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Dearborn umschlang ihre Hüfte und zog sie aus dem »Beobachtungszimmer« in den Salon. Als er sie losließ, gaben ihre Knie unter ihr nach und sie brach auf dem Boden zusammen.

 

»Alles muß in geziemender Weise ausgeführt werden«, sagte Dr. Judd ernsthaft. »Wir dürfen keine rohe, pöbelhafte Szene zulassen. Das ist doch auch deine Ansicht, Bruder?«

 

»Ganz und gar, mein Lieber«, antwortete David Judd.

 

Diana hatte ihren zitternden Körper halb aufgerichtet auf die Arme gestützt und starrte David an.

 

»Was haben Sie mit ihm vor?« rief sie verstört.

 

Von neuem blickten sich die Brüder an.

 

»Erzähle es ihr doch«, sagte David freundlich.

 

Dr. Judd schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube, es ist besser, du teilst ihr das mit«, antwortete er. »Du bist in solchen Angelegenheiten so außerordentlich feinfühlig und vergiß nicht«, fügte er hinzu, »daß sie deine Frau ist.«

 

David hatte sich hingesetzt, und sein unbewegliches Gesicht blickte über die Stuhllehne auf Diana hinunter.

 

»Wenn ich mit dem Vorlesen fertig bin«, sagte er, »werde ich ihn ertränken.«

 

Sie fuhr entsetzt hoch.

 

»Mein Gott«, flüsterte sie schweratmend.

 

Wie ein Blitz kam ihr die Erkenntnis der fürchterlichen Wahrheit. Die beiden waren wahnsinnig! Wahnsinnige, die den äußeren Anschein völliger Gesundheit hatten, die Jahre hindurch Tag für Tag mit gesunden Menschen Geschäfte gemacht und nicht ein einziges Mal den geringsten Verdacht erweckt hatten, wie zerfressen ihre Moralanschauungen in Wirklichkeit waren. Sie schrak vor ihnen zurück, weiter und weiter, bis ihr Rücken sich gegen die Täfelung der gegenüberliegenden Wand drängte. Sie waren die Mörder ihres Vaters! Sie glaubte den Verstand zu verlieren, und grub die Nägel ihrer Finger in ihre Handflächen in dem krampfhaften Bemühen, gegen die drohende Ohnmacht zu kämpfen. Wahnsinnig, und alle Welt sah und sprach täglich diese beiden, ohne das geringste zu vermuten!

 

»Soll ich jetzt vorlesen?« fragte David unbewegt.

 

»Ja, ja, lesen Sie bitte«, rief sie hastig.

 

Sie wollten Larry töten, wenn er mit Lesen fertig war!

 

Das war der einzige Gedanke, der sie quälte und peinigte, als sie ihr verzerrtes Gesicht dem Manne zuwandte. Die Eitelkeit dieses Menschen, der nur seiner fixen Idee lebte, war geschmeichelt, und seine Erregung verriet sich im Gestammel seiner Worte, als er die ersten beiden Seiten seines Manuskriptes las.

 

Dann wurde seine Sprache ruhiger, und in einer ihr selbst unverständlichen Weise begriff das junge Mädchen, daß er diesen trockenen toten Worten eine Schönheit verleihen konnte, die nur sein eigenes krankes Gehirn sah, die er aber selbst ihr zu ihrer eigenen Verwunderung verständlich machen konnte.

 

Dr. Judd war von seinem Stuhl heruntergeglitten und saß mit gekreuzten Beinen auf dem riesigen Bärenfell vor dem Kamin. Seine Hände waren gefaltet, und mit großen Augen blickte er andächtig auf seinen Bruder. Und hier drängte sich dem jungen Mädchen eine andere merkwürdige Beobachtung auf. Diese Zeilen, die David so wunderbar erschienen, begeisterten in gleicher Weise den anderen, und wenn er gelegentlich selbstbewußt, wie um den ihm gebührenden Beifall einzuheimsen, eine Pause machte, war es immer der Doktor, der diesem Wunsche zuvorkam.

 

»Wunderbar, ganz wunderbar! Ist er nicht ein Genie, Miß Stuart?« fragte Stephan.

 

Sie blickte schnell zu David hinüber, glaubte ihn verlegen unter diesen Lobsprüchen zu sehen, aber er saß kerzengerade auf seinem Stuhl, ein selbstzufriedenes Lächeln auf seinen breiten Zügen und den Ausdruck herablassenden Wohlwollens in seinen Augen. Und beide hatten die Absicht, zu morden! So manche Leute waren schon in diesem fürchterlichen Hause ermordet worden, dachte Diana in verständnisloser Verwunderung. Hatten sie immer hier gesessen, während ihre Opfer den letzten verzweifelten Kampf in jenem entsetzlichen Verließ auskämpften, der eine vorlesend, und der andere jenen abgedroschenen Phrasen lauschend, jenen uralten Situationen, die beide für das Werk eines Übergenies hielten?

 

»Das ist noch nicht einmal meine beste Arbeit«, sagte David, als ob er in ihren Gedanken gelesen hätte. »Es gefällt Ihnen natürlich?«

 

»Sehr«, antwortete das junge Mädchen leise. »Bitte, lesen Sie doch weiter.«

 

Sie hoffte, sie könnte sie auf diese Weise die ganze Nacht hindurch beschäftigt halten. Sicherlich würde die Polizei nach Larry suchen, und vielleicht war einem der Beamten das Haus in Chelsea bekannt. Aber diese Hoffnungen wurden zertrümmert, und ihr Herz schien stillzustehen, als sie sah, wie David das Manuskriptbuch schloß und es mit zärtlicher Sorgfalt auf den Tisch neben ihm legte.

 

»Bruder«, begann er, »ich glaube –«

 

Der Doktor nickte.

 

»Und würde es nicht eine delikate Handlung, ein eindrucksvoller Beginn des unendlichen Glückes sein, das vor mir, vor uns allen liegt, wenn diese schöne Hand –« er ergriff die widerstandslose Hand Dianas – aber wiederum beendete er den Satz nicht.

 

Aus seiner Tasche zog er ein Schlüsselbund, die Schlüssel, die Flimmer Fred so sorgfältig nachgemacht hatte, und ging nach der Tür, durch die das junge Mädchen hereingekommen war. Er lächelte leise, als er den Schlüssel in die Öffnung steckte und die Tür aufzog.

 

»Wollen Sie bitte mitkommen, liebes Kind?« Sie zauderte einen Augenblick, nahm aber dann all ihren Mut zusammen und folgte ihm die Stufen nach dem Keller hinunter.

 

Am Ende der Treppe war eine andere Tür. Er öffnete diese, schaltete das Licht ein, und sie sah einen Raum, in dem verschiedene Maschinen standen. Er ging zu einem Schalterhebel.

 

»Sie sollen die Ehre haben, unseren Freund – wir tragen ihm nichts nach – Mr. Holt zu erlösen.«

 

»Erlösen?« fragte sie heiser. »Meinen Sie das wirklich?«

 

Unschlüssig stand sie vor dem Schaltbrett, ihre Hand lag auf dem schwarzen Hebel.

 

»Warum öffnen Sie denn nicht die Tür und lassen ihn heraus?« fragte sie argwöhnisch.

 

»Der Hebel öffnet die Tür und erlöst ihn. Glauben Sie doch nicht, meine Teure, daß ich Sie in einer solchen Stunde täuschen werde.«

 

Es war der Doktor, der diese Worte in sanftestem Ton äußerte, und sie zauderte nicht länger. Sie konnte weder ihre Beweggründe noch ihre Aufrichtigkeit ergründen, noch konnte sie sich die Tatsache klarmachen, daß bei diesen Männern Lüge und Betrug wie tägliches Brot waren. Sie zog den Hebel zurück, der sich leichter wie sie erwartet hatte, bewegen ließ. Dann blickte sie nach der Tür.

 

»Wir wollen ihm entgegengehen«, sagte der Doktor und legte seinen Arm um ihre Schulter.

 

Sie schauderte, machte aber keinen Versuch, sich seinem Arm zu entziehen, und so führte er sie die Treppe hinauf und zurück in den Salon, nachdem er die Tür hinter sich abgeschlossen hatte.

 

Und dann, bevor sie seine Absichten erraten oder sich wehren konnte, wurde der Griff um ihre Schulter zu einer stählernen Umschlingung, die sie machtlos an den großen Mann preßte.

 

»Mein Weib, Bruder!« sagte David.

 

»Zweifellos dein Weib, Bruder«, entgegnete der Doktor, »denn das Schönste und Beste der Welt gehört dir, mein Lieber.

 

Diana war vor Schreck erstarrt und unfähig, eine Bewegung zu machen. Warum kam Larry nicht? Ebenso plötzlich, wie er sie ergriffen hatte, ließ der Doktor sie los und nahm ihre kalte Hand in die seine.

 

»Setz dich dicht an das Feuer, Weib«, sagte er. »Ich will den dritten Akt meines großen Werkes zu Ende lesen, und inzwischen wird Mr. Holt aufgehört haben zu leben.«