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Diana Ward blickte ihren Chef an, und neu erwachtes Interesse sprach aus ihren klaren Augen.

 

»Braille«, sagte er gedämpft, »das ist doch die Schriftsprache der Blinden?«

 

»Ja«, sagte sie. »Es ist eine Art Punktierschrift, das Verhältnis der kleinen Punkte zueinander bildet einen Buchstaben. Wenn blinde Leute schreiben, gebrauchen sie ein kleines Instrument, eine Art Griffel, und einen Führer für diesen. Das hier ist aber in großer Eile und von jemand geschrieben worden, der keinen Führer hatte. Ich kann ja fühlen, wie unregelmäßig punktiert worden ist. Die Unleserlichkeit der Worte, die ich nicht entziffern kann, ist beinahe ebenso durch das schlechte Schreiben wie durch den Einfluß des Wassers verursacht worden.«

 

Er hielt dies merkwürdige Beweisstück in beiden Händen und betrachtete es eingehend.

 

»Könnte Stuart das mit seinem Bleistift gemacht haben?«

 

»Haben Sie ihn gefunden?« fragte sie schnell.

 

»Nein«, sagte Larry verdrießlich, »aber ich habe gefunden, wozu der Bleistift gebraucht wurde.«

 

Er öffnete das Paket, das er mitgebracht hatte, und zeigte ihr das Hemd mit seiner tragischen Botschaft auf der Innenseite.

 

»Warum hat er innen im Hemd geschrieben«, fragte Larry nachdenklich, »und warum auf der linken Seite?« Diana verstand, was er meinte.

 

»Er war gezwungen, auf der linken Seite zu schreiben, wenn er die rechte Hand gebrauchte«, sagte sie. »Aber warum nur auf der Innenseite?«

 

»Ich hab’s!« rief Larry triumphierend. »Er hat seinen letzten Willen dahin geschrieben, damit die Aufzeichnungen nicht von irgend jemand anders entdeckt werden konnten. Hätte er auf die Außenseite geschrieben, wäre es wahrscheinlich gesehen und sicherlich vernichtet worden.«

 

Sie schauderte zusammen.

 

»Ich bin noch nicht ganz abgehärtet«, sagte sie mit einem halben Lächeln. »Ich glaube, Sie haben recht. Wenn wir wirklich von der Annahme ausgehen, Stuart hat das in dieser Weise aus dem Grunde niedergeschrieben, um es vor den Augen einer dritten Person zu verbergen, müssen wir auch annehmen, daß eine solche dritte Person existiert. Mit anderen Worten: es war jemand zugegen, den er fürchtete – der ihm, wenn Sie wollen, Todesangst einjagte –, und der Mord war vorsätzlich, denn Stuart mußte ja eine Zeitlang in der Gewalt von irgend jemand gewesen sein, bevor er sein trauriges Ende fand.«

 

Sie stockte plötzlich und senkte errötend ihre Augen, als sie Larrys Blick begegnete, der fest auf sie gerichtet war.

 

»Sie sind ein Prachtmädel«, sagte er leise, »und ich muß mich sehr in acht nehmen, daß ich meinen Posten hier nicht verliere.« Er sah auf seine Uhr. »Jetzt ist es aber höchste Zeit, daß Sie nach Hause gehen. Ich will ein Taxi bestellen – wohnen Sie weit von hier?«

 

»Nein, nicht besonders. Charing Croß Road.«

 

»Ich werde Sie nach Hause bringen«, sagte Larry. »Es ist ja beinahe ein Uhr.«

 

Sie hatte ihren Mantel bereits angezogen und sagte, als sie ihren Hut aufsetzte:

 

»Danke bestens, ich gehe lieber allein, es ist wirklich nicht weit. Und übrigens, Mr. Holt, möchte ich Sie bitten, mich nicht immer nach Hause bringen zu wollen, wenn es wirklich mal später geworden ist. Ich bin daran gewöhnt, allein zu gehen, und möchte auch keinen Wagen haben.«

 

»Darüber sprechen wir noch«, versetzte Larry, der eilig das Formular einer Kabeldepesche ausfüllte. »Wenn das Kabel sofort expediert wird, muß es noch gestern zur Teezeit beim Polizeichef in Calgary ankommen!«

 

»Gestern?« fragte sie erstaunt. »Gestern? – Aber natürlich, die sind ja dort um neun Stunden gegen die Greenwichzeit zurück.«

 

Larry stöhnte. »Um Sie zu fangen, muß man, weiß Gott, früher aufstehen.«

 

Sie gingen zusammen fort, und es stellte sich heraus, daß ihre kleine Wohnung auf seinem Wege nach Richmond Park lag.

 

Er fand den geduldigen Sunny im Begriff, seinen Pyjama bereitzulegen.

 

»Sunny«, sagte Larry, als er in Pyjama und geblümtem Schlafrock eine Tasse Schokolade trank, »irgendwo in dieser Stadt lebt ein recht unangenehmer Herr, Name unbekannt.«

 

»Davon wird’s wohl noch mehrere geben, Sir«, erwiderte Sunny.

 

»Und irgendwo in unserem schönen England lebt ein anderer Mann, der Henker. Meine Lebensaufgabe soll es sein, die beiden Menschen zusammenzubringen.«

 

Als er am nächsten Morgen um halb acht nach Scotland Yard kam, war das junge Mädchen schon im Büro und hatte die umfangreiche Korrespondenz, die täglich bei jedem Abteilungschef im Polizeipräsidium einläuft, sorgfältig auf seinem Schreibtisch sortiert.

 

»Soeben ist eine Kabeldepesche eingelaufen«, sagte sie, »aber ich habe sie nicht geöffnet. Sie müssen mir überhaupt sagen, was ich mit Telegrammen und Kabeln machen soll.«

 

»Alle aufmachen. Ich erhalte keinerlei private Mitteilungen nach hier.«

 

Er nahm das Telegramm, das sie ihm hinhielt.

 

»Calgary! Das ist ja riesig schnell gegangen.« Er riß es auf, und sein Mund öffnete sich vor Erstaunen, als er die folgenden Worte las:

 

»Stuart hatte kein Kind. War unverheiratet.«

 

»Reinfall Nummer eins«, sagte er.

 

Sie nahm das Telegramm aus seiner Hand und sah nach der Zeit der Aufgabe.

 

»Das ist ein gewöhnliches Auskunftstelegramm.«

 

»Was meinen Sie denn mit einem gewöhnlichen Auskunftstelegramm?« fragte Larry gutgelaunt.

 

»Es muß direkt nach seinem Einlaufen beantwortet sein, und zwar nach den vorliegenden Personalinformationen. Mit anderen Worten: Der Mann, der die Antwort schickte, hat sich nicht die Mühe gegeben, weitere Recherchen anzustellen, hat vielleicht jemand im Büro gefragt: ›War Stuart verheiratet?‹ – und hat dann auf die Auskunft hin, daß Stuart Junggeselle war, die Antwort abgesandt.«

 

Larry faltete die Depesche zusammen und legte sie in seinen Schreibtisch.

 

»Wenn sie drüben wissen, daß Stuart unverheiratet war, so wird dadurch die ohnehin schon unklare Situation noch verwickelter. Wir haben hier einen Mann, der augenscheinlich ermordet wurde und wenige Augenblicke vor seinem Tode heimlich sein Testament auf die Innenseite seines Hemdes schreibt. Es ist übrigens sehr leicht möglich, daß er das in Gegenwart seiner Mörder ausgeführt hat, ohne daß diese es bemerkten, und ich glaube, ich irre mich darin nicht.«

 

»Denselben Gedanken habe ich auch gehabt«, gab sie zu. »Er wurde ermordet und hinterließ auf seiner Hemdfront ein Testament, in dem er sein gesamtes Vermögen seiner Tochter vermachte. Ein vernünftiger Mann erfindet doch in einem solchen Augenblick wirklich keine Tochter, folglich muß der Polizeichef in Calgary unrecht haben.«

 

»Es steht aber ebenfalls fest, daß er weder in Calgary noch in Kanada verheiratet war. Das wäre doch sicher bekannt geworden«, sagte das junge Mädchen. »Geheimtrauungen sind vielleicht in einer großen Stadt möglich, aber niemals in kleinen Plätzen, wo alle einander kennen – augenscheinlich lebte er auf einer Farm, nicht in der Stadt, er hätte dort eine Heirat nicht verborgen halten können.«

 

Sie blickte nachdenklich auf den Schreibtisch.

 

»Wenn er sich heimlich verheiratet hat«, sagte sie langsam, »sollte das nicht in – in –«

 

»Selbstverständlich in London«, nickte Larry. »Kabeln Sie an den Polizeichef in Calgary und verlangen Sie Einzelheiten über Stuarts Reisen und Datum seiner vorletzten Reise nach London.«