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Ein Besuch beim Amtsvorsteher ergab auch kein befriedigendes Resultat. Margarete Stuart war auf einer Farm drei Meilen außerhalb Beverley Manor gestorben, und seit ihrem Tode hatte die Farm zweimal ihren Besitzer gewechselt.

 

»Vor zwanzig Jahren?« sagte der Farmer, den Larry aufsuchte. »Vor zwanzig Jahren war das Haus hier so eine Art Genesungsheim. Es wurde von einer Frau geleitet, die kranke Leute aufnahm.«

 

Wo die Frau geblieben war, konnte er nicht sagen. Aus dem Dorf war sie nicht, und er glaubte gehört zu haben, daß sie gestorben wäre.

 

»Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen«, fuhr er fort, »um auf ihren Namen zu kommen. Ich habe erst gestern einem Herrn gesagt, daß er sich am besten in Somerset House erkundigen könnte und –«

 

»Ein Herr?« unterbrach Larry schnell. »Hat sich denn jemand nach ihr erkundigt?«

 

»Ja, Sir, ein Herr aus London«, war die Antwort. »Er war im Auto von London gekommen und hat mir fünfzig Pfund angeboten, wenn ich ihm den Namen der Frau verschaffen könnte, die das Genesungsheim hier geleitet hat, und sogar hundert Pfund, wenn ich ihm irgend etwas über eine Dame mitteilen könnte, die hier vor zweiundzwanzig Jahren gestorben ist. Ihr Name war Stuart.«

 

»Wirklich?« fragte Larry, jetzt völlig bei der Sache. »Wie sah denn der Herr aus?«

 

»Er war ziemlich groß, sein Gesicht konnte man aber nicht deutlich sehen, weil er seinen Mantel bis über das Kinn hinauf zugeknöpft hatte. Es fiel mir aber auf, daß ihm der kleine Finger der linken Hand fehlte.«

 

Den Nachhauseweg legten beide, Larry und Diana, schweigend und in Gedanken versunken zurück. Der Wagen suchte sich schon seinen Weg durch den lebhaften Verkehr auf der Westminster Bridge Road, als er auf ihren Besuch in Beverley Manor zurückkam.

 

»Wer hat es so eilig, Informationen über die Stuarts zu erhalten, daß er sogar fünfzig Pfund dafür bezahlen will? Wer ist seine Tochter Clarissa, und wie kann er überhaupt eine Tochter Clarissa haben, wenn seine einzige Tochter in Beverley Manor begraben liegt?«

 

»Sie erkundigten sich doch bei dem Steinsetzmeister, als wir nach Beverley Manor kamen. Konnte der Ihnen denn keine Auskunft geben?« fragte das junge Mädchen.

 

»Der Gedenkstein ist von Stuart bestellt worden, der die Gewohnheit hatte, täglich nach dem Kirchhof zu kommen und am Grabe zu sitzen. Er war erst in vergangener Woche dort, um ihn vor dem Aufstellen zu sehen.«

 

Gedankenvoll nagte er an seiner Unterlippe.

 

»In dem Zeitraum zwischen seinem Besuch in Beverley Manor und der Nacht seines Todes muß Stuart entdeckt haben, daß er noch ein zweites Kind hatte.« Er schüttelte den Kopf. »So was gibt’s heutzutage nicht mehr«, sagte er bestimmt, »wenigstens nicht im wirklichen Leben.«

 

Er hielt sich einige zehn Minuten bei dem Kommissar auf, fuhr dann sofort in die Stadt, und das junge Mädchen sah ihn nicht vor sieben Uhr abends wieder.

 

»Ich hab’s!« rief er frohlockend.

 

»Was denn? – Den Mörder?« fuhr sie hoch.

 

»Nein, nein – Stuarts Geschichte. Ist schon eine Antwort auf meine Kabeldepesche gekommen?«

 

Diana schüttelte den Kopf.

 

»Das macht nichts«, sagte er lebhaft und marschierte im Büro auf und ab. »Ich habe die Eintragung der Trauung gefunden. Im August 1897 fand die Trauung statt und wurde in einer Kirche in Highgate gefeiert. Und wissen Sie, was dann passiert ist?«

 

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie langsam.

 

»Sie sollen es gleich hören. Gordon Stuart, zu der Zeit noch ein junger Mann, war besuchsweise in England. Ich habe herausgefunden, daß er vom Juni bis August im ›Cecil‹ gewohnt hat. Der Name seiner Braut war Margaret Wilson, er heiratete sie und kam dann im März 1898 nach dem Hotel ›Cecil‹ zurück, aber allein. Im Hotel haben sie mir erzählt, daß er zwei Tage später nach Kanada abreiste. Dann habe ich den Vikar der Kirche, in der er getraut wurde, aufgesucht, und dort habe ich meinen großen Fund gemacht.«

 

Er hielt inne und fuhr sich stirnrunzelnd durch die Haare.

 

»Ich gäbe was drum, wenn ich wüßte, wer der lange Mann war, dem der kleine Finger an der linken Hand fehlte«, brummte er.

 

»Wieso?« meinte sie überrascht.

 

»Er ist einen Tag vor mir bei dem Vikar gewesen«, erwiderte Larry verstimmt. »Hier haben Sie die ganze Geschichte, wie sie Stuart dem Vikar erzählte, den er am Tage vor seiner Abreise am Strand traf. Er sollte nie wieder nach hier bis vor ungefähr neun Monaten zurückkehren.

 

»Der Vikar, der die Trauung vollzogen hatte, erinnerte sich noch deutlich der näheren Umstände. Wie er sagte, wäre Stuart ein sehr nervöser Mensch gewesen, der in steter Furcht vor seinem Vater, einem reichen Landbesitzer in Kanada, lebte. Bei einer Tasse Tee im ›Cecil‹ vertraute ihm Stuart an, daß er seine Frau zurückließe und nach Kanada führe, um seinem Vater die Neuigkeit seiner Heirat beizubringen. Er war in großer Sorge, was sein Vater dazu sagen würde. Der langen Rede kurzer Sinn war, daß er am nächsten Tage London verlassen, bei der ersten passenden Gelegenheit seinem Vater reinen Wein einschenken würde, um dann zurückzukehren und seine Frau zu holen.

 

»Ich zweifele nicht im mindesten daran, daß Stuart seinem Vater nichts erzählte, daß er das Geheimnis seiner Heirat sorgfältig hütete und schließlich in der Besorgnis, daß man doch dahinterkommen würde, alle Verbindung mit seiner Frau abbrach.«

 

»Man soll über die Toten nichts Böses sagen«, versetzte das junge Mädchen kopfschüttelnd, »aber sehr anständig hat er nicht gehandelt.«

 

»Stimmt«, sagte Larry. »Es war feige. Aber auf jeden Fall muß er seiner Frau eine recht beträchtliche Summe gegeben haben, denn als der Vikar sie wiedersah, lebte sie in guten Verhältnissen. Drei Monate später, im Juni 1898, wurde sein Kind geboren – sein Kind, das er niemals sehen sollte, von dem er höchstwahrscheinlich niemals gehört hatte, bis ihn vielleicht nach Jahren Gewissensbisse nach England brachten, um Weib und Kind aufzufinden. Wahrscheinlich hat er sich an ein Auskunftsbüro gewandt, und das Resultat war die Entdeckung auf dem Kirchhof in Beverley Manor – das Grab seines Weibes und seiner Tochter.«

 

»Wer ist denn aber Clarissa?« fragte sie, und Larry zuckte mit den Achseln.

 

»Das ist Rätsel Nummer zwei und muß noch gelöst werden.«

 

Das junge Mädchen schwieg, und ihre hübschen Brauen runzelten sich nachdenklich. Plötzlich legte sie den Federhalter fort und blickte ihn über den Tisch hinweg mit einem triumphierenden Lächeln an.

 

»Sie haben es gefunden?« fragte er eifrig, und sie nickte.

 

»Ich glaube, das war eines der leichtesten Probleme«, sagte sie ruhig, »und ich muß furchtbar dumm sein, daß ich nicht früher daran gedacht habe. Haben Sie den Geburtsschein?«

 

»Noch nicht. Wir wollen morgen versuchen, ihn aufzufinden.«

 

»Die Mühe kann ich Ihnen ersparen«, fuhr Diana fort. »Clarissa ist die andere Zwillingstochter.«

 

»Zwillinge!« stammelte Larry.

 

»Das liegt doch auf der Hand«, sagte sie. »Die arme Mrs. Stuart hatte Zwillinge, einer von ihnen starb, und der andere ist Clarissa, von deren Existenz Stuart vielleicht erst wenige Stunden vor seinem Tode erfuhr.«

 

Larry starrte sie ehrfürchtig an.

 

»Wenn Sie Chefkommissarin der städtischen Polizei sind, werde ich außerordentlich dankbar sein, wenn Sie mich als Sekretär anstellen würden. Ich habe das Gefühl, als ob ich noch eine Menge zu lernen hätte.«