32

 

Als er nach seiner Wohnung zurückkam, war Diana bereits aufgestanden und saß am Frühstückstisch.

 

»Ich dachte, Sie würden nicht wieder zurückkommen«, sagte sie mit einem leichten Seufzer.

 

Er erzählte ihr von seiner Jagd im Park.

 

»Das wirft eigentlich meine Annahme über den Haufen, daß der blinde Jake sich immer noch im Heim oder in der Wäscherei verborgen hält«, sagte sie, »denn das Haus ist doch wohl noch unter Beobachtung?«

 

»Auf beiden Seiten«, antwortete Larry, »aber es gibt ein Dutzend verschiedener Wege, auf denen der Kerl herauskommen kann. Die Tatsache allein, daß er einen Morgenspaziergang machen kann, daß die Leute, die hinter ihm stehen, seine Gesundheit für wichtig genug halten, um ein Auto zu seiner Verfügung zu stellen, beweist, daß er während des Tages eingeschlossen sein muß.«

 

Beide waren allein, da die Pflegerin und Anstandsdame ihre Toilette noch nicht beendet hatte.

 

»Ich weiß wirklich nicht, wie dieser Fall mal endigen wird, Diana«, sagte Larry nach kurzem Schweigen, »und es ist jetzt ein sehr prosaischer Augenblick, um Ihnen zu sagen, was ich gern … hm … was ich gern sagen möchte, aber – aber, Diana, wenn der Fall wirklich einmal abgeschlossen ist, möchte ich nicht, daß Sie weiter im Präsidium bleiben.«

 

Sie erblaßte leicht.

 

»Sie wollen damit sagen, Sie sind nicht mit mir zufrieden«, sagte sie. »Als Sekretärin?«

 

»Ich schätze Sie sehr als Sekretärin und als Mensch«, Larry gab sich die größte Mühe, in ruhigem Ton zu antworten. »Aber es gefällt mir gar nicht, daß – Sie hier arbeiten.«

 

Beide schwiegen. Endlich sagte sie ruhig:

 

»Ich denke nicht, daß ich nach Erledigung des Falles Stuart noch weiterarbeiten werde. Ich habe auch schon daran gedacht, meine Stellung aufzugeben.«

 

Diese Antwort kam ihm gänzlich unerwartet und erfüllte ihn mit tiefem Schrecken.

 

»Sie werden doch nicht weggehen?« rief er, und Diana brach in helles Gelächter aus.

 

»Sie sind wirklich die inkonsequenteste Person, die man sich denken kann. In einem Augenblick entlassen Sie mich und hoffen in dem anderen, daß ich nicht weggehe.« – Sie bewegte sich auf gefährlichem Boden und war sich dieser Tatsache völlig bewußt. – »Aber schließlich« fügte sie mutwillig hinzu, »gibt es doch noch andere Stellen, wo tüchtige, junge Mädchen verlangt werden.«

 

»Ich kenne eine Stelle, wo ein tüchtiges, junges Mädchen verlangt wird.« Larry schluckte hart. »Seine Arbeit besteht darin, sich um eine kleine Wohnung zu kümmern und das bescheidene Vermögen eines Kriminalinspektors, der eines schönes Tages auch mal was besseres wird, zu teilen.«

 

Bei diesen Worten ließ sie das Stückchen Toast fallen, das sie gerade aufgenommen hatte.

 

»Ich – ich verstehe Sie nicht«, stammelte sie.

 

»Sie verstehen mich nicht?« wiederholte Larry. »Ich möchte Sie heiraten – scheren Sie sich zum Teufel!«

 

Mit offenem Munde blickte sie auf und sah gerade noch, wie sich die Tür hinter dem schwergekränkten Sunny schloß.

 

»Entschuldigen Sie, bitte – es tut mir furchtbar leid«, stotterte Larry. »Ich habe Sie doch nicht gemeint – ich meinte natürlich –«

 

»Ich weiß, was Sie meinen«, sie legte ihre Hand auf die seinige, »Sie wollen mich haben?«

 

»Ich verlange nach Ihnen«, sagte Larry heiser. »Ich sehne mich so sehr nach Ihnen, daß ich keine Worte finden kann, um Ihnen das auszudrücken.«

 

Sie sagte nichts. Ihre Hand lag still unter seiner, aber als ihr Blick auf ihr verzerrtes Spiegelbild in der silbernen Kaffeekanne fiel, lachte sie auf, und Larry, der sehr empfindlich war, zog schnell seine Hand zurück.

 

»Ich befürchte, ich mache mich lächerlich«, sagte er ruhig. Sie hatte sich nicht gerührt.

 

»Legen Sie Ihre Hand wieder zurück«, flüsterte sie ganz leise, und Larry gehorchte. »Und jetzt erzählen Sie mir, was Sie sagen wollten. Ich mußte über mich selbst in der Kaffeekanne lachen. Ich sehe wirklich nicht aus wie jemand, dem man um halb neun Uhr morgens einen Heiratsantrag machen könnte.«

 

»Und – wollen Sie wirklich?« stammelte er, kaum fähig, ein Wort herauszubringen.

 

»Wollen? – Was denn – einen Antrag erhalten?« antwortete sie schalkhaft. »Ob ich das will! Es gefällt mir sogar sehr – liebster Larry.«

 

Und dann fand sie sich in seinen Armen, und die Welt verschwand um sie herum.

 

Sunny kam herein – sie sahen ihn nicht. Leise schlich er sich wieder hinaus, ging auf den Treppenabsatz vor der Wohnungstür und drückte auf den Klingelknopf des Fahrstuhls. Das junge Mädchen, das den Fahrstuhl bediente, war gut befreundet mit ihm und verschaffte ihm so manche wertvolle Auskünfte.

 

»Louie«, sagte er und war noch feierlicher als gewöhnlich, »können Sie mir sagen, ob ich hier in der Nähe ein möbliertes Zimmer finden kann? – Ich glaube, ich werde bald woanders schlafen müssen.«

 

»Woanders schlafen, Pat?« fragte Louie verwundert. (Er hatte ihr gnädigst die Freiheit gestattet, ihn bei seinem Vornamen anzureden.) »Will denn Ihr Herr eine Haushälterin nehmen?«

 

»Ich glaube es«, sagte Sunny mit Grabesstimme. »Ich glaube es wirklich, Louie.«

 

War er an diesem Morgen nach seinem Büro gefahren, gelaufen, vielleicht geflogen – Larry hatte keine bestimmte Erinnerung daran, alles war verschwommen, nur das eine wußte er: Diana Ward war an seiner Seite, und er war hoffnungslos, lächerlich, überwältigend glücklich in seiner Liebe zu ihr.

 

»Aber doch nicht beim Frühstück«, sagte er laut. »Du lieber Himmel, doch nicht beim Frühstück!«

 

»Nicht beim Frühstück?« wiederholte das junge Mädchen. »Ach so, du denkst an – ja, es war wirklich komisch.«

 

»Es war … wundervoll! Wundervoll! Ich fühle mich wie im Himmel.«

 

»Dann muß ich dich mal wieder ein wenig auf die Erde zurückbringen«, sagte Diana ruhig. »Ich möchte, daß du mir etwas versprichst.«

 

»Ich will dir alles versprechen, was es auch sein mag, Diana«, sagte er im Überstrom seiner Gefühle. »Verlange den obersten Ziegel des Schornsteins, verlange ein Stückchen vom Mond und –«

 

»Gar nichts so Schwieriges. Ich möchte nur – und doch wird es vielleicht noch schwieriger sein«, sagte sie ernsthaft. »Willst du mir versprechen, daß du mich unter keinen Umständen bitten wirst, unsere Verlobung aufzuheben?«

 

Er drehte sich zu ihr und wäre beinahe stehen geblieben.

 

»Nichts mehr als das?« sagte er. »Wie kannst du nur auf den Gedanken kommen, daß ich jemals den Wunsch haben sollte, diese wunderbare Verlobung aufzulö–«

 

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach sie ihn. »Es ist genau so wundervoll für mich, und doch« – sie schüttelte den Kopf – »willst du mir versprechen, daß du niemals unsere Verlobung aufheben wirst, was auch immer vorfallen mag, wie auch immer der Ausgang des Falles Stuart sein mag, ob du Erfolg hast oder nicht, was für Enthüllungen auch kommen mögen – willst du mir das versprechen?«

 

»Das verspreche ich dir«, sagte Larry bestimmt. »Es gibt nichts auf der ganzen Welt, das mich veranlassen könnte, mein gegebenes Wort zurückzunehmen. Aber ich lebe in Todesangst, du wirst noch mal herausfinden, daß du dich an jemand weggeworfen hast, der deiner unwürdig ist. Wenn du das aber tust, schwöre ich dir, daß ich dich wegen gebrochenen Eheversprechens verklagen werde! Mit meinen Gefühlen lasse ich nicht spielen«, fügte er lachend hinzu.

 

Als sie nach dem Zimmer 47 kamen, fanden sie zwei Mann, die im Gang auf sie warteten. Einer war ein Kriminalbeamter in Zivil, und der andere ein kleiner, verschrumpelter Mann, der nachdenklich, die Hände auf den Knien, auf einer Bank saß und mit sichtlosen Augen auf den Boden starrte.

 

Bei seinem Anblick blieb Larry stehen.

 

»Was soll das bedeuten?« fragte er.

 

»Ach, bitte, sei nicht böse«, sagte das junge Mädchen bedauernd. »Das hätte ich dir ja erzählen müssen – ich habe ihn holen lassen.«

 

»Das ist doch Lew«, rief Larry überrascht, und Diana nickte.

 

»Du hast mir doch selbst gesagt, daß ich als Zeugen holen lassen könnte, wen ich nur immer wollte«, begann sie, aber er unterbrach sie freundlich:

 

»Selbstverständlich, Liebling, du kannst tun, was du willst.«

 

Er betrachtete neugierig den alten Mann, der teilnahmlos für alle äußeren Dinge in seiner dunklen, schweigenden Welt seinen eigenen Gedanken nachhing.

 

»Bringen Sie ihn ins Büro«, sagte Larry, und zu Diana: »Wie willst du es denn anfangen, ihn zum Sprechen zu bringen? Wie willst du es ihm verständlich machen, was wir von ihm wollen?« Er schüttelte mitleidig den Kopf. »Ich habe es mir vorher nie recht klar gemacht, was für ein entsetzlicher Zustand es sein muß, blind und taub zu sein. – Kannst du dich mit ihm verständigen?«

 

»Ich glaube – ja«, antwortete das Mädchen ruhig, »aber du mußt dir erst klar machen, daß Lew keine Idee hat, wo er eigentlich ist. Wie soll er das denn wissen? – Vielleicht denkt er, daß er immer noch in jenem fürchterlichen Blindenheim in der Gewalt der Leute ist, die ihn so grausam mißhandelt haben.«

 

Larry nickte beipflichtend.

 

»Ich brauche einen Revolver«, sagte das junge Mädchen, »und einen Schutzmann in Uniform.« Sie wandte sich Larry zu. »Ich muß sehen, ob ich noch nicht alles vergessen habe, was ich im Blindenheim gelernt habe«, und ergriff die Hand des alten Mannes.

 

Sie nahm seine beiden Handgelenke und hob seine Hände an ihr Gesicht.

 

»Eine Frau«, sagte Lew. Dann hielt sie die kleine Vase mit Blumen, die auf ihrem Schreibtisch stand, unter seine Nase.

 

»Rosen, nicht wahr?« fragte er. »Das ist wohl ein Hospital.«

 

Sie winkte den uniformierten Schutzmann, der an der Tür stand, zu sich heran und hob von neuem die Hände des alten Mannes hoch, führte sie leicht über den Uniformkragen des Beamten, über die Knöpfe der Tunika hinweg und ließ ihn schließlich den Helm berühren.

 

»’n Blauer!« sagte Lew und fuhr zurück.

 

Wieder ließ sie ihn an den Blumen riechen und strich von neuem mit seiner knochigen, alten Hand über ihre frische Wange.

 

»Ich bin in ‚m Hospital und ’n Schutzmann paßt auf mich auf. Sucht man mich denn für irgend was?«

 

Diana nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und schüttelte ihn von rechts nach links.

 

»Also nich? Was?« sagte er erleichtert.

 

Larry beobachtete gespannt die beiden.

 

»Bin ich vor den Schweinehunden sicher?«

 

Wieder nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und zwang ihn zu nicken.

 

»Ich soll wohl aussagen?«

 

Das junge Mädchen wiederholte dieselbe Bewegung, zog einen Stuhl heran und führte ihn zu diesem.

 

Der Kriminalbeamte hatte inzwischen den Revolver gebracht und reichte ihn dem jungen Mädchen. Sie nahm Lews Hand und strich leicht mit dieser über Griff und Lauf der Waffe. Er schauderte.

 

»Ja, das haben sie mit mir gemacht«, sagte er. »Sie wollen sie wohl dafür fassen, nicht wahr? – Es war furchtbar grausam für ’nen blinden Mann. Warum kneifen Sie mich denn in die linke Hand?«

 

Wieder ließ sie ihn nicken und zwickte dann seine rechte Hand und, ohne auf seine Frage zu warten, ließ sie ihn den Kopf schütteln.

 

»Ich hab’s, ich hab’s begriffen«, sagte er eifrig. »Die rechte Hand bedeutet nein und die linke ja. Ist jemand hier – ’n Oberbonze?«

 

Sie signalisierte ihm »Ja«.

 

»Wollen Sie, daß ich aussage?«

 

Wieder das »Ja«-Zeichen, und Lew begann seine Erzählung.

 

Er und der blinde Jake waren Leidensgenossen, aber er war beinahe schon von Jugend an der Sklave des riesigen Kerls gewesen und hatte unter der Herrschaft dieses Verbrechers ein ständiges Leben voller Schrecken geführt.

 

»Er hat Dinger gedreht, Sie würden zu Stein erstarren, wenn Sie se wüßten. Dinger«, sagte er kopfnickend, »hat Jake angestellt, an die ick nich gern denke – oft kann ich nachts nich schlafen.«

 

Dann war vor fünf oder sechs Jahren Lews eigener Bruder ein Mitglied dieser außergewöhnlichen Bande geworden.

 

»Und ein feiner, kräftiger Kerl war er«, sagte Lew stolz, »und sehen konnte er auch! Er lief immer auf den Jahrmärkten als Blinder herum, aber er konnte sehen wie ein Luchs, konnte sogar Zeitungen und Bücher lesen; ’n großer Kerl war er, Sir, und hatte einen langen, buschigen Backenbart. Ja, Jim war ein großer Kerl, aber ’n Gauner.«

 

Dann waren sie unter den Einfluß jener außergewöhnlichen Macht geraten, über die der blinde Jake nur in so respektvoller Weise zu sprechen pflegte. Man hatte sie gebraucht, um Tote aus dem Hause fortzuschaffen, Jake hatte dabei geholfen und Jim und Lew. Er wußte nicht, ob man sie ermordet hatte, aber er glaubte es.

 

»Das war ’ne gerissene Bande. Wissen Sie, was sie vor sechs Jahren fertigbekommen haben?« Er schien beinahe stolz auf das verbrecherische Genie dieser Schreckensmenschen zu sein. »Wir haben einen Mann in den Fluß geschmissen mit einem Gewicht an den Beinen. Denken Sie vielleicht, man hat Lunte gerochen, als der Körper gefunden wurde? Nich dran zu denken. Wo denken Sie, daß das Gewicht befestigt worden war? An einem großen Block Salz, der genau um die Beine von dem armen Deibel paßte. Als das Salz sich aufgelöst hatte, kam er fein nach oben und nischt war zu merken.«

 

»Lebte er denn noch, als er hineingeworfen wurde?« fragte Larry, und das junge Mädchen schauderte bei diesem Gedanken.

 

Der Mann konnte die Frage nicht hören, aber er antwortete, als ob er die Worte vernommen hätte.

 

»Vielleicht war er tot«, fuhr Lew fort, »ich weiß es nicht mehr, Krakehl oder so was Ähnliches hat er jedenfalls nich gemacht. Aber ich hatte keine Ahnung, daß sie ihn ins Wasser werfen würden, ich hatte bei Gott keine Ahnung davon. Wie konnte ich denn das wissen? Aber ins Wasser ging er! Na und dann verschwand Jim. Ich weiß nicht, was ihm passiert ist. Eines Tages ging er, und wir haben ihn nie wieder gesehen. Das war, wenn ich mich recht erinnere, im Mai vor vier Jahren.«

 

Lew wurde dann ängstlich, begann allmählich Gefahr für sich selbst zu fürchten und lebte nach dem geheimnisvollen Verschwinden seines Bruders in ständigem Schrecken vor Jake und seinen Drohungen.

 

Er selbst konnte nicht Braille-Schrift schreiben, aber es gab in Todds Heim einen Mann, »’n anständiger Kerl, wissen Sie«, der die Mitteilung schreiben konnte, die er in die Tasche des nächsten Opfers stecken wollte. Möglicherweise hatte er von Jake gehört, daß es in nächster Zeit »Arbeit« geben würde.

 

»Ich glaube, es ist besser, ich gehe jetzt«, sagte das junge Mädchen, das auf einmal tief erblaßt war.

 

Larry führte sie in den Gang und brachte ihr ein Glas Wasser.

 

»Es geht mir schon wieder besser«, lächelte sie tapfer. »Gehe ruhig wieder zurück und höre zu.«

 

Lew sprach noch, als er wieder in das Büro kam, und als er seine Erzählung beendet hatte, wußte Larry alles Wissenswerte über den Mord an Gordon Stuart.

 

An diesem Abend fand eine Konferenz aller Abteilungschefs des Präsidiums unter dem Vorsitz des Chefkommissars statt.

 

»Ich bezweifle, daß die Aussagen dieses Mannes als überführend betrachtet werden«, sagte Sir John bedächtig; »wenn Sie darauf bestehen, werden wir die Haftbefehle erhalten. Ich glaube aber, daß wir mit dem, was wir schon erfahren haben, die Bande vielleicht auf frischer Tat fassen können, wenn wir ihr noch ein wenig Spielraum lassen.«

 

Larry kam gerade rechtzeitig in sein Büro zurück – Diana war bereits nach Haus gegangen –, um das andauernde Läuten seines Telephons zu hören.

 

»Ist dort Mr. Holt?« fragte eine unbekannte Stimme.

 

Gewöhnlich kommt es äußerst selten vor, daß man im Präsidium von anderen Personen als Beamten oder Polizisten angerufen wird, da die Nummer der verschiedenen Abteilungen nicht in dem Telephonbuch angeführt sind.

 

»Hier Inspektor Holt«, antwortete Larry.

 

»Dr. Judd läßt fragen, ob Sie sofort nach seinem Büro kommen könnten. Er hat Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.«

 

Larry überlegte einen Augenblick.

 

»Schön! Ich komme sofort!«

 

Er nahm Harvey mit, und bald darauf setzte sie ein Taxi im Bloomsbury Pavement ab.

 

Larry hatte erwartet, das Haus um diese Zeit verlassen vorzufinden und war überrascht, eines der oberen Fenster und die lange, schmale Vorhalle beleuchtet zu sehen. Er ging schnell durch das Vestibül; die kleine Portierloge war leer. Am äußersten Ende der Halle befanden sich die Türen der beiden automatischen Fahrstühle, von denen einer fahrbereit unten war.

 

»Soll ich mit Ihnen hinauffahren?« fragte der Sergeant.

 

Es lag kein Grund vor, warum er das nicht tun sollte, aber doch – –

 

»Nein, warten Sie hier unten«, sagte Larry.

 

Er stieg in den Fahrstuhl, drückte auf den Knopf »Vierte Etage« und fuhr langsam nach oben. Der Aufzug hielt in der vierten Etage, Larry öffnete die Gittertür und betrat den Vorplatz. Gerade ihm gegenüber lag eine erleuchtete Glastür, auf der die Worte »Dr. Judd« deutlich sichtbar aufgemalt waren. Er drehte den Türknopf herum. Das Zimmer war leer. Er rief noch einmal und ging, als niemand antwortete, verwundert auf den Treppenabsatz zurück.

 

Jede Faser in Larrys Körper war angespannt – Dr. Judd gehörte nicht zu jenen Leuten, die einem einen Schabernack spielen wollen, oder versuchen würden, ihn an der Nase herumzuführen.

 

Dann machte er eine überraschende Entdeckung. Er war mit dem Fahrstuhl zur Linken heraufgekommen. Dieser war jetzt verschwunden, aber dafür war jetzt der rechtsseitige sichtbar, der in dem obersten Stockwerk gewesen sein mußte, während er im vierten ausstieg. Noch auffälliger aber war es, daß die Fahrstuhltür weit offen stand.

 

Wer war heraufgekommen?

 

Er spähte den Gang entlang, niemand war zu sehen.

 

»Ist oben alles in Ordnung?« kam die hohle Stimme Harveys durch den Schacht des Aufzuges nach oben.

 

»Ich komme jetzt nach unten«, rief Larry und trat durch die offene Tür in den wartenden Aufzug.

 

Sein Fuß war schon erhoben, und er war gerade im Begriff, ihn auf den Boden des Aufzugs zu setzen, als er sich blitzschnell darüber klar wurde, daß das, was er für festes Holz gehalten hatte, nichts anderes wie bemaltes Papier war. Es war unmöglich, sich zurückzuwerfen, das Gleichgewicht zu bewahren, sein ganzer Körper schoß nach vorn.

 

Nur einen Bruchteil einer Sekunde zur Überlegung – dann nahm er alle seine Kräfte zusammen und stieß sich mit aller Gewalt ab, die sein linker Fuß, der noch auf der festen Schwelle ruhte, aufbringen konnte, sprang vorwärts und klammerte sich an eine der Leisten an der Täfelung der Hinterseite des Aufzugs fest. Die Leiste war noch nicht anderthalb Zentimeter breit, aber mit der ganz außergewöhnlichen Kraft seiner Hände gelang es ihm, sich festzuhalten, selbst als seine Füße durch den Papierboden brachen und das ganze Gewicht seines Körpers nur an den Fingerspitzen hing. So hing er, jede Muskel seines Körpers aufs höchste angespannt, in der Höhe des Schachtes fünfundzwanzig Meter hoch über dem Steinboden unter ihm.

 

»Schnell heraufkommen!« rief er. »Vierte Etage. Schnell. Ich sitze in der Falle.«

 

Er hörte das Geräusch des anderen Aufzuges, das Summen des Motors und hörte zu gleicher Zeit über sich ein anderes Geräusch. Er blickte nach oben und sah aus der Öffnung der fünften Etage ein Gesicht auf sich herabblicken.

 

Dann sauste etwas an ihm vorbei und schlug mit einem Krach gegen die Seitenwand des Aufzuges. Beinahe hätte er für einen Augenblick den Halt verloren. Er fühlte, wie der ganze Fahrstuhl schwankte und dann – zu seinem Entsetzen – glitt der andere an ihm vorbei.

 

»Halt! Hier!« schrie er.

 

Das Gesicht über ihm schien allmählich zu verschwimmen, aber wieder sah er, wie sich eine Hand vorstreckte, fühlte, wie etwas Schweres sein Schulter streifte. Seine Finger glitten ab und er fiel.