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Smith setzte seinen Weg fort. Er wunderte sich darüber, daß er für Cäsar bei bestimmten Adressen Nachforschungen anstellen sollte. Diese Arbeit hätte jedes Detektivbüro ebensogut übernehmen können. Aber es gab auch noch andere Dinge, die Mr. Smith nicht verstand.

 

Er wandte sich zur John Street Nr. 104. Hier sollte nach den Angaben im Notizbuch Mr. Welland wohnen.

 

Smith betrachtete das altmodische Haus zunächst von der gegenüberliegenden Straßenseite, dann klingelte er bei dem Hausmeister.

 

Ein alter Mann zwischen sechzig und siebzig öffnete die Tür. Er war freundlich und mitteilsam; im Knopfloch trug er die Bänder einiger Medaillen aus den afrikanischen Feldzügen.

 

»Sie wollen Mr. Welland sprechen?« fragte er erstaunt. »Aber der wohnt doch schon längst nicht mehr hier. Seit etwa zwanzig Jahren ist er fortgezogen. Das ist aber merkwürdig, daß Sie nach ihm fragen!« –

 

»Warum ist es denn so merkwürdig?«

 

Der Alte – er hieß Cummins – zögerte einen Augenblick, dann bat er Mr. Smith, hereinzukommen, und führte ihn in seine Wohnung, die im untersten Stock lag.

 

»Haben Sie Mr. Welland gekannt?« fragte Smith, als er Platz genommen hatte.

 

»Und ob!« entgegnete Mr. Cummins fast verächtlich und vorwurfsvoll. »Ich kenne ihn ebensogut wie meine eigene Hand. Ein netter, liebenswürdiger Herr. Er bewohnte die drei oberen Stockwerke.« Er schüttelte den Kopf. »Es war wirklich zu traurig, zu traurig.«

 

»Ich kenne nicht die ganze Geschichte«, erwiderte Smith.

 

Von Cäsar hatte er zwar verschiedenes über Welland erfahren, aber er traute ihm nicht. Man konnte sich nicht auf ihn verlassen. Cäsar hatte ihn in Dienst genommen und nützte ihn aus. Damit hatte Smith auch gerechnet. Aber er wollte, soweit es anging, auch Cäsar ausnützen. Und dieser war natürlich klug genug, um das zu wissen.

 

Mr. Cummins erzählte gern.

 

»Ach, Sie kennen nicht die ganze Geschichte? Nun, alles weiß ich eigentlich auch nicht. Aber was mir bekannt ist, sage ich Ihnen gern. Mr. Welland wohnte schon in diesem Haus, bevor er heiratete. Nach seiner Hochzeitsreise kam er wieder zurück, und später wurde ihm hier auch eine Tochter geboren. Er war sehr glücklich, aber seine Frau schien sich nicht mit ihm zu verstehen. Sie hatte viele Wünsche, wollte dauernd neue Kleider und Schmuckstücke haben. Mr. Welland, dessen Hauptinteresse künstlerischen Dingen galt, war das gar nicht recht.

 

Acht Monate nach der Geburt des kleinen Mädchens brachte Mr. Welland einen Herrn zum Essen mit. Ich weiß es genau, weil ich damals bei Tisch bediente. Es war ein sehr hübscher junger Mann – seinen Namen habe ich im Augenblick vergessen.«

 

»Hieß er vielleicht Valentine?«

 

»Ja, ganz recht! Wie gesagt, ein wirklich eleganter junger Mann, aber ein niederträchtiger Charakter. Er hatte viel Geld, ein Auto und ein großes Haus am Belgrave Square. Mir fiel es schon immer auf, daß er zu Besuch kam, wenn Mr. Welland ausgegangen war. Manchmal kam er allerdings auch, wenn er den Hausherrn antraf, aber nur sehr selten. Eines Tages hatte Mr. Welland dann eine furchtbare Auseinandersetzung mit seiner Frau wegen eines Ringes, den Valentine ihr geschenkt hatte, und als er am Nachmittag zurückkam, war sie fort und hatte ihr Kind mitgenommen. Sie war mit Valentine nach den Vereinigten Staaten gefahren. Man hat kaum wieder etwas von ihr gehört. Mr. Welland nahm sich die Sache sehr zu Herzen. Zuerst fürchteten wir, daß er den Verstand verlieren würde. Er kam zu mir in die Wohnung und sagte: ›Cummins, früher oder später stirbt dieser Kerl unter meinen Händen‹.«

 

»Was ist denn aus Mrs. Welland geworden?« fragte Smith.

 

Cummins schüttelte den Kopf.

 

»Die ist gestorben. Ich habe zufällig vor zwei Jahren davon gehört. Sie und ihr Kind starben am gelben Fieber, wenn ich mich nicht sehr irre. Aber es ist merkwürdig, daß Sie gerade jetzt hierherkommen und sich nach Mr. Welland erkundigen.« Der Hausmeister stand auf und ging zu einer Kommode. »Ich habe heute morgen eine Schublade aufgeräumt, und da fand ich dieses Bild. Das schenkte er mir an seinem Hochzeitstag.«

 

Smith sah das Gesicht eines gebildeten Mannes. Besonders fielen ihm die hohe Stirn, die lange, gerade Nase, das feste Kinn und der energische Gesichtsausdruck auf.

 

»Können Sie mir das Bild leihen, damit ich einen Abzug davon machen lassen kann?«

 

Cummins sah unschlüssig drein.

 

»Ich möchte mich eigentlich nicht davon trennen. Sehen Sie, hier steht eine Widmung. Aber ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Wenn Sie dafür bezahlen wollen, lasse ich beim Fotografen eine Aufnahme davon machen.«

 

»Damit bin ich einverstanden«, sagte Smith und reichte ihm eine Pfundnote, um das Geschäft abzuschließen.

 

Verwundert verließ er dann die John Street. Welche Absicht mochte Cäsar nur verfolgen, wenn er ihn in ein Haus schickte, das Welland schon längst verlassen hatte? Sicher hatte der Mann doch durch Detektive erfahren, daß Welland nicht mehr in der John Street wohnte.

 

Als Smith zum Hotel zurückkam, erwartete er eine Mitteilung. Cäsar hatte ihm noch gesagt, daß er Paris mit dem Mittagszug verlassen und am Abend in London eintreffen würde.

 

Aber es war weder ein Brief noch ein Telegramm von ihm angekommen.

 

Smith ging auf sein Zimmer, das jetzt von seinem Vorgänger geräumt war, setzte sich in einen Sessel und überdachte seine Lage. Er war in die Dienste eines der gefährlichsten Leute getreten, die es überhaupt auf der Welt gab, und weil er einen Polizisten in die Seine geworfen hatte, mußte er jetzt praktisch Detektivarbeit leisten!

 

Smith war neugierig, welche Schurkereien Cäsar von ihm verlangen würde. In Paris wäre er gern noch geblieben, um Näheres über die gefesselte Frau auszukundschaften. Er selbst hatte schon viel durchgemacht, aber der Anblick dieser Frau hatte ihn erschüttert. Zweifellos war sie Cäsars Gefangene, und die Stimme, die im Dunkeln kommandiert hatte, war die Madonna Beatrices. Was hatte diese Frau wohl getan, und warum behielt Cäsar sie bei sich? Sonst kam es ihm doch nicht darauf an, seine Feinde auf dem schnellsten Weg beiseitezuschaffen.

 

Wenn Cäsar zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte: »Ermorden Sie diese Frau – ich habe nicht den Mut dazu«, so hätte er das verstanden. Aber er hätte den Befehl keineswegs kaltblütig ausgeführt, denn er tötete keine Frauen.

 

Smith folgte einem plötzlichen Impuls, ging zum Britischen Museum, setzte sich dort in die Bibliothek und frischte seine Kenntnisse über die Familie Borgia wieder auf.

 

Er ließ sich eine kleine Monographie über Alexander VI. und die Borgias geben, die ein amerikanischer Professor geschrieben hatte. Nach zwei Stunden hatte er das Buch von Anfang bis zu Ende durchgelesen.

 

Nach seiner Ansicht gehörten Zufälligkeiten zwar zum normalen Leben, aber er fand es doch seltsam, daß ein anderer Herr dasselbe Buch verlangte, während er eifrig darin las. Er erfuhr das, als er es zurückgab.

 

»Ich freue mich, daß Sie es nicht länger behalten haben«, sagte der Beamte und atmete auf. Nachdem er eine Notiz gemacht hatte, brachte er das Buch einem alten Herrn, der auf einem Stuhl in der Nähe wartete. In den alten, faltigen Händen hielt der Mann einen Schirm. Er wandte Smith sein hartes, zerfurchtes Gesicht zu und schaute ihn vorwurfsvoll an. Dann nahm er das Buch und ging zu einem der Lesetische.

 

»Man sollte nicht glauben, daß ein Mann mit einem Millionenvermögen sich hierhersetzt und auf ein Buch wartet, das er im Laden für ein paar Schillinge kaufen kann«, meinte der Beamte, als er zurückkam.

 

»Millionenvermögen?« wiederholte Smith verwundert und betrachtete den Alten genauer.

 

»Das ist doch Mr. Ross! Haben Sie noch nichts von ihm gehört? Er ist äußerst sparsam und geizig. Der würde lieber zehn Meilen weit laufen, als einen Schilling ausgeben.«

 

Smith lachte.

 

»Ich weiß noch etwas anderes von ihm. Er kann es nicht leiden, wenn andere Leute schnarchen.«

 

Smith betrachtete den alten Herrn sehr genau, bevor er die Bibliothek verließ. Der Mann mußte etwa siebzig Jahre alt sein. Auch fiel Smith die schäbige Kleidung des Millionärs auf.

 

Er kehrte zum Hotel zurück, aß zu Abend und hatte eigentlich die Absicht, ins Theater zu gehen. Aber als er in die Halle trat, reichte ihm der Portier einen Brief. Die Adresse war mit Maschine geschrieben.

 

Er öffnete den Umschlag.

 

›Beobachten Sie Ross, seine Rechtsanwälte sind Baker und Sepley, 129, Great James Street. Wenn er dorthin geht oder die Leute zu sich kommen läßt, muß er sofort erledigt werden.‹

 

In der rechten unteren Ecke stand: »Quais Fleurs.« Das sollte zugleich eine Mahnung und ein Erkennungszeichen sein. Auch die Mitteilung war mit Maschine geschrieben.

 

Das war also Cäsars Absicht! Deshalb hatte er ihn nach London geschickt und Zimmer 41 für ihn belegt.

 

Er steckte den Brief in die Tasche und grinste.

 

Zu schnell hatte sich der großzügige Cäsar ihm gegenüber in einen Tyrannen verwandelt. Smith hatte sich entweder mit der Rolle eines gedungenen Mörders abzufinden, dem bald die Londoner Polizei auf den Fersen sein würde, oder Cäsar zeigte ihn wegen eines gewissen Vorfalls in Frankreich an. Nun, auf jeden Fall ging aus dem Schreiben hervor, daß sich Cäsar in London aufhielt. Und das war eine große Neuigkeit.