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Im Leben jedes Durchschnittsmenschen gibt es Monate und Jahre, in denen das Leben gleichmäßig dahinfließt. Aber dann kommen ganz unerwartete Tage, in denen sieh Schicksalsschläge und Abenteuer zusammendrängen. Solch ein Tag war für eine Reihe von Personen der 15. Mai.

 

Cornelius Helder verließ um sieben Uhr morgens sein Haus in der Curzon Street.

 

Es war ein herrlicher Frühlingstag mit wolkenlosem, zartblauem Himmel. Helder sah aus, als ob er nicht geschlafen hätte. Sein Gesicht zeigte die merkwürdige, aufgedunsene Blässe der Leute, die sich ihre Nächte in Bars um die Ohren schlagen. Bei Helder war das durchaus nicht der Fall; er war ausserdem glatt rasiert und peinlich sauber gekleidet.

 

Langsam ging er in Richtung der City. Die Straßen waren um diese Zeit von Händlern, Milchautos und Straßenkehrern belebt; einige kleine Läden hatten bereits die Jalousien hochgezogen. In der Regent Street geriet er in den dichten Strom der ins Geschäft eilenden Angestellten.

 

Verärgert dachte Helder darüber nach, was für eine Nacht Comstock Bell wohl zugebracht hatte und wo sich jetzt gerade Verity aufhalten würde. Höchstwahrscheinlich saß sie in einem Vorortzug in einem Abteil dritter Klasse und fuhr in die Stadt, um sich mit einem der reichsten Männer Londons zu verheiraten.

 

Er kaufte eine Morgenzeitung, die für gewöhnlich alle sensationellen Neuigkeiten brachte, und überflog sie. Von einer Verhaftung Willetts‘ stand nichts darin.

 

Comstock Bell wartete also, bis er verheiratet und im Ausland war, bevor er Willetts endgültig an den Kragen wollte. Helder vermutete das wenigstens. Und welchen Einfluß mochte wohl dieses Mädchen auf ihn haben? Was für ein Geheimnis steckte hinter dieser plötzlichen Heirat? Bell hatte Verity doch erst in seinem Büro kennengelernt – und war doch sicher nicht der Mann, der wegen eines hübschen Gesichts gleich die Fassung verlor. Diese Heirat mußte irgendeinen andern Grund haben – aber welchen? Mit sorgenvollem Gesicht drängte sich Helder durch das Menschengewühl der Regent Street.

 

Um acht Uhr war er im Green Park. Noch immer dachte er über diese merkwürdige Heirat nach und versuchte, sich eine Erklärung dafür zurechtzuzimmern. Für gewöhnlich war Helder sehr gut informiert. Ohne große Schwierigkeiten hatte er zum Beispiel herausgebracht, daß der Millionär, den er schon lange beobachten ließ, zu heiraten beabsichtigte. Auch daß die kirchliche Zeremonie gleich im Anschluß an die standesamtliche Trauung in der Marylebone Parish Church um neun Uhr vormittags stattfinden sollte, wußte er. Comstock Bell und Verity wollten dann mit Gold im ›Great Central Hotel‹ frühstücken und um elf Uhr London in Richtung Frankreich verlassen.

 

Verity Maple war Helder jetzt ziemlich gleichgültig geworden. Er war weder eifersüchtig noch aufgebracht darüber, daß sie ihn verschmäht hatte und Bell nach so kurzer Bekanntschaft heiraten wollte. Bells Erfolg erklärte er sich einfach damit, daß Bell eben, ein viel reicherer Mann als er selbst war. Schließlich hatte er auch nie die Absicht gehabt, Verity zu heiraten; er wollte Junggeselle bleiben.

 

Helder erwartete, daß er Gold begegnen würde. Er wußte, daß der Beamte ganz bestimmte Gewohnheiten hatte und morgens meistens einen kleinen Spaziergang zu einem Teich im Green Park machte.

 

Er hatte recht mit seiner Vermutung; als die Uhren in der Stadt Viertel nach acht schlugen, kam ihm Gold auf seinem Spaziergang rund um den Teich entgegen.

 

Wie immer schien sich Gold über nichts zu wundern und war nicht im geringsten erstaunt, Cornelius Helder vor sich zu sehen. Sie blieben beide stehen und unterhielten sich miteinander. Gold holte während des Gesprächs aus seiner Tasche eine Handvoll Brotkrumen, die er teils den Spatzen, teils den Enten und Schwänen im Teiche hinstreute.

 

»Vermutlich spielen Sie heute den Brautführer?« fragte Helder nach einiger Zeit und sah Gold lächelnd an.

 

»Ja so etwas Ähnliches«, entgegnete Gold, ohne sich in seiner Beschäftigung stören zu lassen.

 

»Was hat denn eigentlich diese ganze Sache zu bedeuten?«

 

»Was für eine Sache? Etwa die Trauung?«

 

»Natürlich, das kam doch schließlich recht unerwartet.«

 

»Oh, eine Hochzeit kommt meistens für irgend jemand unerwartet.«

 

»Glauben Sie, daß sie glücklich miteinander werden?«

 

»Um Himmels willen, wie soll ich das wissen«, entgegnete Gold. »Nicht einmal bei Adam und Eva war das völlig sicher, soviel ich weiß – aber das liegt ja auch schon ein wenig vor meiner Zeit. Übrigens entwickelt sich das zum ehelichen Glück notwendige Anpassungsvermögen sowieso erst bei Leuten, die schon lange miteinander verheiratet sind.«

 

Helder amüsierte sich.

 

»So kann nur ein hartgesottener Junggeselle sprechen! – Hatten Sie übrigens Gelegenheit, festzustellen, daß alles, was ich Ihnen über Willetts sagte, den Tatsachen entspricht?«

 

Gold nickte.

 

»Ja heute abend wird er verhaftet.«

 

»Aha, also erst dann, wenn Comstock Bell England verlassen hat und in Sicherheit ist«, meinte Helder ironisch. »Ich bin nicht gerade sehr stolz darauf, daß er mein Landsmann ist.«

 

Gold sah ihn von der Seite an.

 

»Ich habe auch niemals gehört, daß er besondere Freude darüber geäußert hätte, daß Sie sein Landsmann sind.«

 

Er schaute auf seine Uhr.

 

»Ich muß jetzt gehen. Übrigens sehen Sie gar nicht gut aus.«

 

»Keine Sorge, ich fühle mich wohl – nur leide ich in letzter Zeit etwas an Schlaflosigkeit.«

 

»Dann sollten Sie Ihre Nächte dazu benützen, nützliche Bücher zu lesen. Ich möchte Ihnen den Rat geben, mit einem kleinen Buch, das ich neulich wieder einmal in der Hand hatte, den Anfang zu machen.«

 

»Und was war das für ein Buch?«

 

»Die Polizeivorschriften Londons. Es ist ein Buch, das Anweisungen für Polizeibeamte enthält – und deshalb besonders eingehend in Verbrecherkreisen studiert wird.«

 

Gold lachte vergnügt, und Helder machte ein dummes Gesicht. Er wußte nicht, ob er grinsen oder ärgerlich sein sollte.

 

Comstock Bell und Verity kamen beide fast zur gleichen Zeit in dem Hotel an. Er begrüßte sie mit einem freundlichen Lächeln. Sie war sehr ernst und sah so hübsch aus, daß es ihm fast den Atem verschlug. Er mußte sich selbst darüber wundern, daß er von ihrer Schönheit zum erstenmal in diesem Augenblick, als er sie in der Empfangshalle des ›Great Central Hotel‹ sah, tiefer berührt wurde.

 

Comstock Bell war in Verity nicht verliebt – und trotzdem heiratete er sie. Jetzt mußte er sich eingestehen, daß es ihm Freude machte, bald eine so hübsche Frau zu haben. Bewundernd sah er sie an. Das einfache weiße Kleid und der breitrandige weiße Hut mit schwarzem Band standen ihr ausgezeichnet.

 

»Wir haben noch ungefähr fünf Minuten Zeit für uns, bevor die anderen kommen«, sagte er und führte sie zu einem Sessel.

 

»Werden Sie diesen Schritt auch nicht bereuen?«

 

»Nein ich bereue nichts«, entgegnete sie mit fester Stimme. »Der Entschluß, den ich gestern gefaßt habe, ist unwiderruflich.«

 

»Ich …«, begann er zögernd.

 

»Bitte seien Sie ruhig! Ich weiß, daß Sie mir jetzt irgend etwas sagen wollen, das mich trösten soll – und das doch nicht der Wahrheit entsprechen würde. Ich heirate Sie, weil ich weiß, daß ich Ihnen damit helfen kann. Es ist mir auch völlig klar, daß Sie mich nicht lieben – auch ich liebe Sie nicht. Wenn wir trotzdem diesen Entschluß gefaßt haben, dann nur deshalb, weil die Gründe, die Sie dazu zwingen, sehr schwerwiegend sind. Gebe Gott, daß alles gut ausgeht!«

 

»Ja wir wollen es hoffen«, entgegnete er ernst. »Dort kommt Gold.«

 

Der Beamte betrat in diesem Augenblick die Halle – ein ungewöhnlicher Anblick im Zylinder und feierlichem schwarzem Mantel. Er legte ab, begrüßte das Brautpaar und ging mit ihnen in den Speisesaal, wo an einem Ecktisch bereits ein Imbiß für sie bereitstand.

 

Verity rührte kaum etwas an, und auch Comstock Bell aß nicht viel. Aber Gold, der weiter keine Sorgen hatte – schließlich war es ja nicht er, der heiraten sollte –, langte tapfer zu. Abgesehen von seinem immer erstaunlich guten Appetit war er an diesem Tag schon seit in der Frühe auf den Beinen – was allerdings keiner der Anwesenden wußte.

 

»Wohin werden Sie Ihre Hochzeitsreise machen?« erkundigte er sich.

 

»Wir bleiben zuerst ein wenig in Paris«, erklärte Comstock Bell, »von dort aus fahren wir nach München, später nach Wien und vielleicht auch noch nach Rom. Weitere Pläne habe ich vorerst keine.«

 

»Unangenehm für Sie, daß Ihre Hand noch verbunden ist«, meinte Gold und deutete auf den Verband.

 

Comstock Bell lächelte.

 

»Tatsächlich, daran habe ich noch gar nicht gedacht! Ich habe mich jetzt schon daran gewöhnt, mit der linken Hand auf der Schreibmaschine zu schreiben, daß ich mich in Zukunft wahrscheinlich nie wieder entschließen kann, Briefe handschriftlich abzufassen.«

 

»Nehmen Sie Ihre Schreibmaschine mit?« fragte Gold.

 

»Selbstverständlich. Ich habe mir bereits eine Reiseschreibmaschine mit Spezial-Tastatur anfertigen lassen.«

 

»Nun, Ihre Gattin wird Ihnen vermutlich als Sekretärin ganz gute Dienste leisten können.«

 

»Da wird nicht viel daraus werden. Die Tastatur der Maschine ist ziemlich kompliziert.«

 

Die Unterhaltung stockte, und Bell winkte dem Kellner.

 

»Bringen Sie mir bitte ein Telegrammformular.«

 

Einige Minuten später lagen eine Schreibunterlage und ein Formular vor ihm.

 

»Soll ich es für Sie schreiben?« fragte Gold.

 

»Sehr freundlich, aber ich komme schon zurecht«, erwiderte Comstock Bell ein wenig verlegen. Umständlich malte er mit der linken Hand die Buchstaben. Das Telegramm war an Captain Lauder in Landview Cottage, Gravesend, gerichtet und bestand nur aus dem einzigen Wort: »Vorwärts!«

 

Auch Gold hätte gar zu gerne den Inhalt des Telegramms gekannt, das Bell ausgerechnet an seinem Hochzeitsmorgen abschickte. So sehr er sich den Hals verrenkte, Bell hielt das Formular so, daß er nichts lesen konnte. Als Bell fertig war, steckte er das Telegramm in ein Kuvert und gab es zusammen mit einem Fünfshillingstück dem Kellner.

 

»Lassen Sie dies sofort zur Post bringen, und geben Sie mir dann die Rechnung.«

 

Gleich darauf brachen sie auf. Sie hatten sich entschlossen, die kurze Entfernung bis zum Standesamt und anschließend zur Kirche zu Fuß zurückzulegen.

 

Mit Ausnahme des Kirchendieners und des Küsters war niemand in der Kirche. Ihre Schritte hallten hohl wider, als sie den breiten Mittelgang entlangschritten und vor dem Altar auf den Geistlichen warteten. Dumpf drang das Summen und der Lärm der erwachenden Großstadt durch die Mauern. Hätte Comstock Bell jemals früher an eine künftige Trauung gedacht – so hätte er sie sich bestimmt nicht vorgestellt. Auch Verity, die sich dem bedeutungsvollsten Ereignis ihres Lebens gegenübersah, war wie betäubt von der Unwahrscheinlichkeit der Situation.

 

Der Geistliche trat aus der Sakristei und näherte sich ihnen langsam. Feierlich sprach er die Worte, die sie fürs Leben verbanden. Die bekannten Fragen und Antworten hallten seltsam durch den hohen, leeren Raum. Ein schmaler Goldreif wurde Verity auf den Finger gestreift.

 

Alle zusammen gingen sie dann in die Sakristei, um ihre Unterschriften unter das Heiratsprotokoll zu setzen. Der Geistliche meinte, daß es ein schöner Tag sei und daß er hoffe, dieses Jahr endlich wieder einmal einen richtigen englischen Sommer zu erleben. Comstock erwiderte einige konventionelle Worte. Gold zahlte die Kirchengebühren und vergaß auch nicht, dem Kirchendiener, der obendrein noch den zweiten Trauzeugen gemacht hatte, ein respektables Trinkgeld zu geben. Dann trat das junge Paar als, Mr. und Mrs. Comstock Bell in das grelle Sonnenlicht des Frühlingstages hinaus.

 

Bell schaute auf die Uhr.

 

»Wir haben noch eine Stunde Zeit«, sagte er. »Dein Gepäck hast du doch schon auf den Bahnhof bringen lassen?«

 

Sie nickte.

 

Er lächelte sie freundlich an.

 

»Ich werde dich von jetzt ab Verity nennen, ja?«

 

»Das ist lieb von dir«, entgegnete sie leise.

 

Wentworth Gold, der zugehört hatte, schüttelte heimlich den Kopf. Auch ihm kam diese merkwürdige Stimmung des Unwirklichen, die über der ganzen Zeremonie gelegen hatte, immer mehr zum Bewußtsein.

 

Was sollte das Ganze nur bedeuten, fragte er sich schon zum hundertstenmal. Der Mann ein Millionär, das Mädchen arm wie eine Kirchenmaus – aber das wäre ja gar nicht so außergewöhnlich gewesen. Viel seltsamer war es, daß sie miteinander sprachen, als ob sie sich eben erst vorgestellt worden wären; nicht anders, als ob sie nur die Bande einer oberflächlichen Bekanntschaft zusammenhielten.

 

Wie lange kannte Bell überhaupt seine Frau schon?

 

Plötzlich kam ihm ein merkwürdiger Gedanke – er wußte doch, daß Verity verhältnismäßig wenig persönlichen Besitz hatte, wie stand es denn dann mit ihrer Aussteuer? Bells nächste Worte verschafften ihm Klarheit.

 

»Du kannst alles, was du brauchst, in Paris kaufen.«

 

»Ich stelle keine großen Ansprüche«, entgegnete sie schüchtern.

 

Comstock Bell schaute wieder auf die Uhr und sah Verity lächelnd an.

 

»Für die nächste Stunde haben wir nichts zu tun«, sagte er. »Ich schlage vor, wir machen noch einen Spaziergang durch den Park. Begleiten Sie uns doch bitte, Gold.«

 

Wentworth Gold verkehrte zwar nicht sehr viel in der Gesellschaft und wußte über Trauungen auch herzlich wenig Bescheid, aber soviel war ihm doch klar, daß er sich jetzt zu verabschieden hatte und das glückliche Paar sich selbst überlassen mußte. Er hatte sich als Entschuldigung auch schon eine Verabredung zurechtgelegt, als Bell ihm zuvorkam.

 

»Falls Sie noch eine Stunde Zeit haben, würde es uns sehr freuen, wenn Sie uns dann zum Zug bringen – nicht wahr, Verity?«

 

Mit einem Taxi fuhren sie zum Regents Park. Sie spazierten die wunderschönen Wege entlang und sprachen über alles mögliche, nur nicht über die nächsten Pläne Comstock Bells. Als die Zeit immer weiter vorrückte, wurde Bell immer unruhiger und zerstreuter – plötzlich wandte er sich unvermittelt an Gold.

 

»Vermutlich hat Ihnen Helder gesagt, daß ich Willetts angezeigt habe, wie?«

 

Gold war verblüfft. Er konnte sich nicht erklären, woher Bell dies wüßte.

 

»Ja er hat mir so etwas Ähnliches mitgeteilt«, gab er zu. »Aber ich habe noch nie viel von dem gehalten, was Helder mir erzählte.«

 

»In diesem Falle hatte er aber recht«, entgegnete Bell ruhig, »Ich habe Willetts angezeigt und habe auch allen Grund dafür.«

 

»Ist er schon verhaftet worden?«

 

»Noch nicht. Ich habe es so eingerichtet, daß er erst dann festgenommen wird, wenn ich England verlassen habe.«

 

Gold war mehr als erstaunt. Wie sollte er diese Handlungsweise mit dem sonst so vornehmen Charakter und Benehmen Bells in Einklang bringen? Er hatte ihn immer seiner Anständigkeit wegen geschätzt und fühlte sich jetzt fast ein wenig abgestoßen. Jemanden verhaften zu lassen und sich selbst allen möglichen Unannehmlichkeiten, die diese Verhaftung mit sich bringen konnte, durch die Abreise zu entziehen, war wenig schön.

 

»Ich freue mich, daß Sie mir das gesagt haben«, entgegnete er kühl.

 

Comstock sah ihn ernst an. Er fühlte, daß Gold sein Verhalten durchaus nicht billigte.

 

»Denken Sie nicht zu schlecht über mich!«

 

Wortlos machten sie sich dann auf den Weg zur Victoria Station. Ein Abteil erster Klasse war für das junge Paar reserviert.

 

Mit oberflächlichem Geplauder verstrichen die letzten Minuten bis zur Abfahrt. Der Zug setzte sich in Bewegung.

 

»Auf Wiedersehen!!« sagte Gold und reichte Bell zum Abschied die Hand.

 

Bell drückte sie herzlich.

 

»Wir werden uns doch wiedersehen?«

 

»Ich hoffe es«, entgegnete Bell.

 

Gold entging es nicht, daß Bell immer noch zerstreut war und offensichtlich an etwas ganz anderes dachte. Heimlich warf er einen Blick auf die junge Frau, die neben ihrem Mann am geöffneten Fenster stand. Sie sah ein wenig angegriffen aus. Schatten unter ihren Augen deuteten darauf hin, daß sie in der letzten Nacht wenig geschlafen hatte.

 

Gold lief neben dem Zug her und schüttelte auch Verity noch einmal die Hand. Dann blieb er stehen und schaute dem Zug nach, bis er am Ende des Bahnsteigs verschwand.

 

»Wirklich eine merkwürdige Hochzeit«, murmelte er vor sich hin.

 

Er wandte sich um und wäre beinahe mit Helder zusammengestoßen, der sich auch eingefunden hatte.

 

Gold sah ihn mißmutig an.

 

»Man könnte fast meinen, daß Sie uns nachspioniert haben«, knurrte er unwillig.

 

Helder lächelte.

 

»Damit haben Sie völlig recht«, gab er offen zu. »Ich habe Sie beobachtet, weil ich mich für die Hochzeit Comstock Bells ebensosehr interessiere wie Sie selbst; komisch dabei ist nur, daß mir nicht klar ist, warum ich mich eigentlich dafür interessiere!«

 

»Das überrascht mich aber wirklich«, entgegnete Gold trocken. »Leute wie Sie tun doch nichts, wenn sie nicht einen sehr triftigen Grund haben.«

 

Helder lachte.

 

»Ich komme mir ja selbst schon ganz merkwürdig vor.«

 

Er hätte gern Gold begleitet, aber der Beamte gab ihm ziemlich deutlich zu verstehen, daß er allein zu sein wünsche. Sie trennten sich, und Gold ging in sein Büro, um dort verschiedene Aktenstücke durchzuarbeiten und einen Bericht an das Schatzamt in Washington anzufertigen.

 

Später suchte er dann den Klub auf, um dort sein Abendessen einzunehmen. Der Portier gab ihm zwei Telegramme, die an ihn gerichtet waren. Beide stammten von Comstock Bell – das eine kam aus Dover und drückte noch einmal Bells herzlichen Dank für Golds freundschaftliche Hilfe aus, das zweite war in Calais um drei Uhr nachmittags aufgegeben worden.

 

Er schüttelte verwundert den Kopf, als er las: »Bitte besuchen Sie morgen meinen Diener Parker – ich hatte ihn für heute beurlaubt – und sagen Sie ihm, er soll mir meine Post nachsenden.«

 

Gold legte das Telegramm vor sich auf den Tisch. Warum hatte Bell nicht direkt an Parker telegrafiert? Wie konnte es überhaupt vorkommen, daß er vor seiner Abreise sein Personal nicht entsprechend instruiert hatte?

 

Wahrscheinlich steckte auch dahinter irgend etwas. Aber Gold war schon müde, sich nutzlos den Kopf zu zerbrechen.

 

Er notierte sich die Sache und beendete dann in aller Ruhe seine Mahlzeit. Bei einem Glas Wein las er anschließend einige Briefe durch, die ihm vom Konsulat geschickt worden waren – keine sehr angenehme Beschäftigung, denn sie waren nicht sehr höflich. Gold nahm sie sich aber anscheinend nicht besonders zu Herzen, denn er steckte sie nach der Lektüre ziemlich gleichgültig in die Tasche.

 

An einem andern Tisch in der Nähe saß Helder und las ostentativ in einer Abendzeitung. Gold wußte ganz genau, daß dies nur ein Vorwand war, um ihn unauffällig beobachten zu können. Was wollte Helder eigentlich? Er war doch sonst kein Mann, der kostbare Zeit vergeudete, nur um seine Neugier zu befriedigen. Gold erhob sich und schlenderte zu Helder hinüber.

 

»Ich möchte einen kleinen Spaziergang machen – hätten Sie keine Lust, mich zu begleiten?«

 

»Mit Vergnügen«, entgegnete Helder bereitwillig und stand auf.

 

Es war Gold eingefallen, daß er für den folgenden Tag eine Verabredung hatte und daß es ihm kaum möglich sein würde, mit Parker persönlich zu sprechen. Er entschuldigte sich für einen Augenblick bei Helder, holte sich im Schreibzimmer einen Briefumschlag, steckte das Telegramm hinein und adressierte das Kuvert an den Diener. Bei ihrem Spaziergang konnte er es dann gleich in den Briefkasten an Bells Haus werfen.

 

Die beiden Herren verließen den Klub und gingen in gemächlichem Tempo in Richtung Cadogan Square.

 

»Darf ich Sie einmal etwas ganz offen fragen«, begann Gold die Unterhaltung, »und eine ebenso offene Antwort erwarten?«

 

»Hm – ich werde mich bemühen, Ihren Wunsch zu erfüllen. Was wollen Sie von mir wissen?«

 

»Warum interessieren Sie sich so sehr für Comstock Bell?«

 

»Oh, ich interessiere mich für alle Leute.«

 

»Aber nicht so, daß Sie ihnen einen Großteil Ihrer Zeit widmen! Hinter Ihrem Interesse für Comstock Bell steckt doch irgend etwas …«

 

Eine Zeitlang gingen sie schweigend nebeneinander her.

 

»Sie sind mit Bell befreundet, und ich möchte Ihnen nichts Unangenehmes über ihn sagen«, antwortete Helder.

 

»Viel unangenehmer ist es für mich, wenn Sie immer nur dunkle Andeutungen machen, ohne mir einfach einmal reinen Wein einzuschenken.«

 

»Schön, ich werde Ihnen meine Meinung sagen«, begann Helder nach einer weiteren Pause. »Ich bin der Überzeugung, daß Comstock ein betrügerischer, gemeiner Schuft ist.«

 

»Das ist alles?« erkundigte sich Gold, ohne eine besondere Erregung zu verraten.

 

»Ist denn das nicht genug?«

 

»Die bloße Tatsache, daß Sie sagen, er sei ein Schuft, genügt noch lange nicht, um auch mich davon zu überzeugen. Wenn ein Mann nur deswegen verurteilt würde, weil irgend jemand eine schlechte Meinung von ihm hat, dann wären die Gefängnisse dieses Landes nicht groß genug, um alle Verurteilten unterzubringen. Können Sie mir denn nichts Genaueres sagen?«

 

»Ich glaube, daß er sich seine eigene Freiheit und persönliche Sicherheit dadurch erkauft hat, daß er Willets anzeigte«, entgegnete Helder mit Nachdruck.

 

Gold lächelte.

 

»Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der wahre Grund für all Ihre Redereien der ist, daß Bell etwas von Ihnen weiß, das Ihnen furchtbar unangenehm ist – und daß Sie nicht eher zufrieden sind, bis Sie mit Sicherheit wissen, daß er für immer im Ausland bleibt.«

 

Es war schon sehr dunkel, Gold konnte nicht sehen, daß Helder rot wurde.

 

»Eine sehr sonderbare Vermutung!«

 

Die beiden waren inzwischen am Cadogan Square angekommen, und als sie sich dem Haus Comstock Bells näherten, holte Gold das Kuvert für Parker aus der Tasche.

 

»Einen Augenblick, ich möchte das hier nur in Bells Briefkasten werfen. Eine Instruktion für sein Personal.«

 

Das Haus, das Comstock Bell noch bis vor kurzem bewohnt hatte, war ein altes Gebäude. Es war noch zu einer Zeit errichtet worden, als die Hausfrauen ein Haus nur dann für bewohnbar hielten, wenn sie vom Fenster des Wohnzimmers aus die ganze Treppe beobachten konnten, die zum Eingang führte.

 

»Auf den Stufen wartet jemand«, sagte Helder plötzlich.

 

Gold blickte auf.

 

Vor der Haustür stand tatsächlich ein junger Mann, der anscheinend auch gerade erst angekommen war, denn er drückte auf den Klingelknopf. Als er die beiden Männer sah, drehte er sich schnell um.

 

»Ist einer der Herren Mr. Comstock Bell?« fragte er höflich.

 

Gold schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Mr. Bell hält sich für längere Zeit im Ausland auf.«

 

»Sind Sie ein Freund von ihm?« fragte der Fremde weiter.

 

»Warum interessiert Sie das?« entgegnete Gold.

 

Der junge Mann reichte ihm eine Karte.

 

»Mein Name ist Jackson – ich bin Reporter beim ›Post Journal‹. Wir sind darüber informiert worden, daß Mr. Bell heute geheiratet hat. Seit einer Viertelstunde klingle ich hier schon vergebens.«

 

Gold steckte den Briefumschlag in den Kasten, bevor er antwortete.

 

»Nun ja«, meinte er gutgelaunt. »Ich heiße Gold, und Sie können auch von mir erfahren, was Ihnen Mr. Bell gesagt hätte. Er hat heute morgen tatsächlich geheiratet und ist anschließend nach Paris gefahren.«

 

»Würden Sie so freundlich sein und mir auch den Namen der Dame verraten? Der ist doch schließlich das Wichtigste in meinem Bericht«, meinte Jackson lächelnd. »Sie wissen ja, unsere Leser interessieren sich sehr für Millionäre und ihre Frauen.« Gold zögerte. Seiner Meinung nach war es besser, wenn die Presse nichts davon erfuhr, auf der andern Seite konnte der Reporter den Namen jederzeit im Standesamtsregister finden.

 

»Er hat sich mit Miss Verity Maple verheiratet.«

 

Der Reporter pfiff leise vor sich hin.

 

»Das ist doch nicht etwa die Nichte des Mannes, der …?«

 

Gold nickte. »Diese Geschichte können Sie bei Ihrem Bericht aber ruhig vergessen.«

 

Der Journalist steckte sein Notizbuch wieder in die Tasche.

 

»Mein Gedächtnis läßt mich selten im Stich, und an Miss Maple erinnere ich mich noch sehr deutlich«, sagte er trocken.

 

»Ich habe sie an dem Tag gesehen, an dem ihr Onkel auf so geheimnisvolle Weise verschwand.«

 

Sie standen immer noch auf der Treppe. Helder ging inzwischen auf und ab und wartete ungeduldig auf das Ende der Unterhaltung.

 

»Ich danke Ihnen sehr für Ihre liebenswürdige Auskunft«, sagte der Reporter und wollte eben die Treppe hinuntergehen, als er durch einen erstaunten Ausruf überrascht wurde.

 

Helder starrte an ihm vorbei in Richtung des Wohnzimmers. »Sehen Sie – dort«, flüsterte er aufgeregt.

 

Gold folgte seinem Blick und war starr vor Staunen.

 

Am Fenster stand Verity Bell – ihr Gesicht drückte Angst, fast Schrecken aus.

 

Sie schaute geistesabwesend auf die Straße hinunter. Das Licht einer Straßenlaterne fiel voll auf ihr verstörtes Gesicht. Dann bemerkte sie die drei Männer und verschwand schnell im Dunkel des Zimmers.