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»Sie sollten sich was schämen«, sagte Jake der Blinde und schüttelte langsam seinen riesigen Kopf.

 

Er saß zusammengekauert auf der einen Seite eines röhrenförmigen Raumes, und seine Worte waren an eine erbärmlich aussehende Frau gerichtet, die mit mutlos gesenktem Kopfe ihm gegenüber saß und die Arme um die Knie geschlungen hatte. Sie war äußerst ärmlich gekleidet, graue Strähnen zogen sich durch ihre wild herabhängenden Haare, und Gesicht und Hände waren mit Schmutz bedeckt.

 

Der Raum selbst konnte kaum als solcher bezeichnet werden. Er glich mehr einem vergrößerten Hauptrohr der Wasserleitung. Der Boden war mit Geröll und Zementstücken bedeckt. Am einen Ende war eine Eisentür, kaum groß genug, um einen normalen Menschen hindurchzulassen, am anderen Ende war ein unregelmäßiges Loch in der Eisenwandung, durch das man in eine dahinterliegende, schwarze Höhlung blicken konnte, deren Boden gleichfalls mit Geröll bedeckt war.

 

»Du solltest dich vor dir selbst schämen«, tadelte der blinde Jake. »Sie tun alles, was sie bloß für dich machen können, du häßliche, olle Hexe, und du sitzt hier und wimmerst und heulst. Genau wie ’n junger Hund, dem man den Schwanz abgeschnitten hat.«

 

Die Frau stöhnte und murmelte vor sich hin.

 

»Wenn ich könnte, wie ich wollte, dann würdest du schon Grund haben, zu jammern«, sagte Jake. »Geben wir dir nich zu fressen? Haben wir dir nich ’n schönes Bett gegeben, wo de drauf liegen konntest, bis der verfluchte Hund seine Nase hier ‚reinstecken mußte?«

 

»Ich möchte weg von hier«, sagte die Frau. »Sie bringen mich ja um.«

 

»Noch nicht«, kicherte Jake. »Vielleicht wollen Sie, daß du um de Ecke gebracht wirst – na, denn wirste eben umgebracht.«

 

»Ich will fort von hier«, rief die Frau schluchzend. »Warum halten Sie mich in dem fürchterlichen Loch eingeschlossen?«

 

»Willste lieber da unten bei de Ratten sein?« brummte Jake der Blinde. »Haste nich geschrien und gekreischt, als die kleenen Kerle dich anquiekten? Und nun sitzt de gesund und sicher hier, wo keene Ratte an dich ‚ran kann, und von morgen ab kannste in einem feinen Haus wohnen mit schöne, weiße Decken auf de Betten. Du undankbarer, alter Deibel!«

 

Sie erhob ihr kummervolles Gesicht und blickte den Mann neugierig an.

 

»Sie sprechen von denen, als ob sie Engel wären«, sagte sie. »Einer dieser Tage werden Sie doch von Ihnen verraten –«

 

»Halt’s Maul!« fuhr der Mann bissig auf. »Du kennst Sie ja gar nich. Was haben Sie alles für mich getan? Wem verdanke ich denn mein feines Leben, so viel Geld, wie ich bloß haben will, Essen un Trinken? ’n hübsche, junge Frau haben Sie mir ooch gegeben«, er kicherte, aber sein Kichern endete in einer scheußlichen Grimasse. »Ich wer se noch kriegen; sie hat mich beinah umgebracht, das gemeine Frauenzimmer.«

 

»Wer war sie denn?« fragte die Frau.

 

»Geht dich gar nischt an. Du kennst se doch nich«, sagte Jake, schien aber nicht abgeneigt, weiter über diese Angelegenheit zu sprechen, »’n junges, flinkes Mächen war se. Aber sie gehört ooch zur Polente, und darum wollten Sie se ooch haben.«

 

Sie antwortete nichts, und ihr Schweigen dauerte so lange an, daß er sich zu ihr beugte und sie mit seiner großen Hand anstieß.

 

»Du wirst doch keenen Anfall kriegen?« fragte er ängstlich. »Doch nich so ’n Anfall wir das letztemal? Wir können nich immer ’n Doktor holen. Das nächste Mal wer ich dich zu Verstand bringen«, sagte er drohend. »Ich wer dich schon wach kriegen«, und er schüttelte sie wild.

 

»Ich bin ja doch wach, ich bin ganz wach«, rief sie angstvoll. »Bitte, lassen Sie mich doch los; Sie brechen mir ja den Arm.«

 

»’s gut, aber betrage dicht vernünftig«, brummte er und kroch dann langsam nach dem anderen Ende dieses röhrenförmigen Raumes, in dem nicht einmal die Frau, die nichts weniger als groß war, aufrecht stehen konnte. Es war bewundernswert, wie ein so riesenhafter Mann sich durch die zackige Öffnung in der Eisenwand hindurchwinden und in die dahinterliegende Höhlung kriechen konnte. Sie hörte, wie er Steine beiseite schaffte, um die Höhlung, an der er schon den ganzen Tag gearbeitet hatte, zu erweitern. Sie wunderte sich, wo sie sich eigentlich befand, denn sie war krank und besinnungslos gewesen, als man sie in diese schreckliche Kammer geschleppt hatte, und hatte keine Erinnerung, wie sie dorthin gekommen war. Sie wußte nur, daß man sie suchte, daß aber die fürchterlichen Leute, die sie hier gefangen hielten, alles taten, um ihre Entdeckung zu vereiteln.

 

Als Jake zurück kam, sagte sie zu ihm:

 

»Mr. Stuart würde Ihnen eine Menge Geld geben, wenn Sie mich zu ihm brächten.«

 

Er kicherte.

 

Das haste mir schon hundertmal erzählt, olle Närrin. Wenn Sie mich zu Mr. Stuart brächten, würde er Ihnen eine Menge Geld geben«, äffte er ihr nach. »Der wird mir sicher ’ne Masse Geld geben!«

 

»Ich habe doch seine Kinder gepflegt«, jammerte sie, »und seine arme Frau. Und als ich mich verheiratete, hat er mir einen wunderschönen Trauring geschenkt.«

 

»Halt endlich mal ’s Maul«, fauchte der Mann sie an. »Kannste denn über gar nischt anderes reden? Hunderttausendmal hast de mir nu schon von seinen Kindern und dem verwünschten Trauring erzählt!«

 

»Und als ich ihm von Clarissa erzählte«, flüsterte die Frau, »hat er mir tausend Pfund versprochen. Als ich ihn sah, bin ich vor Überraschung beinah umgefallen!«

 

Der blinde Jake beachtete sie nicht weiter. Er hatte diese Geschichte schon so oft gehört, daß sie jedes Interesse für ihn verloren hatte.

 

»Er hat ja niemals gewußt, daß er Zwillinge hatte, und dachte, sein Kind wäre gestorben.«

 

»Wenn de nich geklaut und gesoffen hättest, hättste ihm ja erzählen können, wo sie war. Aber mach‘ dir man darüber keene Kopfschmerzen. Sie haben det Mädel gefunden, ’ne feine Dame is se und hat viel Geld. Ich habe gehört, wie Sie gesagt haben, daß sie ’ne feine Dame is und viel Geld hat«, fügte er einfältig hinzu.

 

Sein Glauben und sein Vertrauen in seine geheimnisvollen Gebieter kannte keine Grenzen.

 

»Ich trank ganz gern mal einen guten Tropfen«, gestand die nicht ganz zurechnungsfähige Frau ein, »und sie haben mich für rein gar nichts ins Gefängnis geschickt. Und die Anstalt war fürchterlich!«

 

Plötzlich schoß er auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber bevor sie noch einen Ton hervorbringen konnte, zischte er ihr dicht ins Gesicht:

 

»Einen einzigen Laut und de bist tot! Sei still!«

 

Seine feinfühligen Ohren hatten das Geräusch von Fußtritten auf dem Fußboden über ihnen vernommen. Nur ein Blinder konnte diese schwachen Geräusche durch die trennenden Mauern hindurch gehört haben. Er kroch ganz dicht an sie heran, legte einen Riesenarm um ihre Schulter und hielt den anderen dicht vor ihr Gesicht.

 

»Nur einen Laut und de bist tot!« flüsterte er noch einmal, und dann hörte man, wie jemand an die kleine eiserne Tür am anderen Ende anklopfte und Larry Holts Stimme ertönte:

 

»Ist hier jemand?«