4

 

Flimmer Fred hatte den Bahnhof als erster und in großer Eile verlassen, aber außerhalb der Station gewartet, bis er Larrys Taxe vorbeifahren sah.

 

Er hatte den lebhaften Wunsch, daß gerade an diesem Abend niemand ihm nachspürte, und außerdem einen tiefen Respekt vor dem Scharfsinn und der Überlegung Larry Holt’s. Fred hatte mehr als jeder andere Veranlassung, vor ihm auf der Hut zu sein.

 

Nach Larrys Abfahrt wartete er noch zehn Minuten, verließ die Station durch einen der Nebenausgänge und stieg in das erste der dort stationierten Taxis. Einige zehn Minuten später war er auf einem der ruhigen Plätze in Bloomsbury angelangt, an dem sich hauptsächlich Anwaltsbüros befinden. Das Haus, vor dem er ausstieg, war ein schmales, hohes Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Der Portier sah ihn etwas mißmutig an.

 

»Das Büro ist schon seit mehreren Stunden geschlossen, Sir«, sagte er kopfschüttelnd. »Wird erst morgen früh neun Uhr geöffnet.«

 

»Ist Dr. Judd noch da?« fragte Flimmer Fred und schob seine Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen.

 

»Mr. Judd arbeitet noch, und ich glaube nicht, daß er gestört werden möchte.«

 

»Glauben Sie das wirklich?« sagte Fred höhnisch. »Fahren Sie mal ‚rauf und sagen Sie dem Herrn, daß Mr. Walter Smith ihn sprechen möchte. Aber vergessen Sie bloß den Namen nicht – er ist ein bißchen ungewöhnlich.«

 

Der Fahrstuhlführer blickte zweifelnd auf den Besucher.

 

»Ich werde mir bloß Unannehmlichkeiten bereiten«, brummte er, als er in einen der beiden kleinen Fahrstühle trat und schnell nach oben entschwand.

 

Nach wenigen Minuten kam der Portier herabgefahren.

 

»Er will Sie empfangen, Sir«, sagte er.

 

»Sie sollten mich so nach und nach kennengelernt haben, Sergeant«, sagte Fred, als er in den Fahrstuhl trat. »In den letzten Jahren bin ich ziemlich regelmäßig hierhergekommen.«

 

»Ich hatte vielleicht gerade keinen Dienst«, entgegnete der Mann, während der Fahrstuhl langsam nach oben stieg. »Wir sind nämlich zwei Mann hier. Waren Sie vielleicht ein Freund von Mr. David, Sir?«

 

Fred verzog keine Miene.

 

»Nein«, sagte er leichthin, »ich habe Mr. David nicht gekannt.

 

»Ja, das war eine traurige Geschichte. Denken Sie sich, er ist ganz plötzlich vor vier Jahren gestorben.«

 

Fred wußte dies sehr gut, hielt es aber für besser, es für sich zu behalten. Der Tod Mr. Davids hatte ihm beinahe eine Einkommensquelle, »eine rechtmäßige«, wie er es nannte, geraubt, während dies Einkommen ihm jetzt nur noch als »Gunst« zufloß. Er konnte es jeden Augenblick verlieren, falls der joviale Mr. Judd einmal seine Geduld verlor und sich nichts mehr erpressen lassen wollte.

 

Der Fahrstuhl hielt an, und er folgte dem Portier zu einer Tür, an die dieser anklopfte. Eine laute Stimme forderte sie auf einzutreten, und Flimmer Fred stolzierte in das elegant eingerichtete Büro. Mit einem kühlen Kopfnicken begrüßte er den Inhaber der Wohnung.

 

Dr. Judd war aufgestanden, um ihn zu begrüßen.

 

»Danke bestens, Sergeant«, sagte er und warf ihm eine Silbermünze quer durch das Zimmer zu, die der Mann geschickt auffing.

 

»Holen Sie mir bitte ein paar Zigaretten!« Als sich die Tür geschlossen hatte, sagte Dr. Judd gutgelaunt: »Nehmen Sie Platz, Sie Gauner, Sie wollen sich wohl Ihr Pfund Fleisch abholen?«

 

Er war ein großer, starker und kräftig gebauter Mann mit einem blühenden Gesicht. Seine Stirn war sehr hoch und seine tiefliegenden Augen lagen weit auseinander. Trotz seines etwas lärmenden, guten Humors verbreitete er ein Gefühl des Behagens um sich. Fred war in keiner Weise verletzt und setzte sich auf die Ecke eines Stuhls.

 

»Na, Doktor«, sagte er, »da bin ich wieder.«

 

Dr. Judd nickte und suchte in seinen Taschen nach einer Zigarette.

 

»«Was suchen Sie – Zigarette?« fragte Fred und holte sein Etui hervor, aber der Doktor schüttelte den Kopf mit einem bezeichnenden Lächeln.

 

»Danke bestens, Mr. Grogan«, kicherte er. »Ich rauche nie Zigaretten, die mir von Herren Ihres Berufes angeboten werden.«

 

»Was heißt das, ›mein Beruf‹?« knurrte Flimmer Fred. »Denken Sie etwa, ich will Sie betäuben?«

 

»Ich habe Sie erwartet«, sagte der andere, ohne auf die Frage zu antworten, und setzte sich. »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie eine außerordentlich starke Abneigung gegen Schecks.«

 

»Stimmt, Doktor«, grinste Fred. »Das ist immer noch meine Schwäche.«

 

Dr. Judd ging nach dem Geldschrank und sagte, über die Schulter blickend:

 

»Sie brauchen nicht zu genau aufzupassen, alter Freund; ich bewahre nie Geld in meinem Schrank auf, ausgenommen, ich habe Zahlungen an Erpresser zu leisten.«

 

»Scharfe Worte haben noch nie jemand umgebracht«, zitierte Fred salbungsvoll.

 

Der Doktor nahm ein Paket heraus und blätterte dann in einem kleinen Notizbuch, das er aus dem Schubfach genommen hatte.

 

»Sie sind drei Tage zu früh gekommen«, bemerkte er, und Fred nickte bewunderungsvoll.

 

»Haben Sie aber einen Kopf für Zahlen, Doktor! Einfach großartig! ’s stimmt, ich bin drei Tage früher gekommen, weil ich sehr schnell wieder abreisen muß, um einen Freund in Nizza zu treffen.«

 

Der Doktor warf ihm das Paket über den Tisch hinweg zu.

 

»Es sind zwölfhundert Pfund in dem Kuvert; Sie brauchen es nicht nachzuzählen, es stimmt ganz genau«, sagte Dr. Judd und sah dem anderen gerade und nachdenklich in die Augen. »Ich bin selbstverständlich der größte Narr in der Welt«, fuhr er fort, »denn sonst würde ich niemals eine solch schändliche Erpressung ertragen. Ich tue es ja nur, um das Andenken an meinen Bruder von jeder Verleumdung freizuhalten.«

 

»Wenn Ihr Bruder sich damit amüsiert, Menschen in Montpellier niederzuschießen, und wenn ich zufällig dazukomme«, entgegnete Flimmer Fred, »und helfe ihm, zu entwischen – und ich kann beweisen, daß ich das getan habe –, dann denke ich, daß ich Anspruch auf eine kleine Entschädigung haben kann.«

 

»Sie sind ein unglaublicher Schuft«, sagte der andere in seiner freundlichen Manier und lächelte. »Und Sie amüsieren mich auch. Nehmen Sie mal an, daß ich anders wäre, wie ich wirklich bin! Nehmen Sie mal an, ich wäre verzweifelt und könnte das Geld nicht auftreiben! Was dann? – Ich könnte Sie …«

 

»Das würde für mich keinen Unterschied machen«, versetzte Fred, »aber für Sie auch nicht. Ich habe den ganzen Vorfall niedergeschrieben, die Schießerei, wie ich dem Mann half, zu fliehen, wie ich nach London zurückkam und ihn dort als Mr. David Judd wiedererkannte – mein Rechtsverdreher hat die ganze Geschichte in Händen.«

 

»Ihr Anwalt?«

 

»Selbstverständlich mein Anwalt«, nickte Fred. Er beugte sich über den Tisch. »Wissen Sie, ich habe zuerst überhaupt nicht geglaubt, daß Ihr Bruder gestorben war. Ich dachte, die ganze Sache wäre bloß ein Schwindel, um mich übers Ohr zu hauen, und ich hätte es auch nicht geglaubt, wenn ich es nicht in den Zeitungen gelesen hätte und nicht selbst beim Begräbnis gewesen wäre.«

 

»Daß ein Mensch wie Sie einen Namen wie den seinen mit Schmutz bewerfen durfte!« sagte Judd und stand auf. All seine gute Laune war aus seiner Stimme verschwunden, und er zitterte vor leidenschaftlicher Empörung.

 

Er ging um den Tisch herum und blickte finster auf Flimmer Fred herab, und Fred, der an solche Szenen gewöhnt war, lächelte nur.

 

»Er war der beste Mensch, der je gelebt hat, der geschickteste, der wundervollste Mann«, sagte Dr. Judd mit schneeweißem Gesicht. »Und durch einen Menschen wie Sie –« Seine Hand schoß nieder, und bevor Fred wußte, was vorging, hatte er ihn am Kragen gepackt und emporgerissen.

 

»Was fällt Ihnen denn ein?« schrie Fred und versuchte, sich loszureißen.

 

»Das Geld macht mir nichts aus«, stieß Judd hervor. »Das läßt mich kalt. Aber das Bewußtsein, daß Sie – Sie – es in Ihrer Macht haben, einen Mann mit Kot zu bewerfen, einen Mann …« Seine Stimme brach, und die andere Hand fuhr in die Höhe.

 

Fred warf sich mit aller Macht zurück und entriß sich den Händen seines Gegners. Plötzlich, wie herbeigezaubert, war in seiner Hand ein Revolver.

 

»Hände hoch und keine Bewegung! Verdammt noch mal!«

 

Und dann fragte eine Stimme sanft und liebenswürdig:

 

»Kann ich hier irgendwie behilflich sein?«

 

Fred fuhr herum. Freundlich lächelnd stand Larry Holt auf der Türschwelle.

 

Flimmer Fred starrte den Eindringling verblüfft an.

 

»Na, Sie haben aber keine Zeit verloren?« Die Worte wurden beinahe unbewußt hervorgestoßen, und Larry lachte leise.

 

Dr. Judd war wieder Herr über sich selbst geworden und sagte leichthin:

 

»Unser Freund Grogan ist Ihnen doch bekannt? Er ist Mitglied unseres dramatischen Theatervereins, und wir haben gerade eine Szene aus den Korsischen Brüdern geprobt. Ich glaube, das sah ganz echt aus.«

 

»Ich dachte, es war aus Julius Cäsar«, sagte Larry trocken. »Wissen Sie, die Szene zwischen Cassius und Brutus. Die Revolverschießerei war mir allerdings aus dem Gedächtnis entschwunden.«

 

Der Doktor blickte von Flimmer Fred zu Larry.

 

»Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen?« fragte er. Seine Stimme hatte ihren gutmütigen Klang zurückgefunden.

 

»Ich bin Inspektor Larry Holt von Scotland Yard«, stellte Larry sich vor. »Aber nun ernsthaft gesprochen! Erheben Sie irgendeine Anklage gegen diesen Mann?«

 

»Nein, nein«, sagte Judd lachend. »Nein, wirklich, das war weiter nichts als eine harmlose Dummheit.«

 

Larrys Blick wanderte überlegend von dem einen Mann zum anderen.

 

»Ich nehme an, Sie kennen diesen Mann?«

 

»Ich habe ihn schon verschiedene Male getroffen«, antwortete Judd ruhig.

 

»Sie wissen natürlich auch, daß er ein Verbrecher ist, unter dem Namen ›Flimmer Fred‹ bekannt ist und schon mehrere Jahre hier und in Frankreich im Gefängnis gesessen hat?«

 

Der Doktor blieb einige Augenblicke schweigsam.

 

»Das habe ich mir auch gedacht«, sagte er leise, »und begreiflicherweise muß Ihnen meine Verbindung mit diesem Mann sehr eigenartig vorkommen – aber ich bin leider nicht in der Lage, eine Erklärung geben zu können.«

 

Larry nickte. Flimmer Fred schwebte in tödlicher Angst, daß Dr. Judd sich Larry offenbaren und ihm die Veranlassung seines Besuches mitteilen würde. Aber jede derartige Absicht lag Dr. Judd fern.

 

»Sie können jetzt gehen!« sagte er kurz. Flimmer Fred steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarre an.

 

»Sie müssen sich ›Nervin für die Nerven‹ kaufen«, sagte Larry, der ihn beobachtet hatte. »Ein Drogist an der Ecke hatte noch auf, als ich hierherkam.«

 

Mit einem kläglichen Versuch, vollkommene Gleichgültigkeit zur Schau zu tragen, stolzierte Fred hinaus.

 

»Es tut mir sehr leid, daß ich gerade in einem so unpassenden Augenblick kommen mußte«, wandte sich Larry dem Doktor zu. »Ich glaube kaum, daß Sie irgendwie in Gefahr waren. Freds dramatische Effekte liegen nur im Drohen, aber er schießt nicht.«

 

»Das glaube ich auch nicht«, lachte Judd. »Nehmen Sie Platz, Mr. Holt! Nun«, fuhr er fort, indem er sich eine Zigarette ansteckte, »was führt Sie zu mir? – Ich nehme an, wieder der Fall Stuart. Ich habe heute schon einen Ihrer Beamten hiergehabt.«

 

»Es handelt sich allerdings um den Fall Stuart«, nickte Larry zustimmend. »Ich habe gerade den Fall übernommen und die Untersuchung der diversen – Fundgegenstände abgebrochen, um Sie noch sprechen zu können, bevor Sie weggingen.«

 

»Mir ist sehr wenig bekannt«, antwortete der Doktor, behaglich rauchend. »Vorgestern abend ging Stuart mit mir ins Theater. Er war ein eigenartiger, sehr ruhiger und vor allen Dingen außerordentlich reservierter Mann, dessen Bekanntschaft ich ganz zufällig gemacht habe. Mein Wagen stieß mit seinem Taxi zusammen, und ich kam mit einer ganz unbedeutenden Verletzung davon. Er erkundigte sich dann nach meinem Befinden, und so begann unsere Freundschaft – wenn man überhaupt von Freundschaft sprechen kann.«

 

»Erzählen Sie mir bitte die Einzelheiten über diesen Abend!« bat Larry.

 

Der Doktor blickte zur Decke des Zimmers hinauf:

 

»Lassen Sie mich mal überlegen. Ich kann Ihnen die Zeit mit ziemlicher Genauigkeit mitteilen, ich bin ein wenig pedantisch veranlagt. Wir trafen uns am Theatereingang um dreiviertel acht und gingen dann sofort in die Loge A, die letzte auf der linken Seite. Die Logen liegen auf dem Straßenniveau, während sich Parkett und Stehplätze unterhalb des Niveaus befinden. Kurz vor Schluß des zweiten Aktes stand er mit einer kurzen Entschuldigung auf und verließ die Loge. Seit dem Augenblick habe ich Stuart nicht wieder gesehen.«

 

»Hat ihn denn niemand von den Logenschließern bemerkt?«

 

»Nein, aber das ist schließlich leicht zu erklären. Sie wissen ja, daß es eine Erstaufführung war. Die Angestellten wollen natürlich das Stück auch sehen und stehen dann in den verschiedenen Saaleingängen, anstatt sich um ihre Arbeit zu kümmern.«

 

»War es Ihnen bekannt, daß Stuart so reich, beinahe ein halber Millionär, war?«

 

»Ich hatte davon keine Ahnung«, erwiderte der Doktor. »Mit Ausnahme, daß er von Kanada kam, wußte ich überhaupt nichts über ihn.«

 

»Ich hatte die Hoffnung, von Ihnen eine ganze Menge Aufklärungen erhalten zu können«, sagte Larry enttäuscht. »Niemand anders scheint mit Stuart bekannt gewesen zu sein, und begreiflicherweise dachte ich, er hätte Ihnen etwas mehr Vertrauen geschenkt.«

 

»Weder ich noch sein Bankier wußten etwas über ihn. Erst heute morgen erfuhr ich von dem Direktor der London & Chatham-Bank, daß er ihr Kunde war. Das einzige, was wir wußten, war, daß er sehr vermögend war.«