39

 

Diana war schon zeitiger nach Haus gegangen – eigenartig war es, wie sie sich in den wenigen Tagen daran gewöhnt hatte, Larrys Wohnung als ihr Heim zu betrachten. Die Arbeit war getan, und es blieb weiter nichts als die harte und grimmige Notwendigkeit zu erfüllen, die Verbrecher festzunehmen. Jeden Augenblick erwartete sie, das Telephon läuten zu hören und Larrys Stimme zu vernehmen, die ihr mitteilte, daß die beiden Brüder hinter Schloß und Riegel säßen.

 

Ein Buch lag in ihrem Schoß, aber sie las nicht. Ihre Anstandsdame und Pflegerin saß in ihrem Zimmer und nähte. Sunny stand außerhalb der angelehnten Wohnungstür und plauderte leise mit Louie, dem Mädchen, das den Fahrstuhl bediente.

 

Diana saß mit gebeugtem Haupt, die Wange auf die Hand gestützt, und ihre Gedanken wanderten in eine rosige Zukunft – die tragische Vergangenheit schien vergessen. Einmal stand sie auf und ging in Sunnys kleines Zimmer, wo die Frau, die sie »Tante« genannt hatte, friedlich schlief.

 

Sie hatte gerade ihr Buch wieder aufgenommen, als Sunny anklopfte und hineinkam.

 

»Ein Brief für Sie, Miß«, sagte er und überreichte ihn dem jungen Mädchen. Es war Larrys Handschrift. Sie riß den Umschlag auf und las:

 

»Liebe Diana. Ein ganz unbegreifliches Versehen hat sich herausgestellt. Dr. Judd hat eine verblüffende Erklärung über den Tod deines Vaters gegeben. Ich schicke dir einen Wagen und bitte dich, sofort nach Dr. Judds Haus – 38 Endman Gardens, Chelsea – zu kommen. Larry.«

 

Das Briefpapier trug die gleiche Adresse. Larry mußte von Endman Gardens aus geschrieben haben.

 

»Ist eine Antwort nötig, Miß?« fragte Sunny.

 

»Ja, bestellen Sie dem Chauffeur, daß ich sofort komme.«

 

»Gehen Sie aus, Miß?« Sunny frage es zögernd.

 

»Ja, ich suche Mr. Holt auf«, antwortete sie lächelnd.

 

»Wünschen Sie, daß ich Sie begleite, Miß? Der Herr sieht es nicht gern, daß Sie allein gehen.«

 

»Ich glaube, heute abend brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Sunny«, sagte das junge Mädchen freundlich. »Auf jeden Fall vielen Dank für Ihr freundliches Anerbieten.«

 

Sie zog sich hastig an und ging nach unten. Die Limousine stand vor der Tür, und der Chauffeur grüßte höflich.

 

»Miß Ward?« fragte er. »Ich komme von Dr. Judd.« Seine Stimme klang heiser, als ob er erkältet wäre.

 

»Ja, ich bin Miß Ward«, antwortete sie und stieg in den Wagen.«

 

Vor einem dunklen, schweigenden Hause hielt das Auto an.

 

»Ist das Dr. Judds Haus?« fragte sie.

 

»Ja, Miß«, antwortete der Mann. »Wollen Sie bitte die Stufen hinaufgehen und läuten. Der Diener wird Sie dann zu dem Herrn bringen.«

 

Dr. Judd selbst war es, der jovial lächelnd die Tür öffnete und sie in den prachtvollen Salon nötigte.

 

»Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, einige Augenblicke hier warten zu müssen, Miß Stuart?« sagte er freundlich.

 

Der Name klang ihr so fremd und ungewohnt, daß sie lachte.

 

»Ich nehme an, Sie haben sich noch nicht daran gewöhnt, mit diesem Namen angeredet zu werden?« sagte der Doktor in ausgezeichneter Laune. »Ich gehe nach oben, um unseren beiderseitigen Freund aufzusuchen und ihn nach unten zu holen. Vielleicht können Sie sich einige Minuten gedulden. Unsere kleine Besprechung war noch nicht ganz beendigt.«

 

Sie nickte und setzte sich in einen der großen Sessel. Zehn Minuten vergingen, zwanzig Minuten verstrichen, aus den zwanzig wurden vierzig Minuten. Nichts rührte sich in dem großen Hause, niemand kam zu ihr. Die Uhr auf dem Kamin schlug leise klingend.

 

»Zehn Uhr!« sagte sie überrascht. »Ich möchte wissen, was ihn so lange aufhält.«

 

Sie saß an der Seite eines großen offenen Kamins, in dem ein kleines Feuer brannte, und betrachtete bewundernd die Gemälde, die Gobelins, die prachtvollen Vorhänge und künstlerische Wandtäfelung als Hintergrund für all diese Kostbarkeiten. Nicht ein einziges Möbelstück befand sich in dem Raum, das nicht, wie sie fühlte, mit Sorgfalt und Verständnis ausgewählt war. Die Teppiche auf dem Parkett waren antike Perser; die geschnitzte Tafel hätte aus einem kaiserlichen Palast des fernen Osten stammen können.

 

Ihr Blick wanderte zu dem Feuer im Kamin zurück und ihre Gedanken zu Larry. Sie wunderte sich mehr und mehr, welch wichtige Angelegenheiten er zu besprechen hatte, was wohl die Erklärung sein könnte, die der Doktor gegeben hatte. Wieder blickte sie nach der Uhr. Halb elf! Sie legte die Zeitung fort und begann unruhig in dem prachtvollen Gemach auf und ab zu gehen. Jetzt hörte sie das Schnappen einer Türklinke, und Dr. Judd kam von der Halle herein.

 

»Hoffentlich haben Sie sich nicht zu einsam gefühlt«, sagte er. »Er kommt sofort.«

 

Sie zweifelte nicht einen Augenblick, daß »er«, von dem der Doktor sprach, Larry Holt war.

 

»Ich fing schon an unruhig zu werden«, sagte sie lächelnd. »Was ist das für ein wunderbarer Raum!«

 

»Ja«, sagte er gleichgültig, »er ist sehr schön, aber später werden wir Ihnen einen Salon zeigen können, gegen den dieser hier ärmlich erscheint.«

 

»Da ist er ja«, sagte der Doktor; aber es war nicht Larry, der hereinkam. Mit einem Ausruf des Schreckens sprang sie auf die Füße. Es war John Deaborn. Die Maske des Blinden war verschwunden, wie seine Brille, und seine klaren Augen betrachteten sie mit spöttischer Belustigung. »Wo ist Mr. Holt?« fragte sie.

 

Deaborn lachte leise.

 

»Sie wollen doch sicherlich etwas genießen«, sagte er, schob an der Seite des Kamins ein Paneel zur Seite und nahm eine silberne Platte heraus, auf der eine Mahlzeit für eine Person angerichtet war.

 

»Wir essen so spät am Abend nicht mehr«, er setzte die Platte auf den Tisch, über den er eine weiße Spitzendecke gelegt hatte.

 

Diana war leichenblaß geworden. Sie war in tödlicher Gefahr, aber ihre Stimme schwankte nicht.

 

»Wo ist Mr. Holt?« fragte sie von neuem.

 

»Mr. Holt ist glücklich und zufrieden.« Es war der Doktor, der antwortete. »Sie werden ihn später zu sehen bekommen.«

 

Die eigenartigen Worte und der merkwürdige Ton erschreckten sie. Diana stand auf und nahm ihren Schal.

 

»Ich glaube nicht, Dr. Judd, daß ich noch länger bleiben kann, wenn Mr. Holt nicht hier ist«, wandte sie sich an diesen jovialen Mann. »Können Sie mich nach Haus bringen?«

 

Der Doktor antwortete nicht. Er hatte ein Schubfach des japanischen Tisches aufgezogen und einen dicken Stoß Papiere herausgenommen, die er mit strahlendem Lächeln Deaborn hinhielt.

 

»Sie werden eine entzückende Stunde genießen, Miß Stuart«, sagte er. »Nein, wirklich, David, das ist zu nett von dir. Ich dachte, du wärest heut abend zu sehr ermüdet.«

 

Das junge Mädchen blickte von einem zu dem anderen und glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können. Dr. Judd, der sich bisher ihr gegenüber von einer Höflichkeit die beinahe an Unterwürfigkeit grenzte, gezeigt hatte, beachtete ihre Worte ganz und gar nicht.

 

»Ich glaube, Sie haben mich nicht gehört, Dr. Judd«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich wünsche, daß Sie mich nach meiner – nach Mr. Holts Wohnung bringen.«

 

»Sie macht sich Sorge um ihre Garderobe«, wandte sich der Doktor halblaut zu seinem Bruder. »Du wirst doch dafür Sorge tragen, daß sie hierher geschickt wird, David?«

 

»Hierher geschickt wird?« stammelte sie. »Was meinen Sie damit?«

 

David Judd – sie hatte schon aufgehört, ihn als »Dearborn« zu betrachten – hatte sich in den Sessel gesetzt, aus dem sie sich erhoben hatte, und blätterte in seinem Manuskriptbuch.

 

»Ich glaube, es ist besser, Sie essen erst eine Kleinigkeit. Sie müssen doch sehr hungrig sein.«

 

»Ich werde in diesem Hause nichts essen, bevor ich nicht weiß, was Sie mit Ihren Worten, meine Garderobe soll hierher geschickt werden, meinen«, sagte sie erregt. »Dann gehe ich eben allein nach Haus.«

 

»Mein liebes, junges Fräulein« – der Doktor legte seine große Hand auf ihren Arm – »bitte stören Sie David nicht. Er wird Ihnen jetzt eines seiner wundervollen Stücke vorlesen. Wissen Sie denn, daß David der größte Dramatiker der Welt ist, daß seine Stücke Spitzenleistungen des modernen Dramas sind, daß sein Können gleich … nein, weit über dem sogenannten Genie eines Shakespeare steht!«

 

David blickte von seinem Buch zu seinem Bruder auf; ihre Blicke trafen sich.

 

Er sprach mit einem solchen Ernst, einer derartigen unerschütterlichen Überzeugung, daß ihr im Augenblick die Worte fehlten. Dann sagte sie:

 

»Ich bin jetzt nicht in der Laune, mir Theaterstücke vorlesen zu lassen, mögen sie auch noch so gut sein.« Sie mußte alle ihre Kräfte zusammennehmen, denn sie fühlte, daß sie sich in einer verzweifelten Lage befand.

 

»Ich glaube nicht, daß sie heut noch nach Haus fahren kann«, sagte der Doktor beinahe bedauernd. »Vielleicht morgen, wenn du sie geheiratet hast?«

 

Er sprach furchtsam, beinah flehend, und seine Worte waren in fragendem Ton gehalten.

 

»Ich werde sie nicht heiraten«, sagte der Mann, der sich Dearborn nennen ließ, scharf. »Ich dachte, das hätten wir doch schon besprochen und erledigt, Bruder! Jake ist tot, aber es gibt doch noch andere. Es kommt doch schließlich gar nicht darauf an, wer sie heiratet?«

 

Diana war sprachlos vor Entrüstung und Schrecken. Sie verhandelten über ihre Heirat mit einem von ihnen, und jeder versuchte dem anderen mit einer derartigen Ruhe und selbstsicheren Anmaßung zu dieser Heirat zuzureden, daß sie keine Worte finden konnte. Endlich stieß sie zitternd vor Empörung hervor:

 

»Ich denke gar nicht daran, einen von Ihnen beiden zu heiraten. Ich bin mit – Larry Holt verlobt.«

 

Beide Männer blickten sie an, und auf dem dicken, runden Gesichte des Doktors lag ein Ausdruck von tiefem Bedauern.

 

»Es ist wirklich ein Jammer«, sagte er. »Die ganze Sache hätte sich so einfach arrangieren lassen, wenn Mr. Holt auf unserer Seite wäre. Bedauerlicherweise sind wir, auch wenn er im Fleische bei uns ist, geistig durch Welten voneinander getrennt.«

 

»Im Fleisch bei uns ist?« wiederholte sie und zitterte am ganzen Körper. Jetzt war ihr klargeworden, daß der Brief, der sie in dies Haus des Schreckens gelockt hatte, eine Fälschung war, und ihre einzige Hoffnung auf Rettung lag in der Gewißheit, daß Larry ihre Abwesenheit bemerken und ihr folgen würde.

 

Die beiden Brüder blickten einander vielsagend in die Augen, und schließlich stand Dearborn auf und legte sein Manuskriptbuch mit einem resignierten Seufzer nieder. Er winkte sie zu sich und ging nach dem anderen Ende des Zimmers, wo er eine andere versteckte Tür öffnete, die so geschickt unter den Schnitzereien angebracht war, daß sie selbst Larrys Blicken entgangen war.

 

»Ich habe die Pläne für das Haus gezeichnet«, erklärte er einfach, »und es selbst mit nicht mehr als zwanzig Maurern aus Toskana gebaut«, und später fand sie heraus, daß seine Angaben auf Wahrheit beruhten.

 

Sie folgte ihm unter dem Banne eines ständig wachsenden Entsetzens in einen kleinen, vollkommen leeren Raum. Unter sich hörte sie ein leises, dumpfes Summen und fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen leicht vibrierte. Dann blieb David stehen, beugte sich auf den Fußboden und öffnete schließlich eine kleine viereckige Falltür, die kaum vierzig Zentimeter im Durchmesser hatte. Unter dieser befand sich ein Glasfenster, und als sich ihre Augen an die unerwartete Perspektive gewöhnt hatten, sah sie unter sich einen kellerähnlichen, offenbar von der Decke aus beleuchteten Raum.

 

Sie sah nichts von den besonderen Eigenheiten des Zimmers, denn ihre Blicke starrten auf eine Gestalt, die auf der Kante des Bettes saß und sich eine Wunde an der Hand mit einem Taschentuch verband. Zuerst erkannte sie nicht, wer es war. Dann aber blickte der Mann nach der Decke; wenn er auch nicht die Personen in dem Zimmer über sich sehen konnte, so hatte er doch das Geräusch der sich öffnenden Falltür gehört.

 

Sie starrte und schrie gellend auf. Dort unten saß Larry Holt, eine Fußschelle lag um seinen Knöchel.