hat; er hat sie mir mal gezeigt … Und dieser kleine junge Mann mit der Brille … Mitja hatte seinen Familiennamen vergessen, er kannte jedoch auch ihn, er hatte ihn schon gesehen, das war der Untersuchungsrichter, der erst vor kurzem von der Rechtsschule in unsere Stadt gekommen war. Und der hier, das war der Landkommissar Mawriki Mawrikijewitsch, den kannte er, das war ein guter Bekannter von ihm. Aber diese Männer mit den Blechabzeichen, wozu waren die da? Und dann noch zwei Leute, die wie Bauern aussahen … Und da an der Tür Kalganow und Trifon Borissowitsch …

»Meine Herren … Was wollen Sie, meine Herren?« begann Mitja; doch plötzlich rief er wie außer sich, als ob er auf einmal ein anderer geworden wäre, mit voller Stimme: »Ich verstehe!«

Der junge Mann mit der Brille trat vor zu Mitja und sagte würdevoll, aber etwas hastig: »Wir müssen mit Ihnen … Kurz, ich bitte Sie, hierherzukommen, hierher zum Sofa … Es liegt für uns die dringende Notwendigkeit vor, mit Ihnen zu sprechen.«

»Der alte Mann!« schrie Mitja fassungslos. Der alte Mann und sein Blut … Ich ver-ste-he!«

Und er setzte sich, oder genauer, er fiel auf einen neben ihm stehenden Stuhl.

»Du verstehst? Er hat verstanden! Du Vatermörder, du Ungeheuer, das Blut deines alten Vaters schreit nach dir!« brüllte plötzlich der alte Bezirkshauptmann und näherte sich Mitja mit dunkelrotem Gesicht; er war außer sich und zitterte am ganzen Körper.

»Aber das ist unzulässig!« rief der kleine junge Mann. »Michail Makarowitsch, Michail Makarowitsch! Das ist ordnungswidrig, das ist ordnungswidrig! Ich bitte Sie, mich allein reden zu lassen. Ein derartiges Verhalten habe ich von Ihnen nicht erwartet …«

»Aber das ist ja Irrsinn, meine Herren, Irrsinn!« rief der Bezirkshauptmann. »Sehen Sie ihn an! Er hat das Blut seines Vaters vergossen und ist nachts in betrunkenem Zustand bei einer liederlichen Dirne … Irrsinn, Irrsinn!«

»Ich möchte Sie dringend bitten, verehrter Michail Makarowitsch, für diesmal Ihre Gefühle zu beherrschen«, flüsterte der Gehilfe des Staatsanwalts dem Alten eilig zu. »Ich würde mich sonst genötigt sehen, Maßregeln zu ergreifen, um …«

Doch der kleine Untersuchungsrichter ließ ihn nicht zu Ende sprechen; er wandte sich an Mitja und sagte laut und würdevoll mit fester Stimme: »Herr Leutnant außer Diensten Karamasow, ich muß Ihnen eröffnen, daß Sie des in dieser Nacht begangenen Mordes an Ihrem Vater Fjodor Pawlowitsch Karamasow beschuldigt werden …«

Er sagte noch irgend etwas, auch der Gehilfe des Staatsanwalts schien noch etwas hinzuzufügen, Mitja hörte es zwar, verstand jedoch nichts mehr. Sein verstörter Blick irrte von einem zum anderen.

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