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Mrs. Emma Ward hatte ihm so ziemlich alles, was über sie selbst zu berichten war, mitgeteilt, bevor noch der Wagen vor seiner Wohnung angelangt war.

 

Sie war es gewesen, die versäumt hatte, die Geburt von Diana und ihrer Zwillingsschwester eintragen zu lassen, und merkwürdig genug war es diese Unterlassung, die ihr das Leben gerettet hatte. Als die Bande entdeckt hatte, und zwar nur wenige Stunden früher als Larry, daß Gordon Stuart ein enormes Vermögen seiner Tochter hinterlassen hatte, deren Existenz ihm in einem ganz zufälligen Zusammentreffen mit der Aufwärterin in Nottingham Place mitgeteilt wurde, verlor sie nicht einen Augenblick Zeit, um sich des einzigen Zeugen zu bemächtigen, der die Umstände und Rechtmäßigkeit von Dianas Geburt beweisen konnte.

 

Niemals hatte sich Larry für irgend etwas so beglückwünscht wie für den Gedanken, eine Pflegerin engagiert zu haben. Nach einer Stunde – Wasser, Seife und frische Handtücher hatten Wunder gewirkt – betrat eine einfach und sauber gekleidete Frau, die sich überall sehen lassen konnte, sein Wohnzimmer.

 

»Ich gehe jetzt, um Miß –« er scheute beinahe vor dem Wort, »Miß Stuart aufzusuchen«, sagte er.

 

Die Frau fuhr hoch.

 

»Wissen Sie denn, wo sie ist?«

 

»O ja«, entgegnete Larry. »Ich weiß es sehr gut.«

 

Erst hatte er daran gedacht, ihr diese Neuigkeit telephonisch mitzuteilen, aber irgend etwas in ihm drängte ihn, persönlich mit ihr zu sprechen; und dann gab es noch viele andere Dinge, die er ihr zu sagen hatte – schon das Denken an diese war schmerzlich und bitter für ihn. Diana Ward, arm und abhängig, war etwas ganz anderes wie Clarissa Stuart, die Millionenerbin. Wohl konnte er Diana Ward bitten, ihn zu heiraten und konnte mit Freuden an das Glück einer Vereinigung denken, wo ein jeder von ihnen als einziges Vermögen den großen Schatz seiner Liebe beisteuerte. Aber Diana Stuart war eine reiche Frau. Nicht einen Augenblick zweifelte er, daß sie im Bewußtsein ihrer Liebe edel und großmütig wünschen würde, daß die Heirat stattfände; aber bald, sehr bald würde es ihr zum Bewußtsein kommen, welche ungeheuren Möglichkeiten der Besitz eines so riesigen Vermögens schaffen könnte. Und dann würde sie ihren Schritt vielleicht bedauern, ohne ihn dies fühlen zu lassen, sagte er zu sich selbst. Er verteidigte sie im gleichen Augenblick, wo er sie beschuldigte. Und das war das Ende des Falles Stuart. Belohnungen, Auszeichnungen würde er erhalten, obwohl er überzeugt war, selbst den geringsten Anteil an dem Erfolge zu haben; die immer wieder hinausgeschobene Rangerhöhung – auch diese würde kommen, und als Assistent des Kommissars würde er in seinem Büro sitzen und seines Amtes walten. Aber all diese Erfolge, die er davongetragen hatte, hatte er in Wirklichkeit Diana zu verdanken. Ihr findiger Kopf hatte dieses verwickeltste aller Probleme gelöst, hatte dieses Gewirr von Spuren und Anzeichen in eine klare, erkennbare Bahn gebracht.

 

Das Ende des Falles Stuart! Und das Ende aller seiner Hoffnungen – er wußte es. In der ganzen Welt gab es nicht ein zweites Mädchen wie Diana Ward. Sie war die erste in seinem Herzen, sie würde die letzte sein. Als er vor der Tür des Zimmers 47 stand, die Hand auf dem Drücker, und kaum wagte, diesen herunterzudrücken, hatte er auf sie verzichtet, mit seinen Hoffnungen abgeschlossen. Und seine ersten Worte brachten den Gedanken zum Ausdruck, der diesem kurzen Zaudern folgte.

 

»Diana«, sagte er, »ich bin der größte Egoist, den man sich denken kann.«

 

All ihre weißen Zähne blitzten in schweigendem Lachen auf.

 

»Ich habe über eine Stunde auf dich gewartet!«

 

»Allmächtiger«, stammelte er. »Wir wollten ja zusammen essen.«

 

»Ja«, nickte sie. »Das meintest du doch?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich wünschte, weiß Gott, es wäre so«, sagte er. »Da bin ich nun wieder, denke nur an mich selbst, bin furchtbar traurig für mich selbst, anstatt Gott für das Glück zu danken, das er dir beschert hat.«

 

Sie sprang auf.

 

»Du hast Emma gefunden!«

 

»Ich habe Emma Ward gefunden«, sagte er langsam. »Und ich habe – Clarissa Stuart gefunden.«

 

Mit ausgestreckten Händen ging er auf sie zu.

 

»Liebling, mein Liebling«, sagte er. »Ich freue mich von Herzen für dich.«

 

Sie ergriff seine Hände und legte die eine an ihre Wange.

 

»Freust du dich nicht auch für dich selbst?«

 

Er schwieg, und sie blickte schnell zu ihm auf.

 

»Larry«, sagte sie, »ich habe das alles schon seit Tagen und Tagen gewußt – schon seit dem Tage, als ich in Nottingham Place ohnmächtig wurde. Erinnerst du dich nicht?«

 

Er zog die Stirn zusammen.

 

»Natürlich erinnere ich mich, aber wieso –«

 

»Wieso, du Dummhut«, sagte sie, »ich wußte doch, daß es Tante Emmas Ring war. Ich habe immer ›Tante‹ zu ihr gesagt, wenn sie auch in Wirklichkeit nicht meine Tante war. Und dann vermutete ich, wer Gordon Stuart wirklich war. Um nichts in der Welt hätte sie ihren Trauring aufgegeben. Weißt du, wohin sie in solcher Eile gegangen ist?«

 

Larry schüttelte den Kopf.

 

»Um mich zu suchen«, sagte sie einfach. »Ich fühlte das, vermutete es. Instinktiv habe ich das gefühlt, bevor ich noch von dem Ring gehört hatte. Mein Vater hatte ihn ihr gegeben. Wie oft hat sie mir erzählt, wie sie sich verheiratete, als sie noch in seinen Diensten war, wie mein Vater ihr den eigenartigen Trauring in Anerkennung all ihrer Verdienste um meine Mutter schenkte.«

 

»Du wußtest das?« sagte er verwundert. »Aber warum hast du mir nie davon gesprochen?«

 

»Heute bist du auf die ›Jagd‹ gegangen«, sie drohte ihm mit dem Finger, »und du hast mir kein Wort davon gesagt. Du hast mir gesagt, du wolltest nach Hampstead, bist aber statt dessen nach Chelsea gegangen.«

 

»Das wußtest du auch?« rief er verblüfft. »Bleibt denn bei diesem verdamm … hm … verwünschten Fall auch nur etwas übrig, das ich allein geschafft, allein fertig bekommen habe?«

 

»Du hast mich doch bekommen«, sagte sie schalkhaft.

 

Er drückte krampfhaft ihre Hände.

 

»Diana, ich muß ernsthaft mit dir sprechen. Es handelt sich –«

 

»Ich weiß schon, was du sagen willst«, unterbrach sie ihn. »Du kannst dir alle Mühe sparen. Du kannst keine reiche Frau heiraten, weil du befürchtest, sie wird es später bereuen, oder es dich fühlen lassen, oder du müßtest von ihrem Gelde leben. Viel lieber würdest du ein armes Mädchen heiraten und – sie mit deinem Gelde ernähren, wenn sie sich einer derartigen Unwürdigkeit aussetzen würde.«

 

»Aber es macht doch einen Unterschied. Das mußt du mir doch zugeben?«

 

»Nicht für mich, Larry«, erwiderte sie. »Übrigens hat das ja auch gar nichts dabei zu sagen.« Sie ließ seine Hände fallen und ging an ihren Schreibtisch zurück. »Du hast ja versprochen.«

 

»Versprochen? Was habe ich denn versprochen?«

 

»Da hört doch aber alles auf«, neckte sie ihn. »Du hast mir feierlich versprochen, daß nichts, was auch immer passieren möge, wie auch der Ausgang des Falles Stuart sein möge, daß nichts, hörst du, daß nichts unsere Heirat verhindern könne.«

 

»Wußtest du denn das alles«, fragte er erstaunt, »hast du mir aus diesem Grunde das Versprechen abgenommen?«

 

»Natürlich wußte ich es. Ich bin schon ziemlich lange eine reiche Frau und habe mich schon so daran gewöhnt, daß ich mich immer zusammennehmen muß, um nicht jedesmal ein Taxi zu nehmen, wenn ich eins sehe.«

 

Er ging zu ihr und legte seinen Arm um ihre Schulter.

 

»Diana –« begann er und fragte dann: »Oder ist es nun Clarissa?«

 

»Diana – immer«, sagte sie sanft.

 

Er küßte sie.