20

 

Gold rief die Polizisten zurück, die Helder verfolgen wollten. Er war sich durchaus dessen bewußt, daß er das Gebäude hätte umstellen lassen sollen, doch hatte ihm ein sicheres Gefühl gesagt, daß er sich mit nichts aufhalten durfte, wenn er Tom Maple noch einmal sehen wollte.

 

»Wir werden ihn schon noch erwischen«, sagte, er und wandte sich wieder dem Gebäude zu, dessen Tür von einem der Beamten inzwischen mit einem Dietrich geöffnet worden war.

 

Hastig durchsuchten die Beamten die Räume und standen gleich darauf vor Tom Maples Bett.

 

Der Kranke wälzte sich unruhig in den Kissen hin und her und murmelte unzusammenhängende Worte.

 

Gold sah sich im Zimmer, um und fand eine ganze Reihe halbfertiggestellter Platten und Druckstöcke, die Beweis genug dafür waren, daß von hier aus das ganze Unternehmen geleitet worden war.

 

Er hatte seine Nachforschungen eben beendet, als der Arzt eintraf, den einer der Beamten telefonisch verständigt hatte.

 

»Ich fürchte, er ist nicht transportfähig«, sagte der Doktor nach einer kurzen Untersuchung. »Das Herz ist sehr schwach – ich glaube nicht, daß er noch eine Chance hat.«

 

Gold sah auf seine Uhr.

 

»Ich erwarte seine Nichte – glücklicherweise hat sie sich ganz unerwartet mit mir in Verbindung gesetzt, kurz bevor wir hierherfuhren. Ich teilte ihr die Adresse mit und sagte, daß sie umgehend zu diesem Haus kommen soll.«

 

Vor allem mußte Gold jetzt Scotland Yard Bescheid geben; um einen Haftbefehl gegen Helder zu erwirken: Er setzte sich an einen kleinen Tisch und schrieb einen Bericht; als er aber mitten in der Arbeit war, hörte er, wie ein Wagen vor der Haustür hielt.

 

»Ob das schon Mrs. Bell ist?« murmelte er vor sich hin und lief die Stiegen hinunter.

 

Unten stand er vor einem Mann, der ihm merkwürdig bekannt vorkam.

 

»Mr. Bell!« rief er erstaunt.

 

Mit einem stummen Händedruck begrüßten sie sich. Gold sah, daß Bells Gesicht blaß und eingefallen war.

 

»Wo ist meine Frau?« fragte er.

 

»Ich erwarte sie schon seit einiger Zeit«, entgegnete Gold.

 

Bell sah ihn erschrocken an.

 

»Das ist doch nicht möglich!« rief er. »Ich habe den Wagen meiner Frau auf der Straße gesehen, etwa vier Kilometer von hier entfernt. Er hatte eine Reifenpanne, und der Chauffeur, der eben das Rad auswechselte, erzählte mir, daß Mrs. Bell wohl zu Fuß weitergegangen wäre. Er war im nächsten Dorf gewesen, um ein Ersatzteil zu besorgen, hatte Mrs. Bell aber nicht mehr vorgefunden, als er zurückkehrte.«

 

»Vielleicht ist sie aus irgendeinem Grund mit dem Zug nach London zurückgefahren? Wir müssen sofort nachforschen.«

 

»Wo ist Maple??

 

»Er liegt oben in einem Zimmer«, entgegnete Gold ernst.

 

»Ist er tot?«

 

»Nein, noch nicht – aber er wird nicht mehr lange leben.«

 

»Ich muß mit ihm sprechen«, erklärte Bell bestimmt. »Kommen Sie mit!«

 

Sie stiegen zusammen die Treppe hinauf. Maple, dem der Arzt ein herzstärkendes Medikament gegeben hatte, war noch einmal zum Bewußtsein gekommen. Er lächelte schwach, als er Gold sah, der zuerst das Zimmer betrat. Doch als er hinter ihm Comstock Bell erkannte, öffneten sich seine Augen weit, und seine Lippen zitterten vor Erregung.

 

»Comstock Bell?« flüsterte er kaum hörbar.

 

Bell nickte, ging langsam auf das Bett zu und setzte sich dicht neben den Sterbenden.

 

»Wo kommen Sie her?« fragte Maple mit schwacher Stimme.

 

Der andere zögerte, aber dann antwortete er ernst: »Ich bin eben aus dem Gefängnis entlassen worden.«

 

»Gefängnis?« wiederholte Maple.

 

Comstock Bell nickte. Ein tödliches Schweigen herrschte in dem Raum. Gold stand wie gebannt, er fühlte, daß dies die Krisis im Leben Comstock Bells war.

 

»Ja, ich komme aus dem Gefängnis«, begann Bell mit klarer Stimme. »Was gibt es dazu viel zu sagen? Die Vorgeschichte kennt ihr alle – vor Jahren wurde in Paris eine Banknotenfälschung begangen; auf zwei Studenten fiel der Verdacht, und beide entzogen sich durch ihre Abreise weiteren Nachforschungen. Die Polizei hatte richtig vermutet, sie hatten sich beide strafbar gemacht. Eigentlich sollte es nur ein Scherz sein, und der eine der beiden hätte auch nie gedacht, daß Ernst daraus würde. Dabei war er es, der überhaupt auf den Gedanken gekommen war, zum Spaß eine Banknote zu fälschen; als aber sein Freund, ein geschickter Graphiker und Graveur, Ernst machte, hatte er nicht den Mut, seine eigene Schuld einzugestehen, obwohl er an der Ausführung der Fälschung überhaupt nicht mehr beteiligt war. Die beiden verschwanden also aus Frankreich, dem einen gelang es unterzutauchen, dem anderen war keine Schuld nachzuweisen.«

 

Tom Maple starrte auf die Decke und bewegte die Lippen, als ob er sprechen wollte.

 

»Vor einigen Monaten«, fuhr Comstock Bell fort, »habe ich mich der Polizei gestellt, weil ich wußte, daß Willetts wieder gesucht wurde. Fragt mich nicht, warum ich es getan habe … Ich kann nur sagen, daß ich es nicht mehr aushielt, im Bewußtsein dieser Schuld weiterzuleben. Willetts hatte die Fälschungen begangen und wurde gesucht, sicher, aber wenn ich. ehrlich war, mußte ich mir eingestehen, daß mich selbst genau soviel Schuld traf. Kurz und gut, ich hatte schon seit einiger Zeit ein Doppelleben geführt, um Willetts zu decken. – Jetzt hielt ich den Augenblick für gekommen, ihn – also mich selbst – anzuzeigen und damit diese Sache ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Als Willetts wurde ich verurteilt und kam ins Gefängnis. Ein Teil der Strafe wurde mir erlassen – und jetzt bin ich wieder frei.«

 

»Und dabei ist es gar nicht sicher, ob Willetts noch lebt«, rief Gold. »Warum haben Sie denn so etwas nur getan?«

 

»Willetts lebt«, sagte Comstock Bell.

 

Maple lächelte schwach.

 

»Ja«, murmelte er dann, »er lebt – ich bin Willetts.«

 

Er legte seine Hand auf den Arm Bells und sah ihn lange an.

 

»Ich danke dir«, sagte er kaum hörbar. »Willetts. – ja, ich bin der arme Tom Willetts. Ich dachte nicht, daß ich diesen Namen noch einmal hören würde.«

 

Lange Zeit schwieg er; die andern glaubten, er wäre eingeschlafen. Schließlich beugte sich der Arzt über ihn und berührte sein Gesicht.

 

»Er ist tot.«

 

Eine Stunde später befanden sich Comstock Bell und Gold auf dem Weg nach London. Sie hatten sich viel zu erzählen.

 

»Ich verließ Chelmsford heute morgen«, sagte Comstock Bell. »Meine Strafe wurde aufgehoben, weil sich die französische Kriminalpolizei für mich eingesetzt hatte – Lecomte selbst hat sich um die Sache bemüht. Vom Gefängnis aus fuhr ich sofort nach Southend, wo sich meine Frau aufhielt.«

 

Gold war nicht wenig verwundert. Comstock Bell erklärte ihm kurz die Zusammenhänge.

 

»Als ich mich entschlossen hatte, unser gemeinsames Verbrechen zu sühnen, mußte ich vor allem jemand finden, auf den ich mich unbedingt verlassen konnte. Keinesfalls wollte ich, daß meine Mutter oder sonst jemand erfuhr, daß ich im Gefängnis saß – also brauchte ich eine Person, die für die Dauer meines Gefängnisaufenthalts an meine Stelle trat. Glücklicherweise lernte ich Verity kennen. Ich erklärte ihr alles, und sie war bereit, mich zu heiraten. – Meinen Plan hatte ich bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Ich kaufte einen Schleppdampfer, damit mein Stellvertreter unbeobachtet London verlassen oder besuchen konnte, denn das war aus vielen Gründen notwendig. Als ich aus England abreiste, um meine Flitterwochen im Ausland zu verbringen, fuhr ich nicht weiter als bis nach Boulogne. Mein Schiff brachte mich wieder zu einem kleinen Hafen Englands, und von dort reiste ich mit meiner Frau nach London zurück. Am Abend stellte ich mich der Polizei. Durch einen unglücklichen Zufall wurde Verity aber in meinem Haus gesehen – ich hatte sie dorthin geschickt, um einen Gummistempel mit meiner Unterschrift zu holen, den ich dummerweise vergessen hatte. Natürlich war meine Handverletzung nur vorgetäuscht. Ich mußte ja dafür sorgen, daß sich niemand darüber wunderte, wenn ich – das heißt mein Vertreter – nur noch mit der Maschine schrieb.«

 

»Jetzt verstehe ich«, sagte Gold. Die vielen unerklärlichen Einzelheiten fügten sich endlich zu einem verständlichen Ganzen zusammen.

 

»Der Zeitpunkt meiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde meiner Frau mitgeteilt«, fuhr Comstock Bell fort, »und es war ausgemacht, daß sie mich in Southend erwarten sollte. Gleichzeitig sollte sie Ihnen ihre eigene Adresse mitteilen.«

 

»Das hat sie getan.«

 

»Zu meinem Erstaunen war sie nicht in Southend. Ich fand dort nur eine Nachricht vor, mit der sie mich aufforderte, nach dem Farmhaus zu kommen.«

 

»Wir können jetzt nichts anderes tun«, meinte Gold, »als in London so schnell wie möglich die Polizei benachrichtigen und dann zu Ihrem Dampfer fahren. Möglicherweise finden wir Ihre Frau dort.«

 

Comstock Bell zögerte. »Vielleicht ist sie aber auch in Ihre Wohnung gegangen, um dort Näheres zu erfahren.«

 

»In diesem Fall brauchten wir uns keine Sorgen zu machen«, sagte Gold. »Auf jeden Fall wird es am besten sein, wir fahren jetzt nach Southend, wo Ihr Schiff liegt.«

 

Den Rest der Fahrt legten sie schweigend zurück, bis sie in Southend am Ufer der Themse angekommen waren. In einiger Entfernung sahen sie die ›Seabreaker‹ vor Anker liegen, und auf dem Landungssteg stand Captain Lauder, dem es offensichtlich an Bord seines Schiffes zu langweilig geworden war:

 

Leider hatte er keine guten Nachrichten – Mrs. Bell war nicht zurückgekehrt.

 

»Gehen wir doch an Bord«, sagte er. »Ich habe so eine Ahnung …«

 

Sie ließen sich zur ›Seabreaker‹ hinüberrudern? und in der Kajüte erklärte ihnen der Kapitän, was ihm eingefallen war.

 

»Ich muß vorausschicken, daß es nur ein Verdacht ist«, begann er, »aber irgendwie habe ich das Gefühl, daß meine Beobachtung mit dem Verschwinden Mrs. Bells zusammenhängt. Es handelt sich um folgendes: Wie Sie sich denken können, kenne ich durch meine ständigen Fahrten so ziemlich jedes neue Gebäude, das am Themseufer errichtet wird. Vor drei Monaten nun habe ich gesehen, daß zwischen Tilbury und Barking ein neues Bootshaus gebaut wurde. Ich fand das seltsam, da meiner Meinung nach dieser Liegeplatz für ein Vergnügungsboot nicht sehr günstig gewählt ist.«

 

»Was verstehen Sie unter einem Vergnügungsboot?« erkundigte sich Gold.

 

»Nun, eben ein Motorboot, das nur für Vergnügungsfahrten benutzt wird. Dieses Motorboot ist aber etwas Besonderes. Es hat einen ungewöhnlich starken Motor und ist meiner Meinung nach auf kürzeren Strecken ohne weiteres seetüchtig. Ich will damit sagen, daß das Boot für irgendeinen bestimmten Zweck gebaut worden sein muß. Einmal habe ich es im Wasser gesehen – der Besitzer machte eine Probefahrt damit; seit dieser Zeit aber liegt es in einem Schuppen an Land und wird nur ab und zu von einem Mann kontrolliert. Eines Tages lagen wir in der Nähe, um auf Mrs. Bell zu warten, und mein Sohn unterhielt sich ein wenig mit diesem Mann, einem arbeitslosen Mechaniker, Dabei erfuhr er, daß das Boot genügend Brennstoff und Vorräte an Bord hat, um sich einige Wochen lang auf hoher See zu halten.«

 

»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, meinte Gold nachdenklich. »Das wäre für Helder eine Möglichkeit, England zu verlassen, wenn er eine Katastrophe für sich herannahen sieht. Ich muß sagen, ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Helder jetzt auf diese Weise zu entkommen versucht.«

 

»Ganz richtig«, warf Captain Lauder eifrig ein. »Der Mann, der mit meinem Sohn sprach, erzählte nämlich noch, daß der Besitzer des Bootes ein Amerikaner sei.«

 

»Schön«, sagte Bell. »Dann wird es am besten sein, wir fahren sofort zu diesem geheimnisvollen Bootshaus. Finden wir dort nichts Verdächtiges vor, dann lassen wir einen Beobachtungsposten zurück und dampfen nach London.«

 

Der Kapitän lief zur Kommandobrücke, und einige Minuten später hatte die ›Seabreaker‹ die Anker gelichtet und keuchte den Strom hinauf.

 

Die Nacht war sehr dunkel. Drei große Schiffe passierten sie, die mit der Ebbe zur offenen See hinausfuhren, aber sie sahen nichts von dem Motorboot, bis sie an Tilbury vorbeikamen.

 

Captain Lauder hatte die schärfsten Augen. Er stieß einen lauten Ruf aus und legte gleichzeitig das Steuer herum, sodaß der Schlepper eine scharfe Kurve beschrieb.

 

»Dort!« rief der Kapitän und deutete auf den Fluß. Ein langgestrecktes, schnittiges Motorboot war in voller Fahrt an der ›Seabreaker‹ vorübergeglitten. Deutlich hörten sie das Dröhnen seiner schweren Maschine.

 

Die kleine hintere Kabine des Motorbootes war hell erleuchtet, aber plötzlich erloschen die Lichter.

 

»Es fährt ein wenig zu schnell für unser Schiff«, knurrte der Kapitän, »Wenn wir aufs offene Meer hinauskommen, wird sich das aber schon ändern – wir haben ziemlichen Wellengang.«

 

Bell hatte sich einen Feldstecher geholt und schaute unentwegt zu dem schwarzen Schatten hinüber, der vor ihnen dahinglitt. Captain Lauder ließ das Letzte aus den Maschinen herausholen, und die ›Seabreaker‹ brachte es fertig, daß sich die Entfernung etwas verringerte.

 

»Natürlich könnte es auch irgendein anderes Fahrzeug sein«, meinte Gold. »Eigentlich glaube ich das aber nicht – es ist schon verdächtig genug, daß es mit vollständig abgeblendeten Lichtern fährt.«

 

»Ich glaube …«, begann Comstock Bell eben, als über das Wasser herüber zwei schrille Schreie drangen. Sie konnten von dem Motorboot kommen«.

 

In der Kabine flammte plötzlich wieder Licht auf, und zwei Gestalten hoben sich einen Augenblick silhouettenhaft gegen die Kabinenfenster ab.

 

Comstock Beil konnte durch sein Fernglas deutlich einen Mann und eine Frau unterscheiden, die an der Reeling miteinander rangen – im nächsten Augenblick trennten sie sich, und die eine Gestalt fiel mit einem Aufschrei in das dunkle Wasser.

 

»Es ist eine Frau …«, sagte er mit heiserer, erstickter Stimme.